14 Die Todesgeister

Die Tagungen des Rates der Drei wurden in der Gildehalle abgehalten, einem gewaltigen Rundbau in der Nähe der Großen Arkaden. Die Beschlüsse, die über die Stadt bestimmten, wurden an einem kleinen, vergoldeten Tisch in der Mitte des großen runden Saales getroffen, und jeder, der den Verhandlungen beiwohnen wollte, konnte von der Galerie der Eingangshalle aus zuschauen und zuhören; normalerweise waren jedoch immer nur einige wenige Unerschütterliche anwesend. Narvish, der Stadtschreiber, saß mit den dreien am Tisch um die Sitzung zu protokollieren.

Als Forral an der Gildehalle eintraf, war die gesamte Galerie voll besetzt. Das Interesse an dieser Sitzung war ungewöhnlich groß, weil die Angelegenheit, über die verhandelt wurde, jeden einzelnen betraf, jeden Mann, jede Frau und jedes Kind in der Stadt. Der Erzmagusch wollte die Abwasserabgabe erhöhen. Diese symbolische Abgabe zahlte jeder Bürger von Nexis den Magusch dafür, daß sie das Kanalisationssystem unterhielten, das das Leben in Nexis so angenehm und gesund machte. Magie war es, die das Wasser zirkulieren ließ und den Abfall aus der Stadt flußabwärts ins Meer pumpte, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden, den Magusch dafür einen kleinen Betrag zu entrichten. Miathans Forderung jedoch war erpresserischer Wucher und vor allem für die großen Familien untragbar. Unter den Stadtbewohnern herrschte große Verärgerung über seinen Vorstoß, und die gegen den Erzmagusch und den Rat gerichteten Emotionen schlugen hohe Wellen.

Vannor war bereits eingetroffen und hatte allein am Tisch Platz genommen. Er schien sich in seiner Haut nicht wohl zu fühlen. Als Forral sich auf dem Sitz des Garnisonskommandanten niederließ, beugte sich das Haupt der Kaufmannsgilde zu ihm hinüber; seine leise Stimme ging im allgemeinen Lärm unter. Wie gewöhnlich kam er direkt zur Sache. »Forral, nichts für ungut, aber ich weiß, daß Miathan dich hier im Rat wegen Aurian in eine unerfreuliche Position manövriert hat. Ich habe vorher nie etwas dazu gesagt, weil du auf einem schwierigen Platz dein Bestes getan hast – aber hast du über diese Geschichte mit der Abwasserabgabe einmal nachgedacht? Diese Steuer wird die ärmeren Einwohner der Stadt zugrunde richten, und es wird deine Aufgabe sein, die Steuer einzutreiben und durchzusetzen. Was soll mit denen geschehen, die nicht zahlen können? Was ist, wenn sie sich alle weigern, zu bezahlen? So, wie die Stimmung im Moment ist, kann das sehr gut passieren. Wenn dieses Gesetz beschlossen wird, dann sitzen wir bis zum Hals in der Scheiße, wie man es auch immer betrachtet!«

Forral mußte grinsen. »Du verstehst es, dich wunderbar auszudrücken, Vannor.«

»Ja, so sagt man.« Der Kaufmann mit dem beredten Gesicht erwiderte sein Lächeln, und Forral tat es wieder einmal leid, daß sein Verhältnis mit Aurian ihn immer davon abgehalten hatte, dem Erzmagusch die Stirn zu bieten. Vannor hatte eigentlich etwas Besseres verdient. Es würde ihm ein wirkliches Vergnügen sein, ihm diesmal zur Seite zu stehen.

Miathan stürmte in den Saal, ein großer Auftritt wie jedesmal, flankiert von dieser unterwürfigen kleinen Kröte Narvish. Beim Anblick des Stadtschreibers – eines sehnigen alten Fossils mit vielen Zahnlücken, das wie ein Fluch über dem Leben des Schwertfechters hing – kniff Forral seinen Mund zusammen. Es gingen Gerüchte, daß Narvish sich von Miathan bestechen ließ, und Forral wußte bestimmt, daß die Aufzeichnungen der letzten Sitzungen zugunsten des Erzmagusch geschönt worden waren. Nichts Großes natürlich. Nichts, das sich beweisen ließ. Aber vielleicht ein etwas verschobener Akzent, hier und da ein ausgelassenes oder hinzugesetztes Wort, und schon war der Bericht über eine offene Diskussion durch Konfusion und Zweifel entstellt. Na gut, heute würde es dazu keine Gelegenheit geben, dachte Forral grimmig. Heute war die Debatte öffentlich, und über die Sache wurde durch einfache Stimmenmehrheit entschieden, und da Aurian sich entschlossen hatte, die Magusch zu verlassen, braucht der Schwertfechter nicht länger nach der Pfeife des Erzmagusch zu tanzen. Miathan stand eine große Überraschung bevor, dachte Forral. Und er freute sich unglaublich darauf.

Die Debatte nahm die vollen dafür vorgesehenen drei Stunden in Anspruch, und Forral konnte spüren, wie sich im Publikum Überraschung breitmachte. So etwas hatte es während der Amtszeit dieses Erzmagusch noch nicht gegeben. Miathan hatte immer dafür gesorgt, daß wenigstens eines der beiden anderen Ratsmitglieder auf seiner Seite war, und er hatte immer seinen Willen bekommen und jede Opposition mühelos beiseite gefegt. Aber diesmal war es anders. Nach einer Weile bemühte sich Vannor nicht länger, sein Grinsen zu verbergen, während die beiden Sterblichen systematisch die aalglatten Argumente des Erzmagusch eines nach dem anderen in bestem Einvernehmen entkräfteten. Und Forral gab sich damit zufrieden, innerlich zu lachen, während er mit ansah, wie Miathans Gesichtsausdruck schwarz und schwärzer wurde.

Schließlich wurde die Glocke zur Abstimmung geläutet, und damit war jede weitere Diskussion beendet. Narvish, der während des Fortgangs der Debatte immer beunruhigter gewirkt hatte, erhob sich und sprach den Rat an. »Der Erzmagusch Miathan hat vor diesem Rat beantragt, die Abwassersteuer um zehn Stücke Silber zu erhöhen«, intonierte er. »Diejenigen, die es befürworten, den Antrag in die Statuten der Stadt aufzunehmen, mögen sich erheben.«

Es herrschte völlige Stille, als sich der Erzmagusch erhob – allein. Forral sah, daß Miathan sich zu ihm herumdrehte in der Erwartung, er sei ebenfalls aufgestanden. Um seine Gleichmütigkeit zur Schau zu stellen, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und legte seine gestiefelten Füße auf den vergoldeten Ratstisch. Ein Raunen ging durch den Saal. Der Gesichtsausdruck des Erzmagusch verwandelte sich von Selbstgefälligkeit in Verblüffung und Wut. Narvish, völlig außer sich, blickte sich wild um, als ob er nach einer Möglichkeit suchte, zu entkommen. »Eh … . sind das alle?« quiekte er.

»Nun mach schon weiter, Mann«, knurrte Vannor, aber seine Augen lachten. Der Kaufmann schien sich köstlich zu amüsieren. Der schleimige kleine Stadtschreiber entfernte sich schleichend von dem schäumenden Erzmagusch. »Eh … . alle anderen dagegen?«

Langsam nahm Forral seine Füße vom Tisch und stand zusammen mit Vannor auf, während der Saal in einem tumultartigen Beifall explodierte. Der Erzmagusch, inzwischen kalkweiß im Gesicht, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Forral hielt seinem Blick mit steinernem Trotz stand. Wortlos drehte Miathan sich um und stürmte aus dem Saal, zum ersten Mal in seinem Leben glatt geschlagen.

