9 Ein Kriegerherz

Die Muskeln in Aurians Rücken und Schultern schienen ihren Dienst versagen, in Agonie aufschreien zu wollen. Das Schwert in ihrer ermatteten Hand wurde unglaublich schwer. Sie machte mit defensiv erhobener Klinge einen Schritt zurück, um etwas mehr Zeit für ihre Reaktion zu gewinnen, während sie Forral aus zusammengekniffenen Augen beobachtete und versuchte, seine nächste Bewegung vorherzusehen. Es wurde ein schneller seitlicher Schlag – niedrig angesetzt, er schlug ihr fast die Füße weg. Aurian sprang zurück, parierte unbeholfen und spürte den betäubenden Schock der aufeinanderklirrenden Klingen in ihren Händen. Durch Forrals krausen braunen Bart sah sie ein kurzes Aufblitzen seiner weißen Zähne.

Während sie ihre Klinge wieder hob, verfluchte Aurian die Unermüdlichkeit des Schwertkämpfers; verfluchte seine Pflichtauffassung, die sie zwang, selbst am Morgen des Sonnenwendtages zu trainieren; verfluchte ihre Dummheit, in der vorhergehenden Nacht zuviel getrunken zu haben und nicht rechtzeitig zu Bett gegangen zu sein. Dieser verdammte D’arvan! Schweiß brannte ihr in den Augen und tropfte in den Sand der großen, scheunenartigen Trainingsarena der Garnison. Vor Müdigkeit taumelnd, riß sie ihr Schwert nach oben, um Forrals blitzschnelle Stöße zu parieren. Warum um alles in der Welt hatte sie ihn nur bekniet, ihr Schwerttraining wiederaufzunehmen? Sie hätte niemals für möglich gehalten, daß sie so außer Form war, so außer Übung; und vier Monate schweißtreibender mörderischer Quälerei auf diesem Sand hatten anscheinend nur wenig Besserung gebracht. Würde sie jemals ihre alten Fertigkeiten zurückerlangen?

Forral drang plötzlich auf sie ein, sein schweres Schwert ein funkelnder Wirbel von Licht – die berühmte Kreiseldrehung der Klinge, sein eigenes Markenzeichen, das weder Aurian noch irgend jemand sonst zu meistern vermochte. Sie stöhnte vor Schmerz, als ihre Handgelenke umknickten und das Schwert ihr aus der Hand geschlagen wurde, um in einiger Entfernung im Sand zu landen. Forral schüttelte den Kopf. »Du bist tot!« sagte er. Ohne Aurian Zeit zu einer Reaktion zu geben, riß er sie an der Schulter herum, und versetzte ihr mit der flachen Seite seiner Klinge einen schweren Schlag über ihr Hinterteil. Dieser Trick war ihr nur allzu vertraut – er benutzte ihn bei all seinen Schülern als Ansporn, einen einmal gemachten Fehler nicht zu wiederholen. »Au!« heulte Aurian empört auf und rieb sich die schmerzende Stelle. Tränen der Erschöpfung und Enttäuschung traten ihr in die Augen.

Forrals Arme legten sich beruhigend um sie, seine große Hand knetete ihre verhärteten, schmerzenden Schultern- und Nackenmuskeln. »Mach dir nichts draus, Liebes«, sagte er sanft. »Ich weiß, daß es schwer ist, aber du kannst es dir einfach nicht erlauben, Fehler zu machen, die dich das Leben kosten können. Doch du machst Fortschritte. Du mußt eben allerhand verlorene Zeit aufholen, das ist alles. Wenn du jetzt so weitermachst, dann bist du bald wieder in der richtigen Kampfverfassung.«

Aurian lehnte sich an seine Brust und sog den Geruch seines Schweißes und des rauhen, vernarbten Leders seiner Fechtweste ein. Seine ermunternden Worte ließen ihr warm ums Herz werden, und sie war dankbar für die muskulösen Arme, die ihren müden Leib hielten. »Schön, Forral«, murmelte sie vertrauensvoll. Er gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn, und bei dieser leichten Berührung tat Aurians Herz einen schwindelerregenden Sprung. Eine prickelnde Hitze fuhr durch ihren Körper. Schon wieder. Das passierte jetzt jedesmal, wenn er ihr nahekam. O Forral! Sie hatte ihn schon geliebt, als sie noch ein Kind war, aber die Veränderung in der Art dieser Liebe nach seiner Rückkehr machte sie ratlos und konfus. Sie hatte sich schließlich selbst eingestanden, daß sie inzwischen mehr wollte als die herzliche Kameradschaft, die sie immer verbunden hatte. Aurian schlang ihre Arme fester um seinen Hals und blickte ihm forschend ins Gesicht, unfähig, ihr Verlangen zu verbergen. Und wie jedesmal trafen sich ihre Blicke einen schmerzhaften Moment lang, bevor er sich rasch abwandte.

»Na mach schon«, sagte er barsch und ließ sie stehen. »Vannor kommt heute morgen, du weißt doch. Wir müssen uns wohl ein wenig frisch machen für seine hochnäsige Zicke.« Ohne sie anzuschauen, ließ er sie stehen und ging. Aurian spürte, wie ihr der Kummer den Hals zuschnürte, während sie ihr Schwert aufhob und ebenfalls die Arena verließ.

Vannor und seine Gemahlin waren schon eingetroffen und warteten in Forrals Räumen. Aurian mußte ihren Ärger unterdrücken, als die elegante junge Frau bei ihrem Anblick – immer noch in kampferprobter Lederweste und Fechthosen – unangenehm berührt die Nase rümpfte. Aurian hatte eine intensive Abneigung gegen Vannors zweite Frau entwickelt. Die schlanke, blonde Frau sah sich in Forrals holzgetäfeltem, einfachem Quartier mit einem gewissen Unbehagen um, als ekele sie sich, sich in so niedriger Umgebung aufhalten zu müssen. Mißmutig fragte sich Aurian, wie das Mädchen, das wesentlich kleiner war als Forral oder sie, es dennoch fertigbrachte, auf sie beide herabzusehen. Angesichts der Abfuhr, die ihr Forral soeben erteilt hatte, fand sie Vannors hingerissenen Gesichtsausdruck, wenn er seine Frau anstarrte, schwer zu ertragen.

