30 Rabe

Der Prinz und sein Gefolge brachen bei Sonnenuntergang das Lager ab und machten nur eine kurze Pause, um hastig ein paar Bissen herunterzuschlingen, bevor sie sich wieder auf ihren Weg durch die Wüste machten. Obwohl der Mond noch nicht aufgegangen war, gab es Licht genug. Der Juwelenstaub brannte und funkelte in einer Vielzahl kristallener Schattierungen und hielt das Glühen des Sonnenuntergangs noch lange fest, nachdem es vom Himmel verschwunden war. Sandwolken wehten sanft in der umherstreifenden Nachtbrise über den Boden und kreuzten ihren Weg wie suchende Irrlichter unter den Sternen. Aurian war seltsam still und in sich gekehrt; und Anvar, der neben ihr ritt, staunte über die Sicherheit, mit der Yazour seinen Weg in diesem gesichtslosen Land zu finden schien. Angetrieben von Langweile und Neugier, ritt er nach vorn, um sich zu erkundigen, wie er das machte. Anvar bemerkte das Aufblitzen von Yazours Lächeln unter seinen Schleiern. »Ah«, sagte er. »Das ist die Magie meines Volkes. Die Wüste liegt uns im Blut, und das schon seit endlosen Generationen.« Er lachte. »Mein Freund, ich necke dich nur. Sei versichert, es gibt viele Möglichkeiten – die Geländeformation, die Ausrichtung der Dünen im Wind –, aber vor allem finde ich mich anhand der Sterne zurecht.«

Anvar zog eine Grimasse. »Daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich nehme an, das liegt daran, daß die Sterne hier ganz anders sind.«

Yazour hob die Augenbrauen. »Die Sterne sind anders? Wie seltsam! Erzähle mir, Anvar. Sind alle Dinge in deiner nördlichen Heimat anders als hier? Wie ist es dort?«

Anvar lächelte, denn er mochte diesen jungen Mann und überlegte nun, wo er anfangen sollte. Alles im Norden war so verschieden von dem, was er hier kennengelernt hatte, daß sie wohl ein Gesprächsthema für die ganze Nacht hatten – aber er kam niemals dazu, ihm eine Antwort zu geben, denn in diesem Augenblick stieß sein Pferd einen Schmerzensschrei aus und fiel taumelnd und stolpernd in den weichen Juwelenstaub. Anvar wurde ruckartig nach vorn geworfen und mußte all seine Kraft aufbieten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und die Zügel schießen zu lassen. Yazour fluchte wild, sprang ab und griff nach seinem Zaumzeug, um die torkelnde Stute wieder auf die Beine zu bringen, während Anvar aus dem Sattel glitt. Das Tier zitterte am ganzen Leib, und die Spitze eines seiner Hinterhufe berührte kaum den Boden. »Beim Blute des Schnitters! Sie lahmt.« Yazour untersuchte den zuckenden Huf. Das Entsetzen auf seinem Gesicht ging weit über jedes normale Bedauern hinaus.

»Was ist los?« Harihns Stimme klang hart über ihren Köpfen, als er seinen Hengst neben ihnen anhalten ließ.

Yazour machte ein grimmiges Gesicht. »Anvars Reittier hat sich verletzt.«

Harihn zuckte mit den Schultern. »Wirklich schade«, sagte er kühl. »Du weißt ja, was in diesem Fall zu tun ist.«

»Aber, Euer Hoheit …«

»Erledige das, Yazour.«

Der Krieger seufzte. »Es tut mir leid, Anvar«, sagte er sanft. »Wenn es irgendeine andere Möglichkeit gäbe …«

»Was meinst du damit?« Anvar war erschrocken über die Art, wie Yazour ihn ansah, als wäre er bereits tot …

»Das ist das Gesetz der Wüste.« Harihns Stimme war kalt und erbarmungslos. »Wir haben keine zusätzlichen Pferde – die letzten gingen an diese Freunde, die deine Aurian unbedingt mitnehmen wollte. Weil wir so wenig Wasser haben, können wir es dir nicht gestatten, uns auf dem Weg zur nächsten Oase aufzuhalten. Das Gesetz der Wüste besagt, daß wir dich zurücklassen müssen.«

»Was habt Ihr gesagt?« Niemand hatte gesehen, wie Aurian sich ihnen genähert hatte. Ihre Hand lag auf dem Heft ihres Schwertes. Sie zog ihren Schleier zurück, und ihre Augen glitzerten in einem tödlichen, stählernen Licht, als sie auf Harihn zuritt. »Wenn Ihr glaubt, ich würde Anvar hierlassen, damit er stirbt, dann habt Ihr Euch gewaltig geschnitten, Prinz.«

»Lady, halt dich da raus. Das Gesetz duldet keine Ausnahmen.« Harihn machte ein Zeichen, und ein Ring von Soldaten schloß sich mit gespannten Armbrüsten um die Magusch. »Willst du eines einzigen Mannes wegen gegen meine ganze Armee kämpfen?« fragte der Prinz sanft.

Aurians kalte Augen blitzten auf. »Mach nicht den Fehler, mir zu drohen«, knurrte sie. Shia, die neben ihr stand, unterstrich ihre Worte mit einem drohenden Fauchen. Die Magusch zeigte mit dem Finger auf den Prinzen. »Ich könnte Euch niederschlagen, bevor diese Bolzen Zeit hätten, mich zu erreichen. Wollt Ihr es Euch nicht lieber noch einmal überlegen?«

»Senkt eure Waffen«, rief Yazour mit herrischer Stimme. Die Soldaten gehorchten ihrem Hauptmann auf der Stelle.

»Wie kannst du es wagen!« fuhr Harihn ihn an.

»Er hat mehr Verstand als Ihr«, sagte Aurian und stieg vom Pferd. »Ich bin sicher, wir können dieses Problem auch ohne Gewalt lösen, Harihn. Anvar, laß mich einen Blick auf dein Pferd werfen.«

Anvar hielt das Pferd fest, während die Magusch mit vor Konzentration gerunzelter Stirn niederkniete, um den verletzten Huf zu untersuchen. »Hm«, murmelte sie sanft, »nichts zu sehen – aber was ist das da?«

Während Anvar zusah, begannen ihre Hände zu glühen, und ein schwacher, violett-blauer Strahlenkranz spannte sich über den Fuß seines Pferdes. Die Konzentration der Magusch war so tief, daß sie sich aus Aurian heraus nach außen auszudehnen schien und alle Zuschauer in ihren Bann schlug. Niemand rührte sich oder gab auch nur das leiseste Geräusch von sich. Gerade als der Druck unerträgliche Ausmaße angenommen hatte, hörte man ein knirschendes Geräusch, und aus der weichen, empfindsamen Sohle des Hufs glitt etwas in die Hand der Magusch hinein. »Da!« flüsterte Aurian der Stute zu. »So ist es besser. Und jetzt werden wir den Schaden beheben.« Die Aura flackerte und verschwand dann schließlich. Aurian richtete sich auf, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und das Pferd stellte seinen Huf wieder auf den Boden – zuerst ganz vorsichtig, dann mit zunehmendem Vertrauen.