Der Erzmagusch lief in seinem Zimmer auf und ab; er war kaum in der Lage, seinen Zorn zu beherrschen. Diesmal war Forral zu weit gegangen. Wie konnte er es wagen, mit diesem Emporkömmling von Vannor gemeinsame Sache zu machen und die Vorherrschaft dieses Abschaums von Sterblichen über einen der Maguschgeborenen auch noch öffentlich zur Schau zu stellen! Miathan wußte, daß ihm die Herrschaft über die Stadt entglitt und daß damit auch alle seine weiterreichenden Pläne gefährdet waren. Genug war genug. Aurian hin, Aurian her, Forral hatte soeben sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Miathan verzog das Gesicht, als ihm noch eine andere Sache in den Sinn kam. Etwas, das er zuvor nicht mit Forrals Widersetzlichkeit in Verbindung gebracht hatte. Seit er D’arvan am Abend zuvor verbannt hatte, war der Magusch einfach verschwunden. Wo konnte er sein? Miathans Spione hatten ihn in der Stadt nicht aufspüren können, und der Erzmagusch fragte sich nun, ob seine Entscheidung richtig gewesen war. Er hatte dem Drängen Eliseths und Bragars nachgegeben, die D’arvan loswerden wollten, der, wie sie betonten, die Fortschritte seines Bruders behindere. Es sei besser, einen wirkungsfähigen und treuergebenen Magusch in der Akademie zu haben, als zwei, die nutzlos waren, hatten sie vorgebracht. Aber Miathan kamen nun Zweifel. Jeder, in dessen Adern Maguschblut pulsierte, blieb eine potentielle Quelle magischer Kräfte, und es beunruhigte ihn, daß sich D’arvan außerhalb seines Einflußbereiches befand. Was war, wenn er zusammen mit Forral und – Miathan krümmte sich bei dem Gedanken – Aurian irgendwelche Pläne gegen ihn schmiedete? Und was meinten Eliseth und Bragar mit ›treu ergeben‹? War Davorshan dem Erzmagusch treu ergeben oder den beiden? Miathan jonglierte mit den verschiedenen Möglichkeiten und fing sich in der klassischen Falle derjenigen, deren Lebenswerk es ist, gegen andere Intrigen zu spinnen und üble Pläne auszuhecken. Er war davon überzeugt, daß die anderen ihrerseits vorhatten, ihn zu stürzen.

Eliseth und Bragar schienen ihm ergeben zu sein, aber er traute ihnen nicht ganz. Sicherlich nicht genug, um ihnen hiervon zu erzählen. Miathan streichelte den polierten goldenen Rand des Kelches, der auf dem Tisch vor ihm stand. Das hier würde ihm gute Dienste leisten, falls sie sich gegen ihn wenden sollten. Finbarrs Forschungen hatten ihn mit den Antworten versehen, die er benötigte. Dieser Kelch besaß tatsächlich die magischen Kräfte des Kessels und konnte wie alle Werkzeuge der Gramarye, der schwarzen Kunst oder hohen Magie, zum Segen oder zum Fluch werden. Miathan lächelte. Der Maguschkodex war etwas für Einfaltspinsel. Hier in seiner Hand befand sich eine Waffe, so nützlich …

Seine Überlegungen wurden unterbrochen durch ein leises Klopfen an der Tür. Miathan fluchte und bedeckte den Kelch schnell mit einem Tuch. »Herein«, rief er. Es war Meiriel. Sie verbeugte sich tief. »Entschuldigt, Lord Erzmagusch«, sagte sie, »ich muß dringend mit Euch sprechen.«

»Warum so förmlich, Meiriel, hm?« Miathan zwang Leutseligkeit in seine Stimme. Es gab kein Anzeichen dafür, daß die Heilerin gegen ihn war, und er benötigte vielleicht alle Unterstützung, die er bekommen konnte. »Komm herein, setz dich. Nimm ein Glas Wein.«

Meiriel schien sehr beunruhigt zu sein. Ihr Kiefer arbeitete; ihre Augen blickten unruhig hin und her, als sie sich gesetzt hatte und das angebotene Glas Wein vor ihr stand. Bevor er Zeit hatte, sich wieder zu setzen, war sie schon mit ihrer Neuigkeit herausgeplatzt. »Aurian ist schwanger, Erzmagusch!«

Miathan erstarrte mitten in der Bewegung. Das Zimmer schien sich zu verdunkeln und plötzlich kalt zu werden. »Bist du dir dessen ganz sicher?« flüsterte er.

»Ich bin mir sicher«, sagte Meiriel. »Die Aura einer Magusch ändert sich, wenn sie ein Kind empfangen hat. Ein Heiler kann das sehen, obwohl die Maguschfrauen selbst erst später als die sterblichen Frauen merken, daß sie schwanger sind, weil sie besser gelernt haben, ihren Zyklus zu unterdrücken, dessen Ausbleiben sie sonst warnen würde. Es kann noch nicht viel länger her sein als zwei Monate, und ich glaube nicht, daß Aurian es weiß – sie wird es wohl kaum erwartet haben. Aber bald – schon sehr bald – wird sie es wissen.«

Miathan ließ sich schwer in seinem Sessel fallen. »O ihr Götter« flüsterte er. »Ihr Götter – alles, nur das nicht!«

Die Heilerin, die eigentlich auf einen gewaltigen Wutausbruch gefaßt war, sah ihn verwirrt an und tat dann einen plötzlichen tiefen Seufzer.

»Wie konntest du das nur zulassen!« sprudelte es aus ihr hervor. »Mit einem Sterblichen!«

»Sei still!« fuhr Miathan sie an, ohne zuzuhören. Er mußte zurückdenken an einen Tag vor langer Zeit, als ein blauäugiges sterbliches Mädchen vor ihm geweint hatte, während sie ihm eine ähnliche Nachricht brachte – und dann drängte sich ihm die Erinnerung an einen Tag auf, der noch nicht so lange zurücklag, an den Tag der furchtbaren Verwünschung, die er ersonnen und ausgesprochen hatte … Seine Aurian. Trächtig mit dem monströsen Laich dieses verfluchten Sterblichen – mit einem Monster, das er selbst ebenso miterschaffen hatte wie sie …

»Erzmagusch?« Die Heilerin zog ihn ungeduldig am Ärmel.

»Verflucht, Meiriel, geh endlich – nein warte!« Er nahm ihre Hände in einen eisernen Griff. »Du bist eine Heilerin – kannst du das Kind aus der Welt schaffen? Ohne daß Aurian es merkt?«

»Was?« Meiriel starrte ihn an. »Was sagst du da?«

»Hör zu.« Miathan beugte sich dicht zu ihr herüber. »Du hast doch gesagt, daß Aurian noch nichts von ihrer Schwangerschaft weiß. Wir müssen sie beenden, Meiriel, und für dich als Heilerin müßte das doch eine einfache Sache sein. Wenn Aurian erst davon weiß, wird sie es niemals zulassen, und sie hat die Fähigkeit, dich daran zu hindern. Wir müssen also schnell handeln. Ich werde sie sofort herbestellen und sie mit einem schweren Schlafzauber belegen; dann kannst du dich um das Kind kümmern. Wenn sie wieder wach wird, wird sie völlig ahnungslos sein. Wir können ihr sagen, daß sie plötzlich krank geworden sein – daß sie sich wieder einmal übernommen hätte, und« – der Erzmagusch zuckte mit den Schultern – »die Sache ist erledigt.« Seine Blicke trafen die der Heilerin. »Und danach werde ich mich dieses dreimal verfluchten Schwertfech­ters annehmen, ein für allemal. So etwas darf nicht wieder vor­kommen!«

Die Heilerin starrte ihn mit offenem Mund an. »Aber …« ; jammerte sie, »du solltest doch eigentlich nicht – ich meine, ich …«

»Meiriel!« bellte der Erzmagusch. »Kannst du es, oder kannst du es nicht?«

Mit einiger Anstrengung gewann die Heilerin ihre Fassung zurück. »Ja, ich denke doch«, flüsterte sie unglücklich.

