31 Dhiammara

»Heil dir, holde Dhiammara!«

»Du machst Witze!« Aurian wandte sich in offenkundiger Ungläubigkeit an Yazour. Am achtzehnten Abend ihrer Reise hatte die Schönheit der Wüste langsam an Reiz verloren. Der Juwelenstaub saß überall: in ihrem Haar, in ihrer Kehle, in ihren Kleidern – und weil die Oasen, die sie besucht hatten, die einzigen Quellen des lebenswichtigen Trinkwassers in der Wüste waren, durfte dort nicht gebadet werden. Die Magusch fühlte sich unaussprechlich schmutzig, und ihr ganzer Körper juckte. Ihr Baby stahl ihr den Löwenanteil von ihren schmalen Essensrationen, so daß sie einen ständigen Heißhunger hatte, obwohl Bohan und Anvar ihr jedesmal etwas von ihrem eigenen Essen aufzwangen. Die intensiven Unterrichtsstunden mit Anvar hatten sie beide um einen großen Teil des so dringend benötigten Schlafs gebracht, und Aurian war müde und reizbar. Ihre Augen brannten von dem Flirren des Sandes. Sie war ganz eindeutig nicht in der Stimmung für irgendwelche Scherze.

Aurian ließ ihr Pferd in eine langsamere Gangart fallen, hob sich den Schleier von den Augen und blinzelte in das funkelnde Licht. Dort, als Silhouette gegen den mondhellen Himmel, ragte ein einsamer Berg auf – ein Berg von einer unglaublichen Höhe. Sein Gipfel war seltsam abgeflacht, als wäre er von einem gewaltigen Schwert abgehackt worden, und die steilen Bergwände funkelten mit einer spiegelartigen Helligkeit, als hätte jemand sie poliert. Das ganze Gebilde zeigte keine Anzeichen von Verwitterung, und auch das war an diesem Ort der sengenden Sandstürme ein Ding der Unmöglichkeit. »Das ist kein natürlicher Berg!« rief sie anklagend aus.

»Da gebe ich dir recht, aber niemand kennt seine Geschichte«, erwiderte Yazour. »Aus der Nähe sind seine Ausmaße geradezu atemberaubend. Er sieht jetzt schon gigantisch aus, aber Entfernung ist in der Wüste immer etwas Trügerisches.«

Er hatte recht, wie Aurian später herausfinden sollte. Es bedurfte noch eines harten, stundenlangen Rittes, bevor sie die turmhohe Bergspitze erreichten, und als sie sich ihren steilen Wänden näherten, wurde der Horizont langsam hell. Der Berg war gewaltig, wobei der Umstand, daß das Land um ihn herum vollkommen flach war, den Eindruck seiner Größe noch steigerte. Der schlanke Bergkegel stieg aus dem ihn umgebenden Sand empor wie eine Insel im Meer. Während der letzten Meilen ihres Rittes war es unmöglich gewesen, das ganze Gebilde im Auge zu behalten, und nun, als sie an seinem Fuße angekommen waren, konnten sie nur noch eine vertikale Wand aus dunkel glänzendem Fels sehen, die sich meilenweit nach oben und zu den Seiten hin erstreckte. Yazour ritt ihnen voraus. Er galoppierte ein Stück an der wie poliert wirkenden Wand entlang, und bald sah auch Aurian den dunkleren Schatten auf dem Stein – eine schmale Öffnung, die gerade hoch genug war, um ein Pferd hindurchzulassen.

Einer nach dem anderen führten die Reiter ihre Tiere durch den Eingang und hinein in die dahinterliegende, kühle Dunkelheit. Dann wurden Fackeln entzündet, die an einer Seite der Öffnung aufgestapelt lagen, und in die Halter an den Wänden gesetzt. Als es langsam heller wurde, sah Aurian sich ungläubig um. Die Höhle war ungeheuer groß, und ihre Decke verlor sich im Dunkel, das über ihnen herrschte. Zu ihrer Linken nahmen zwei Wasserbecken die Hälfte des Platzes auf dem Boden ein; das höhere befand sich auf einem Felsvorsprung, von dem das Wasser in einem schmalen Rinnsal in das darunterliegende floß. Eine steinerne Rampe führte zu dem oberen Becken, wo man die Pferde und die Maultiere zum Trinken hinführte. Der Boden der Höhle bestand aus flachem Fels, auf dem sich mancherorts funkelnder Juwelensand fand, den der Wind hineingeweht hatte. Dieser Sand, zusammen mit dem Widerschein der glasigen Wände, verstärkte das Licht der Fackeln beträchtlich.

»Dieser Ort ist unglaublich!« Anvar, der neben der Magusch stand, sah sich mit weit aufgerissenen Augen um.

»Das untere Becken dient zum Baden«, sagte Yazour. »Wir haben immer einen guten Vorrat an Nahrungsmitteln und Brennmaterial hier, so daß wir unsere Vorräte ergänzen können, und heute werden wir ein Festessen veranstalten – jedenfalls wird es uns so vorkommen, nach all dem Fasten der letzten Zeit. Wir werden hier zwei oder drei Tage Rast machen, bevor wir Weiterreisen.«

»Wunderbar!« Aurian lächelte zu ihm auf, und in ihrem Blick lag eine stillschweigende Entschuldigung für ihre Launenhaftigkeit in den letzten Tagen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich das Reiten einmal leid werde, aber im Augenblick würde ich am liebsten nie wieder ein Pferd zu Gesicht bekommen. Ich könnte jemanden ermorden für ein Bad, eine heiße Mahlzeit und genug Schlaf.«

»Das sollst du alles bekommen.« Anvar legte seinen Arm um sie und führte sie nach rechts, wo eine Reihe kleiner Feuer brannte, die man in der Nähe eines Entlüftungsspaltes im Felsen errichtet hatte, der den Rauch aus der Höhle herauszog.

Seit Anvar wieder Herr über seine Kräfte war und begonnen hatte, von der Magusch zu lernen, hatte ihre Beziehung sich ganz allmählich verändert. Alle außer Bohan und Shia, die in ihr Geheimnis eingeweiht waren, akzeptieren ihn als Aurians Mann, aber selbst wenn die beiden allein waren, war Anvars alte Unterwürfigkeit verschwunden, und seine Entschlossenheit ging nun sogar so weit, daß er ihr keine andere Wahl gelassen hatte, als das zusätzliche Essen von ihm und dem Eunuchen anzunehmen. Aurian hatte zu ihrer Überraschung festgestellt, daß ihr Anvars neues Selbstbewußtsein nicht das geringste ausmachte. Seit ihrer Flucht aus Nexis war sie immer gezwungen gewesen, die Starke zu sein, diejenige, auf der die ganze Verantwortung für ihre gefährliche Reise lastete, und sie empfand es nun als große Erleichterung, jemanden zu haben, mit dem sie diese Bürde teilen konnte. Obwohl ihr gelegentlicher Mangel an Geduld als Lehrerin zusammen mit ihrer beider Müdigkeit zu so manch scharfem Wort zwischen ihnen führte – Anvar war von der gleichen Maguschsturheit wie sie –, hatte sich eine enge und tröstliche Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, die viel dazu beitrug, das Gefühl der Einsamkeit zu lindern, die ihrer beider Fluch war.