Aurian mochte den offenen, rauhbeinigen Kaufmann gut leiden. Klein und untersetzt, mit kurzgeschorenem Haar und Bart, entsprach Vannor in seinem Äußeren genau dem, was er in seinem Innersten immer noch war – ein Bursche aus dem Hafen, der es zu etwas gebracht hatte. Seine rauhe Stimme hatte sich den Akzent der Hafenarbeiter erhalten, und er machte sich auch nicht die Mühe, daran etwas zu ändern. Aber sein rauhes Äußeres verbarg ein warmes, großzügiges Herz. Sara betete er schlichtweg an. Sie war prächtig gekleidet, trug pelzbesetzten Samt, ihr Haar war zu einem kunstvollen Knoten gebunden, und ihre Finger, Handgelenke und Ohren waren mit den Juwelen behangen, die er ihr geschenkt hatte. Sie wirkte makellos schön – bis auf ihren hochmütigen Gesichtsausdruck und den kalten, berechnenden Blick, der in ihre Augen kam, wann immer sie ihren Mann ansah.

Der Besuch Vannors, des Hauptes der Kaufmannsgilde, in der Garnison jetzt beim Sonnenwendfest war eine Geste der Höflichkeit dem neuen Kommandanten gegenüber. Der Erzmagusch, das dritte Mitglied des Regierenden Rates, wurde später erwartet. Es ging bei dem Treffen nicht besonders lebhaft zu. Vannor und Forral kamen immer gut miteinander aus, aber der sonst so gutmütig derbe und herzliche Kaufmann wirkte heute – in Gegenwart seiner Frau – gezwungen, und auch Forral war ungewöhnlich still, lachte wenig und runzelte des öfteren die Stirn. Aurian, an der der Liebeskummer nagte, überlegte, ob sie sich entschuldigen und zur Akademie zurückkehren sollte, als es an die Tür klopfte. Forral ging ins Vorzimmer, um zu öffnen, und Aurian, erleichtert über die Unterbrechung, folgte ihm.

Es war Parric, der Hauptmann der Kavallerie. Der wettergegerbte, fast glatzköpfige, untersetzte Mann war als Offizier vom Dienst eingeteilt, und seine Miene verriet Bedauern. »Es tut mir leid, daß wir dich stören müssen, Forral, aber ein Müller oben vom Fluß hat einen entlaufenen Sklaven gefangen. Wir haben ihn gerade hergebracht.«

Forral seufzte. Aurian wußte, daß er die Sklaverei haßte, aber es war ihm unglücklicherweise nicht möglich gewesen, im Rat eine Mehrheit dagegen zu gewinnen. Der Erzmagusch war für die Sklaverei, und Vannor mußte sich gezwungenermaßen den Wünschen der Kaufleute beugen, die er repräsentierte – für sie bedeutete Sklaverei größere Gewinne, da sie die Sklavenarbeit nicht zu bezahlen brauchten.

»Um der Götter willen, Parric!« sagte Forral unwirsch. »Warum belästigst du mich jetzt mit so etwas? Sperr ihn einfach ein. Wir werden uns morgen um ihn kümmern, wenn der Festtag vorüber ist.«

Parric war anzusehen, wie unbehaglich er sich in seiner Haut fühlte. »Herr – ich meine, du solltest ihn jetzt sehen. Das arme Schwein ist in einem schrecklichen Zustand – grün und blau geschlagen. Ehrlich gesagt, kann ich ihm nicht verübeln, daß er versucht hat, zu fliehen. Ich würde einen Hund nicht so behandeln, wie er behandelt worden ist.«

Forrals Blick verfinsterte sich. »Entschuldige, Parric. Das ist natürlich etwas anderes. Dann sollten wir der Sache nachgehen. Ich möchte nicht, daß irgend jemand mit solchen Mißhandlungen davonkommt. Wessen Eigentum ist er?«

Parric zögerte. »Nun, es ist etwas heikel, weißt du …«

»Mann, du hast doch sein Sklavenmal gesehen! Rede also nicht um den heißen Brei herum und sag es mir!«

Der Kavalleriehauptmann warf Aurian einen beklommenen Blick zu. »Er gehört der Akademie.«

»Was?« Aurian war bestürzt. »Aber das ist unmöglich.«

»Aber es ist so, und es ist eine verdammte Schande, das will ich dir sagen.« Parrics Blick war unverhohlen anklagend.

»Es reicht, Parric«, schaltete Forral sich ein und legte seinen Arm um die empörte Magusch. »Bring ihn endlich herein, damit wir die Sache klären können.«

»Er ist dort draußen.« Parric winkte durch die offenstehende Tür, und zwei Wachleute, die eine reglose, zerlumpte Gestalt zwischen sich stützten, kamen herein.

Der Bursche stank. Seine Kleidung war zerfetzt, schmutzstarrend und völlig durchnäßt. Er zitterte heftig, und seine Haut hatte einen bläulichen Ton. Sein dick angeschwollenes Gesicht war mit Blutergüssen übersät. Aurian war entsetzt. Wer in der Akademie hatte den armen Kerl so behandelt? Plötzlich öffnete er seine Augen – die klarsten, strahlendsten blauen Augen, die Aurian je gesehen hatte. Sie blickten an ihr vorbei und weiteten sich in freudigem Erstaunen. »Sara!« stöhnte er.

Aurian fuhr herum. Sein Blick galt Vannors Frau, deren Gesicht totenblaß war. Mit eisiger Gleichgültigkeit blickte Sara den entlaufenen Sklaven an. »Wer ist dieser Kerl?« fragte sie kühl. »Ich bin ihm in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet!«

»Aber er kennt deinen Namen«, bemerkte Forral mit einem Stirnrunzeln.

Sara zuckte die Achseln. »Ich bin mit dem wichtigsten Kaufmann der Stadt verheiratet. Viele Leute kennen meinen Namen. Vannor, bring mich nach Hause. Dieses abstoßende Geschöpft macht mich krank!«

Vannor zuckte hilflos mit den Schultern. »Na gut«, sagte er. »Forral, entschuldigst du uns?«

Er nahm den Arm seiner Frau und führte sie heraus. Als sie an dem Gefangenen vorbeigingen, riß dieser sich von den Wachen los, fiel Sara zu Füßen und umklammerte den Saum ihren Kleides. »Sara, bitte …« bettelte er.

