7

Ein Sturm wehte mit heulenden Winden und dunklen Wolken aus dem Süden heran, und der Schnee peitschte fast waagrecht durch die Luft, mit einer solchen Wucht, dass es schmerzte. Der Blizzard war unglaublich schnell herangekommen: Als Vol’jin aufgewacht war, hatte die Sonne geschienen, aber noch bevor er seine morgendlichen Pflichten erledigen konnte – in diesem Fall die obersten Fächer der Regale abzustauben, in denen viele alte Schriftrollen aufbewahrt wurden –, war die Temperatur bereits gefallen und die Luft dunkler geworden, und das Jaulen des Sturms hatte sich erhoben, als würden heulende Dämonen über das Kloster herfallen.

Vol’jin wusste nicht viel über Schneestürme, aber gerade das verhinderte, dass er in Panik geriet, während ältere Mönche das Kloster durchkämmten, um alle im großen Speisesaal zu versammeln. Jeder Pandaren ging an seinen Essensplatz, und Vol’jin, der größer als die anderen war, konnte sehen, dass die Mönche die Anwesenden abzählten. Erst da fiel ihm ein, dass ein so heftiger Sturm jeden Wanderer blenden und in die Irre führen könnte. In diesem Blizzard verloren zu gehen, bedeutete den sicheren Tod.

Zu seiner Schande fiel ihm überhaupt nicht auf, was Chen bemerkte, noch bevor das Durchzählen beendet war. „Tyrathan ist nicht hier.“

Vol’jin spähte hoch zum Gipfel des Berges. „Er würde nicht rausgeh’n, wenn sich so ein Sturm zusammenbraut.“

Taran Zhu stellte sich auf ein erhöhtes Podium. „Es gibt eine Nische, wo er oft Rast macht. Sie ist nach Norden ausgerichtet und gut abgeschirmt. Von dort hätte er den Sturm nicht kommen sehen. Meister Sturmbräu, Ihr werdet ein Fass mit Eurem Gute-Besserungs-Gebräu füllen. Das erste und das zweite Haus werden sich zu Suchgruppen organisieren.“

Der Troll hob den Kopf. „Was soll ich tun?“

„Kümmert Euch weiter um Eure Pflichten, Vol’jin.“ Wenn Taran Zhu seinen Namen aussprach, gab es kein Jian.

„Der Sturm wird ihn umbring’n.“

„Euch würde er ebenfalls töten. Und zwar noch schneller als ihn.“ Der alte Pandaren klatschte einmal mit den Pfoten, und die Mönche gingen eilig ans Werk. „Ihr wisst nur wenig über solche Schneestürme. Ihr mögt vielleicht Steine zerschmettern, aber dieser Sturm kann Euch zerschmettern. Er würde Euch alle Wärme und Stärke aus dem Leib saugen. Wir müssten Euch hierher zurücktragen, lange bevor wir ihn fänden.“

„Ich kann doch nicht einfach nur danebensteh’n …“

„… und nichts tun? Gut, dann will ich Euch eine Aufgabe geben, eine Frage, über die Ihr nachdenken könnt.“ Die Nüstern des Pandaren zuckten, aber seine Stimme blieb gleichmäßig und emotionslos. „Wollt Ihr handeln, um den Menschen zu retten oder um Euer Selbstverständnis als Held zu wahren? Ich denke, Ihr werdet viele Regale abstauben können, bevor Ihr die wahre Antwort auf diese Frage gefunden habt.“

Zorn brannte in Vol’jins Seele, aber er gab ihm keine Stimme. Der Meister der Mönche hatte zweimal direkt ins Schwarze getroffen, so wie die Bogenschützen, die unter seiner Aufsicht trainierten. Es stimmte, der Sturm würde ihn töten. Gut möglich, dass er dort draußen nicht einmal überleben würde, wenn er bei voller Gesundheit wäre; Kälteresistenz war für die Dunkelspeertrolle niemals ein ernst zu nehmendes Thema gewesen.