Ein Murmeln erhob sich unter den versammelten Soldaten. Aurian sah sich etwas in ihrer Hand an, und ihr Gesicht überzog sich mit zorniger Röte. Sie hielt Yazour den Gegenstand hin. Auf ihrer Handfläche lag ein kleiner Metallsplitter. »Die Spitze eines Dolches, wenn ich mich nicht irre«, sagte sie grimmig. »Jemand hat sie in den Huf hineingerammt, und jedesmal, wenn die Stute auftrat … Das arme Geschöpf muß furchtbare Schmerzen gelitten haben. Wer immer das getan hat, wußte, daß man Anvar hier zum Sterben zurücklassen würde, wenn sein Pferd nicht mehr laufen konnte. Das war kein Unfall – das war versuchter Mord!«

Yazours Gesicht war vor Zorn verzerrt. »Ich möchte mich entschuldigen, Anvar, daß dies geschehen konnte. Ich schwöre, daß wir den Schurken finden und bestrafen werden. Ist mit dir alles in Ordnung, Lady?«

»Mir geht es gut.« Aurian erhob sich taumelnd.

»Laß mich dir helfen.« Yazour half der Magusch, wieder auf ihr Pferd zu steigen, und sie drehte sich mit besorgtem Gesicht noch einmal zu Anvar um.

»Bleib ganz in meiner Nähe«, sagte sie zu ihm. »Bis wir wissen, wer das getan hat, werden wir keine Risiken mehr eingehen. Ich werde Bohan sagen, daß er von jetzt an dein Leibwächter sein soll.« Sie wendete ihr Pferd gekonnt auf den Hinterbeinen, so daß es eine leuchtende Wolke funkelnden Staubs aufwirbelte, und dann war sie verschwunden.

Harihn lachte voller Häme. »Ein Leibwächter, wahrhaftig!

Du brauchst eine Amme, Anvar. Du hättest besser Sklave bleiben sollen – oder Eunuch. Kein Mann versteckt sich sein ganzen Leben lang hinter den Röcken einer Frau.«

»Du …« Anvar sprang auf Harihn zu, bereit, ihn aus dem Sattel zu ziehen. Yazour hinderte ihn jedoch daran, indem er ihn am Arm festhielt.

»Nein, Anvar«, sagte er eindringlich. »Er will doch gerade, daß du ihn angreifst. Wenn du den Prinzen bedrohst, werden seine Soldaten dich ergreifen, und nicht einmal deine Lady könnte dir dann noch helfen.«

Anvar zwang sich, tief Luft zu holen, obwohl er vor Wut zitterte. Er sah Harihn direkt in die Augen. »Ein andermal«, knurrte er. Dann wandte er dem Prinzen den Rücken zu und stieg wieder auf sein Pferd.

Harihns Spott hatte ihn jedoch bis ins Mark getroffen. Anvar ritt neben Bohan her, isoliert von einer Woge des Zorns. Während seine Stute langsam Meile um Meile zurücklegte, wurde sein Zorn immer größer. Es war einfach zuviel! Würde er denn niemals Herr seines eigenen Schicksals sein? Erst ein Diener dann ein Sklave und jetzt, so schien es, weniger als nichts. Und weil er schließlich begriffen hatte, wieviel er Aurian schuldete, war es besonders demütigend, zu wissen, daß er in solchem Maße von ihr abhängig war. Um der Götter willen, er hatte Vannor versprochen, sich um sie zu kümmern! Was für ein Witz! Seine zornigen Gedanken wirbelten im Kreis herum, während er weiter durch die Nacht ritt.

»Anvar?«

Er war so in Gedanken versunken gewesen, daß er nicht gehört hatte, wie Yazour das Ende ihres Rittes verkündet hatte. Er blickte auf und sah Aurian zusammengesunken in ihrem Sattel, wie sie sich den Schleier von einem Gesicht zog, das kreideweiß war. Er wußte, daß die Magie sie wegen ihrer Schwangerschaft immer größere Kraft kostete, und ihre Schwäche rührte daher, daß sie sein Pferd geheilt hatte. Graue Schuld mischte sich unter den roten Nebel seines Zorns. »Lady, laß mich dir helfen.« Er stieg schnell von seinem Pferd, um zu ihr hinüberzulaufen. Zumindest kann ich immer noch die Aufgaben eines Dieners erfüllen, dachte er.

»Es geht schon.« Aurian glitt zu Boden und ignorierte seine ausgestreckte Hand.

Anvar biß die Zähne zusammen und ergriff das Zaumzeug ihres Pferdes. »Ich werde mich darum kümmern. Ruh du dich aus.«

»Ich komme schon zurecht.« Sie versuchte, ihm die Zügel abzunehmen, aber er riß sie wütend zur Seite.

»Ich habe gesagt, ich mache das!«

»Aber warum, um alles in der Welt?« Die Magusch war einen Schritt zurückgetreten, und ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen.

»Nichts! Ich bin ein verdammter Diener, nicht wahr? Also kümmere ich mich um das Pferd. Das ist alles, was die Leute mir zuzutrauen scheinen.«

Die Magusch starrte ihn an, und ihre Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepreßt. Dann winkte sie Bohan zu sich. »Bohan, würdest du dich bitte um die Pferde kümmern. Ich muß mit Anvar reden.«

Der Eunuch führte die Tiere weg. Aurian ging mit Shia auf den Fersen davon und erwartete offensichtlich, daß Anvar ihr folgen würde. Aus irgendeinem Grund erzürnte ihn das noch mehr.

Harihns Männer waren gerade damit fertig geworden, ihr Zelt aufzuschlagen. Aurian führte Anvar ein Stück davon weg. »Also«, sagte sie, »was stimmt nicht?«

»Was nicht stimmt?« explodierte Anvar. »Wo soll ich anfangen?«

»Warum fängst du nicht damit an, was dich so wütend gemacht hat?« Ihre ruhige Art machte die Dinge nur noch schlimmer, denn alles, was er sich jetzt wünschte, war ein guter, stürmischer Streit, in dem er seinen Zorn abladen konnte.