Mit einem Ausruf des Widerwillens entriß ihm die Frau ihren Rock und verschwand durch die Tür. Aurian konnte den Ausdruck seines Gesichtes, aus dem Verletzung und Verrat sprachen, kaum ertragen. Sie war sich sicher, daß Sara log. Der Junge barg sein Gesicht in den Händen und begann zu schluchzen. Überwältigt von diesem gequälten, hoffnungslosen Weinen ließ sich Aurian neben ihm auf die Knie sinken; ihr Herz fühlte mit ihm. »Armer Junge«, sagte sie sanft. »Mach dir keine Sorge, wir werden uns um dich kümmern, und wer immer dir dies angetan hat …« Ihre Stimme nahm einen wilden Tonfall an. »Ich werde dafür sorgen, daß es nie wieder vorkommt!«

Anvar blickte zu der großen, rothaarigen Frau auf. Er konnte ihr ansehen, daß sie eine Magusch war, und er erkannte sie als Forrals Begleiterin bei seinem Besuch in ihrem Laden, damals, vor so langer, langer Zeit. Ihre Augen waren jetzt steinhart vor Zorn. In seinem Schrecken über Saras Verrat hatte er ihre beruhigenden Worte gar nicht gehört und dachte nun, daß ihr Zorn ihm galt. Tief in seiner Kehle formte sich ein erstickter Laut der Furcht, aber dann schüttelte ihn plötzlich eine gewaltige Salve von Niesen. Die Magusch blickte ihn fragend an, holte ein Taschentuch hervor und gab es ihm. Kein damenhaftes Spitzentüchlein, sonders ein großer, rechteckiger Lappen aus weißem Leinen, der ölverschmiert war, als wäre damit ein Schwert gereinigt worden. Während er sich schneuzte, legte sich ihm ihre kühle Hand auf die Stirn. »Forral, er ist krank!« sagte sie bestimmt. »Hilf mir, ihn hineinzubringen. Parric, hol etwas Brühe aus der Kantine. Er scheint halb verhungert zu sein. Beeil dich!«

Anvar sah, wie sich die zwei Männer anblickten und die Achseln zuckten, dann wurde er von Forral höchstpersönlich in einen behaglichen Raum mit einem hellen, warmen Feuer halb getragen und halb gestützt.

»Leg ihn auf die Couch!«

Anvar fragte sich, wer sie war, daß sie dem Garnisonskommandanten befehlen konnte. Als Gefangener in der Küche der Akademie war er niemals mit den Magusch in Berührung gekommen.

»Aurian, er ist doch völlig verdreckt«, protestierte Forral.

Dies war also die Lady Aurian, die als Liebling des Erzmagusch galt! Anvar wurde schlecht vor Angst. Als man ihn vor den Kommandanten gebracht hatte, hatte er gehofft, seinen Fall darlegen zu können. Aber jetzt war er wieder in den Händen der Magusch, und wer konnte schon wissen, welche Strafe der Erzmagusch diesmal für ihn bereithielt?

Die Magusch breitete eine Decke auf der Couch aus und half ihm, sich hinzusetzen. Dabei legte sie ihren Arm um seine Schultern – genau dahin, wo Janok ihn mit dem Besen geschlagen hatte. Er schrie vor Schmerz auf. Mit einer einzigen schnellen Bewegung hatte sie ihm die Reste seines zerfetzten Hemdes heruntergerissen. Anvar hörte ein Würgen, bevor sie anfing, furchtbar zu fluchen. »Wer hat das getan?« knurrte sie und drehte ihn herum, so daß er sie ansehen mußte. Anvar konnte ihren Ärger spüren, der ihm wie eine schwere Masse entgegenschlug. Sie schien noch größer zu werden, und ihre grünen Augen zeigten ein eisiggraues Funkeln. Mit einem plötzlichen Angstschauder begriff er, daß sie nicht umsonst vom Erzmagusch gehätschelt wurde. Er begann zu zittern.

»Laß gut sein, Liebes. Er ist verängstigt. Mach dir keine Sorgen, Junge. Sie ist nicht böse mit dir.«

Forrals freundliches Stimme machte Anvar Mut. »Es war Janok«, flüsterte er.

»Dieser Bastard!« Aurian explodierte, sprang auf und ließ ihre Faust mit solcher – magisch verstärkter – Gewalt auf den hohen marmornen Kaminsims niedersausen, daß mit einem Lichtblitz eine Ecke des dicken Steines abbrach. Anvar war starr vor Furcht, aber Forral seufzte nur.

»Aurian«, sagte er vorsichtig mahnend. Schuldbewußt las die Magusch das abgebrochene Stück auf und setzte es wieder an seinen Platz.

»Entschuldige, Forral.« Sie strich mit der Hand darüber, und die Steine verschmolzen, ohne eine Spur des Bruches zu hinterlassen. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, daß das in der Akademie geschehen konnte«, sagte sie. »Warten wir, bis Miathan kommt! In der Zwischenzeit« – bei diesen Worten drehte sie sich zu Anvar um – »werde ich sehen, was ich tun kann, um dieser armen Seele zu helfen.«

»Nein, Aurian!« Forrals Stimme klang beschwörend.

»Warum denn nicht?« Aurian klang erstaunt. »Ich habe genug von Meiriel gelernt, um ihn heilen zu können …«

»Es ist nicht deswegen«, sagte Forral. »Er ist entflohen, und …«

»Das spielt keine Rolle!« wandte Aurian ärgerlich ein.