Wichtiger noch war aber, dass Taran Zhu erkannt hatte, warum Vol’jin wirklich an dem Rettungseinsatz teilnehmen wollte. Das war der Pfeil, der ihn am schmerzhaftesten traf. Es war nicht die Sorge um Tyrathan Khorts Wohl, die ihn umtrieb, sondern die Sorge um sich selbst. Er wollte nicht länger zurückbleiben müssen, wenn es galt, auf eine Gefahr zu reagieren; das war ein Zeichen von Schwäche, und er wollte sich keine Schwäche eingestehen. Könnte er Tyrathan retten, würde das außerdem beweisen, dass er und seine Gesundheit dem Menschen überlegen waren. Dann würde es nicht mehr so sehr schmerzen, dass der Mann seine Schwäche gesehen hatte.

Als er sich wieder dem Abstauben zuwandte, erkannte Vol’jin, dass er sich Tyrathan verpflichtet fühlte, und dieser Gedanke gefiel ihm nicht. Trolle und Menschen waren einander nie wirklich verbunden gewesen, außer in ihrem Hass. Vol’jin hatte mehr Männer getötet, als er zählen konnte, und die Art, wie der Jäger ihn studiert hatte, ließ darauf schließen, dass auch er schon zahlreiche Trolle auf dem Gewissen hatte. Sie waren als Feinde geboren, und war das nicht auch der Grund, warum die Pandaren sie überhaupt hierbleiben ließen? Weil sie so gegensätzlich waren, dass sie einander ausglichen?

Und trotzdem hat dieser Mann mir nichts als Güte geschenkt. Ein Teil von Vol’jin wollte das als Schwäche abtun. Tyrathan hatte sich ihm aus Furcht untergeordnet, in der Hoffnung, dass Vol’jin ihn dann nicht töten würde, wenn es ihm wieder besser ging. Es wäre leicht, das zu glauben, und viele Trolle wären so überzeugt davon, als hätten die Loa es ihnen in einer Nachricht übermittelt. Doch Vol’jin konnte das nicht akzeptieren. Man hatte Tyrathan aufgetragen, sich um ihn zu kümmern, aber die zusätzliche Mühe, die er sich mit der Tunika gemacht hatte – so verhielt sich kein Diener, der nur seinen Pflichten nachkam.

Es war mehr. Und es verdient Respekt.

Vol’jin war mit den oberen Fächern fertig und hatte sich längst den unteren gewidmet, als die Suchtrupps zurückkehrten, und ihre aufgeregten Stimmen deuteten darauf hin, dass sie Erfolg gehabt hatten. Beim Mittagessen hielt der Troll erst nach Tyrathan Ausschau, dann nach Chen und Taran Zhu. Als er keinen von ihnen sehen konnte, suchte er nach den Heilern. Einen oder zwei von ihnen entdecke er, aber sie blieben gerade lange genug, um sich etwas zu essen zu nehmen, dann verschwanden sie wieder.

Der Sturm belagerte den Berg, und der Tag blieb grimmig und dunkel, bis noch tiefere Dunkelheit und noch eisigere Kälte schließlich sein Ende einläuteten. Als die Mönche sich zum Abendmahl versammelten, trat eine junge Mönchin an ihn heran und führte ihn in die Krankenstation, in der ihn bereits Chen und Taran Zhu erwarteten. Keiner von ihnen machte einen fröhlichen Eindruck.

Tyrathan Khort lag in einem Bett, seine Haut war ganz grau, und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Mehrere warme Decken hüllten ihn bis zum Kinn ein, und obwohl er versuchte, sie fortzustrampeln, waren seine Bewegungen so schwach, dass sie ihn weiter bedeckten. Kurz durchzuckte Mitgefühl Vol’jin.