Die Magusch teilten sich ein Feuer mit Eliizar und Nereni. Während sie darauf warteten, daß das Abendessen fertig wurde, unterhielten sie sich miteinander; sie waren froh, nach der erzwungenen Isolation der Wüstenlager endlich wieder einmal die Möglichkeit dazu zu haben. Eliizar schien, nachdem er die Arena hinter sich gelassen hatte und wieder unter Soldaten war, wo er hingehörte, während der Reise um Jahre jünger geworden zu sein. Sein gesundes Auge glühte vor Begeisterung, als er von der Wüste sprach, die er so sehr liebte. Nereni, vierschrötig und stets lächelnd, war genauso froh darüber, von der Arena weggekommen zu sein. Sie betrachtete ihre Reise jedoch als eine schwere Prüfung. Aurian konnte sie gut verstehen. Wenn sie, Aurian, eine geübte Reiterin, schon von dem vielen Reiten erschöpft war, wagte sie es sich kaum vorzustellen, welch eine Tortur es für eine Anfängerin wie Nereni sein mußte. Anvar hatte während seiner Zeit in der Akademie kaum Gelegenheit zum Reiten gehabt, nur wenn Aurian ab und zu einen Auftrag für ihn erfunden hatte, um ihm ein wenig Bewegung zu verschaffen – und so kam es, daß auch er unter den Strapazen des langen Rittes mehr als die anderen zu leiden hatte.

»Für dich mag es ja gut und schön sein«, neckte er Nereni und warf einen vielsagenden Blick auf ihr gerundetes Hinterteil. »Du hast wenigstens ein Polster zwischen dir und dem Sattel.« Sie warf einen Löffel in seine Richtung, so daß er schnell zur Seite ausweichen mußte, und alle vier brachen in lautes, fröhliches Gelächter aus. Bohan, der sich um die Pferde gekümmert hatte, gesellte sich zum Essen zu ihnen, ebenso wie Shia, die die Höhle erkundet hatte.

»Es gefällt mir hier nicht«, sagte sie zu Aurian. »Ich sehe nichts, aber es fühlt sich – kribbelig an.«

Die Magusch, ganz versessen auf Nerenis köstlich gewürzten Eintopf, schenkte Shia keine große Aufmerksamkeit. »Vielleicht hast du Sand im Fell«, erwiderte sie geistesabwesend, und schon bald hatte sie diese Unterhaltung wieder vergessen, ohne zu wissen, daß sie sich später noch schmerzlich daran erinnern würde. Nun, da sie von dem guten Essen gesättigt war, stellte sie fest, daß ihre Augen sich weigerten, noch länger offenzubleiben. Die Umrisse der Flammen schienen zu tanzen und sich zu verwischen, und das leise Geräusch der Unterhaltungen um sich herum verblaßte immer mehr.

»Hier, du Schlafmütze. Mach es lieber gleich richtig.«

Sie blinzelte. Anvars Stimme riß sie in die Wirklichkeit zurück. Er hielt ihr eine Decke hin. »Ich will aber noch baden«, protestierte sie, doch ihre Worte gingen in einem Gähnen unter.

»Das kannst du morgen immer noch. Mir macht es nichts aus, mit einer schmutzigen Frau im selben Bett zu schlafen.«

»Du bist genauso schmutzig«, begann Aurian entrüstet und verfiel in unwilliges Schweigen, als ihr die Bedeutung seiner Worte aufging. Ohne den Schutz des Zeltes würden sie die Scharade ihrer Ehe jetzt folgerichtig fortsetzen müssen. Warum war es ihr nie in den Sinn gekommen, daß solch peinliche Situationen entstehen konnten?

»Es ist schon gut«, sagte Anvar sanft und wickelte ihr die Decke fest um die Schultern. Dann legten sie sich hin, und er nahm sie in seine Arme. Die Wärme seines Körpers tat gut nach der kühlen Luft der Höhle, und schon bald überließ sie sich schläfrig seiner Umarmung. Als Aurian langsam in Schlaf versank, schmerzte ihr Herz vor Sehnsucht nach Forral.

Der Duft, der sie mit unwiderstehlicher Verführungskraft weckte, erinnerte sie so stark an die Arena, daß sie, als sie die Augen öffnete, erwartete, die weißgetünchten Wände ihrer alten Zelle um sie herum zu sehen. Statt dessen sah sie Anvar, der ihr eine dampfende Tasse hinhielt. »Ich habe eine Überraschung für dich«, sagte er. »Dein Freund Eliizar hat sich seinen eigenen Vorrat an –«

»Liafa!« Aurian strahlte und streckte gierig die Hand nach der Tasse aus.

»Und ich dachte, Eliizar hätte übertrieben, als er mir erzählte, wie sehr du dieses Zeug liebst. Es ist das erste Mal, daß ich dich so früh am Morgen lächeln sehe!«

Aurian streckte ihm die Zunge raus. »Manche scheinen mit der Morgenstunde ja ganz gut zurechtzukommen. Du siehst aus, als wärst du schon vor einer ganzen Ewigkeit aufgestanden.«

Anvar grinste. »Die Männer haben schon gebadet – da sie die Frühaufsteher hier zu sein scheinen.« Alle Spuren des funkelnden Staubs waren von seiner Haut verschwunden. Sein während der Sklaverei gewachsenes Haar war nun vom Wasser lockig und dunkler geworden, und um sich die feuchten Strähnen aus dem Gesicht zu halten, hatte er Yazour nachgeahmt und die widerspenstigen Locken mit einem Riemen im Nacken zusammengehalten. Es stand ihm gut, dachte Aurian.

»Was starrst du mich so an? Ist mir irgendein Fleck entgangen?«

»Was, ich? Ach, nichts«, Aurian errötete. »Ich hatte nur vergessen, wie du unter diesem ganzen Staub aussiehst.«

»Nun, jetzt sind die Frauen dran, also solltest du dich besser beeilen, wenn du deinen eigenen Schmutz auch noch loswerden willst.«

Sie stellte die leere Tasse ab. »Es ist wirklich schade. Ich muß im Augenblick ein ganzes Vermögen an Juwelen wert sein.« Nereni war in dem Becken und spritzte und lachte mit den anderen Frauen aus Harihns Haushalt. Die Magusch warf ihre staubigen Kleider ab und trat ins Wasser. Es war nicht so kalt, wie sie erwartet hatte, und obwohl es seicht genug war, um darin zu stehen, war es auch tief genug, um zu schwimmen. Am Boden hatte sich eine weiche Schicht aus Juwelenstaub gebildet, zweifellos stammte sie von Generationen staubiger Reisender. Der Staub glitzerte unter ihren Füßen und warf das Fackellicht von den Wänden zurück. Nereni watete zu ihr herüber und gab ihr ein Stück grober Seife.

»Richtige Seife! Nereni, du denkst aber auch an alles.«

»Aber natürlich – was auch ein Glück für euch Krieger ist.« Ihr plumpes Gesicht bekam Grübchen. »Jetzt muß ich mich aber beeilen, um die Tagesmahlzeit vorzubereiten. Doch vorher hole ich dir noch ein Handtuch, damit du dich abtrocknen kannst, und ein paar saubere Kleider.«

Als Nereni gegangen war, begann Aurian sich gründlich zu waschen, froh darüber, endlich den Staub aus den Haaren zu bekommen. Meine Haare wachsen auch langsam wieder, dachte sie. Vielleicht kann ich Anvar schon bald bitten, sie für mich zu flechten. Als sie fertig war, hatten die anderen Frauen das Becken bereits verlassen, nur Aurian blieb noch eine Weile im Wasser und genoß den Frieden und die Einsamkeit. Schließlich trat sie jedoch, von ihrem Hunger getrieben, unter den kleinen Wasserfall, wo sie sich abspülen wollte, bevor sie das Becken verließ.

Die Magusch argwöhnte keine Gefahr, bis es zu spät war. Als sie ihre Hand auf die glatte Mauer legte, wo der Wasserfall heruntertröpfelte, zerriß ein schriller, langgezogener Schrei die Luft. Es war wie das Kreischen eines riesigen, aller Vorstellung unzugänglichen Tieres in höchster Qual. Der Fels schien unter ihren Fingern lebendig zu werden, fing ihre Hände und ihre Arme ein und sog ihren Körper unerbittlich in sein weiches, klebriges Maul. Aurian wurde trotz all ihrer Gegenwehr in die dahinterliegende Dunkelheit gerissen. Binnen Sekunden hatte sich die Wand hinter ihr geschlossen und war nun wieder leer und gesichtslos.