»Ausgezeichnet.« Der Erzmagusch lächelte. »Meine liebe Meiriel, ich bin sehr zufrieden mit dir. Ich werde mich dir erkenntlich zeigen. Bist du sicher, daß niemand sonst Verdacht geschöpft hat? Finbarr? Oder sonst jemand?«

»Als ob ich so etwas Finbarr erzählen würde!« Meiriels Lip­pen kräuselten sich. »Er würde in dieser Sache nicht auf unserer Seite stehen. Er ist völlig vernarrt in dieses verflixte Mädchen!« Ihre Augen blitzten ärgerlich.

Miathan kniff seine Augen zusammen. Sie war also eifer­süchtig auf Aurian? Er merkte sich die Information gut für spä­teren Gebrauch.

»Sehr gut, sehr gut«, sagte er. »Ich werde jetzt nach ihr schicken.«

»Verdammtes, dummes Ding!« Aurian zog mit aller Kraft an der Bürste, in der sich unlösbar einige wirre Strähnen ihren Haares verfangen hatten. Dann warf sie das Ding ungeduldig weg – mit dem unausbleiblichen Ergebnis. »Au!« Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, daß der auf einem Podest stehende Spiegel erzitterte.

»Herrin, laß mich das machen.« Anvar trat neben sie und nahm schnell die Bürste, die an einer verfransten Haarlocke in der Luft baumelte. Er machte sie sorgfältig los, während Aurian sich den Kopf rieb, holte ihr dann ein Glas Wein, nahm aber die Bürste mit, um einem weiteren Temperamentausbruch vorzubeugen. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen schien seine Herrin in letzter Zeit furchtbar launisch geworden zu sein.

Aurian nahm einen gewaltigen Schluck Wein und lächelte ihn an. »Danke schön, Anvar. Ich weiß nicht, was ich ohne dich tun würde.« Sie fuhr sich nervös über die Stirn. »Dumm von mir, mich so zu benehmen. Ich weiß gar nicht, was in diesen Tagen mit mir los ist. Du gibst mir besser die Bürste zurück, sonst bin ich zu meiner Verabredung mit Forral bestimmt nicht pünktlich.«

»Soll ich es machen, Herrin?« bot Anvar an. »Ich habe früher meiner Mutter die Haare gebürstet …« Die Erinnerung ließ ihn zusammenzucken. Warum tat es immer noch so weh, an sie zu denken? »Jedenfalls«, fuhr er eilig fort, »sagte sie immer, daß ich es ganz sanft machte.«

»Du solltest es vielleicht einmal versuchen«, meinte Aurian. Sie wirkte überrascht, daß er etwas von seiner Vergangenheit preisgegeben hatte, aber Anvar wußte, daß sie es bereits aufgegeben hatte, ihn danach zu fragen.

Anvar nahm die Bürste und begann Aurian zu frisieren, entwirrte vorsichtig die Strähnen mit seinen Fingern, bevor er sie bürstete. Er genoß das Gefühl des dichten, langen, dicken Haares, das wie schwere Seide durch seine Hände glitt. Bald konnte er es mit langen glatten Bewegungen bürsten und dabei beobachten, wie sich Aurians Schultern zu lockern begannen. »Das ist wunderbar«, seufzte sie. »Du bist der reinste Segen, Anvar. Ich weiß gar nicht, wie das Haar so verfilzen konnte – das passiert normalerweise nicht, wenn ich es geflochten habe. Es muß an Parrics Kavallerietraining liegen. Das ging den ganzen Tag lang rauf aufs Pferd, runter vom Pferd und sogar unter das Pferd – ganz zu schweigen davon, wie oft ich einfach heruntergefallen oder abgeworfen worden bin.«

»Unterscheidet sich der Kampf zu Pferde sehr vom Kampf zu Fuß, Herrin?« fragte Anvar. Sie hatte ihn in letzter Zeit die Anfänge des Schwertfechtens gelehrt, und er war entschlossen, sich auf dem Gebiet hervorzutun.

Aurian nickte. »Es ist etwas ganz anderes«, antwortete sie.

»Zum einen stehst du nicht auf deinen eignen Füßen – du sitzt auf einem großen schweren Ding, das viel unbeweglicher ist, so daß du dich eher auf Kraft als auf Schnelligkeit verlassen mußt. Es gibt verschiedene Kampfstile, je nachdem, ob deine Gegner ebenfalls beritten sind oder zu Fuß. Wenn sie zu Fuß sind, werden sie versuchen, von unten an dich heranzukommen und das Pferd außer Gefecht zu setzen, das schon allein eine sehr wirksame Waffe ist – die Schlachtpferde sind ebenso zum Kampf ausgebildet wie ihre Reiter …« Sie brach mit einem reumütigen Lächeln ab. »Es tut mir leid, Anvar. Ich wollte eigentlich keine Unterrichtsstunde anfangen. Bei Parric habe ich im Moment Pferdekunde bis zum Abwinken.«

Anvar gab das Lächeln an ihr Spiegelbild zurück und freute sich über die Ungezwungenheit, die sich mittlerweile zwischen ihnen eingestellt hatte. »Soll ich dein Haar wieder zu einem Zopf flechten?« fragte er.

»Kannst du das denn auch?« Aurian klang überrascht. »Bei den Göttern, Anvar, kennen deine Fähigkeiten denn gar keine Grenzen?« Sie kicherte. »Ich nehme an, du hast schon begriffen, daß du dir gerade einen neuen Job aufgehalst hast. Mir tun immer die Arme weh von der langwierigen Flechterei!«

»Ich würde es gern machen, Herrin«, sagte Anvar und war überrascht festzustellen, daß dem wirklich so war.

»Ich danke dir, Anvar. Das freut mich wirklich. Aber nicht heute abend. Wir essen mit Vannor, und ich möchte einmal wie eine Lady aussehen und nicht wie eine Kriegerin.« Sie schlang ein Netz aus Goldfäden über ihr glattes Haar, das die feuerrote Flut bändigen sollte, erhob sich dann und strich den Rock ihres smaragdgrünen Kleides glatt. »Also«, sagte sie, »ich muß jetzt los^ Bis später, Anvar – oh, verflucht, wer kann das sein?«

Es hatte vernehmlich geklopft, und Anvar ging zur Tür, um zu öffnen. Es war ein Diener, der Lady Aurian zum Erzmagusch beordern sollte. Aurian verzog das Gesicht, als er ihr die Botschaft überbrachte. »Fledermauskacke! Ich werde zu spät kommen! Hat er gesagt, was Miathan will?«

»Es tut mir leid, Herrin.« Anvar schüttelte den Kopf. Die Magusch gab einen langen Seufzer von sich. Anvar entging es nicht, daß hinter ihrer Maske von Lässigkeit Furcht aufflackerte.

»Herrin, wenn du lieber jetzt sofort fort willst, dann werde ich zum Erzmagusch gehen und ihm sagen, daß ich einen Fehler gemacht habe und daß du bereits fort bist«, bot er ihr an.

»Danke, aber ich gehe besser selbst. Miathan gehört zu denen, die den Überbringer für die Nachricht verantwortlich machen! Ich komme mir noch meinen Mantel holen, bevor ich gehe – ich hoffe, daß es nicht so lange dauern wird.«

Als Aurian gegangen war, machte Anvar sich in ihren Gemächern zu schaffen und räumte die Kleider weg, die sie nach ihrer Rückkehr von der Garnison achtlos abgelegt hatte. Er sammelte ihre lederne Kampfmontur, ihren Sehwertgürtel und ihre Stiefel auf und rollte sie zusammen mit dem Mantel, der einst Forral gehört hatte, zu einem Bündel zusammen. Das legte er an die Tür zu dem Schwert, das bereits dort an der Wand lehnte. Er würde die Sachen später saubermachen, dachte er. Sie stanken nach Pferd. Er leerte ihr Bad aus, machte ein Feuer und stellte für ihre Rückkehr eine volle Flasche Wein auf den Tisch. Nachdem alles gerichtet war, wollte Anvar gerade seine Gitarre nehmen, um sich damit ein oder zwei einsame Stunden zu vertreiben, als sein Blick auf ihren halb unter das Bett gerollten und dort vergessenen Zauberstab fiel.