»Hör doch, Liebes. Ich weiß, daß es hart ist, aber Miathan hat das Recht, ihn zu bestrafen. Wenn er sieht, was man ihm angetan hat, dann kommt der arme Junge bestimmt leichter davon. Außerdem sollte der Erzmagusch erfahren, was in seinem Hause vorgeht.« Forrals Stimme klang ernst. »Das muß ein Ende finden.«

Sara stürmte in ihr Schlafzimmer und schlug mit der ganzen Kraft ihres Zornes die Tür zu. Der Schlag hätte ein einfacheres Haus bis in die Grundfesten erschüttert, aber nicht dieses hier. Vannors Wohnhaus war von meisterlichen Handwerkern aus den besten Materialien, die man für Gold kaufen konnte, erbaut worden. Obwohl sie das ganze Gewicht ihres Körpers einsetzte, schwang das schwere Türblatt aus Eichenholz in seinen geölten und ausbalancierten Angeln nur schwerfällig zu und fiel mit einem fast unhörbaren Klick ins Schloß. So seiner Wirkung beraubt, steigerte sich Saras Zorn nur um so mehr. Unter unflätigen Verwünschungen, wie sie einem Fischweib vom Hafen Ehre gemacht hätten, griff sie nach dem nächsten besten Gegenstand – einer weißen Porzellanvase mit Hyazinthen und Winterrosen – und schmetterte ihn gegen die Tür, die es gewagt hatte, ihrem Ärger zu trotzen.

Sie stöhnte auf; ihr Zorn wurde einen Augenblick lang überwältigt von dem Schrecken über die Verwüstung, die sie angerichtet hatte – die zerschmetterte Vase, eine Kerbe in der seidenglatten Vertäfelung der Tür, die abgebrochenen, verstreut umherliegenden Blüten und die Wasserlache, die sich auf den edlen Farben des dicken Teppichs ausbreiteten. Dann strafften sich ihre Schultern bockig. Dann war der Teppich eben ruiniert – na und? Dies alles hier gehörte ihr genausogut wie Vannor, und sie konnte damit machen, was sie wollte. Es geschähe ihm ganz recht, wenn sie ein kostbares Haus eigenhändig in Stücke schlug!

Aufs neue loderte der Zorn in ihr auf und ließ Sara ruhelos im Zimmer umherlaufen, ohne auf die Porzellansplitter und Blumen zu achten, die sie immer tiefer in den weichen Flaum des Teppichs trat. Wie hatte Vannor es wagen können, ihr Grobheit vorzuwerfen, sie zur Rede zu stellen, weil sie diesen ungehobelten Tölpel von einem Soldaten und diese wilde Vogelscheuche von einer Magusch brüsk hatte stehenlassen? Wie hatte er es wagen können, ihr so eine Standpauke zu halten – und zwar vor seinen vermaledeiten, grinsenden Kindern?

Aber der Gedanke an ihren Mann nahm Saras Aufsässigkeit etwas von ihrer Schärfe. Dies war ihr erster richtiger Streit gewesen. Während all der Monate, die sie jetzt verheiratet waren, hatte Vannor nie die Stimme gegen sie erhoben. Sie begriff plötzlich, wie dumm sie heute gewesen war – zu sorglos und zu siegessicher; zu sicher, daß sie Macht über ihn hatte. Sie würde sich wieder mit ihm vertragen müssen, und das so bald wie möglich. Er war ihre Sicherheit – ihr wunderbarer, neu erlangter Reichtum und Luxus – ihr Schutz gegen ihren Vater und das, was er ihr angetan hatte, gegen die Verwahrlosung und Armut und endlose, brutale Plackerei; gegen den Skandal, von einem stinkenden Wrack von einem Sklaven schwanger gewesen zu sein, der nicht besser war als ein Tier …

Während die Vision von Anvar vor ihrem geistigen Auge entstand, begann Sara zu zittern. Der Schock, ihn nach so langer Zeit so unerwartet wiederzusehen, der Schrecken, von ihm beim Namen genannt zu werden, hatten sie völlig um den Verstand gebracht. Sie hatte nur noch einen Gedanken gehabt – zu fliehen, soviel Abstand wie möglich zwischen sich selbst und dieses zerschlagene, schmutzige Lumpenbündel zu bringen, das sie mit Anvars Stimme angesprochen und sie mit diesen strahlend blauen Augen angefleht hatte.

Mit heftig zitternden Händen schloß Sara die zierliche Lackvitrine neben ihrem Bett auf und holte eine Kristallkaraffe hervor, die im winterlichen Licht des Zimmers in regenbogenfarbenen Prismen erstrahlte. Sie war ihr Trost und ihr Geheimnis. Ihre Zofe wurde gut dafür belohnt, dafür zu sorgen, daß die Flasche immer gut gefüllt war – und immer Stillschweigen darüber zu bewahren. In den Nächten, in denen Vannor ihr Bett aufsuchte – es waren die meisten –, schloß sie die Tür, wenn er fertig war und sie wieder verlassen hatte, und verbrachte lange Stunden damit, Wein zu trinken und all ihre Juwelen auf der weißen Bettdecke zu kleinen Bergen aufzuhäufen, die im Kerzenlicht warm funkelten.

O ihr Götter! Sie schenkte sich einen Kelch Wein ein, trank ihn aus und goß sich wieder ein. Ich würde alles darum geben, dachte sie, wenn es diesen Morgen nicht gegeben hätte. Zumindest wußte sie jetzt, was aus Anvar geworden war. Torl hatte einfach behauptet, er wäre verschwunden, und die meisten Leute glaubten, daß er wegen des Unfalls mit Ria davongelaufen wäre und Nexis für immer verlassen hätte. Ihre Eltern hatten natürlich geglaubt, daß er vor seiner Verantwortung für seinen Schatz und ihr gemeinsames ungeborenes Kind davonlaufe. Sara hatte es ebenfalls vorgezogen, sein Verschwinden in diesem Licht zu sehen; auf diese Weise hatte sie Vannors Werbung ohne jedes lästige Schuldgefühl annehmen können …

»Wieder beim Wein, Stiefmutter?«

Sara fuhr mit einem Fluch herum! Zanna! Vannors jüngere Tochter stand in der Tür und starrte sie wie gewöhnlich durch einen dichten Vorhang von ungebändigtem, braunem Haar an, das dem Versuch eines ganzen Bataillons von Zofen, es in Ordnung zu bringen, widerstanden hatte. Sara biß sich vor Arger auf die Lippen. Wie hatte das Balg so leise hereinschleichen können?

»Was meinst du mit ›wieder‹?« sagte sie unverfroren. Sie wußte sehr genau, daß das Mädchen sie verabscheute, und dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Das letzte, was Sara heute gebrauchen konnte, war, daß diese kleine Hexe dafür sorgte, daß sie noch mehr Ärger mit Vannor bekam.