Anvar rannte auf das Becken zu, bevor noch die ersten grauenhaften Echos erstorben waren. Yazour und Eliizar waren mit gezogenen Waffen dicht hinter ihm. Als sie den Rand des Beckens erreichten, taumelte Anvar durch das Wasser hindurch und suchte nach irgendeiner Spur von der Magusch. Als die anderen sich zu ihm gesellten, machte Yazour sich daran, unter die Oberfläche zu tauchen und dort nach Aurian zu suchen, während Eliizar mit kräftigen Zügen durch das Becken schwamm. Dann verstummte der Tumult von einem Augenblick auf den anderen, und nur Anvars angstvolle Schreie waren noch zu hören.

»Aurian! Aurian!«

Die Atmosphäre im Lager war von einer ängstlichen Gespanntheit. Die Frauen und Kinder kauerten sich weit entfernt von dem finsteren Becken in einer Ecke zusammen, und vor ihnen standen bewaffnete Krieger, um sie zu beschützen. Eine Gruppe Bogenschützen hatte ihre Pfeile auf das stille Wasser gerichtet, bereit, beim ersten Zeichen eines Kräuselns der glatten Oberfläche zu schießen. Ein grimmiger Rat hatte sich am Feuer des Prinzen versammelt, und Harihn sah ängstlich von einem zum anderen. »Irgendein wildes Tier muß sie geholt haben«, beharrte er. »Was sonst hätte das sein können?«

»Sir, das Becken war leer«, protestierte Yazour. »Ich habe es gründlich durchsuchen lassen, und es gibt keinen Zugang unter Wasser. Außerdem gibt es kein Blut und keine Spur irgendwelcher Überreste von Aurian.«

»Nein!« rief Anvar. Die Tasse mit heißem Liafa, die Nereni ihm aufgedrängt hatte, ergoß sich über die Decke, die sie ihm um seine zitternden Schultern gelegt hatte. Yazour sah ihn entschuldigend an, und Nereni nahm mit tränenüberströmtem und von tiefem Mitleid erfülltem Gesicht seine Hand.

»Irgend etwas muß jedenfalls dagewesen sein«, beharrte Harihn mit einem nervösen Blick auf das Becken. »Was sonst hätte solche schrecklichen Schreie ausstoßen können? Und was ist, wenn es zurückkehrt? Müssen erst noch andere sterben, um dich zu überzeugen?«

»Es gibt keinen Beweis dafür.«

»Wir könnten noch einmal suchen.« Eliizar und Yazour, die beide vollkommen durchnäßt waren und in ihren Decken zitterten, sprachen gleichzeitig, aber Anvar hörte den Zweifel in ihren Stimmen. Harihn schüttelte den Kopf und stand auf. »Es ist sinnlos. Sie ist gewiß tot. Bereite alles zum Aufbruch vor, Yazour. Wir können es nicht wagen, hier noch länger zu verweilen.«

»Du Mistkerl!« Anvar schleuderte seine Decke weg, machte einen Satz über das Feuer und versetzte dem Prinzen einen Kinnhaken. Der Schlag, hinter dem das ganze Gewicht seines Körpers lag, warf Harihn der Länge nach zu Boden. Anvar setzte sich rittlings auf den Prinzen und schlug in wilder Wut auf ihn ein. »Feigling!« schrie er. Er spürte zwar die Schläge auf seinem Körper, aber sein Zorn machte ihn unempfindlich für die Schmerzen. Nach all den Kränkungen und Beleidigungen Harihns, nach seiner Arroganz und Feindseligkeit plante er jetzt auch noch, zu fliehen und Aurian ihrem Schicksal zu überlassen. Anvar hätte ihn am liebsten in den Boden gestampft. Er fühlte starke Arme um sich, die ihn von dem Prinzen wegzogen. Anvar kämpfte gegen diese neuen Gegner mit ungebremstem Zorn und widersetzte sich ihren Versuchen, ihn zu Boden zu werfen, bis ein Guß kaltes Wasser ihm ins Gesicht schlug. Der Schreck brachte ihn sofort wieder zu Verstand. Eliizar und Yazour hielten ihn fest. Nereni stand über ihm, eine tropfende Schüssel in den Händen.

Anvar blinzelte, und sowohl Wasser als auch Tränen liefen ihm aus den Augen. »Ich dachte, ihr wärt meine Freunde«, murmelte er.

»Das sind wir auch, Anvar«, erwiderte Yauzor traurig. »Aber der Prinz hat, so leid mir das tut, recht.« Er zeigte mit der Hand auf eine kleine Gruppe von Kindern, die sich weinend und zu Tode erschrocken aneinandergeschmiegt hatten. »Willst du auch diese Kinder opfern?« fragte der Krieger sanft.

»Ich werde Aurian nicht allein lassen!«

»Das wirst du ganz bestimmt nicht!« Harihn sah ihn finster an, und Anvar stellte mit Befriedigung fest, daß sein Gesicht bereits anschwoll. Der Prinz holte bösartig aus und versetzte ihm einen Tritt unter die Rippen, so daß Anvar sich vor Schmerzen krümmte.

»Sir!« Yazours Stimme erhob sich scharf, angewidert über den feigen Angriff. »Er wird sterben, wenn wir ihn hier zurücklassen!«

»Du hast deine Befehle, Yazour. Dafür, daß er mich angegriffen hat, verdient dieser Flegel den Tod. Anvar wird hier zurückgelassen.«

»Euer Hoheit, dieser Mann hat soeben schreckliches Leid erfahren. Ihr könnt ihn unmöglich für sein Verhalten zu einem solchen Zeitpunkt verantwortlich machen.«

»Wenn es Euch lieber ist, kann ich ihn ja auf der Stelle hinrichten lassen.« Harihn wischte sich das Blut aus den Mundwinkeln und funkelte den grimmig lächelnden Anvar giftig an.

»Darauf hast doch gewartet, Harihn! Nun, wenigstens hast du jetzt, was du die ganze Zeit wolltest – aber nun ist es zu spät. Du magst mich zwar loswerden, aber Aurian wirst du jetzt niemals mehr bekommen!« Dann wandte er den Kopf ab und spuckte dem Prinzen vor die Füße.

Harihns Gesicht verzerrte sich vor Zorn. »Schweig, du Hund!« brüllte er. »Yazour, sieh zu, daß alle Vorräte mitgenommen oder zerstört werden! Während du hier langsam verhungerst, Anvar, werde ich mich an dem Gedanken weiden, wie du hier leidest.«

»Wenn Anvar hier zurückgelassen wird, dann wird er nicht allein sein«, erscholl Eliizars Stimme. »Ich würde lieber bei ihm bleiben, als auch nur noch eine einzige Meile mit Euch zusammen zu reisen!«

»Und dasselbe gilt für mich!« Nereni stellte sich wutentbrannt neben ihren Mann.

Anvar versuchte zu protestieren, wurde aber von seiner Überraschung über eine Stimme, die aus seinem eigenen Kopf zu kommen schien, zum Schweigen gebracht. »Auch ich werde bleiben.« Er blickte verblüfft auf, als Shias Gesicht vor ihm erschien und ihre Augen funkelnd seinen Blick suchten. Bohan stellte sich neben sie und nickte seine eigene, schweigende Zustimmung.

Harihn zuckte mit den Schultern. »Na schön.«

»Laßt ihnen wenigstens ihre Pferde, Sir, und etwas Vorrat«, protestierte Yazour.