Der Zauberstab war ein wichtiges Werkzeug der Magusch; er diente dazu, ihre magischen Kräfte zu konzentrieren und auf ein Ziel zu lenken. Jeder der Magusch fertigte sich, wenn seine Fähigkeiten eine bestimmte Stufe erreicht hatten, aus einem der traditionellen magischen Bäume einen Zauberstab an – aus einem Ast oder einer Wurzel, ganz wie es ihm beliebte – und verschmolz ihn dann mit seinen magischen Kräften und seiner Person. Aurian hatte es lange hinausgezögert, sich ihren Stab zu machen, da sie wußte, wie unbeholfen sie schnitzte, und Angst hatte, das Ergebnis könnte zu katastrophal ausfallen. Und als Anvar nach einer Möglichkeit gesucht hatte, sich für ihr großzügiges Sonnenwendgeschenk zu revanchieren, war er schließlich in die Wälder südlich des Flusses gegangen und hatte dort nach langem Suchen gefunden, wonach er suchte. Die gedrehte Wurzel einer Buche, Aurians Lieblingsbaum. Er hatte daraus sorgfältig, so wie sein Großvater es ihm beigebracht hatte, einen Stock geschnitzt und dabei die natürliche Drehung des Holzes ausgenutzt, um daraus die beiden Schlangen der hohen Magie hervortreten zu lassen – die Schlange der Macht und die Schlange der Weisheit, die sich umeinandergeringelt die ganze Länge des Stabes hinaufwanden. Es war das schönste, was er je aus Holz geschnitzt hatte. Es hatte eigene Kraft und eigenes Leben, noch bevor es mit Zauber erfüllt wurde. Aurian war außer sich vor Freude gewesen, als er ihr den Stab überreicht hatte, und ihr Entzücken war für Anvar die schönste Belohnung gewesen.

Anvar bückte sich, um den Stab aufzuheben – und ließ ihn sofort wieder fallen, als hätte er sich daran verbrannt. Bei der Berührung des Holzes hatte ihn Furcht durchzuckt, ein Aufflackern von Panik, als hätte Aurian in hilfloser Verzweiflung nach ihm geschrien. Vorsichtig griff er noch einmal nach dem Stab, aber diesmal war nichts mehr zu spüren.

Den Stab noch in Händen, überlegte Anvar. Was war Aurian zugestoßen? Sie war jetzt schon sehr lange fort. War irgend etwas nicht in Ordnung? Hatte sie es irgendwie geschafft, über dieses Werkzeug, das er geformt und das sie mit ihren magischen Fähigkeiten erfüllt hatte, zu ihm Verbindung aufzunehmen? Ein Knoten von Schmerz entstand bei diesem Gedanken zwischen Anvars Augen, aber er ließ sich davon nicht beirren und versuchte, sich ihren Gesichtsausdruck zu vergegenwärtigen, als sie zu Miathan bestellt worden war. Ja, es war ein Aufblitzen von Furcht gewesen. Wie groß seine Angst vor dem Erzmagusch auch sein mochte, Anvar wußte, daß er jetzt herausfinden mußte, ob Aurian in Schwierigkeiten steckte.

Mit schleppenden Schritten stieg er zur obersten Etage hinauf und versuchte sich erfolglos davon zu überzeugen, daß er sich das alles nur eingebildet hatte. Die Tür zu Miathans Gemächern stand einen Spaltbreit offen. Anvar hatte seine Hand schon gehoben, um anzuklopfen, als er von drinnen Stimmen hörte. Der Erzmagusch – und Meiriel? Wo war Aurian? Ei erstarrt, die Hand immer noch gehoben, und das, was er hörte, ließ es ihm kalt den Rücken herunterlaufen.

»Es funktioniert nicht, Miathan.« Meiriels Stimme klang gepreßt. »Selbst unter deinem Schlafzauber kämpft sie instinktiv, um ihr Kind zu beschützen.«

»Pest über sie! Kannst du nichts dagegen tun?«

»Nun ja … Es gibt eine Droge, mit der ich es versuchen könnte. Sie beeinflußt ihren Willen und macht sie unseren Befehlen gefügig. Wir sollten sie dann eigentlich dazu Bringen können, sich die Brut selbst auszutreiben.«

»Hast du die Droge bei dir?«

»Natürlich!« erwiderte Meiriel knapp. »Aber wir müssen uns beeilen. Es dauert ungefähr eine Stunde, bis die Droge wirkt, und wenn wir in der Zwischenzeit entdeckt werden sollten …«

»Mach dir keine Sorgen. Eliseth und ihr Gefährte sind zweifellos wieder damit beschäftigt, ihren gewöhnlichen Unfug auszuhecken, und du weißt ja, daß Finbarr nie aus seinen Archiven herauskommt. Fang also an, Meiriel. Forrals Brut darf diese Nacht nicht überleben.«

Anvar stockte der Atem. Er mußte sich gegen das kalte steinerne Mauerwerk des Turmes stützen, und in seinem Kopf drehte sich alles. Aurians Baby, vernichtet, so wie es mit Saras geschehen war und aus ähnlichen Gründen … Sein Kind – Forrals Kind … Forral!

Anvar machte kehrt und schlich leise davon, bis er die erste Kehre hinter sich hatte, und schoß dann die Wendeltreppe in halsbrecherischem Tempo hinunter. Nachdem er das Erdgeschoß erreicht hatte, steckte er sich ohne zu überlegen den Stab in den Gürtel und rannte über den mit Fackeln beleuchteten Hof zu den Ställen neben dem Wachhaus. »Ein Pferd, schnell!« rief er den verblüfften Wachen zu. »Eine dringende Besorgung für Lady Aurian!« Sie wußten inzwischen, daß er der vertraute Diener der Lady war, und ließen ihn gewähren. Er griff sich Zaumzeug, nahm sich das nächstbeste Pferd, sprang hinauf, ohne es erst zu satteln, und duckte sich, als er durch das Tor des Stalles galoppierte. Als er das Pferd durchs Tor trieb, schwenkten die Wachen bereits die Laternen, damit die Torhüter auch die unteren Tore öffneten.

Anvar erreichte die Garnison kurz vor einigen berittenen Soldaten, die sich an seine Fersen geheftet hatten. Ihnen war sein rücksichtsloser Parforce-Ritt durch die Straßen der Stadt verdächtig vorgekommen. Zwei Wachen versperrten ihm den Weg, Anvar riß sein Pferd herum und war schon von dem verblüfften Tier heruntergesprungen, bevor es ganz zum Stehen gekommen war. Er drückte den staunenden Soldaten die Zügel in die Hand. »Kommandant Forral!« japste er. »Schnell – wo ist er?« Zum Glück handelte es sich bei einer der Wachen um Parric.

»In seinem Quartier, aber …« Er sprach mit sich selbst. Anvar war schon fort, hatte sich an ihm vorbeigedrängt und rannte über den Exerzierplatz zu den Quartieren der Offiziere. Die Männer der Patrouille, die ihm dicht auf den Fersen gewesen war, sahen Parric fragend an. Der Kavalleriehauptmann, zuckte nur die Achseln.

Anvar hämmerte wie rasend gegen Forrals Tür und hätte dem Kommandanten, der schließlich öffnete, fast ins Gesicht geschlagen.