»Na schön!« schrie er. »Wenn du es unbedingt wissen willst, ich bin es leid, mich von dir retten zu lassen. Ich bin weder dumm noch schwach, noch unfähig. Ich bin ein ebensoguter Mann wie jeder andere auch, aber du machst mich zu etwas Geringerem als einem Mann.«

»Aber Anvar«, protestierte Aurian. »Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte dich in dem Sklavenlager nicht sterben lassen. Und auch heute mußte ich meine Kraft nutzen, um Harihn davon abzuhalten, dich in der Wüste zurückzulassen. Wärst du denn lieber …«

»Genau das ist es!« Anvar stürzte sich auf ihre Worte. »Du und deine Kräfte! Deine verfluchten Maguschkräfte! Nun, laß dir eines gesagt sein, Herrin – auch ich hatte früher einmal Kräfte! In meinen Adern fließt Maguschblut, aber Miathan hat mir meine Kräfte gestohlen und mich in einen Diener verwandelt!«

Anvar war so in seinen Zorn versunken, daß er Aurians verblüfften Gesichtsausdruck gar nicht bemerkte. Es fiel ihm auch nicht auf, daß Miathans Zauber, mit dem er ihn zum Schweigen gebracht hatte, zum ersten Mal versagt hatte. Bei dem Gedanken an den Erzmagusch brachen der Zorn und der Haß, den er so lange unterdrückt hatte, unkontrolliert aus ihm heraus. Alles, was Anvar sehen konnte, war Miathan – Miathan, selbstgefällig und hämisch, wie er sich den Kristall um seinen runzeligen Hals legte, diesen Kristall, der seine Kraft enthielt, während er selbst sich in Schmerzen auf dem Boden wandt. Es war so wirklich – so wirklich!

Bei den Göttern, es war wirklich. Anvars Blick trübte sich – als würde er stillstehen und die Welt in zuckenden Blitzen an ihm vorüberrasen, zu schnell, um von seinem Auge wahrgenommen zu werden. Von sehr weit weg schien er Aurians Stimme zu hören. »Anvar, nein!«

Dann holte die Welt zu einem letzten Wirbel aus und wurde plötzlich ruhig; er fand sich in einem düster beleuchteten Zimmer wieder, und vor ihm lag Miathan schlafend in seinem Bett. Seine Augen waren mit einem weißen Tuch verbunden, und um seinen Hals hing sanft funkelnd im Lampenlicht der Kristall! Außerstande, sich dagegen zu wehren, streckte Anvar die Hand nach dem wunderschönen Gebilde aus … Und plötzlich gab es einen blendenden Blitz von vielfarbiger Helligkeit – eine wilde, heiße, glückselige Macht verschlang Anvars Körper. Er war in dem Kristall – der Kristall war in ihm. Er war der Kristall!

Miathan stieß einen Wutschrei aus – einen Schmerzensschrei – den Schrei eines rasenden Verlustes. Anvar floh; die Welt blitzte in einem Nebel verschwommener Farben an ihm vorbei; aber der Erzmagusch, nicht der alte, blinde, sondern der mächtige und starke, verfolgte ihn wie ein großer, schwarzer Drache, ein Ungeheuer, das den tiefsten Ängsten des Menschen entsprang. Die Gewalt seines Zornes brannte heiß auf Anvars Absätzen, während er immer weiter floh – aber wohin? Wie konnte er seinen Weg zurück finden? Miathan kam näher … . näher. Dann schoß plötzlich eine gewaltige, glühende Kraft an Anvar vorbei, wie ein Speer aus Licht. Sie rammte sich in den Erzmagusch hinein, brachte ihn zu Fall, warf ihn zurück, hinab, hinweg …

»Komm!« Anvar hörte Aurians Stimme und folgte voller Erleichterung ihrem funkelnden Licht, bis er sich mit einer lautlosen Explosion und einem gewaltigen Ruck auf dem Fußboden des Zeltes wiederfand.

Aurian lag neben ihm. Ihre Augen flackerten und schienen ihn aufspießen zu wollen. Anvar mußte sich zusammennehmen, um ihrem Blick zu begegnen. In ihren Augen fand er Zorn und Verwirrung, vor allem aber eine furchtbare, schwindelerregende Angst um seine Sicherheit, die mit der Erinnerung an einen älteren, größeren Schmerz verbunden war. Es war, als wären ihre Augen Waldseen, und er konnte ihre Gedanken wie schwer faßbare Fische unterhalb der Oberfläche umherhuschen sehen. »Was hast du getan?« flüsterte sie. »Wie hast du das fertiggebracht?«

Anvar konnte ihr keine Antwort geben. Er fühlte sich seltsam orientierungslos, als wäre er von einem unergründlichen Raum umgeben, statt von den Seidenwänden des engen Zeltes. Ein Raum, in dem er leicht hinabstürzen konnte … Der Boden schien unter ihm aufzureißen und zu schmelzen, und voller Panik riß er nach der Hand der Magusch.

Aurian setzte sich auf und sah ihn aufmerksam an. »Schließ die Augen«, sagte sie, und ihr Ton war plötzlich energisch und sachlich. »Konzentriere dich auf deinen Körper. Du bist zu schnell zurückgekommen, und du bist noch nicht ganz bei dir. Spüre deinen Körper, Anvar. Spüre dein Herz, wie es schlägt, spüre den festen Boden unter dir und die Hitze des Zeltes auf deiner Haut.« Sie beugte sich vor, bis ihr Gesicht dem seinen ganz nahe war. Anvar blickte in die grünen Tiefen ihrer Augen, sah den langen, feinen Schwung ihrer Augenlider, die klare Wölbung ihrer Brauen, die stolze, fein gemeißelte Skulptur ihrer hohen Wangenknochen und der hervorspringenden Nase, Juwelenstaub glitzerte wie Sternschnuppen in dem schlummernden Feuer ihres Haars, und plötzlich überfiel ihn eine lebhafte Erinnerung an jenen lang vergangenen Sonnenwendmorgen, als sie auf den Stufen des Turms gestanden hatte, auf dem Kopf eine Krone aus Schneeflockendiamanten.

»Denk an deinen Körper – nicht an meinen!« sagte Aurian schroff, und Anvar errötete. Er hatte nicht bedacht, daß sie seine Gedanken ebenso klar lesen konnte wie er die ihren.

»Es ist schon gut – ich fühle mich jetzt besser.« Er wich ihrem Blick aus.

»Gut«, fuhr sie auf, »denn du hast mir einiges zu erklären.«

Gerade in diesem Augenblick trat Bohan ein, die Augen wegen des zunehmenden Funkeins draußen fest zusammengekniffen. Er hatte ihre Ration an Essen und Wasser geholt, und sein Gesichtsausdruck rügte sie für ihre Vergeßlichkeit.