Der Leiter des Klosters richtete einen Finger auf den Troll. „Ich habe eine Aufgabe, um die Ihr Euch kümmern werdet. Falls nicht, wird er sterben. Und bevor ein schändlicher Gedanke sich in Eurem Geist einnistet, lasst mich Euch Folgendes sagen: Falls Ihr Euch weigert, werdet Ihr ebenfalls sterben. Nicht durch meine Hand und auch nicht durch die eines der Mönche hier. Aber dieses Ding, das Ihr jenseits der Steinplatte zerschmettert habt – durch eine solche Tat würdet Ihr es zurück in Eure Seele lassen, und dann würde es Euch umbringen.“

Vol’jin ließ sich auf ein Knie fallen und beobachtete Tyrathans Gesicht. Furcht, Hass, Scham: Diese und weitere Emotionen wanderten über die Züge des Menschen. „Er schläft. Er träumt. Was kann ich tun?“

„Es geht nicht darum, was Ihr tun könnt, Troll, sondern darum, was Ihr tun müsst.“ Taran Zhu atmete langsam aus. „Weit entfernt von hier, im Süden und im Osten, befindet sich ein Tempel. Er ist einer von vielen in Pandaria, aber er und einige andere wie er sind etwas Besonderes. Denn in jedem von ihnen hat Kaiser Shaohao in seiner Weisheit einen der Sha eingesperrt. Die Sha ähneln in ihrer Natur Euren Loa. Sie verkörpern Aspekte des intellektuellen Wesens – die dunklen Aspekte. Im Tempel der Jadeschlange hat der Kaiser den Sha des Zweifels eingekerkert.“

Vol’jin runzelte die Stirn. „Es gibt keine Geister des Zweifels.“

„Nein? Was hast du dann mit diesem Schlag zerstört?“ Taran Zhu verschränkte die Pfoten hinter seinem Nacken. „Du hast Zweifel, wir alle haben Zweifel, und der Sha benutzt sie. Er lässt sie in unserem Innern vibrieren, um uns zu lähmen, unsere Seele zu töten. Wir, die Shado-Pan, werden ausgebildet, um den Sha entgegenzutreten, wie Ihr inzwischen wisst. Doch unglücklicherweise ist Tyrathan Khort ihnen begegnet, bevor er bereit dafür war.“

Vol’jin erhob sich wieder. „Was kann ich tun? Was muss ich tun?“

„Ihr seid von dieser Welt. Ihr versteht sie.“ Taran Zhu nickte Chen zu. „Meister Sturmbräu hat in unserer Apotheke ein Getränk zubereitet, das wir Wein der Erinnerung nennen. Sowohl Ihr als auch der Mensch werden davon trinken, und dann werden wir Euch in seine Träume führen. So wie die Loa bisweilen durch Euch agieren, so werdet Ihr durch ihn handeln. Ihr habt Eure Zweifel zerstört, Vol’jin, aber er ist noch immer von ihnen infiziert. Ihr müsst seine Zweifel finden und sie austreiben.“

Die Augen des Trolls wurden schmal. „Könnt Ihr das denn nicht tun?“

„Wenn ich es könnte, würde ich diese Aufgabe wohl kaum jemandem anvertrauen, der wenig mehr ist als ein Novize, glaubt Ihr nicht auch?“

Vol’jin neigte den Kopf. „Natürlich.“

„Eine Warnung habe ich noch für Euch, Troll. Ihr müsst begreifen, dass nichts von dem, was Ihr seht und erlebt, real ist. Es sind seine Erinnerungen vergangener Ereignisse. Könntet Ihr mit allen Überlebenden dieser Schlacht reden, würde jeder Euch eine andere Geschichte erzählen. Versucht also gar nicht erst, seine Erinnerungen zu verstehen. Findet seine Zweifel und merzt sie aus.“

„Ich werde schon wiss’n, was zu tun ist.“

Die Mönchin und Chen schoben ein weiteres Bett heran, aber Vol’jin winkte ab und setzte sich stattdessen auf den Steinboden neben Tyrathan. „Das wird mir helf’n, mich daran zu erinnern, dass ich ein Troll bin.“

Er nahm eine hölzerne Schale aus Chens Pfote. Die schwarze Flüssigkeit darin war ölig und brannte, als wäre sie mit Brennnesseln versetzt. Schnell breitete sich ein saurer Geschmack auf Vol’jins Zunge aus, nur dort nicht, wo das bittere Brennen seinen Mund betäubte. Nach zwei Schlucken war der Wein der Erinnerung seine Kehle hinuntergerannt, und nun legte er sich hin und schloss die Augen.