Antor, der kleine Sohn des Kaufmanns, dessen Geburt für Sara den Weg frei gemacht hatte, Vannor zu heiraten, war kein Problem. Er war noch zu jung, um zu verstehen, wer sie war, oder um sich einzumischen. Sara überließ ihn einfach seinen Ammen. Mit Corielle, der ältesten Tochter, fertig zu werden, war ein leichtes gewesen. Sie war im gleichen Alter wie Sara und hatte darüber hinaus die goldene Schönheit mit ihr gemein. Und sie war in dem richtigen Alter, um sich sehr für Männer zu interessieren – aber nicht nur für die Sprößlinge der reichen Kaufmannsfamilien, die ihr Vater als passende Bewerber ausersehen hatte. Es bedurfte nur gelegentlicher Großzügigkeit bei der Beaufsichtigung – einmal beide Augen zugedrückt bei einem merkwürdigen Liebesbrief oder einem geheimen Stelldichein –, und Sara hatte sie für sich gewonnen. Bei Zanna war das ganz anders. Nicht nur äußerlich ihrem Vater nachgeraten, war das Kind so geradeheraus, wie man es sich nicht schlimmer vorstellen konnte, dazu noch entschieden zu klug für ihre vierzehn Jahre. Das war doch nicht natürlich!

»Du solltest Gelda beim nächsten Mal sagen, sie soll die Flasche besser verstecken, wenn sie sie heraufbringt.« Obwohl Zanna ihre Stiefmutter mit allem Respekt behandelte, solange Vannor dabei war, wurde ihr Umgangston sofort frech und aufsässig, wenn sie unter sich waren. Saras Hand schloß sich fest um das zerbrechliche Kristall des Kelches. Götter, wie gern würde sie diese kleine Schlampe erwürgen! Als sie antwortete, war ihre Stimme gedämpft und zitterte vor Zorn.

»Hör zu, du Ausgeburt – ein einziges Wort davon zu deinem Vater, und ich werde dafür sorgen, daß es dir leid tut, daß du jemals geboren wurdest! Verstehst du mich?«

Zannas Augen verengten sich berechnend hinter dem schlaff herabhängenden Vorhang von Haaren, der Sara so irritierte. Sie hatte wirklich Vannors Blut in ihren Adern, das mußte man ihr lassen! Das kleine Biest war durch und durch ein Kaufmann. »Vielleicht«, sagte sie, anscheinend sorglos. »Ich bin mir sicher, daß jemand, der so klug ist wie du, eine Möglichkeit findet, es mir schmackhaft zu machen!«

Das war zuviel. »Hinaus!« kreischte Sara. »Sofort hinaus – und schicke Gelda herauf, damit sie hier Ordnung schafft!«

Zanna besah sich die Porzellanscherben, die auf dem Boden lagen, und ihre Gesichtsausdruck änderte sich jäh. Aus Schlauheit wurde versteinerter Haß, der bei dem jungen Mädchen erschreckend wirkte. »Das war Mutters Lieblingsvase«, sagte sie mit leiser, gepreßter Stimme. »Bei den Göttern, ich hasse dich.« Es war das erste Mal, daß sie es laut ausgesprochen hatte. Dann war sie fort und ließ eine erschütterte Sara zurück, die sich noch ein Glas einschenkte und sich fragte, wie das Kind es geschafft hatte, die Tür lautstark zuzuwerfen, nachdem ihr selbst es nicht gelungen war.

Anvar versuchte mit aller Kraft, bei Bewußtsein zu bleiben – aus Angst vor dem, was der Erzmagusch ihm antun könnte, wenn er schlief und hilflos war. Die Lady versuchte, ihm etwas Brühe einzuflößen, stützte ihn mit einem Arm, während sie die Tasse mit der wannen Flüssigkeit an seine Lippen hielt. Er konnte nichts hinunterbringen. Sein Kopf dröhnte noch von Jards furchtbarem Schlag, und sein ganzer Körper schmerzte. Es tat ihm weh, zu atmen. Sein Magen hatte sich in angstvoller Erwartung weiterer Torturen zusammengezogen. Als er Miathans Stimme hörte, der mit Forral im Vorraum redete, begann er sich heftig zu wehren, schlug die Tasse weg und überschüttete sich selbst und die Magusch mit der Brühe.

Dann war der Erzmagusch im Zimmer, stand mit vor Wut brennenden Augen turmhoch über ihm. »Du!« knurrte er. Er packte ihn und zog ihn auf die Füße. Anvar schauderte wimmernd zurück.

»Nein, Miathan!« Aurians Stimme klang entsetzt.

»Aurian, misch dich nicht ein«, sagte Miathan scharf. »Der Elende hat seine Verpflichtungen verletzt und muß bestraft werden.«

»Bestraft?« Aurians Stimme erhob sich ungläubig. »Er ist genug bestraft worden! Hast du gesehen, was Janok ihm angetan hat?«

»Sie hat recht, Miathan«, sagte Forral. »Das übersteigt jedes Maß.«

»Kümmere du dich um deine eigenen Angelegenheiten!« schnauzte Miathan den Schwertfechter an.

»Es ist meine Angelegenheit.« Forrals Miene verfinsterte sich. »Es ist meine Pflicht, dem Gesetz in Nexis Geltung zu verschaffen, und ich werde meine Augen nicht vor solcher Brutalität verschließen, ganz gleich, ob Magusch damit zu tun haben oder nicht. Selbst ein Sklave hat Rechte. Wie würdet Ihr dastehen, wenn sich diese Geschichte herumspricht?«

Anvar fühlte Hoffnung in sich aufsteigen. Sie verteidigten ihn. Sie verteidigten ihn beide, sogar die Magusch! Miathan schien in die Defensive zu geraten, aber er fing sich schnell wieder. »Mein lieber Forral, du mißverstehst mich«, sagte er. »Natürlich darf es keine Wiederholung dieses unglücklichen Zwischenfalls geben, und ich versichere dir, daß ich dieser Sache nachgehen werde – und zwar genauestens.« Während er sprach, warf er Anvar einen finsteren Blick zu. »Du solltest aber wissen, daß dieser Sterbliche ein Unruhestifter und sehr gefährlich ist.«

»Auf mich wirkt er nicht gefährlich«, sagte Forral frei heraus. »Der arme Kerl ist vor Angst halb um den Verstand gebracht. Ihr könnt ihm sicherlich diesmal verzeihen, Erzmagusch. Er hat schon genug durchgemacht.«

»Bitte, Miathan – für mich.« Aurian sah den Erzmagusch vertrauensvoll an, während sie ihre Bitte aussprach. Wäre Anvar nicht selbst in einer so verzweifelten Lage gewesen, dann hätte er über den ohnmächtigen Ausdruck auf Miathans Gesicht sicher lachen können.