»Nein! Und wenn ich noch ein einzige Wort von dir über dieses Thema höre, wirst du neben ihnen sterben.«

Der Krieger erbleichte. »Die ganze Zeit, die ich Euch gedient habe«, sagte er gepreßt, »habe ich nicht gewußt, was Ihr für ein Mensch seid. Ich sehe in Euer Gesicht, und ich sehe Euren Vater.« Dann wandte er dem Prinzen den Rücken zu und ging fort, um seine Männer zu versammeln.

Die Freunde wurden von einem Ring von Bogenschützen bewacht, während die anderen sich zum Aufbruch vorbereiteten. Obwohl Anvar verzweifelt darauf brannte, seine Suche nach Aurian fortzusetzen, hatte Harihn den Befehl erlassen, daß jeder von ihnen erschossen werden sollte, wenn er sich auch nur rührte. Während sie warteten, versuchte Anvar vergeblich, seine Begleiter davon zu überzeugen, sich nicht für ihn zu opfern, aber Eliizar und Nereni waren beide gleichermaßen entrüstet über diese Vorstellung. Bohan machte schon bei dem bloßen Vorschlag, er könne mit den anderen gehen, ein verletztes Gesicht. Shia, die zwar nicht noch einmal mit ihm sprach, fauchte ihn jedoch so wild an, daß Anvar, hätte er es gekonnt, einen Schritt zurückgewichen wäre. Sie sah so ungezähmt aus, daß er sich fragte, ob er sich ihre Stimme in seinem Kopf nur eingebildet hatte. Sobald draußen die Nacht hereinbrach, machte sich die Gruppe um den Prinzen auf den Weg, und die Höhle schien nach ihrem Abschied in ein unheimliches Schweigen zu versinken. Anvar stand auf, ohne ein Wort zu sagen, und ging langsam zu dem Becken zurück. Die anderen strömten aus, um noch einmal die Höhle zu durchsuchen.

Anvar saß verloren in seinem Elend neben dem Höhleneingang und hatte den schmerzenden Kopf in seinen Händen vergraben. Das tausendfach zurückgeworfene Licht der Dämmerung funkelte durch die Öffnung. Sie hatten noch immer keine Spur von Aurian entdeckt. Wie lange waren sie jetzt schon hier? Er ging in Gedanken noch einmal die Stunden seit ihrer Ankunft in dem verfluchten Dhiammara durch. Zuerst hatten sie gegessen – ihr Gelächter während des Festmahls schien ihm nun wie ein ferner Traum –, und dann hatten sie eng aneinandergekuschelt den Rest des Tages und einen Teil der folgenden Nacht verschlafen. Schließlich war Aurian zum Bad in das Becken gegangen. O Aurian! Warum habe ich dich nicht einfach schlafen lassen? dachte er. Sie war nun schon seit zwei Nächten und einem Tag verschwunden. Jetzt konnte es doch wohl keine Hoffnung mehr geben?

Jemand berührte ihn an der Schulter, und er drehte sich um, um Nereni ins Gesicht zu sehen. »Yazour hat im hinteren Teil der Höhle einige Vorräte für uns versteckt. Komm und iß, Anvar. Das hier hat keinen Sinn.«

»Wie kannst du von mir erwarten, daß ich in dieser Situation etwas esse?« Anvar hätte am liebsten gerufen, sie solle ihn allein lassen, aber er wußte, daß auch sie trauerte und daß sie sich um ihn sorgte.

Sie legte ihm mütterlich den Arm um die Schultern. »Es tut mir leid«, murmelte sie. »Ich weiß, wie sehr du sie geliebt hast.«

»Nein, das weißt du nicht!« gab er verbittert zurück. »Ich habe es ja selbst nicht gewußt, bis ich sie verlor!«

Nereni ging seufzend davon. Anvar wünschte nur, daß sie und die anderen sich gerettet hätten und mit Harihn geritten wären. Um sich selbst machte er sich keine Sorgen. Was für eine grausame Ironie! Bis vor kurzem, als seine Entdeckung der Magie sie einander so nahe gebracht hatte, hatte er sich niemals eingestanden, wie tief seine Gefühle für Aurian waren, und jetzt war es zu spät. Es hatte alles vor langer Zeit begonnen, an jenem wunderbaren Sonnenwendabend, als sie zusammen mit Forral gefeiert hatten. Aber Anvar hatte damals die Wahrheit vor sich selbst verborgen.

Ich wußte in meinem Herzen, daß sie nicht für mich bestimmt war und daß sie es niemals sein würde. Aber Aurians Liebe zu Forral, mein eigener Haß auf die Magusch und dann die Rückkehr von Sara – all das hat es mir ermöglicht, vor der Tatsache wegzulaufen, daß ich sie liebe. Wie konnte ich nur so blind sein? Selbstschutz, dachte er kläglich. Aurians Liebe zu Forral war ungebrochen, so lange er lebte, und so ist es auch nach seinem Tod geblieben. Ich wußte, daß sie niemals einen anderen Mann wollen würde. Und nun werde ich sie nie mehr wiedersehen. Niemals mehr werde ich den Trost ihrer Freundschaft spüren, die Freude ihrer Gegenwart. Sie ist tot.

»Das ist sie nicht!« Die Stimme gehörte Shia.

Anvar hob durch heiße Tränen hindurch seinen Blick. »Was hast du gesagt?«

»Denk doch einmal richtig nach, Mann. Ich weiß, daß du das nicht besonders gut kannst. Aber du bist von derselben Art wie sie, so daß ich mit dir sprechen kann, wenn ich das möchte. Befreie dich von deiner haltlosen Trauer und denk nach. Aurian ist meine Freundin, und unsere Gedanken sind miteinander verbunden. Wenn sie tot wäre, wüßte ich davon. Aber wenn sie lebt, warum kann ich sie dann nicht erreichen?«

»Große Götter, du hast recht!« Hoffnung flackerte wie ein Sonnenstrahl in Anvars Brust auf. »Sie hat mir erzählt, daß die Magusch es immer wüßten, wenn einer von ihrem Blute stirbt. Wenn sie also tot wäre –«

»Dann hättest du es auch gespürt«, brachte Shia den Satz für ihn zu Ende.

»Aber wenn wir sie nicht erreichen können, wo ist sie dann?«

»Bleib ganz ruhig, Mann. Und hör mir zu.« Shia setzte sich und wandt ihren Schwanz ordentlich um ihre Pfoten. »Als ihr zwei da in dem Zelt wart und diese Sachen gemacht habt –«

»Das haben wir nicht!«

»Ach, doch nicht diese Sachen, du Dummkopf.«

»Oh! Du meinst die Magie.«

»Ich bekomme dann immer ein ganz unangenehmes, prickelndes Gefühl in meinem Pelz.« Ihr Schwanz zuckte. »In dieser Höhle habe ich es auch.«

»Dann war es kein Tier? Du glaubst, Aurian ist von Magie gefangengenommen worden? Aber wir haben dieses verfluchte Becken wieder und wieder durchsucht und überhaupt nichts gespürt.«

»Wenn Aurian etwas gespürt hätte, hätte sie sich dann gefangennehmen lassen?« fragte Shia spitz.

»Was immer es ist, es muß also noch da sein.« Anvar raffte sich mühsam auf und lief los. Als er am Becken angekommen war, stürzte er sich hinein. Aber was genau suchte er da eigentlich? Irgendeine verborgene Öffnung vielleicht? Er hielt inne, und während er bis zur Taille im Wasser stand, sah er sich wild um. Es konnte nicht unter der Oberfläche sein – sie hatten das Becken von einem Ende zum anderen abgesucht. Dann wurde es ihm plötzlich klar. Wo war der offensichtliche Ort, um eine Tür anzubringen? In einer Wand natürlich. Seine Augen wanderten automatisch zu der glatten, flachen Oberfläche, wo der Wasserfall hinuntertröpfelte.