Er streckte seine Sinne aus, wie er es auch tat, wenn er mit den Loa Verbindung aufnehmen wollte, aber die Landschaft, in der er sich wiederfand, war ganz klar pandarisch – voller Grün und warmem Grau, auch wenn ein paar Flecken Schnee darin aufblitzten. Taran Zhu stand dort, ein schweigsamer Geist, und seine rechte Pfote deutete auf eine dunkle Höhle. Die Fußspuren von Pandaren führten in diese Richtung, endeten aber an der steinernen Mündung.

Vol’jin musste sich mit eingezogenem Kopf seitlich durch den Eingang schieben, und einen Herzschlag lang, als die Steinwände gegen seinen Körper drückten, fürchtete er schon, er würde nicht hindurchpassen. Doch dann, begleitet von einem Gefühl wie von zerreißendem Fleisch, gelang es ihm.

Und beinahe hätte er laut aufgeschrien.

Er sah die Welt nun durch Tyrathan Khorts Augen, und alles war viel zu hell und viel zu grün. Vol’jin hob eine Hand, um seine Augen abzuschirmen, und Überraschung durchzuckte ihn. Seine Arme waren zu kurz, sein Körper breiter, aber doch schwächer, und er konnte nur winzige Schritte machen. Ringsum, wohin er auch blickte, standen Männer und Frauen in den blauen, mit Gold verzierten Wappenröcken von Sturmwind. Sie schärften ihre Waffen und rückten ihre Rüstungen zurecht, während Jinyu-Rekruten sie fasziniert beobachteten.

Ein junger Soldat tauchte vor ihm auf und salutierte. „Der Kriegsanführer braucht Euch auf dem Hügel, Sir.“

„Danke!“ Vol’jin ließ sich von der Erinnerung mittreiben, während er sich an das Gefühl gewöhnte, in einem menschlichen Körper zu stecken. Über dem Rücken trug Tyrathan seinen Bogen, und jedes Teil davon bestand aus Tieren, die er erlegt hatte. Das Leder war von ihm selbst gegerbt und genäht, und auch sonst hatte er auf alles verzichtet, was andere hergestellt hatten.

Vol’jin lächelte, denn er verstand die Gründe.

Leichtfüßig rannte Tyrathan den Hügel hinauf – und der Troll erkannte, warum er so gerne auf den Berg über dem Kloster hinaufgestiegen war. Vor einem gewaltigen Hünen von einem Mann mit dichtem Bart blieb er schließlich stehen. Die Rüstung des Kriegsanführers leuchtete blendend hell, und auf dem Weiß seines Wappenrocks gab es nicht die geringste Spur von Blut.

„Ihr wolltet mich sehen, Sir?“

Der Mann, Bolten Vanyst, deutete in das Tal hinab. „Das ist unser Ziel. Das Schlangenherz. Es macht einen friedlichen Eindruck, aber davon werde ich mich nicht täuschen lassen. Ich habe ein Dutzend Scharmützler ausgesucht – die besten Jäger. Ich möchte, dass Ihr mit ihnen das Terrain auskundschaftet und dann Bericht erstattet. Wir werden dort unten nicht in einen Hinterhalt hineinspazieren.“

„Verstanden, Sir.“ Tyrathan salutierte zackig. „Ihr werdet meinen Bericht in ein, spätestens zwei Stunden haben.“

„Solange er vollständig ist, darf es auch drei dauern.“ Der Kriegsanführer entließ ihn mit einem Wink.

Der Mensch rannte los, und Vol’jin prägte sich sämtliche Eindrücke ein. Als sie einen felsigen Hügelpfad hinabeilten, fiel ihm auf, dass Tyrathan einige der weiteren Sprünge ausließ, aber als er in diesen Entscheidungen nach einem Anflug des Zweifels suchte, fand er nur Zuversicht. Der Mann kannte sich genau, und auch wenn ein Troll diesen Vorsprüngen keine weitere Beachtung geschenkt hätte, waren sie doch steil genug, dass ein Mensch sich den Knöchel verrenken oder das Bein brechen konnte.