»Bohan, was würden wir nur ohne dich tun?« sagte Aurian. Das Gesicht des Eunuchen leuchtete vor Freude, als er ging. »Iß«, drängte sie Anvar. »Es kostet sehr viel Energie, wenn man aus seinem Körper tritt.«

Anvar stellte fest, daß er zitterte, und nahm einen hastigen Bissen getrocknetes Fleisch. »Ist es das, was ich getan habe?«

Aurian seufzte. »Ja, Anvar«, sagte sie mit mühsam erzwungener Geduld. »Genau das hast du getan. Und jetzt, im Namen aller Götter, würdest du bitte so freundlich sein, mir zu erklären, was los ist?«

Bei der Erinnerung daran, wie er dem Erzmagusch nur um Haaresbreite entkommen war, erstarrte Anvar. »Er – er konnte uns doch nicht folgen, oder?«

»Nein.« Aurians Stimme klang beruhigend. »Ich habe ihn zu hart getroffen. Er wird eine ganze Weile brauchen, um seinen Körper wiederzufinden. Ich wünschte nur, ich hätte ihm den Rest geben können, aber wenn wir unsere Körper verlassen, befinden wir uns auf einer anderen Ebene der Wirklichkeit. Ein Magusch kann dort gefangen werden, wenn man seinen Körper in seiner Anwesenheit zerstört, aber man kann ihn nicht töten. Und nun vergiß Miathan. Laß uns von dir sprechen.«

Mit einer Stimme, die vor Erschütterung zitterte, erzählte Anvar ihr von Rias Tod und von der Entdeckung seiner Kräfte. Er fuhr fort mit der Beschreibung dessen, was Miathan ihm angetan hatte, und endete mit seiner Flucht aus den Küchen und seiner Begegnung mit Aurian in der Garnison.

Die Magusch starrte ihn mit offenem Mund an. »Das ist ja monströs!« Sie schlug mit der Faust auf den Boden und sah zutiefst erschüttert aus. »Wie konnte Miathan nur so etwas tun? Wenn ich es doch nur gewußt hätte. Wenn du mir doch nur davon hättest erzählen können!«

Anvar zuckte mit den Schultern. »Ich hätte es wahrscheinlich nicht getan. Ich habe dir damals nicht vertraut. Ich dachte, du wärst wie die anderen und stecktest mit Miathan unter einer Decke. Jetzt weiß ich es natürlich besser.« Er schluckte.

»Ich wüßte gern, wie du Miathans Zauber gebrochen hast.« Aurian war plötzlich wieder ganz praktisch geworden. »Und ich wüßte auch gern, was passiert ist, als du – als du weg warst!«

»Die zweite Frage kann ich dir beantworten.« Und er erzählte ihr, was er getan hatte.

»Du hast sie zurückgeholt?« Aurian schien wie vom Donner gerührt. »Kein Wunder, daß Miathan so wütend war.« Sie schnippste mit den Fingern. »Wütend! Natürlich! Anvar, ich habe gerade herausgefunden, wie du es gemacht hast. Damit ein Zauber wie der, mit dem Miathan dich belegt hat, funktionieren kann, mußtest du daran glauben, daß du leiden würdest, wenn du irgend etwas sagst. Heute warst du so wütend, daß du blind für die Konsequenzen warst – und dein Zorn hat dir die Kraft gegeben, die du brauchtest, um dich zu befreien.«

Anvar war entsetzt. »Meinst du damit«, sagte er langsam, »daß ich in all diesen Jahren selbst schuld an meinem Leiden war?«

»Natürlich nicht. Deine Unterwerfung war nur ein Teil des Zaubers. Wenn du immer noch in Miathans Nähe gewesen wärst, bezweifle ich, daß du dich jemals von ihm hättest befreien können, aber er ist weit weg, und mein Angriff auf ihn muß seine Macht geschwächt haben. Das hat zusammen mit deinem Zorn eine Bresche geschlagen, und deine Kräfte haben dich zu sich geholt.« Sie schwieg und starrte ihn an, als wäre er ein Fremder. »Ich kann es immer noch nicht glauben, Anvar. Du ein Magusch.«

»Macht das einen solchen Unterschied?« Die Frage klang schärfer, als er beabsichtigt hatte, und Anvar begriff, daß er Angst hatte, tödliche Angst, daß sie reagieren würde, wie Miathan es einst getan hatte, und ihn als eine Art Monster betrachten würde.

»Nein!« Aurians Antwort kam schnell und empört, aber dann wandte sie den Blick ab.

»Ja«, seufzte sie. »Ich kann nicht es glauben, Anvar. Du … sein Sohn …«

»Sag das niemals wieder!« fauchte Anvar sie an. »Ich bin nicht Miathans Sohn und werde es niemals sein. Meine Mutter war eine der Sterblichen, die er verachtet hat. Du weißt, was er mir angetan hat und dir und Forral. Glaubst du, ich könnte jemals so sein wie er?«

Aurian senkte beschämt den Blick. »Was für eine Närrin ich doch bin!« sagte sie schließlich. »Du hast recht – o ihr Götter, wie recht du hast! Du könntest niemals zu Miathans Grausamkeit fähig sein. Du bist genauso sein Opfer wie Forral und ich.« Sie streckte ihm die Hand hin. »Kannst du mit jemals verzeihen, Anvar?«

Schwach vor Erleichterung, nahm Anvar die dargebotene Hand. »Meine geliebte Herrin! Ich will niemals ein Magusch wie Miathan werden, aber ich habe keine Angst, ein Magusch zu werden wie du. Im Gegenteil, ich hoffe, es wird mir gelingen. Das heißt – wenn du mich unterrichtest?«

»Ich?« Ihre Augen funkelten vor Freude.

»Du mußt zugeben, daß ich im Augenblick keine große Auswahl habe.«

»Du …«, stieß Aurian empört hervor, und Anvar grinste. Aurian brach in schallendes Gelächter aus. »Du Biest«, knurrte sie. »Ich kann schon sehen, daß es einige Zeit dauern wird, bis ich mich daran gewöhnt habe. Ich wäre stolz darauf, dich zu unterrichten, mein Freund, wenn du sicher bist, daß du mich wirklich als Lehrerin willst.«

»Natürlich bin ich mir sicher. Von allen Magusch bist du die einzige, die ich mir jemals erwählen würde.«