»Anvar! Was machst du da?« Die anderen hatten sich am Rand des Beckens versammelt. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, watete Anvar durch das Wasser bis hin zu der Wand und begann, sie mit beiden Händen abzutasten.

»Ich habe es gefunden!« Anvars Triumphgeschrei ging in einem schrillen, angstvollen Kreischen unter, und sein Jubel verwandelte sich in Entsetzen, während der Stein unter seinen Händen zu schmelzen begann, klebrig und bösartig wurde und ihn wie Treibsand in sich hineinzog. Das Zeug hatte schon seinen Kopf und seine Schultern verschlungen, so daß er keine Luft mehr bekam. In Panik schlug er um sich, und dann konnte er plötzlich wieder frische Luft atmen, obwohl er in der ungeheuerlichen Schwärze, die vor ihm lag, nichts sehen konnte.

»Aurian?« rief er. Er bekam keine Antwort. Aber sein Körper hatte das enge Portal beinahe durchquert. Er spürte eine glasartige Oberfläche unter seinen Fingern und klammerte sich verzweifelt daran fest, während er versuchte, sich vorwärts zu ziehen. Dann packte etwas von hinten seine Füße in einem eisernen Griff. Etwas zog ihn zurück. »Nein!« heulte er. Er war so nahe – er mußte einfach weiter! Aber Zentimeter um Zentimeter glitt er nach hinten, bis seine Schreie wieder in dem erstickenden Druck des Portals ertränkt wurde. Er spürte einen Druck an seinen Knöcheln, und er schoß hinaus in das Becken, wo er direkt auf Bohan landete, der sich nach Kräften bemühte, ihn an den Rand des Wassers zu ziehen.

»Du Idiot!« Shias Krallen waren eingezogen, aber der Schlag ihrer gewaltigen Pfote warf ihn zu Boden.

Anvar setzte sich benommen auf. »Wie konntest du mir das nur antun!« fauchte er Bohan an. »Ich war beinahe durch!«

»Wir hatten keine andere Wahl«, protestierte Eliizar. »Was würde es uns nützen, wenn ihr beide in der Falle säßet?«

»Denk nach!« Shias Gedanke schnellte wie ein Peitschenschlag durch Anvars Kopf. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, zu verhindern, daß das Portal sich hinter uns schließt, damit wir wieder herauskommen, falls wir uns entschließen, hindurchzugehen.«

»Anvar, hast du sie gesehen?« fragte Nereni ängstlich. »Ich habe gar nichts gesehen – es war zu dunkel, aber ich habe nach ihr gerufen, und sie hat mir nicht geantwortet«, erwiderte er kläglich.

Eliizar runzelte die Stirn. »Aber ich habe diesen Fels doch abgetastet, als ich das Becken durchsucht habe, und mir ist nichts aufgefallen.«

Anvar starrte ihn an. »Also reagiert er nur auf Magusch«, sagte er langsam.

»Zauberer?« keuchte Eliizar. Hastig trat er einen Schritt zurück und machte ein Zeichen gegen das Böse. »Aber du bist doch kein …«

»Doch, Eliizar, ich bin einer von ihnen – genauso wie Aurian.«

Nereni war, obwohl sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, praktischer veranlagt als ihr Mann. Sie zog drängend an Anvars Ärmel. »Kannst du diese Zauberei benutzen, um das Portal für uns zu öffnen?«

Konnte er das tun? Vielleicht hatte sie ja recht. Aber wie sollte er es anstellen? Anvar hatte keine Ahnung, wie die Magie des Portals funktionierte – er war in diesen Dingen immer noch ein Anfänger, und Aurian hatte nur wenig Zeit gehabt, ihm etwas beizubringen. Dann hatte er plötzlich die Lösung.

Es war einer der ersten Zauber, die Aurian ihn gelehrt hatte, da sie beide die entsetzliche Angst vor den Nihilim noch frisch im Gedächtnis hatten. »Nereni, ich glaube, ich kann es!«

Anvar stellte sich vor den unscheinbaren Fels des Portals. Bohan stand hinter ihm und hatte seine dicken Arme um die Taille des Magusch geschlungen. Eliizar und Nereni warteten am Rande des Beckens, denn sie wagten es nicht, näher zu kommen, obwohl der Schwertmeister sich offensichtlich wegen seiner Feigheit schämte.

»Bist du bereit, Bohan?« Anvar warf einen Blick zurück über seine Schulter. Der Eunuch nickte und verstärkte seinen Griff. »Jetzt!« murmelte Anvar und legte seine Hand auf den Fels.

Wieder ertönte dieser gewaltige, schrille Schrei. Der Fels wurde flüssig und klebrig und klammerte sich an Anvars Arm, um ihn in sich hineinzuziehen. Aber diesmal hielt ihn Bohan fest, wild entschlossen, der Kraft des Felsens zu widerstehen. Anvar konzentrierte sich mit aller Kraft und versuchte, sich gegen die ungeheure Ablenkung, die seine Angst ihm bereitete, zur Wehr zu setzen. Er mußte das hier unbedingt schaffen. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dann streckte er seine freie Hand aus und baute vorsichtig Finbarrs Zeitzauber auf – und taumelte in Bohans Armen zurück ins Wasser, als die Kraft, die an ihm gezogen hatte, plötzlich nachgab. Anvar rappelte sich wieder auf, spuckend und keuchend, und griff nach dem Fels. Bohan kam ihm jedoch zuvor und stieß seine eigene Faust mitten hindurch – und zog sie mühelos wieder heraus.

»Es hat funktioniert!« schrie Anvar. »Eliizar, es hat funktioniert! Ich habe das Portal aus der Zeit genommen! Wir können jetzt hindurchgehen.«

Shia stürzte vor; offensichtlich bedurfte sie keiner weiteren Einladung, aber Eliizar machte einen Schritt zurück. »Ich – ich kann nicht!« keuchte er mit bleichem Gesicht. »Anvar, vergib mir, aber Zauberei … Ich kann einfach nicht!«

Anvar legte eine Hand auf seine Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Eliizar – wir haben alle unsere Ängste.« Mit einem schmerzlichen Stich erinnerte er sich daran, daß er dasselbe zu Aurian gesagt hatte, oben auf den Klippen. »Ich muß gehen.« Er wandte sich wieder dem Portal zu, wo Bohan und Shia warteten, die offensichtlich darauf brannten, endlich etwas zu unternehmen. »Du und Nereni, ihr bleibt hier und wartet auf uns. Wir kommen so schnell wie möglich wieder zurück.«

»Warte!« Nereni rannte zu ihm hinüber und planschte in ihrer Hast durch das Wasser. »Hier.« Sie warf ihm ein Bündel zu. »Hier ist ein Wasserschlauch und etwas zu essen – das arme Mädchen muß ganz ausgehungert sein –, und ich habe auch ein Kleid für sie eingepackt und ihre Stiefel – und vielleicht wird sie das hier auch brauchen.« Sie reichte ihm Aurians Schwert und den Stab. »Beeilt euch«, drängte sie ihn und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuß auf die Wange zu geben. »Beeil dich, Anvar, und kommt gesund zurück.«

Es war schwierig, sich einen Weg durch den bösartigen Fels zu bahnen, ohne daß der Zauber das Portal für sie öffnete. Shia, der sich vor Ungeduld die Nackenhaare aufgestellt hatten, ging als erste, und Anvar und Bohan halfen ihr, indem sie von hinten schoben. Dann folgte Anvar; er spürte die gewaltigen Kiefer der Katze an seinem Kragen, als sie ihn hindurchzog. In der Kammer, in die sie gelangten, war es pechschwarz – selbst die Nachtsichtigkeit der Magusch half da nicht weiter. Anvar drehte sich um und griff nach Bohans Hand, und Shia half ihm, den Eunuchen hindurchzuziehen. Bohan hatte eine Fackel mitgebracht, aber als er sie entzündete, gab die Flamme kein Licht.