»Oh, natürlich«, murmelte der Erzmagusch schließlich. »Ich werde mit Janok sprechen, wenn ich wieder in der Akademie bin.«

Als der Name des Küchenmeisters fiel, stöhnte Anvar auf.

Nicht wieder in die Küche! Er konnte nicht! Verzweifelt griff er nach der Hand der Maguschfrau, die neben ihm stand, und ließ sich vor ihr auf die Knie fallen. »Laßt nicht zu, daß sie mich dorthin zurückschicken«, bat er. »Er wird mich umbringen. Bitte …«

»Anvar!« Miathans Stimme war wie ein Peitschenhieb. »Wie kannst du es wagen! Laß Lady Aurian in Ruhe!« Er beugte sich zu Anvar herab, der sich vor Angst wegduckte und sein Gesicht in den Händen verbarg.

»Nein!« schrie er. »Bitte nicht wieder!« Er schrie noch einmal auf, als Miathans Bann seine Wirkung entfaltete; das eisige Band von Schmerz zog sich fest um seine Stirn zusammen. Hilflos zuckend fiel er zu Boden.

»Große Götter!« rief Aurian und kniete sich neben ihn.

Plötzlich war der Schmerz vorbei. Anvar, der wieder Luft bekam, blickte auf und erkannte die eindeutige Botschaft in Miathans funkelnden Augen – Wenn du etwas verrätst, wirst du sterben! Und er wußte, daß Miathan selbst den Schmerz zum Verschwinden gebracht hatte, bevor Aurian der Sache auf den Grund gehen konnte.

»Es ist schon gut«, murmelte er hilflos. »Ich bin in Ordnung.«

Aurian runzelte die Stirn. »Was zum Kuckuck war das? Ich verstehe nicht …« Sie blickte den Erzmagusch an. »Was hat er gemeint, Miathan? Du hast ihm doch nichts getan, oder?«

Der Erzmagusch lachte laut auf. »Mach dich nicht lächerlich! Es ist doch klar, daß der Bursche nicht bei Sinnen ist.«

»Das scheint mir nicht so.« Aurian schüttelte langsam den Kopf. »Nein, er ist nur verängstigt, da bin ich mir sicher. Es ist jedenfalls sehr merkwürdig. Wo kommt er her?«

»Wirklich, Aurian. Ist all dies Hin und Her jetzt unbedingt nötig?« sagte Miathan verdrossen. »Laß mich ihn zurück in die Akademie schicken, und dann können wir vielleicht endlich genießen, was vom Tag noch übrig ist.«

»Miathan, du darfst ihn nicht zurück in die Küche schicken«, bat Aurian. »Nicht nach dem, war er durchgemacht hat. Warte – ich weiß!« Ihr Gesicht hellte sich plötzlich auf. »Du hast mir schon lange einen eigenen Diener versprochen. Gib ihn mir!«

»Was?« donnerte Miathan. »Auf keinen Fall! Das kommt überhaupt nicht in Frage!«

Aurians Augen weiteten sich vor Überraschung, so unerwartet kam diese Ablehnung. Sie stand auf, baute sich vor dem Erzmagusch auf, ihre Kinnlade trotzig vorgeschoben. »Ich sehe nicht ein, warum das nicht gehen sollte. Es scheint mir die perfekte Lösung zu sein. Bitte, Miathan.«

»Nein, Aurian. Ich werde einen anderen Diener für dich finden, aber Anvar ist höchst ungeeignet. Was er braucht, ist Disziplin.«

»Unfug, Disziplin!« schnappte Aurian. »Er hatte viel zuviel Disziplin, wenn du mich fragst. War er braucht, ist Freundlichkeit.«

»Das werde ich entscheiden!« Die Luft zwischen den beiden Magusch, die sich Augen in Auge gegenüberstanden und einander wild anstarrten, schien vor Spannung zu knistern. Anvar hielt den Atem an.

»Aurian«, mischte sich Forral ein und drängte die Magusch, »vielleicht hat der Erzmagusch recht. Wenn er wirklich gefährlich …«

»Sei du bloß still!« fuhr Aurian den verblüfften Schwertkämpfer an. »Ich habe genug von euch beiden. Ich bin kein Kind mehr, das sich ständig eurer sogenannten Weisheit beugen muß.« Ihre Stimme wurde hart vor Zorn. »Ich habe in diesem Fall recht, das weiß ich. Ich will diesem armen Jungen helfen – um die Ehre der Magusch wiederherzustellen. Es ist unsere Schuld, daß es soweit mit ihm gekommen ist. Aber anstatt zuzulassen, daß ich meinem Urteil vertraue, bekomme ich von euch nichts als spitzfindige Haarspaltereien zu hören. Das ist jämmerlich!«

Miathan stand wie vom Donner gerührt. »Aurian!« brüllte er. »Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Du gehst sofort zurück in die Akademie!«

»Das werde ich nicht!« schrie Aurian. »Du magst über die Akademie herrschen, aber du beherrscht nicht die Welt, und du beherrscht nicht mich! Mein Vater und meine Mutter sind gegangen, und ich kann das genauso tun!«

Bei diesen Worten wurde Miathans Gesicht weiß, und Anvar war erstaunt, ein plötzliches Aufflackern von Panik in seinen Augen zu sehen. Völlig unerwartet schien er jetzt nachzugeben.

»Nun gut, meine Liebe«, sagte er. »Da es dir offensichtlich so viel bedeutet, gehört Anvar dir.«

Aurian schien durch seine plötzliche Kapitulation überrascht. Die Spannung verflog, und sie errötete vor Scham. »Miathan, ich danke dir«, sagte sie sanft. »Du bist so gut zu mir. Ich hätte die Beherrschung nicht verlieren dürfen, und es tut mir wirklich leid.«

»Mir auch«, sagte Miathan herzlich. Er streckte seine Arme aus, und Aurian beeilte sich, ihn zu umarmen.