»Anvar, was um alles in der Welt …«

Anvar fiel fast in den Raum hinein und hatte auch kein Auge für Vannor, der am Feuer saß. Er packte Forral am Hemd und stieß atemlos seine Geschichte hervor. Das Ergebnis war unerwartet. Anvar, der Forral als besonnenen, fähigen Berufssoldaten kannte, hatte nicht damit gerechnet, daß alles, was mit Aurian zusammenhing, bei dem Schwertfechter ein wunder Punkt war. Forrals Gesicht wurde vollkommen weiß; jede Vernunft schien aus seinem Blick zu verschwinden. »Miathan!« heulte er mit unmenschlicher Stimme, griff nach seinem Schwert und stürzte aus dem Raum. Vannor und Anvar starrten sich einander entsetzt an; dann liefen sie wie ein Mann hinter dem rasenden Schwertfechter her.

Bis sie Pferde gefunden und sich einen Weg durch die belebten Straßen der Stadt gebahnt hatten, hatte Forral schon einen guten Vorsprung. Das Torhaus am Damm bot einen furchtbaren Anblick: Der Torhüter lag zusammengehauen in einer Blutlache. Im Hof oben war das Blutbad noch schlimmer gewesen, tote Wachleute und Diener überall auf den blutverschmierten Steinplatten. Forrals Schlachtpferd stand an der Tür zum Turm, seine Flanken hoben und senkten sich schwer, es hatte die Ohren zurückgelegt und die Nüstern geweitet. Blutgeruch lag über dem Hof. Anvar und Vannor sprangen von ihren Pferden und schössen die Stufen des Turmes hinauf, nur um an der Schwelle zu Miathans Gemächern wie angewurzelt stehenzubleiben, schreckensstarr angesichts dessen, was sie sahen.

Aurian hatte sich in einem dunklen Traum verloren und kämpfte mit all ihren Kräften gegen etwas Dunkles und Nebelhaftes, etwas Perverses und unaussprechlich Böses, etwas, das versuchte, von ihrer Seele Besitz zu ergreifen. Sie kämpfte verzweifelt, unbewaffnet, in dem Bewußtsein, daß sie langsam schwächer wurde, mit dem Gefühl, daß ihr Wille sie angesichts dieses dunklen Schreckens langsam verließ, dieser Stimme, die sie zu beherrschen versuchte. Dann erreichte sie eine andere Stimme, die Miathans Namen schrie. Forral! Sie klammerte sich an seine Stimme – eine Rettungsleine, die sie herausziehen konnte – hinauf und hinaus …

Aurian öffnete die Augen; sie sah das Lampenlicht in Miathans reich ausgestatteten Gemächern; sie sah Meiriel in einer Ecke kauernd – und sie sah Forral, der blutbespritzt mit seinem noch bluttriefenden Schwert auf den Erzmagusch losging. Miathan zog sich hinter den Tisch zurück und griff nach einem Tuch, unter dem etwas zum Vorschein kam … Ein Kelch aus ziseliertem, poliertem Gold. Mit gefrierender Stimme begann der Erzmagusch, in einer alten, ganz vom Unheil des Bösen durchdrungenen Sprache die Worte eines schrecklichen Zaubers zu intonieren. Aurian spürte ein schmerzhaftes Brummen in ihrem Kopf, als sich die dunkle, widerliche Magie aufbaute und den Raum durchdrang. »Nein, Miathan!« schrie sie und versuchte, sich von der Wirkung der Droge zu befreien und sich von der Couch, auf der sie lag, zu erheben.

Forral ging langsam und unaufhaltsam auf den Erzmagusch zu. Seine Augen brannten, Mord stand ihm ins Gesicht geschrieben. Verzweifelt versuchte Aurian mit einem lautlosen Hilferuf Finbarr zu erreichen, den einzigen Magusch, dem sie noch trauen konnte.

Die Luft verdichtete sich und wurde dunkel. In dem Dämmerlicht begann die Außenseite des Kelches in krankhafter Blässe zu schimmern, als wäre er durchscheinend wie ein verwesender Pilz, während zugleich von der schwarzen, bodenlosen Höhlung seines Inneren ein widerlicher Gestank ausströmte. Die Luft wurde grabeskalt; ein Geruch nach Verwesung und Zersetzung breitete sich aus. In der Tiefe des Kelches begann sich etwas zu regen. Ein Schatten wie eine Schliere von schwarzem, fettigem Rauch ergoß sich über den Rand. Ein einzelnes rotes Auge brannte beständig inmitten der sich drehenden, wirbelnden Dämpfe, während sich das Gespenst ausdehnte und Gestalt annahm. Forral wich zurück, als ihn das tödliche Licht traf. Eine erstarrende Welle von Bösartigkeit erfüllte den Raum und zwang den Schwertfechter auf die Knie, während sich die Kreatur langsam in seine Richtung in Bewegung setzte. Ein furchtbarer Schrei entfuhr ihm, und sein Gesicht verzerrte sich.

»Nein, Miathan!« Der Erzmagusch drehte sich um, als er Aurians Schrei hörte, und sah, wie sie sich bemühte, von der Couch aufzustehen. Ihre Augen folgten entsetzt der grauenhaften Erscheinung, die er heraufbeschworen hatte. Dann wandte sie sich ihm zu, und der Schmerz, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete, gab ihm einen Stich ins Herz. »Ruf es zurück!« schrie sie. »Bitte, Miathan. Verschone ihn! Ich werde alles tun – ich schwöre es! Ich bitte dich, ruf es zurück!«

Einen Augenblick lang zögerte der Erzmagusch, und seine Kreatur hielt inne. Aurian hatte schon eine Blutschuld bei ihm offen, für den Mord an ihrem Vater, und in seiner eigenen, besitzergreifenden Weise liebte er sie wirklich. »Alles«, hatte sie gesagt – und er hatte ihren Eid darauf. Wenn er erst ihre Dankbarkeit dafür hatte, daß er Forral verschonte, würde er dann nicht bestimmt auch ihr Herz zurückgewinnen?

Fest entschlossen, seine Kreatur zurückzurufen, drehte er sich wieder um, und sein Blick richtete sich auf den Schwertfechter, der in seiner Ecke gefangensaß. Und plötzlich überfiel ihn mit aller Gewalt die Erinnerung an die Demütigung, die Forral ihm an diesem Morgen zugefügt hatte. Dieser schmierige Emporkömmling von einem Sterblichen war Aurians Liebhaber! Er hatte ihren Körper besessen, hatte sie mit seinem Samen gefüllt, und jetzt trug sie seine monströse Brut in ihrem Schoß. Genug! Wieder ergriffen die gierigen Flammen der Eifersucht ganz und gar vom Denken des Erzmagusch Besitz, vertilgten alle Hemmungen, und seine letzte Möglichkeit, sich aus eigener Kraft von der Macht des Bösen loszusagen, war für immer vergangen.

Aurian sah, wie sich Miathan dem grauenhaften Wesen zuwandte und sein Gesicht sich zu einer abscheulichen Maske von Haß verzerrte. »Nimm ihn!« kreischte er. Forral preßte sich flach gegen die Wand und starrte mit weit aufgerissenen Augen das Ding an, das es auf ihn abgesehen hatte. Völlig furchtlos gegenüber jedem menschlichen Feind, war dies zuviel für ihn. Aurian keuchte; ihr brach kalter Schweiß aus. Noch nie hatte sie etwas so Furchtbares gesehen! Sie mußte all ihren Mut zusammennehmen, um nicht einfach davonzulaufen, um nicht von Panik ergriffen vor dieser Verkörperung des Bösen zu fliehen, die sich in tödlicher Absicht ihrem Liebsten näherte.