»Was, um alles in der Welt, ist das …« ächzte Anvar. Er konnte das Licht in der Luft flackern sehen wie einen bleichen, körperlosen Geist, aber das war auch alles. Es beleuchtete absolut gar nichts.

»Magie!« fauchte Shia angewidert. »Mach du irgendwie Licht!«

Anvar seufzte, Feuermagie war nicht gerade seine Stärke, aber mit ungeheurer Konzentration gelang es ihm, eine ziemlich zittrige Kugel Maguschlicht zu formen – und er fiel schreiend zu Boden, als die Kammer sich plötzlich mit einer Helligkeit füllte, die einem die Augen versengte.

»Mach es aus!« brüllte Shia gequält. Anvar löschte sein Licht; seine Augen tränten, und rote und grüne Flecken schienen vor ihm zu tanzen. Er raffte sich auf, nur um gleich wieder zu Boden zu fallen, als die ganze Kammer sich mit einem gewaltigen Aufschrei zu bewegen begann und mit furchterregender Geschwindigkeit nach oben jagte.

Als Anvars Blick wieder klar wurde, sah er, daß das Gewölbe jetzt von einem sanften Glühen erleuchtet wurde, das von den Wänden selbst auszugehen schien. Die Wände! Seine Gedanken überstürzten sich. Er befand sich in einem hohlen Edelstein! Überall um ihn herum tauchten unendlich viele Bilder von ihm selbst auf, von Shia und Bohan. Wenn er sich bewegte, tanzten die Bilder auf und ab, bis ihm ganz schwindlig wurde vor Verwirrung. Es war, als wäre er selbst ebenfalls ein Teil der Bilder, als würde seine Seele, ja sein ganzes Selbst in die Wände hineingesogen. Neben ihm stieß Shia ein unglückliches Wimmern aus. Es war das erste Mal, daß er bei der großen Katze ein Anzeichen von Furcht entdeckte. »Es ist alles gut.« Er versuchte, überzeugend zu klingen. »Bleibt ganz still liegen und schließt die Augen. Wir werden irgendwo hingebracht – vielleicht zum Berggipfel. Es wird sicher besser, wenn wir oben angekommen sind.«

»Wenn ich den in die Krallen kriege, der dieses Ding hier gemacht hat!« murmelte Shia zornig. Nachdem sie das gesagt hatte, begann Anvar tatsächlich zu überlegen, wer wohl die Schöpfer dieses seltsamen Gebildes sein mochten. Das hier lag weit jenseits der Kräfte seines eigenen Maguschvolkes. Aber mit wem – oder mit was – hatte er es hier zu tun? Und was hatten sie mit Aurian gemacht?

»Also, wie kommen wir hier wieder raus?« Genau wie Anvar es vorhergesehen hatte, kam die Bewegung schließlich vibrierend zum Stillstand. Er sah sich um: Die Bilder, die sich auf allen Seiten bis in die Unendlichkeit zu erstrecken schienen, verwirrten ihn. Dann sah er es – den bleichen, bläulich schimmernden Flecken Maguschlicht, der den Bereich markierte, in dem sein Bannzauber wirkte. Er stemmte sich auf die Knie und streckte versuchsweise die Hand danach aus. Zu seiner Erleichterung wirkte der Zauber noch immer, und seine Hand ging mühelos durch die Wand des Edelsteins.

»Laß mich vorangehen.« Shia drängte sich an ihm vorbei. »Wenn irgend jemand da draußen ist, dann werde ich mich um ihn kümmern.«

Sie traten auf den flachen, kahlen Felsen, der im Halbdunkel einer anderen Höhle lag. Anvar warf einen Blick zurück und sah eine unscheinbare Wand aus poliertem Stein, und nur das verräterische Glimmen seines Zaubers markierte den Punkt ihres Ausgangs. Er betete darum, daß der Zauber sich halten würde. Das war das erste Mal, daß er etwas so Komplexes ohne Aurians Hilfe versucht hatte, und er war sich seiner rohen, unerprobten Kräfte noch immer nicht sicher.

Das Dach der kleinen Höhle war niedrig und wirkte wie eine umgestülpte Schale. Die Mauer, durch die sie gekommen waren, wölbte sich in einem breiten Halbkreis, an dessen Ende jeweils ein gewaltiger, steinerner Torbogen lag, durch den schwaches Licht zu ihnen hereindrang. An einem der Torbogen stand Bohan und winkte. Anvar beeilte sich, zu ihm zu gelangen.

Hinter dem Torbogen war ein breiter Steinvorsprung, ein vorstehendes Sims über – dem Nichts. Anvar prallte zurück und schluckte, während er sich von dem schwindelerregenden Felsvorsprung entfernte. Soweit er sehen konnte, war der Abgrund darunter schier endlos. Seine steilen Wände erstreckten sich zu beiden Seiten und stürzten hinab in ein grauenerregendes Nichts, in dessen Mitte ein schwaches Licht glühte, das dieses gewaltige Maul im Körper des Berges beleuchtete. Einige hundert Meter weiter weg, am gegenüberliegenden Rand, gab es noch eine hervorstehende Felszunge wie die, auf der er stand, und dahinter erhob sich ein ähnlicher Torbogen. Sein Mund war plötzlich trocken geworden, und Anvar betete darum, daß der Felsvorsprung, auf dem er stand, solider war, als sein Gegenstück aussah. Abgesehen von der reinen Unmöglichkeit seiner Ausmaße, hätte Aurian es bei ihrer Angst vor Höhen niemals geschafft, hinüberzukommen. Und doch war nirgendwo ein Zeichen von ihr zu sehen. Anvar weigerte sich, sich dem Offensichtlichen zu stellen: daß sie über die Klippe in den Tod gestürzt war. Aber wenn das undenkbar war, blieb nur eine andere Möglichkeit: Etwas mußte sie hinübergebracht haben.

Er blickte hinauf zu der niedrigen Decke, von der Stalaktiten wie tropfende Fangzähne herabhingen, und hoffte, daß er irgendeine Möglichkeit finden würde, auf die andere Seite zu gelangen – ein Seil, in den Stein gehauene Handgriffe, irgend etwas. Aber es war nichts da.

Ein schrilles dünnes Kreischen wie Metall, das auf Metall kratzte, ließ Anvar herumfahren. In dem gegenüberliegenden Torbogen kauerte eine Kreatur, die sein Blut zu Eis erstarren ließ. Ihr aufgedunsener, kugelförmiger Körper war breiter, als ein Mann groß war, und das Geschöpf bewegte sich auf einer Anzahl gegliederter, knochig-steifer Beine – zu viele, als daß Anvar sie in diesem entsetzlichen Augenblick der Konfrontation hätte zählen können. Und es benutzte nicht alle Gliedmaßen nur zum Gehen. Andere sprossen wie gräßliche Wucherungen aus seinem matt glänzenden Körper; einige endeten in grausamen Zangen, andere in tödlich scharfen Klingen, die wie zu Messern geschmiedet waren, und wieder andere in Klumpen, die wie Finger aussahen und sich in unaufhörlicher Bewegung öffneten und schlössen und ins Leere griffen. Das Geschöpf hatte keinen Kopf. Um seinen angeschwollenen Körper herum fanden sich in regelmäßigen Abständen Häufungen heller Lichter wie Augen; ein ähnliches Phänomen entdeckte Anvar an den Enden der sich windenden Gliedmaßen. Mit alptraumhafter Langsamkeit durchzuckten diese Gliedmaßen die Luft und wandten ihre blendenden Strahlen unfehlbar in die Richtung, in der Anvar und seine Freunde standen.