»Ich werde dafür sorgen, daß er sich benimmt«, versprach sie. »Ich schwöre dir, daß ich das werde.«

Miathan blickte sie ernst an. »Das mußt du tatsächlich. Du bist jetzt verantwortlich für diesen Sterblichen, und ich mache dich persönlich für sein Betragen haftbar. Wenn er auffällt, geht er sofort zurück in die Küche.« Er blickte Anvar scharf an. »Anvar, ich vertraue darauf, daß du die Freundlichkeit der Lady Aurian nicht ausnutzen wirst.«

Anvar erschauderte, als ihn der stählerne Blick traf. Miathan lächelte kalt. »Und jetzt, bevor ich dir gestatte, in den Dienst dieser Lady zu treten, mußt du schwören, vor diesen Zeugen, daß du nicht noch einmal versuchen wirst, zu fliehen.«

Anvar erstarrte. Er saß in der Falle! Die Magusch lächelte ihn ermutigend an. Ohne es zu wissen, hatte sie ihm mit ihrer Freundlichkeit eine Falle gestellt. Er hatte keine Wahl, und das wußte er auch. Schweren Herzens gab er sein Wort.

Der Erzmagusch schäumte vor Wut, als er durch die schneebedeckten Straßen zur Akademie zurückkehrte. Wie konnte Aurian es wagen, sich ihm zu widersetzen! Und das, wo es um seinen eigenen, verwünschten, halbblütigen Bastard ging! Miathan knirschte mit den Zähnen. Er hätte Anvar am liebsten umgebracht, den Fehltritt aus seinen jüngeren Tagen ein für allemal aus der Welt geschafft – aber er konnte es nicht. Wenn Anvar starb, dann würden die Kräfte, die er diesem Elenden gestohlen hatte, für immer verloren sein. Miathan mußte ihn am Leben halten. Er brauchte diese Kräfte.

Aurians Worte schmerzten ihn tief. Ich beherrsche also nicht die Welt? Nun, eines Tages werde ich das – und dann wird Aurian für ihre Aufsässigkeit bezahlen müssen! Und es machte sich gut, daß es gerade Anvar war, der ihm dafür die Mittel zur Verfügung stellte. Miathan lächelte. Mit den zusätzlichen magischen Kräften, die er gestohlen hatte, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Es ging nur noch darum, abzuwarten, bis seine Zeit gekommen war, und den rechten Moment abzupassen, um zuzuschlagen.

Miathan war von der Macht fasziniert. Sein Ehrgeiz war es, die große alte Zeit wiederherzustellen, als das Maguschvolk seine Kräfte benutzt hatte, um die Rasse der Sterblichen zu beherrschen. Um dies zu erreichen, hatte er sich mit gnadenloser Schlauheit und in aller Heimlichkeit seinen Weg zum Rang des Erzmagusch gebahnt. Er und Geraint waren Freunde gewesen, bis Aurians Vater mit seiner zerstörerischen Zuneigung zu den Sterblichen als nächster Erzmagusch nominiert worden war. Es war einfach gewesen, den ›Unfall‹ zu arrangieren, der seinen Rivalen schließlich aus dem Weg räumte, aber Miathan hatte nicht mit dem Schuldgefühl gerechnet, das ihn verfolgte, seit er einen anderen Magusch umgebracht hatte. Er hatte ursprünglich vorgehabt, als Wiedergutmachung Aurian zu seiner Nachfolgerin zu machen. Aber inzwischen hatte er einen neuen Plan für Geraints Tochter entwickelt. Er wollte sie als seine Gefährtin an seiner Seite – und in seinem Bett! Bei diesem Gedanken überschwemmte eine Welle vor Verlangen den Erzmagusch. Ihre Drohung, zu gehen, ließ ihn aufs neue innerlich erstarren. Miathan wußte jetzt, daß es falsch gewesen war, Forral nach Nexis zu holen. Er hatte geglaubt, daß er durch Aurian die Kontrolle über die Stimme des Garnisonschefs im Regierenden Rat erlangen könnte, aber dieser Plan war fehlgeschlagen. Wegen ihrer Anhänglichkeit an ihren sterblichen Freund und Lehrer wurde seine Schülerin immer unlenkbarer, und ihre Loyalität zu ihm, die er über die Jahre hin mühselig aufgebaut hatte, wurde schwächer. Unglücklicherweise gab es gegenwärtig keine Möglichkeit, das Problem zu lösen. Wenn er irgendwie mit Forrals Beseitigung in Zusammenhang gebracht werden konnte, würde Aurian ihm das niemals verzeihen.

Miathan mußte sich mit Geduld wappnen. Früher oder später würde er eine Gelegenheit finden, mit dem Schwertkämpfer abzurechnen. Bis dahin mußte er sich um jeden Preis Aurians Liebe und Vertrauen erhalten. Wenn Forral erst aus dem Weg geräumt war, würde er sie schnell dazu bringen, zu tun, was er wollte, und ihre Kräfte benutzen, um seine Ziele zu verfolgen. Miathan lächelte still in sich hinein. Es konnte doch nicht so schwierig sein, einen einzigen Mann loszuwerden. Forral war doch nur ein Sterblicher, Aurian war müde, aber zufrieden. Dies war die erste Probe der Fähigkeiten gewesen, zu denen Meiriel ihr verholfen hatte, und alles war gutgegangen. Die vielen Stunden, die sie damit zugebracht hatte, die komplizierten Funktionen des menschlichen Körpers zu studieren und ihre magischen Kräfte so einzusetzen, daß Verletzungen gelindert und die natürlichen Heilungsprozesse beschleunigt wurden, waren nicht vergebens gewesen. Obwohl sie noch viel zu lernen hatte, waren ihre ersten selbständigen Bemühungen ein Erfolg gewesen. Und wie ein Arzt sich die Hände wäscht, so verscheuchte Aurian die letzten bläulich schimmernden Spuren von Maguschlicht, die ihr Heilzauber zurückgelassen hatte.