Es sah aus wie ein Fetzen einer dunklen Wolke – ein Geist, der aus Rauch zu bestehen schien, der sich wand, sich wellenförmig bewegte und widerlich pulsierte, sich immer neu zu heimtückischen, bösartigen, dämonischen Fratzen zusammenzog, derem übelkeiterregenden, flackerndem Glanz kein Blick standhalten konnte. Es war unmöglich, das Ding anzusehen, und es war ebenso unmöglich, seine Augen davon abzuwenden. Aurian spürte, wie ihr Kopf zu dröhnen begann. Das Ding war umgeben von einem mit rasender Schnelligkeit umherwirbelnden Strudel kalter Bosheit, der an ihr zerrte, ihr die Wärme und die Kraft aus dem Körper saugte, so daß sie plötzlich begriff, daß ihr nur noch wenig Zeit zum Handeln blieb.

Mit dem Mut der Verzweiflung richtete sie sich auf, sprang durchs Zimmer, warf sich vor den Schwertfechter und ließ ihren magischen Schild herab, um sie beide vor dem Ungetüm zu schützen. Das Ding kam weiter auf sie zu, langsam und unaufhaltsam. Aurian mußte einen Schrei unterdrücken, als es auf ihren Schild traf – und ihn durchquerte, als ob er nicht da sei! Sie bezwang die in ihr aufsteigende Panik und nahm Forral das Schwert aus den kraftlosen Händen.

Die Klinge tönte hell und erstrahlte in feurigem Licht, als Aurian sie mit ihrem Feuerzauber erfüllte. Sie führte einen gewaltigen beidhändigen Streich gegen die grauenhafte Erscheinung und spaltete sie damit in zwei Hälften. Aber die Klinge war auf keinerlei Widerstand gestoßen. Es war, als hätte sie Rauch durchschnitten. Das Gespenst gab ein tiefes, gefrierendes Lachen von sich, und die beiden Hälften vereinten sich wieder, flössen einfach wieder zusammen. Ein explosionsartiger Schock traf sie, als die Klinge des Schwertes plötzlich dunkel und matt wurde. Sie taumelte geschwächt zurück, ließ das Schwert fallen, ihre Hände und Arme taub von der überwältigenden Kälte, die sich rasch in ihr ausbreitete. Das Scheusal kam immer näher, schien weiter anzuschwellen und mit seiner undurchdringlichen, düsteren Gestalt den ganzen Raum auszufüllen. Es ging über sie hinweg, während sie hilflos am Boden lag, und senkte sich auf den Schwertkämpfer herab, schloß ihn in seine stinkende Dunkelheit ein. Forral gab noch einen letzten, erstickten Schrei von sich – ihren Namen –, als die dunkle Masse sich über ihn legte. Dann herrschte Stille. Langsam stieg das Ding wieder hoch.

Forral lag weiß und bewegungslos da, so wie ihn Aurian vor so langer Zeit in einer Schreckensvision gesehen hatte. »Forral!« schrie sie. Es war ein Schrei der Angst aus den Tiefen ihrer Seele, als sie sich ungeachtet der Gefahr für sich selbst auf ihn warf. Aber es war zu spät. Forrals Körper unter ihr war leblos, eine eiskalte Schale, sein Atem erstorben, sein großes, großmütiges, liebendes Herz stand für immer still.

Anvar war gerade noch rechtzeitig gekommen, um Forral fallen zu sehen. Von der Schwelle aus wurde er Zeuge, wie sich Aurian, die in ihrem Schmerz nicht mehr wahrnahm, was um sie herum vorging, über seinen Leichnam warf und weinend versuchte, ihn wiederzubeleben, mit den Sinnen einer Heilerin verzweifelt nach einem letzten Lebensfunken suchte, an den sie anknüpfen konnte. Das gereizte, düstere Ungeheuer stieß ein gellendes Johlen aus und senkte sich nun mit seinem schwarzen, weit aufgerissenen Schlund auf sie herab. »Nein!« schrie Miathan. »Nicht sie, du Schwachkopf!« Das Ding ignorierte ihn. Gestärkt durch die Lebenskraft seines Opfers hatte es sich Miathans Kontrolle entzogen. Mit einem unartikulierten Schrei sprang Anvar ins Zimmer, aber nur, um von der langen, schlaksigen Gestalt Finbarrs beiseite geschoben zu werden, der seinen Zauberstab hob, sich dem Monstrum zuwandte und mit laut schallender Stimme einige Wörter rief.

Das Ungeheuer zuckte erstaunt und war plötzlich von einer dunstigen, blauen Aura umgeben. Dann hörte es auf, sich zu bewegen, hing erstarrt und hilflos nur ein paar Zoll von Aurians Gesicht entfernt in der Luft, von Finbarrs Ruhezauber in die Zeitlosigkeit verbannt. Miathan wich mit einem unflätigen Fluch zurück, hob seine Hände und sprach nun selbst eine Zauberformel. Daraufhin begannen sich mehr und mehr dunkle Schatten über den Rand des Kelches zu ergießen. Finbarr machte sie einen nach dem anderen mit seinem Bannwort unschädlich und fror jedes der Gespenster ein, sobald es sich zeigte. Sein schweißnasses Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. »Nihilim!« rief er. »Die Todesgeister des Kessels! Anvar – schaff Aurian fort von hier!«

Meiriel in ihrer Ecke bekam einen Schreikrampf.

Anvar ließ es sich nicht zweimal sagen. Er schoß hinüber zu Aurian und mußte sich unter der erstarrten Form der furchtbaren Monstrosität, die über ihr schwebte, hinwegducken. Sie klammerte sich wie von Sinnen an Forral, als Anvar sie am Arm zog. »Komm, Aurian!« schrie er. »Bitte – du kannst nichts mehr für ihn tun!« Anvars eigenes Gesicht war tränenüberströmt.

Aurian sah zu ihm auf, und plötzlich wurden ihre Augen wieder klar, als ob sie ihn jetzt erst erkannt hätte. Sie fuhr sich mit einem Ärmel über ihr tränenverschmiertes Gesicht und nickte, drehte sich dann noch einmal zu Forral um und berührte zum Abschied zart dessen Gesicht. »Gute Reise, Liebster«, flüsterte sie, »bis wir uns wiedersehen.« Dann riß sie sich mit einem Seufzer los und taumelte auf Anvars Arm gestützt zur Tür.

Finbarr war immer noch damit beschäftigt, die endlose Folge der Todesgeister des Erzmagusch niederzukämpfen. Er taumelte inzwischen vor Erschöpfung. Vannor stand an der Tür, schreckensstarr und mit todesblassem Gesicht. Anvar drückte ihm Aurian in die Arme. »Hilf ihr!« schrie er. »Schnell!« Er lief den beiden voraus die Treppe hinunter, stürzte in Aurians Zimmer und holte das Bündel mit ihrer Kampfkleidung und ihr Schwert heraus. Für mehr blieb keine Zeit. Am Fuß der Treppe stieß er wieder zu Vannor und Aurian und half der verzweifelten Magusch auf eines der Pferde. Vannor sprang auf das andere, und Anvar übergab sein Bündel dem Kaufmann, bevor er selbst hinter Aurian aufs Pferd sprang und die Zügel ergriff.

»Zu mir nach Hause!« rief Vannor und galoppierte auf die Tore zu, über die Leichen der niedergemetzelten Wachen hinweg.

Als sie durchs Tor ritten, horten sie vom Turm einen furchtbaren Schrei – Meiriels Stimme. Aurian verkrampfte sich in Anvars Arm und stöhnte. Dann zuckte sie, als hätte sie einen Schlag bekommen.

»Finbarr! Finbarr ist tot«, sagte sie mit leiser, ausdrucksloser Stimme, als wäre dieser letzte Schlag das absolute Ende und sie könne nie wieder etwas tief berühren. Als Anvar noch einmal zum Turm zurückschaute, sah er, daß die finsteren, schwarzen Gestalten der Todesgeister sich bereits aus den oberen Fenstern ergossen und sich auf die Stadt zubewegten.