Nach diesem denkwürdigen Tag verlief ihre Reise gleichförmig. Anvar und Aurian teilten sich tagsüber weiterhin ein Zelt mit Shia, die ihnen ihre Ungestörtheit garantierte, während die Magusch begann, Anvar beizubringen, wie er seine Kraft benutzen und kontrollieren konnte. Jetzt, da Aurian bereits im vierten Monat schwanger war, wußten sie, daß ihre Zeit knapp war. Die Theorie, die sie ihm beibringen konnte, wenn sie selbst nicht mehr in der Lage war, ihm die Praxis zu zeigen, war begrenzt. Ihre erste Aufgabe war, festzustellen, wo Anvars Talente lagen, und Aurian war verblüfft, herauszufinden, daß auch seine Kräfte sich über das ganze Spektrum der Magie erstreckten, obwohl seine Stärken und Schwächen auf anderen Gebieten zu liegen schienen als ihre. Während ihre größten Talente in den Bereichen von Feuer und Erde lagen – kein Wunder, bei ihren Eltern –, fielen Anvar diese Dinge deutlich schwerer. Aber dafür zeichnete er sich in der Luftmagie aus, und Aurian hatte den Verdacht, daß er sich, wenn ihnen erst mehr Wasser zur Verfügung stehen würde, um damit zu experimentieren, auch als ein Meister der Wassermagie erweisen würde. Da diese beiden Bereiche sich natürlicherweise zusammenschlössen, um einen Wettermagusch hervorzubringen, sah es so aus, als würde Eliseth nun doch noch Konkurrenz bekommen. Aber das mußte die Zukunft erweisen. Anvar war ein blutiger Anfänger, und er hatte noch einen langen Weg vor sich. Jeden Tag, wenn der Rest des Lagers schlief, ließ Aurian Anvar gnadenlos üben, bis sie beide vollkommen erschöpft waren. Während ihrer Zeit in der Garnison hatte Parric der Magusch den Trick beigebracht, wie man sich wertvollen Schlaf stehlen konnte, während man auf dem Pferd saß, und auch diese Fähigkeit gab sie an Anvar weiter. Also brachten sie ihre nächtlichen Ritte damit zu, auf ihren Pferden leise vor sich hin zu dösen, getröstet von dem Wissen, daß die Pferde ihren Kameraden folgen würden. Es trug ihnen allerdings eine Menge liebevollen Spott von Yazour, Eliizar und vor allem von Nereni ein, aber sie lernten schon bald, mit den derben Spekulationen über ihre Aktivitäten während der Ruhepausen fertig zu werden. Es war sicherer, als das Geheimnis von Anvars wiederentdeckten Kräften preiszugeben.

Einer nach dem anderen gingen die glitzernden Nächte und die schwindelerregenden Tage vorüber wie helle Perlen, aufgereiht auf dem Faden ihrer Reise. Yazour hatte zu seiner großen Enttäuschung keine Fortschritte auf der Suche nach dem Möchtegernattentäter gemacht, aber es gab keine weiteren Anschläge auf Anvars Leben, was vielleicht daran lag, daß seine Wachsamkeit sich vergrößert hatte. Sie bekamen in der ganzen Zeit auch kaum etwas von Harihn zu sehen. Während sie Meile um Meile zwischen den Prinzen und sein Königreich legten, wurde er immer in sich gekehrter und barscher, und die meisten seiner Leute waren froh, wenn sie einen großen Bogen um ihn machen konnten. Zumindest ließ er nun jedoch Anvar und Aurian in Ruhe, und sie waren froh darüber, obwohl Aurian sich oft wünschte, sie könnte mit Harihn reden und ihn vielleicht ein wenig froher stimmen. Sie wußte, wie es war, ins Exil zu gehen, und begriff, daß er seinen Entschluß, dem Thron zu entsagen, mittlerweile bedauern mußte. Immer häufiger dachte sie darüber nach, was die Zukunft wohl für ihn bereithalten mochte.

Anvar hatte jedoch seine eigenen Ideen, was den Grund für die üble Stimmung des Khisal betraf. Er dachte an einige verschleierte Bemerkungen, die Harihn gemacht hatte, und an die Art, wie seine Augen nachdenklich auf Aurian ruhten und kalt auf ihm, Anvar. All das weckte in Anvar den Verdacht, daß seine Information über Saras Unfruchtbarkeit zu einem Gesinnungswechsel bei dem Prinzen geführt hatte. Um es kurz zu sagen, Harihn dachte wohl daran, zurückzukehren, um den Thron für sich zu fordern, und er brauchte Aurians Hilfe dabei. Da er nicht daran gewöhnt war, Frauen als Wesen mit einem freien Willen anzusehen, betrachtete er Anvar als das größte Hindernis für seinen Plan. Obwohl er keinen eigentlichen Beweis dafür hatte, keimte in Anvar der Verdacht, daß Harihn derjenige gewesen war, der sein Pferd verletzt hatte. Wer sonst hätte ungehindert Yazours Wachen passieren können? Die beiden Magusch waren jedoch hoffnungslos in der Minderheit und brauchten nach wie vor die Hilfe des Khisal, um die Durchquerung der Wüste zu überleben. Anvar behielt seine Gedanken für sich, blieb aber stets auf der Hut; er wußte genau, daß es, je weiter sie kamen, immer wahrscheinlicher würde, daß Harihn zu einem neuen Mordversuch ausholte.

Yazour machte seine Sache gut und führte sie mit unfehlbarer Sicherheit über den uralten Weg, der die Wüste von einer Oase zur anderen durchquerte. Alle zwei oder drei Nächte tauchte ein zerklüfteter Felsbrocken vor ihnen in der Ferne auf. Und wenn dieses Steinmassiv über der Decke aus Juwelenstaub sichtbar wurde, begannen die Pferde und die Maultiere eifrig zu schnauben und beschleunigten ihren Schritt, sobald sie das Wasser witterten, das vor ihnen lag. Der Prinz und sein Gefolge schlugen dann ihr Lager neben einem steinernen Becken auf, das das Wasser aus einer tiefen Quelle in sich sammelte, einer Quelle innerhalb des Bergkamms, der sich Yazours Worten zufolge durch die ganze Wüste erstreckte wie ein knotiger Gebirgsgrat, dessen größter Teil unter dem Edelsteinsand begraben lag. Jede lebensspendende Wasserquelle hatte einen Namen, und er lehrte die Magusch, diese Namen der Reihe nach aufzusagen, etwas, das die Menschen seines Volkes schon in frühester Kindheit lernten. Zuerst stießen sie – in der dritten Nacht ihrer Reise – auf Abala und dann auf Ciphala, Biabeh, Tuvar, Yezbeh und schließlich Ecchith, das ihren Reiseweg ungefähr in zwei Hälften teilte. Dann kam die holde Dhiammara und schließlich Varizh, Efchar, Zorbeh, Orbah und zum Schluß Aramizal.

»Wartet nur, bis wir in Dhiammara ankommen!« Yazour lächelte den Magusch zu. »Das ist meiner Meinung nach der spektakulärste Anblick in der Wüste, und allein sie zu sehen ist diese harte Reise wert.«

»Romantischer Unsinn!« spottete Eliizar, der in seiner Jugend regelmäßig die Wüste bereist hatte. »Die schönste Oase in diesem Alptraum ist Aramizal, weil man dort den letzten Teil seiner Reise beginnt und man die Berge der Geflügelten sehen kann, wie sie sich in der Ferne erheben, um das Ende der Wüste zu kennzeichnen.«

»Die Geflügelten, wahrhaftig!« höhnte Yazour. »Und mich nennst du einen Romantiker. Du könntest genausogut erwarten, einem Drachen zu begegnen.«

»Und dennoch«, beharrte Eliizar, »existieren sie. Ihre Zitadelle liegt hoch oben auf den unzugänglichen Gipfeln, dort, wo kein Mensch zu Fuß hinkommen kann.«

»Woher willst du dann wissen, daß sie dort liegt?« konterte Yazour.