Ihr neuer Diener ruhte bequem in sauberen Laken in einem Raum, den ein eher wortkarger Forral zur Verfügung gestellt hatte. Jetzt, da er gesäubert war, konnte sie sehen, wie Anvars Verletzungen schnell auf der bleichen glatten Haut verschwanden. Bald würde nichts mehr davon zu sehen sein, und die Magusch war dankbar für ihre Kräfte, die solche Wunder wirken konnten. Anvars Augen öffneten sich, und ihr lebhaftes, intensives Blau nahm Aurian fast den Atem.

»Wie fühlst du dich?« fragte sie.

»Es tut nicht weh«, sagte er erstaunt. »Es tut wirklich nicht weh! Bei den Göttern, ich hatte vergessen …«

Aurian unterdrückte einen in ihr aufwallenden Schwall von Gefühlen. Was hatte der arme Kerl durchgemacht! »Es wird auch nicht mehr weh tun«, versicherte sie ihm. »Dafür habe ich gesorgt.«

»Magusch heilen keine Sterblichen!« Seine Stimme erhob sich ungläubig. »Lady Meiriel wollte meinen Großvater nicht heilen, und er starb!«

Da sie Meiriel kannte, war Aurian unbehaglicherweise klar, daß er vielleicht die Wahrheit sagte. »Also, Lady Aurian heilt Sterbliche«, sagte sie schnell, »und du hast es auf jeden Fall nötig gehabt!«

»Lady – was wird mit mir geschehen?«

Aurian lächelte ihn beruhigend an und versuchte, ihm die Furcht zu nehmen, die sich wieder auf seinem Gesicht zeigte. »Erinnerst du dich nicht? Du wirst von jetzt an mein Diener sein, und ich werde dafür sorgen, daß du niemals wieder so zugerichtet wirst. Du bist jetzt in Sicherheit.«

»Oh.« Er klang alles andere als überzeugt.

Nun, was sollte man von einem Sklaven erwarten? Aurian überlegte. Dankbarkeit? Sie lächelte über ihre eigene Dummheit. Wenn ich er wäre, entschied sie, würde ich mir wahrscheinlich auch nicht glauben.

Diesmal schaffte er es, die Brühe zu trinken, die sie ihm gab, und bald danach schlief er ein. Aurian mußte ebenfalls etwas zu sich nehmen, um die Energie zu ersetzen, die sie für das Heilen verausgabt hatte, und da sie auch die schwierige Aufgabe übernommen hatte, ihren Patienten sauber zu machen, brauchte sie nun dringend selbst ein Bad. Aber sie wartete noch eine Weile, beobachtete ihn, während er schlief, und versuchte, das an ihr nagende Gefühl loszuwerden, daß sie ihn schon einmal gesehen hatte. Hatte der Erzmagusch ihn Anvar genannt? Er war groß und breitschultrig, aber entsetzlich dünn. Gut, dagegen ließ sich etwas tun. Er sah jünger aus, als es zunächst den Anschein gehabt hatte; wahrscheinlich war er nicht viel älter als sie selbst. Sein Gesicht wirkte sogar im Schlaf melancholisch; mit feinen Linien zwischen den Brauen und um die Winkel seines Mundes. Sein Kinn wirkte fest, die Nase war etwas groß, und sein feines, bronzefarbenes Haar fiel ihm in Locken bis in den Nacken. Und diese Augen! Aurian hatte bei einem Sterblichen noch nie solche Augen gesehen.

Forral trat ein und bemerkte, daß Aurian ihren Patienten mit einem merkwürdig zarten Gesichtsausdruck betrachtete. Ein heftiger Anfall von Eifersucht überkam ihn. Was hatte es mit diesem verdammten Kerl auf sich, daß sie ihn so leidenschaftlich gegen den Erzmagusch und gegen ihn selbst verteidigt hatte?

Aurian blickte rasch auf, und ihre Miene umwölkte sich plötzlich. »Ich habe dich nicht hereinkommen hören.«

»Das habe ich gemerkt.« Er konnte den barschen Ton seiner Stimme nicht unterdrücken.

Aurian zuckte zusammen. »Forral, es tut mir leid, daß ich dir gegenüber die Beherrschung verloren habe. Ich bin wirklich dankbar für deine Hilfe …«

»Du hast das Herz eines Kriegers, dich so vehement dafür einzusetzen, woran du glaubst – und es selbst mit dem Erzmagusch aufzunehmen! Ich werde dir immer helfen, das weißt du, aber … Aurian, bist du sicher, daß das hier eine gute Idee war?«

»Forral, nicht noch einmal! Verstehst du nicht, daß ich kein Kind mehr bin?« Was sie meinte, war nur allzu klar. Sie klang so traurig, so wehmütig, daß er das Verlangen unterdrücken mußte, ihr zu sagen, daß er sie liebte – daß er sie genauso begehrte wie sie ihn. Forral nahm sich zusammen. Es war unmöglich. Es gab Gründe für das Verbot von Verhältnissen zwischen Magusch und Sterblichen – Gründe, die sie nicht bedacht hatte. Er mußte sie beschützen. Er wappnete sich gegen die Sehnsucht, die aus ihren Blicken sprach, und zwang sich, freundlich zu sein.

»Es tut mir leid, Liebes«, sagte er. »Ich habe mich schon um dich gekümmert, als du noch so ein kleiner Fratz warst, weißt du. Wir alten Leute vergessen meist, wie schnell unsere Schützlinge erwachsen werden.«

Sie schaute weg, und Forral wußte, daß sie vor ihm zu verbergen suchte, wie sehr sie das verletzte. Es gab ihm einen Stich ins Herz. Schnell verließ er das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. An die glatte Vertäfelung gelehnt, fluchte er leise mehrere Minuten vor sich hin. Wie lange sollte das noch so gehen? Er hätte niemals zurückkommen dürfen! Und nachdem er sah, wie sich die Dinge entwickelten, hätte er sofort wieder gehen müssen. Er müßte jetzt gehen, aber … er konnte nicht.

Er konnte sie nicht noch einmal verlassen. Mit einem Seufzer kehrte Forral Aurians Tür den Rücken und stapfte hinaus, um sich einen wirklich guten Schluck zu gönnen. Das war in diesen Tagen das einzige, was half.

Загрузка...