Mit donnernden Hufen ging es über den Damm, nur fort von dem Schrecken, der hinter ihnen lag, und dann nach rechts die lampenerleuchtete Straße hinauf, die zwischen Bäumen bergan führte. Der wilde Ritt endete erst, als sie die mächtigen geschnitzten Tore von Vannors Anwesen erreichten. An dem verblüfften Diener vorbei, der ihnen die Tür öffnete, führte der Kaufmann sie durch einen steingefliesten Flur in seinen Arbeitsraum. Er ließ Aurians Bündel auf den Boden fallen, bettete gemeinsam mit Anvar die Magusch auf eine Couch und schenkte für jeden von ihnen einen starken Schnaps ein, bevor er sich zitternd in seinen eigenen Sessel fallen ließ. »Bei den Göttern«, sagte er. »Was sollen wir tun?« Er zog ein Taschentuch aus der Tasche und wischte sich damit über die Stirn. »Es ist offensichtlich«, fuhr er fort – mit der Ruhe, die sich nach einem tiefen Schock einstellt –, »daß Miathan verrückt ist. Er hat den Maguschkodex gebrochen und einen Schrecken entfesselt, wie ihn die Stadt noch nie gesehen hat. Es hat ihn immer nach Macht gelüstet – er wird sie sich jetzt nehmen, da gibt es keinen Zweifel. Und er wird uns verfolgen – vor allem Aurian. Du mußt sie von hier fortbringen, Junge. Die einzige Frage ist, wohin? Kannst du nach Norden gehen, Lady, zu deiner Mutter?«

Aurian saß steif neben Anvar auf der Couch und blickte mit weit aufgerissenen, ausdruckslosen Augen ins Leere. Ihr Gesicht war grau, ihre Finger waren weiß, so fest hielt sie sie um ihr noch volles Glas geschlossen.

»Herrin?« fragte Anvar vorsichtig. Er legte ihr den Arm um die Schulter und führte ihr die Hand mit dem Glas an die Lippen, damit sie trinken konnte. Als sie die feurige Flüssigkeit geschluckt hatte, durchlief sie ein Zittern, und die furchtbare Verkrampfung ihres Körpers ließ ein wenig nach.

»Forral«, flüsterte sie sehnsüchtig. Sie begann sich umzusehen, und Anvar konnte es kaum ertragen, ihrem verlorenen schmerzerfüllten Blick zu begegnen. Dann starrte sie wieder ins Leere und hielt Vannor mit zitternder Hand ihr leeres Glas hin, ließ ihn nachschenken und trank es in einem Zug aus.

»Anvar, was ist geschehen?« fragte sie. »Was hat der Erzmagusch mit mir gemacht? Warum warst du und – und warum war Forral dort?« Anvar erzählte ihr kurz und mit zitternder Stimme, was geschehen war. Ihre Augen weiteten sich schockartig. »Ein Kind?« stöhnte sie. »Welches Kind? Ich bin nicht … Ich kann nicht schwanger sein!« Einen Augenblick lang verdüsterte sich ihr Gesichtsausdruck; Anvar vermutete, daß sie ihren eigenen Körper mit den besonderen Sinnesgaben einer Heilerin erforschte. »Große Götter«, murmelte sie. »Die Sonnenwende! Es muß zur Sonnenwende passiert sein. Wir waren betrunken, damals … und so glücklich. Aber ich kann doch gar nicht so sorglos gewesen sein – es ist unmöglich.« Plötzlich flackerte ein furchtbarer Verdacht in ihr auf. »Meiriel!« knurrte sie. »Meiriel hat mich hintergangen! Das ist die einzige Möglichkeit. Bei allen Göttern, das wird sie mir büßen, bevor es mit mir vorbei ist.«

Sie sprang auf die Füße, wirbelte zu Vannor herum und war plötzlich grimmig entschlossen. »Geh du nach Norden, Vannor, wenn du willst«, sagte sie. »Meine Mutter muß gewarnt werden. Sie muß erfahren, daß der Erzmagusch den Kodex verraten hat und zum Abtrünnigen geworden ist. Wir werden ihre magischen Kräfte noch dringend benötigen, bevor diese Sache ausgestanden ist. Sammle alle, die uns unterstützen wollen, bevor du gehst. Ich gehe nach Süden, zu den Bergfestungen, um eine Armee aufzustellen. Ich schwöre dir, daß ich nicht eher ruhen werden, bis Miathan für seine Taten von heute nacht bezahlt hat.«

»Was?« Vannor sprang auf, kalkweiß im Gesicht. »Aurian, willst du für deine Rache den Maguschkodex brechen? Hast du die bitteren Lehren der Verheerung vergessen? Du darfst diesen Schrecken nicht noch einmal entfesseln!«

Die Magusch hielt seinen Blicken stand. »Ich habe keine Wahl«, sagte sie. »Miathan hat den Kodex bereits gebrochen. Finbarr hat gesagt, daß diese – Wesen – Nihilim waren, Todesgeister, und das kann nur bedeuten, daß er den Kessel besitzt, von dem in den alten Mythen die Rede ist, und daß er seine Kräfte zum Bösen einsetzt. Wenn wir ihn nicht aufhalten, wird er schließlich die ganze Welt in der Hand haben.«

Abrupt setzte sich Vannor wieder hin. »Wie kannst du hoffen, ihn besiegen zu können, wenn er solch eine mächtige Waffe besitzt?«

»Das weiß ich nicht«, gab Aurian zu. »Aber ich muß es versuchen, auch wenn mich der Versuch mein Leben kostet.«

Sie war nicht umzustimmen, und es blieb zu wenig Zeit, die Gefahr war zu groß, um lange herumzustreifen. Der durch und durch verängstigte Anvar wußte, daß er sie würde begleiten müssen. Wie sollte man wissen, wozu die Magusch in ihrem Kummer fähig war? Sie schien auch ihr ungeborenes Kind noch nicht mit in ihre Pläne einzubeziehen. Jemand mußte sich um sie kümmern, und das war das mindeste, was er tun konnte, um Sühne zu leisten. Und Sühne leisten mußte er.

Nachdem er ein wenig Zeit gefunden hatte, darüber nachzudenken, was geschehen war, belasteten Anvar schwere Schuldgefühle wegen Forrals Tod. Hätte er nur innegehalten und über die Konsequenzen nachgedacht, bevor er losgerannt war, um den Schwertfechter zu suchen – dann würde Forral noch leben und ebenso Finbarr. Und Miathan würde nicht den Schrecken der Todesgeister entfesselt haben. Allerdings wäre dann auch das Baby getötet worden, aber so schwer ihr die Entscheidung auch gefallen wäre, Anvar wußte, daß Aurian sich immer für ihren Liebsten entschieden hätte. Für den Moment hatte sie ihren Kummer unterdrückt, weil Handeln not tat. Aber schließlich würde sie auch herausfinden – so wie er es getan hatte –, wer in Wahrheit verantwortlich war. Er erschauderte bei dem Gedanken an das, was sie dann wohl mit ihm machen würde. Aber es würde ihn nicht unverdient treffen. Anvar schloß bekümmert die Augen. War es ein Fluch, immer diejenigen zugrunde zu richten, die er am meisten liebte? Zuerst seine Mutter, dann Sara – und jetzt Forral und Aurian. Er wünschte sich wirklich, er wäre an Stelle des Schwertkämpfers gestorben, und er war sich sicher, daß Aurian es genauso sehen würde.

Aurian und Vannor hatten ihre Pläne schnell abgesprochen. Vannor würde mit seiner persönlichen Leibwache in die Stadt reiten und dort versuchen, Parric ausfindig zu machen und Unterstützung für den Widerstand gegen den Erzmagusch zu sammeln. Anvar überlief es kalt; er bewunderte den Mut des Kaufmanns. Er schämte sich, daß er froh war, sich nicht in die geisterverseuchten Straßen begeben zu müssen. Er und Aurian würden Vannors kleines Boot nehmen und flußabwärts zum Hafen fliehen. Die Magusch war zu dem Schluß gelangt, daß sie die südlichen Bergfesten am schnellsten über See erreichen konnten, und Vannor gab ihr Gold für die Schiffspassage. Dann bat der Kaufmann Aurian um etwas, das Anvar schlagartig aus seinen Betrachtungen riß.