»O ihr Götter, rettet uns!« In blindem, gedankenlosem Entsetzen wich Anvar langsam in den schützenden Torbogen zurück. Shia, die neben ihm stand, stieß ein furchtbares Fauchen aus.

»Verteilt euch!« schnarrte sie, während das gräßliche Geschöpf, schneller als man denken konnte, auf sie zujagte – mitten durch die dünne Luft über dem Abgrund!

Die große Katze sprang zur Seite, und Anvar tauchte in den Schatten des Torbogens ein. Die Kreatur hielt auf dem Steinvorsprung inne, ihre unzähligen Gliedmaßen klickten und ratterten, ihre Augen drehten sich und richteten ihre Strahlen bald hierhin und bald dorthin, um sie schließlich auf Bohan zu heften, der, wie gelähmt vor Angst, direkt am Rand des Felsvorsprunges stand. Wieder einmal hörte Anvar das gequälte metallische Kreischen, als die steifen Beine sich bewegten und Schritt für Schritt auf den Eunuchen zugingen.

»Hol ihn!« Shias Gedanke brannte sich in Anvars Kopf, als sie sich auf das Monstrum stürzte und ihre Kiefer um eines der schlanken Beine schloß. Die Augen der Kreatur drehten sich zu ihr hin, und mehrere Paare Gliedmaßen fuhren herum; ihre Zangen klackten aneinander, und ihre Klingen schwirrten durch die Luft – nur um ins Leere zu schlagen, als Shia sich mit einem gewaltigen Sprung außer Reichweite brachte. In diesem Augenblick der Ablenkung hastete Anvar zu Bohan hinüber und riß ihn vom Abgrund weg.

»Verteilt euch!« schrie er. »Umzingelt es! Bringt es durcheinander!«

Bohan, dem die Hoffnung auf einen Plan neuen Mut gemacht hatte, zog sein Schwert und bewegte sich zu einer Seite, während er die funkelnde Klinge schwang, um das Geschöpf abzulenken. Als es auf ihn zutaumelte, kam Shia mit einem gewaltigen Sprung aus dem Hintergrund und schloß ihre Zähne um eines der Beine. Das Bein wurde in die Höhe gerissen und wirbelte Shia gegen die Wand des Torbogens. Anvar hatte Aurians Schwert ergriffen und rannte herbei, um auf einen der sich drehenden Augenstiele einzudreschen. Funken wirbelten um ihn herum, und der harte Aufprall seiner Klinge riß ihm fast den Arm ab, als Metall kreischend auf Metall schlug. Anvar keuchte, mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Das war kein Tier – es war die künstliche Schöpfung eines anderen Wesens!

Seine kurze Unaufmerksamkeit hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet. Anvar blickte gerade rechtzeitig auf, um eine der gewölbten Klingen direkt auf seinen Kopf zujagen zu sehen, aber Bohan hastete von der anderen Seite herbei, schloß seine gewaltigen Hände um eines der Beine und riß daran, mit rot angelaufenem und von der Anstrengung verzerrtem Gesicht. Trotz seiner phänomenalen Kraft wich die Kreatur nicht zurück, aber diese Bewegung war genug gewesen, um ihren Schlag auf Anvar abzulenken, der sich mit einem Sprung rettete, so daß die scharfe Klinge an seinem Gesicht vorbeischwirrte, ohne Schaden anzurichten. Shia verschaffte dem Eunuchen genug Zeit, um zu entkommen, indem sie sich unter den gewölbten Bauch des Monstrums gleiten ließ und die Metallbeine mit einem Wirbelwind von Klauen attackierte. Das Wesen surrte und klickte und bewegte sich wild im Kreis, aber seine mörderischen Gliedmaßen konnten nicht unter seinen Körper greifen. Anvar sah entsetzt zu, wie die Katze sich mit voller Absicht auf den Rand des Felsvorsprungs zubewegte. Die Kreatur, die in gedankenloser Raserei handelte, bewegte sich mit Shia zusammen weiter, während sie vergeblich versuchte, ihren Peiniger zu fassen zu bekommen. Schließlich erreichte das Monstrum den Rand des Felsens, es taumelte, und plötzlich war es verschwunden – und Shia mit ihm.

»Shia!« Verzweifelt rannte Anvar zum Rand des Felsvorsprungs und sah zwei Paar Klauen, die sich auf Leben und Tod in den abbröckelnden Stein gruben.

»Hilfe …!«

Er hörte Shias kläglichen Schrei, einen Schrei extremer Angst, und dann war Bohan da und griff verzweifelt und ungeachtet des gähnenden Abgrunds nach den schwarzen Pfoten. Aber nicht einmal die Kraft des Eunuchen konnte das Gewicht des gewaltigen Katzenkörpers halten. Langsam glitt Bohan nach vorn, und seine Füße streiften über den Stein. Anvar warf sich flach auf den Boden vor dem Abgrund und streckte die Hand nach Shia aus. Mit schier unglaublicher Anstrengung grub sie die Klauen ihrer Hinterpfoten in den Stein, wodurch sie ihm das winzige Stück näher kam, das es ihm ermöglichte, zwei Handvoll Haut hinten in ihrem Nacken zu fassen. Der Kampf schien Stunden zu dauern. Anvar zog, bis er dachte, seine Arme würden ihm aus dem Leib gerissen, und ihm war übel vor Angst, daß er nach vorn und in seinen eigenen Tod rutschen konnte. Aber zusammen mit den beiden Männern, die sie festhielten, war Shia in der Lage, sich nach oben zu ziehen, einen qualvollen Zentimeter nach dem anderen, bis sie schließlich mit einem letzten Ruck und einem tiefen Seufzer sicher oben angekommen war.

Anvar rollte sich von dem Abgrund weg und lag keuchend eine Weile auf dem Rücken. Seine Arme, die nun von ihrer Last befreit waren, schmerzten, und die Muskeln zuckten. »Wie konntest du nur so etwas Dummes tun!« herrschte er Shia an. Er spürte, wie die Katze im Geiste die Achseln zuckte.

»Es hat funktioniert, oder?« Aber trotz all ihrer Großtuerei klang sie ebenfalls ziemlich mitgenommen.

Anvar mußte lächeln. »Das hat es tatsächlich – und es hat uns allen das Leben gerettet.«

»So, wie ihr beiden Menschen meins gerettet habt. Ich möchte mich bei euch beiden bedanken.«

»Es ist Bohan, dem du hauptsächlich danken solltest.« Anvar klopfte dem Eunuchen auf die Schulter, und der riesige Mann grinste.

»Wir mußten uns alle drei mächtig ins Zeug legen, um die Kreatur zu besiegen.« Shia hielt inne und knurrte leise. »Wenn Aurian sie allein getroffen hat …«

»O ihr Götter!« Anvar schauderte und sah die Magusch vor seinem inneren Auge, wie sie dem furchterregenden, metallischen Tier gegenüberstand, nackt und unbewaffnet. Er schob den Gedanken beiseite und sprang auf. »Ich werde nicht aufgeben. Wir müssen weiter.«

»Da bin ich ganz deiner Meinung – aber wie?« Shia blickte über den gähnenden Abgrund der Höhle, und ihr Schwanz zuckte unglücklich.

»Dieses Ding hat es geschafft …« Anvar zwang sich, wieder an den Rand zu gehen, und versuchte herauszufinden, wie das Monstrum es fertiggebracht hatte, den Abgrund zu überqueren. »Es muß irgendeinen Weg geben, den wir nicht sehen können. Shia, komm hierher. Stell fest, ob du hier irgendwelche Magie spüren kannst.«

»Ja, da ist Magie!« Die Katze trat von dem Abgrund zurück, und ihr Fell stellte sich auf. Anvar kniete neben ihr nieder und tastete den Rand des Felsvorsprungs ab. Obwohl seine Augen ihm sagten, daß dort nichts war, trafen seine suchenden Finger auf glatten Stein, der sich, so weit er seinen Arm ausstrecken konnte, über den Abgrund erstreckte.