»Sie liegt dort«, unterbrach Aurian ihr Gespräch und überraschte sie damit beide. »Das habe ich aus der besten Quelle.« Sie lächelte und erinnerte sich an ihren Freund, den Leviathan. Dann blickte sie verträumt nach Norden, als versuche sie mit ihrem Blick, die vielen Meilen bis hin zu den sengendheißen Ländern des Himmelsvolkes zu überbrücken.

Aerillia, die Stadt der Geflügelten, war in dem höchsten Gipfel des nördlichen Gebirgszuges gehauen. Der Palast, ein luftiges Gebilde aus Türmchen und Terrassen, lag auf dem und innerhalb des höchsten Gipfels, und Rabes Turmzimmer bot einen atemberaubenden Blick über die ganze Stadt. In diesem Augenblick sah sie aus dem Fenster und schaute über die verschneiten Felsspitzen unter sich und die Lichter, die in der klaren, eisigen Luft scharf blinkten. Ihre Schultern waren zusammengesunken, so daß ihre großen Schwingen herabhingen und ihre glänzenden, irisierenden, schwarzen Spitzen ungehindert über den Boden schleiften.

»Rabe?« Die Prinzessin wirbelte mit finsterer Miene herum.

»Geh weg, Mutter! Ich weigere mich, den Hohepriester zu heiraten, und das ist mein letztes Wort in dieser Sache.«

»Das ist es nicht!« Kummer und Bedrängnis hatten neue Linien auf Flammenschwinges Gesicht gezeichnet, aber die Stimme der Königin hatte noch immer ihren gewohnten herrischen Klang. Sie ging in dem kleinen, kreisförmigen Zimmer auf und ab, und ihre rotgoldenen Schwingen raschelten, während ihr Gesichtsausdruck gleichzeitig abwehrend und wütend war.

»Du wirst tun, worum man dich bittet«, sagte sie zu ihrer Tochter. »Du bist eine Prinzessin von königlichem Blut, Rabe; die Tochter einer Königin. Du bist in dem Sinne erzogen worden, daß du deinem Volk und dem Thron gegenüber Verantwortung hast, von denen eine darin besteht, daß du eine vorteilhafte Heirat eingehen mußt.«

»Zu wessen Vorteil soll diese Heirat denn sein?« rief Rabe.

»Zu meinem? Zu deinem? Wenn ich dieses korrupte alte Ungeheuer heirate, wer wird dann wirklich davon profitieren? Nur er, und das ist alles! Er kann nichts tun, um uns zu helfen, Mutter. Er betrügt dich, dich und unser ganzes Volk. Er hat keinen Einfluß auf den Himmelsgott. Haben seine Opfer denn irgend etwas bewirkt? All diese Menschen, die sterben mußten – Menschen unseres Volkes, das zu beschützen wir geschworen haben! Verschwendet, und noch immer lastet das Grauen dieses ungewöhnlichen Winters auf uns. Und nun besteht sein Preis für unsere Rettung in meiner Hand. Wodurch er zufällig eine unangreifbare Machtposition erlangen wird. Erkennst du denn nicht, daß er ein Betrüger ist? Wie kannst du nur so dumm sein?«

»Wie kannst du es wagen!« Der Klang des Schlages, den sie Rabe versetzte, schien in der anschließenden Stille noch widerzuhallen. Rabe taumelte entsetzt zurück und preßte sich die Hand aufs Gesicht; Tränen standen in ihren großen, dunklen Augen. Noch nie zuvor hatte Flammenschwinge die Hand gegen ihre geliebte Tochter erhoben.

»Mutter, bitte.« Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Du kennst doch die Sitten unseres Volkes. Wenn wir heiraten, dann ist es für das ganze Leben. Wenn ich also Schwarzkralle zum Mann nehme, werde ich den Rest meiner Tage im Elend verbringen – mit jemandem, den ich fürchte und verachte. Obwohl Prinzessinnen passend heiraten müssen, hatte sich einem solchen Ansinnen bisher noch nie eine Prinzessin zu fügen. Ich bitte dich, zwing mich nicht, ihn zu heiraten. Er ist böse, und ich weiß es.«

Flammenschwinge seufzte. »Kind, niemals in unserer Geschichte, nicht seit der Verheerung, haben wir uns in solcher Gefahr befunden. Noch nie hat es eine so plötzliche und unerbittliche Kälte gegeben. Nichts wächst mehr auf unseren Terrassen. Alle Tiere sind tot oder in wärmere Länder geflüchtet. Dieser Winter tötet alles, was er berührt. Schwarzkralles Fürsprache ist unsere einzige Hoffnung. Unser Volk stirbt, Rabe! Es schmerzt mich mehr, als ich sagen kann, aber ich habe keine andere Wahl. Morgen wirst du Schwarzkralle heiraten, und damit ist die Sache erledigt. Und jetzt – er möchte mit dir sprechen, und du wirst höflich zu ihm sein. Dein Volk braucht dich, Rabe. Du wurdest zur Prinzessin erzogen – jetzt benimm dich auch wie eine!« Sie rauschte schnell aus dem Zimmer heraus, als wäre der Anblick ihrer Tochter zusammen mit dem Hohepriester mehr, als sie ertragen konnte.

Schwarzkralles Kopf war kahl und über und über mit geheimnisvollen Bildern und magischen Symbolen bemalt. Sein Gesicht war ausgemergelt und grausam, mit einer Hakennase und brennenden, fanatischen Augen. Seine Flügelfedern waren von einem dumpfen, staubigen Schwarz, und seine Roben paßten sich ihrer Farbe vollkommen an. Seine Arroganz in Gegenwart einer königlichen Prinzessin war eine solche Unverschämtheit, daß Rabe ihn am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.

»Ich bin gekommen, um meiner Braut am Vorabend ihrer Hochzeit meine Aufwartung zu machen«, sagte er grinsend. »Wie hübsch du aussiehst, meine Liebe. Ich kann es kaum erwarten.« Er streckte eine gierige Hand aus, um sie zu berühren, und Rabe trat hastig zurück und zückte ihren Dolch.

»Rühr mich nicht an!« fauchte sie. »Ich würde lieber sterben, als dich zu heiraten, du widerlicher, alter Aasgeier.«

Der Hohepriester lächelte, aber auf seinem Gesicht zeigte sich kein Humor. »Wie hübsch«, sagte er. »Was für ein kleiner Hitzkopf! Wie froh ich bin, daß du so empfindest. Das wird deine Eroberung nur um so vergnüglicher machen.«

»Rechne nicht zu fest damit«, gab Rabe durch zusammengebissene Zähne zurück.