»Könnt ihr Sara mitnehmen? Sie wird in einem der südlichen Forts sicherer untergebracht sein als hier bei mir.« Aurian runzelte die Stirn.

»Vannor, das kann ich nicht«, sagte sie frei heraus. »Forral …« Ihre Stimme zitterte bei der Erwähnung seines Namens. »Er hat mich zwar gründlich darin unterwiesen, wie man ein solchen Abenteuer besteht – aber mein Wissen ist noch nie wirklich auf die Probe gestellt worden, und wenn wir nun Sara mitnehmen, dann bedeutet das, daß wir sowohl uns beide als auch sie in Gefahr bringen. Glaub mir, sie ist bei dir besser aufgehoben.«

»Bitte, Aurian«, bat Vannor. »Ich weiß, daß sie für die harten Bedingungen einer solchen Reise nicht geschaffen ist, aber sie wird hier in schlimmer Gefahr sein.«

Aurian seufzte. »Nun gut, Vannor. Ich schulde dir mehr als diesen Dienst – aber denk immer daran, daß es keine Möglichkeit für uns geben wird, sie zu verwöhnen.«

Vannors Gesicht hellte sich auf. »Ich danke dir, Lady«, sagte er. »Ich werde sie sofort herbringen lassen.«

Als Sara hörte, was geschehen war, wurde sie hysterisch. Sie umkreiste Vannor wie eine Furie und bezichtigte ihn aller möglichen Formen der Dummheit, weil er sich überhaupt in diese Geschichte hatte hineinziehen lassen, weil er den Zorn des Erzmagusch auf sich gezogen hatte und ihrer aller Leben ruiniere. Der Kaufmann war durch und durch beschämt ob ihres Benehmens, und Aurians Lippen kräuselten sich angewidert. Anvar hielt sich schweigend im Hintergrund; sein Herz hämmerte, und er fiel wieder einmal Saras Schönheit zum Opfer.

Obwohl sie seine Anwesenheit ignorierte, hatte er sie bei seinem Anblick erbleichen sehen, und aufs neue quälte ihn die Erinnerung an die Zurückweisung, die er bei ihrer letzten Begegnung hatte hinnehmen müssen. Hatte sie das getan, weil sie ihn haßte – oder weil sie fürchtete, Vannor könnte das beschämende Geheimnis ihrer Vergangenheit entdecken? Es war auch für den Außenstehenden ganz offensichtlich, daß es in dieser Ehe Liebe nur auf Vannors Seite gab. Wenn Sara mit ihrem Mann sprach, konnte Anvar darin nichts als Kälte und Verachtung entdecken. Ihre Mutter hatte ihm erzählt, daß Saras Vater sie Vannor als Ehefrau verkauft hatte. War sie gegen ihren Willen dazu gezwungen worden? War sie eine Gefangene in all diesem Reichtum? Das würde ihr Benehmen gegen den Kaufmann erklären, den Anvar als freundlichen und grundanständigen Mann kannte. Und wenn sie Vannor haßte, wie würde das Mädchen dann darauf reagieren, daß sie mit ihrem früheren Liebhaber reisen sollte, der ihr ein Kind gezeugt und sie mit den Konsequenzen, die sich daraus ergaben, allein gelassen hatte?

Vannor kam in seinen Erklärungen erst gar nicht dazu, Anvar zu erwähnen. Als es dem Kaufmann endlich gelang, zu Wort zu kommen, um Sara seine Pläne mitzuteilen, weigerte sie sich rundheraus zu gehen. »Warum sollte ich?« schimpfte sie und stampfte mit dem Fuß auf. »Ich ziehe doch nicht wie ein Vagabund mit der da durch die Welt.« Sie starrte Aurian an. »Nichts von alledem ist meine Schuld – der Erzmagusch kann mich nicht dafür verantwortlich machen. Und es war auch nicht meine Entscheidung, einen Schwachkopf zu heiraten – oder einen Geächteten!«

Anvar konnte Vannor ansehen, wie sehr ihn diese Beschimpfungen verletzten. Aurian ging fluchend und mit erhobener Hand einen Schritt auf Sara zu. Anvar sprang schon dazu, überzeugt, daß die Magusch sie schlagen wollte, aber Aurian legte nur ihre Hand auf Saras Stirn und sagte: »Schlaf!« Sara fiel zu Boden. »Keine Angst«, sagte Aurian, als sie den besorgten Blick des Kaufmanns auffing, der sich sogleich neben seine Frau gekniet hatte. »Es setzt sie für eine Weile außer Gefecht. Schick jemanden, der sie hinunter zum Boot trägt, Vannor. Wir werden hier schon viel zu lange aufgehalten.«

»Ist ihr denn nichts passiert?« fragte der Kaufmann.

»Nein, natürlich nicht. Es geht ihr besser, als sie es verdient«, erwiderte Aurian gereizt. »Sie schläft nur. Aber ich warne dich, Vannor – wenn sie sich das nächste Mal so benimmt, dann werde ich sie schlagen – und zwar mit dem größten Vergnügen!«

Der Wind wurde stärker und trieb zerfetzte Wolken vor dem blassen Halbmond her, dessen unbeständiges Licht immer wieder die düsteren, kahlen Äste erkennen ließ, die sich in den Himmel reckten. Auf der hölzernen Uferbefestigung an Vannors kleinem Bootshaus lagen noch Schneereste, und der Fluß strömte hastig vorbei und leckte mit kabbeligen kleinen Wellen hungrig an dem niedrigen hölzernen Anleger. Einer von Vannors Männern hielt eine Laterne in die Höhe, ein anderer zog das kleine Boot aus dem Verschlag und hielt es fest, bis der Kaufmann sanft die schlafende, dick eingemummte Gestalt seiner Frau hineingelegt und“ ihren Kopf auf das armselige Bündel gebettet hatte, das ihrer aller Besitz enthielt.

Anvar fröstelte. Er trug einen von Vannor geliehenen Umhang, aber in der Kälte der Nacht und nach dem Schock, der schließlich auch ihn ereilt hatte, hatte ihn ein unkontrollierbares Zittern überfallen. Aurian stand neben ihm und zog Forrals alten Umhang um sich zusammen. Ihr Gesicht war fahl und wie versteinert. Nur ihr unbezwingbarer Wille, das wußte Anvar, verhinderte, daß sie zusammenbrach, und er hatte Angst um sie.

Vannor blickte Sara lange an und küßte sie zum Abschied; dann wandte er sich Aurian zu und umarmte sie unbeholfen. »Die Götter seien mit euch, Lady«, sagte er mit erstickter Stimme. Tränen liefen ihm über die Wangen.

»Und mit dir, mein lieber Vannor.« Aurians Stimme war ein Seufzen. Sie schluckte. »Paß auf dich auf«, sagte sie sanft, wischte sich über die Augen, zog die Kapuze über den Kopf und stieg in das Boot, darauf bedacht, das Schwert nicht zu verlieren, das sie jetzt gegürtet hatte. Sie steckte auch ihren Zauberstab, den sie sich von Anvar hatte geben lassen, in den Gürtel und nahm die Stange in beide Hände, um das Boot abzustoßen.

Vannor kam noch einmal zu Anvar und drückte ihm warm die Hände. »Paß auf sie auf, Junge«, sagte er. »Paß auf die beiden auf.«

Anvar nickte wortlos. Er stieg in das kleine Boot und nahm die Ruder. Aurian stieß mit der Stange ab, und das Boot glitt in sanftem Bogen in die Strömung des dunklen Flusses hinaus.

Während sie Fahrt aufnahmen, wurde Vannors Gestalt schnell kleiner und war bald nicht mehr zu sehen.

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