»Hier hat es die ganze Zeit eine Brücke gegeben. Eine unsichtbare Brücke. Wir können sie überqueren.«

Bohan hatte ihr fallengelassenes Bündel aufgehoben. Nun stand er zögernd und stirnrunzelnd da. Während er Anvar fragend ansah, zeigte er auf die tiefe Kluft und fuhr mit vagen Handbewegungen durch die Luft. Anvar verstand nur zu gut. Ihm selbst krampfte sich der Magen zusammen bei dem Gedanken daran, diese schwindelerregende Kluft zu überqueren und scheinbar nichts unter sich zu haben als dünne Luft. »Nein, mein Freund«, sagte er kläglich. »Unglücklicherweise habe ich keine Ahnung, wie man sie sichtbar machen könnte. Wir müssen einfach ganz, ganz vorsichtig sein.« Bohan schauderte.

Anvar ging voran und kroch auf Händen und Knien über den unsichtbaren Stein. Es kostete ihn mehr Mut, als er zu besitzen geglaubt hatte, diesen ersten Schritt ins Nichts hinaus zu wagen. Mit dem Gedanken an Aurian kämpfte er die würgende Angst nieder, die ihn zu übermannen drohte, und zwang sich, millimeterweise vorwärts zu kriechen, während er den Brückenbogen mit heftig zitternden Händen abtastete. Er versuchte, den anderen etwas zuzurufen, aber aus seiner Kehle kam nur ein ersticktes Quietschen. Dann räusperte er sich und versuchte es noch einmal. »Seid vorsichtig – es ist sehr schmal, und es gibt kein Geländer. Bewegt euch ganz langsam, die Oberfläche ist sehr glatt. Wir dürfen das hier nicht überstürzen.«

Die Zeit dehnte sich zu einem endlosen Alptraum. Anvar versuchte zuerst, seinen Blick auf die gegenüberliegende Wand des Abgrunds zu heften, aber auch das half nichts. Ihr Ziel schien nicht näher zu kommen, und er ertappte sich bei der Frage, ob nicht eine böse Magie in der Brücke steckte, die ihn immer in gleichem Abstand von seinem Ziel fernhielt und ihn endlos über diesem Abgrund halten würde, bis seine Kräfte versagten und er in den Tod stürzte. Er schloß die Augen und fühlte sich auf der Stelle besser. Und er begriff, daß er seine Augen im Augenblick nicht brauchte – die Brücke war ohnehin unsichtbar –, und kam viel leichter voran, wenn er den schwindelerregenden Abgrund unter sich nicht sah. Mit qualvoller Langsamkeit kroch er weiter, tastete blind und mit schweißnassen Händen links und rechts nach den Rändern des Bückenspanns; das Donnern seines Herzens hallte in seinen Ohren wider.

»Ich bin drüben!« Die Oberfläche des Steins unter Anvars suchenden Händen war plötzlich wieder rauher geworden. Er konnte die Ränder der Brücke nicht mehr fühlen und öffnete die Augen, um festzustellen, daß er sicher auf der anderen Seite angekommen war. Er kroch den anderen aus dem Weg und preßte sich dankbar auf den gesegneten, soliden Felsen. Sein Körper schmerzte und zitterte vor Anstrengung, und er war von Schweiß durchtränkt, aber er hätte vor Erleichterung weinen können. Bohan und Shia gesellten sich zu ihm, und alle drei ruhten sich eine Weile aus, zu überwältigt, um auch nur zu sprechen. Dann zwang Anvar sich, wieder aufzustehen, obwohl der Eunuch sehr erschöpft aussah, und selbst Shias sonst so geschmeidiger Schritt noch unsicher war. Er hielt keinen Augenblick inne, um über die Gefühle nachzudenken, die ihn weitertrieben, weiter, als seine Kräfte es zuließen, ja, weiter, als jede Hoffnung es gestattete. Er wußte nur, daß er Aurian finden mußte oder in diesem Berg sterben wollte, so wie sie es getan hatte.

Sie hatten damit gerechnet, hinter diesem Torbogen auf eine weitere kahle Wand zu treffen, aber statt dessen öffnete er sich zu einem langen, schmalen Raum mit einer hohen, gewölbten Decke. Auch hier hatte der Stein eine glatte, glasartige Oberfläche, als wäre er irgendwann geschmolzen und dann in seine augenblickliche Form gebracht worden. Ein unheimliches, rötliches Halblicht erhellte den Raum, ein Licht, das aus dem Nichts zu kommen schien, und die Luft summte mit einem unangenehm hohen, schrillen Ton, der eine irritierende Resonanz in den Knochen von Anvars Kiefer und Schädel hervorrief. Aber seine Aufmerksamkeit richtete sich auf etwas anderes: An der rechten Wand des Raumes stand eine Reihe hoher, ovaler Juwelen, deren stumpfer Glanz an matte Mondsteine erinnerte. Sie hatten größte Ähnlichkeit mit den Kokons eines finsteren Rieseninsekts, und Anvar spürte, wie sich bei ihrem Anblick ein Gefühl der Besorgnis in seiner Brust ausbreitete. Während Shia und Bohan ihm folgten, ging er zu dem nächsten Stein hin, um ihn zu untersuchen.

Er fand eine einzelne, klare Facette an der Vorderseite des milchigen Juwels. Es wirkte wie ein Fenster, durch das man ins Innere des Steins schauen konnte. Anvar blickte hinein und machte mit einem erstickten Aufschrei einen Schritt nach hinten, als das knochige, grinsende Gesicht eines menschlichen Schädels ihn anstarrte. Durch irgendeinen Trick in der inneren Struktur des Juwels schien es, als wolle das Skelett ihn aus seinem Kristallsarg heraus anspringen.

Shia drängte sich an Anvar vorbei und stellte sich auf die Hinterbeine, um durch die klare Facette hindurchzuschauen. »Das wird also aus denen, die in diesen Ort eindringen«, knurrte sie. »Sie werden von der Metallkreatur in Kristalle eingeschlossen.«

Anvar unterdrückte, ein Schaudern. »Du glaubst doch nicht …«

»Ich hoffe nicht. Aber wie dem auch sei, wir müssen suchen.« Shia trottete zu dem nächsten Kristall hinüber und stellte sich aufrecht hin, um hineinzuspähen. Anvar folgte ihr mit Verzweiflung im Herzen.

Sie untersuchten einen Kokon nach dem anderen. Anvar mußte jedesmal alle Kraft zusammennehmen, um in einen der Steine hineinzublicken, denn er fürchtete das, was er vielleicht finden könnte. Alle Steine enthielten Knochen, meistens menschliche, aber es gab auch die Skelette anderer Geschöpfe zu sehen. Einige waren unversehrt, aber andere waren grausam zerschmettert und von den Gliedmaßen des Metalltieres zerhackt worden. Einige waren unkenntlich, aber in einem der Kristalle befand sich auch das Skelett einer großen Katze, ein Anblick, der Shia ein wildes Fauchen entlockte. Zwei weitere Kristalle enthielten kleine, menschlich erscheinende Gebeine – mit einem fächerartigen Flechtwerk von Knochen, die aus den seltsam eingehängten Schultern entsprangen. Geflügelte! Anvar war sprachlos. Als sie den letzten Kokon erreichten, zögerte er.

»Laß mich nachsehen«, sagte Shia. Sie spähte durch die Öffnung, während Anvar mit trockenem Mund zusah. Schließlich kam sie wieder herunter, und ihr Schwanz zuckte vor Erregung. »Aurian ist da drin.«

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