»Und ob ich das tue, meine Liebe. Sobald du die meine bist, werden ein paar kräftige Peitschenhiebe dein Temperament schon bändigen.«

Rabe keuchte. »Das würdest du niemals wagen!«

»Ich würde es kaum wagen, der Prinzessin mit Gewalt zu begegnen, o nein.« Schwarzkralle zog die Schultern hoch. »Wie ich jedoch meine Gemahlin züchtige, das ist meine eigene Angelegenheit – wie du schon bald feststellen wirst. Angenehme Träume, meine kleine Braut. Schlaf gut, solange du noch die Gelegenheit dazu hast!«

Nachdem Schwarzkralle gegangen war, verschwendete Rabe nur wenige Minuten damit, zu weinen. Die Zeit war plötzlich zu kostbar dafür geworden, denn sie wußte, daß ihre einzige Hoffnung in der Flucht bestand. Etwa eine Stunde lang ging sie hinter ihrer verschlossenen Tür auf und ab, um einen Plan zu schmieden. Sie wußte, daß es ihnen niemals in den Sinn kommen würde, daß sie weglaufen könnte. Den Geflügelten war es durch ein uraltes Gesetz verboten, ihr Bergkönigreich zu verlassen. Rabe hatte sich oft gefragt, warum das so war, aber niemand schien fähig oder willens, ihr eine Antwort darauf zu geben. Falls jemand dennoch fortging, war er automatisch zum Tode verurteilt, falls er je versuchen sollte, zurückzukehren, und dieses Verbot war ihrem Volk so in Fleisch und Blut übergegangen, daß keiner aus dem Geschlecht der Geflügelten es normalerweise auch nur in Betracht zog, das Reich zu verlassen. Schon der bloße Gedanke daran war genug, um Rabes Hände zittern zu lassen, so daß ihre Vorbereitungen zweimal so lange dauerten, wie es sonst der Fall gewesen wäre.

»Ich habe keine andere Wahl«, sagte Rabe fest zu sich selbst, als sie Brot und Fleisch von ihrem unangetasteten Abendessen in eine kleine Tasche füllte, die sie an ihrem Gürtel befestigte. Dann fischte sie ihre Armbrust aus ihrem Versteck unter dem Bett hervor, flocht sich ihre ungebärdige Wolke feinen, dunklen Haares und zog ihre Flugkleidung an – einen schwarzen, gefalteten Lederrock, der ihren Gliedmaßen genügend Bewegungsfreiheit gab, und dazu lederne Sandalen, deren Riemen bis an ihre Knie heraufreichten. Sie beschloß, sich mit nichts sonst zu belasten. Rabes Rasse war normaler Kälte gegenüber unempfindlich, und sie hoffte, schnell genug der Kälte dieses unnatürlichen Winters entfliehen zu können. Dann steckte sie sich noch ihren Dolch in den Gürtel und ging zum Fenster hinüber. Es bereitete ihr keine Probleme, sich vom Fenstersims herabzuschwingen. Das hatte sie seit ihrer Kindheit oft genug getan, nachdem ihr aufgefallen war, wie reizvoll unerlaubte Flüge sein konnten. Ausnahmsweise war sie nun einmal froh darüber, daß ihre Mutter darauf bestanden hatte, daß sie ihren Teil an der lästigen Bürde der Palastverwaltung übernahm. Sie kannte die Position jedes Wachpostens in der Stadt, und, was noch wichtiger war, sie wußte, wie man ihnen aus dem Wege ging.

Wieder einmal war einer dieser unvorhersehbaren Schneestürme aufgekommen, und Rabe zuckte angesichts des furchtbaren Wetters draußen zusammen. Aber obwohl es schierer Wahnsinn war, hieß es nun: jetzt oder nie! Wenn man sie erwischte, waren die Konsequenzen unausdenkbar. Als sie auf das Fenstersims kletterte, zögerte Rabe noch einen Augenblick, plötzlich überwältigt von der Ungeheuerlichkeit des Schritts, den sie zu tun im Begriff war. Falls ihre Mutter doch recht hatte, betrog sie ihr ganzes Volk. Außerdem war ihr Leben verwirkt, wenn sie die Berge hier verließ. Es gab keine Rückkehr für sie. Nachdenklich berührte sie ihre Wange dort, wo noch immer der Abdruck der Hand ihrer Mutter brannte, und erinnerte sich an die Grausamkeit in Schwarzkralles Augen. Das war genug. Rabe holte tief Luft, sprang von dem Sims und breitete ihre großen, schwarzen Schwingen aus, so daß die Luft darunter ihren senkrechten Sturz bremste. Dann stieß sie herab und umrundete wie eine Fledermaus auf der Jagd die im Schatten liegende Seite des zinnengekrönten Palastes, bevor sie endgültig ihr Zuhause und das Land ihres Volkes verließ.

Der Flug durch den Schneesturm war weit schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte. Sie konnte in den wirbelnden, weißen Wolken so gut wie gar nichts sehen. Der starke Wind zog und zerrte und rüttelte sie gnadenlos durch – mehrmals hätte er sie um ein Haar mit voller Wucht gegen die Mauern eines der vielen kunstvoll geschmiedeten Türme in der Stadt geschmettert. Wenn sie einen Augenblick Zeit gehabt hätte, um nachzudenken, hätte Rabe vielleicht Trost in der Erkenntnis finden können, daß ihre Flucht bei diesem Wetter gewiß unentdeckt blieb, aber sie brauchte jeden Funken ihrer Konzentration, um überhaupt in der Luft zu bleiben und nicht gegen irgendwelche Hindernisse zu krachen. Ihr Gefühl für die Richtung, in die sie flog, war hoffnungslos durcheinandergeraten, und sie konnte nur beten, daß sie geradeaus flog und nicht in einem Kreis, der sie schließlich in die Stadt zurückbringen würde – zu Schwarzkralle.

Rabe war bis auf die Knochen durchgefroren. Es war ein unbekanntes Gefühl, entschieden unerfreulich und erschreckend. Ihre Ohren und Zähne schmerzten in dem eiskalten Wind, und ihre Flügel waren steif und reagierten nur langsam. Selbst ihre Gedanken wurden träge und wirr. Wie lange war sie schon unterwegs? Warum war sie eigentlich hier draußen in diesem tödlichen Sturm? Woher war sie gekommen, und wohin flog sie? Wieviel länger noch würden ihre schmerzenden Flügel sie in der Luft halten?

Plötzlich traf Rabes linker Fuß auf etwas Hartes und Gezacktes. Er blieb hängen und verrenkte sich, so daß sie vornüberkippte und das Gleichgewicht verlor. Hilflos stürzte sie und rollte Hals über Kopf in einem Gewirr von Gliedmaßen und Flügeln bergab, wobei sie sich an den eisigen Felsen blaue Flecken und Schrammen holte, bis ihr Sturz endlich weiter unten in der Schneewehe ein unwürdiges Ende fand. Zu niedergeschlagen und erschrocken, um irgend etwas anderes zu tun, brach sie in Tränen aus.

»Wo bin ich?« Rabe öffnete die Augen. Einen Augenblick lang benebelte Angst ihre Gedanken, aber sie war nicht umsonst die Tochter einer Königin. Sie holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe, bevor sie sich ihre Umgebung ansah. Aber es gab nur wenig zu sehen. Ihr schmerzender Körper war eingeklemmt in eine schmale Felsspalte, und eine Barriere aus herangewehtem Schnee versperrte den Ausgang. Nach und nach kehrten ihre Gedanken zu der vergangenen Nacht zurück, und sie schauderte angesichts der Erkenntnis, daß sie dem Tod nur um Haaresbreite entgangen war. Sie hatte tatsächlich einen Berg gerammt! Zögernd streckte sie ihr Bein aus, um ihren verletzten Fuß zu untersuchen, voller Angst vor dem, was sie finden würde. Es war auch schlimm genug. Die Riemen ihrer Sandale schnitten ihr in das geschwollene Fleisch, und ihr Bein war schlimm zerschunden und aufgeschürft. Sie biß die Zähne zusammen und wappnete sich gegen den Schmerz; dann schmolz sie etwas Schnee in ihren Händen, um die Abschürfungen zu säubern. Außerdem würde der Schnee vielleicht auch die Schwellungen etwas abklingen lassen, und solange sie fliegen konnte, war sie nicht vollkommen hilflos. Rabe keuchte, als sie sich an ihren Sturz bei der Landung erinnerte. Ihre Flügel … Sie hatte nicht genug Platz, um sie in der Felsspalte ausbreiten zu können! Mit verzweifelter Hast begann sie, sich einen Ausweg zu graben, wobei sie mit ihren Händen große Brocken Schnee beiseite schaufelte. Jetzt erinnerte sie sich auch schwach, daß sie in diese Nische gekrochen war, instinktiv, auf der Suche nach einer Zuflucht vor dem Unwetter. Der Ausgang schien weiter entfernt zu sein, als sie in Erinnerung hatte, aber endlich gaben auch die letzten Zentimeter Schnee ihrem entschlossenen Angriff nach, und sie stand plötzlich im Freien.

Mit Hilfe der Felsbrocken zog Rabe sich hoch und zuckte zusammen, als ihr verletzter Fuß den Boden berührte. Sie würde ihn eine ganze Weile nicht gebrauchen können, aber ihre Hauptsorge waren die Flügel. Sie stützte sich auf einen Felsbrocken, um das Gewicht zu halten, und breitete die einstmals glänzenden, schwarzen Schwingen aus. Sie waren steif, aber Rabe spürte keinen Schmerz, und anscheinend hatten ihre Flügel kaum Schaden genommen. Sie hatte einige Federn verloren, und ihr Gefieder war insgesamt arg mitgenommen und verdreckt, aber der Schnee hatte das Schlimmste bei ihrem Sturz verhindert. Mit einem tiefen Atemzug schwang sie sich, so gut sie das mit ihrem verletzten Bein konnte, in die Höhe. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe der Länge nach auf den Boden gefallen, aber zu ihrer Erleichterung zogen ihre Flügel ihr Gleichgewicht in die Höhe, und sie begann, sich mit gleichmäßigen Schlägen in die Luft zu schrauben. Nun, da sie ihre größte Sorge hinter sich gelassen hatte, wollte sie sich umsehen und entscheiden, was sie als nächstes tun würde.

Der Himmel war ein herrlicher Anblick, nachdem sie so lange nichts als graue Wolken gesehen hatte. Rabe schwelgte in dem sanften Rosa, dem zarten Grün, dem durchscheinenden Blau und dem schwindelerregenden Gold des Sonnenuntergangs. Die Schönheit des Himmels schlug sie so in ihren Bann, daß es eine ganze Weile dauerte, bis sie auch hinunterblickte auf die Erde, aber als die Farben am Himmel schließlich erblaßten, war sie maßlos erstaunt, sie auf der Erde unter sich wiederzufinden. Einen Augenblick lang war ihr schwindelig, und sie verlor die Orientierung, aber als sie direkt nach unten sah, konnte sie das Plateau erkennen, von dem sie losgeflogen war. Sie war auf dem letzten der Berge gelandet. Die Schneedecke dort wurde dünner und verschwand auf der anderen Seite schließlich vollkommen, so daß nur dunkle, weit verstreute Felsbrocken übrigblieben, die sich einem dunklen, unheimlichen Wald entgegenstrecken. Dahinter breitete sich, soweit das Auge sehen konnte, das Meer der Farben des Sonnenuntergangs aus. Rabe hielt den Atem an. Sie war also nach Süden gekommen, und dies hier war die legendäre Juwelenwüste!

Das geflügelte Mädchen kehrte zu dem Felsplateau zurück, um sich auszuruhen. Nach den Anstrengungen der vergangenen Nacht wurde sie schnell müde, und außerdem mußte sie nachdenken – und essen. Da sie keine Erfahrungen im Reisen hatte, machte sie sich gierig über den Inhalt ihrer Tasche her, ohne einen Gedanken zu verschwenden, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollte. Beim Essen dachte sie über ihren nächsten Schritt nach. Rabe hatte den Palast verlassen, ohne eine Idee zu haben, wo sie hingehen würde oder wie sie leben wollte.

Zum ersten Mal bekam sie wirklich Angst. Was, wenn die Leute hier so waren wie Schwarzkralle oder gar noch schlimmer? Aber der Gedanke an den Hohepriester und das Schicksal, das sie an seiner Seite erwartet hätte, war genug, um ihre Entschlossenheit zu stärken. Sie würde jedoch Hilfe finden müssen. Rabe war eine verwöhnte Prinzessin, und sie hatte Verstand genug, um zu begreifen, daß sie keine Ahnung hatte, wie man allein überlebte. Außerdem, so sagte sie sich, wenn man mich bedroht, kann ich ja immer noch wegfliegen. Die Frage des Wohin war leicht beantwortet. Sie konnte nicht nach Norden zurückkehren. Dort würden sie jetzt nach ihr suchen. Der Gedanke an mögliche Verfolger ließ sie schaudern. Es war lebenswichtig, daß sie sofort weiterreiste, und zwar nach Süden, weg von den Bergen ihrer Geburt. Der funkelnde Sand schien genug Licht zu geben, so daß sie bei Nacht reisen konnte. Also holte Rabe noch einmal tief Luft, streckte ihre Flügel aus und schwang sich in die Luft nach Süden, über die glühende Wüste hinweg.

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