Es überraschte Vol’jin ohnehin, wie zerbrechlich man sich als Mensch fühlte. Bislang hatte er es nur von einer Warte aus gesehen: dass es herrlich leicht war, seine Feinde zu zerschmettern. Doch nun begann er genauer darüber nachzudenken. Die Menschen wussten, dass der Tod sie jederzeit ereilen konnte, und doch kämpften und erforschten sie und zeigten keinen Mangel an Tapferkeit. Es schien, als wäre ihre Sterblichkeit ein vertrauter Gefährte, den sie bereitwillig an ihrer Seite akzeptierten.

Erst als Tyrathan eine Gruppe von zwölf Jägern, ihm selbst nicht unähnlich, erreichte, fiel Vol’jin auf, dass dieser Mensch keinen tierischen Begleiter dabeihatte. Die anderen hingegen schon, und jedes der Tiere zeugte von den Reisen des jeweiligen Besitzers. Da waren Raptoren und Schildkröten, Riesenspinnen und Blutsucher-Fledermäuse. Nach welcher Logik die Menschen ihre Tierbegleiter auswählten, wollte sich Vol’jin jedoch nicht erschließen.

Mit knappen Handzeichen gab Tyrathan seinen Soldaten ihre Befehle, anschließend teilte er sie in kleine Gruppen ein, genau so, wie er die Jihui-Spielsteine aufgeteilt hatte. Seine eigene Gruppe führte er nach Süden, dem entlegensten Zielpunkt entgegen, und sie bewegten sich schnell und leise – in dieser Hinsicht schienen sie es selbst mit den samtpfotigen Pandaren-Mönchen aufnehmen zu können. Tyrathan hatte einen Pfeil an die Sehne gelegt, den Bogen aber nicht gespannt.

Als ein Schrei aus dem Westen erklang, veränderte sich die Realität der Ereignisse, und vermutlich wäre Vol’jin verloren gewesen, hätte er nicht gewusst, wie ein Kampf die Wahrnehmung beeinflusste. Die Zeit verlangsamte sich, wenn man ein Unheil kommen sah, und dann preschte sie auf einmal nur so dahin, sobald es einen einholte. Es dauerte eine Ewigkeit, wenn man sah, wie ein Pfeil auf einen Freund zuflog, aber nur einen Herzschlag, bis das Leben in einer roten Fontäne aus seinem Körper gesprudelt war.

Wo gerade noch keine Feinde in Sicht gewesen waren, stürmte nun eine Legion auf die Gruppe los. Bizarre Geisterwesen wirbelten um sie herum, berührten, zerfleischten, zerfetzten sie, entlockten ihren Kehlen Schreie, bevor sie sie durchschnitten. Die tierischen Begleiter der Menschen brüllten und knurrten, bissen und hieben mit ihren Klauen um sich, nur um ebenfalls überwältigt und auseinandergerissen zu werden.

Tyrathan für seinen Teil versuchte, Ruhe zu bewahren. Mit fließenden, kräftigen Bewegungen feuerte er einen Pfeil nach dem anderen ab. Junge, Junge, die Mönche würd’n ganz schön alt ausseh’n, wenn sie ihm je einen Bog’n in die Hand geben würd’n. Vol’jin hegte keinen Zweifel daran, dass Tyrathan den Pfeil eines Mönchs in der Luft zerteilen konnte, noch bevor er das Ziel erreichte, und trotzdem noch mitten ins Schwarze treffen würde.

Da ging eine Frau zu Boden, dunkelhaarig und schlank, so wie die Katze, die sie begleitete. Mit einem Schrei eilte Tyrathan zu ihr hinüber und feuerte auf die Sha, die sie attackierten. Er tötete den ersten, anschließend den zweiten, aber dann rollte ein Stein unter seinen Fuß, und er verfehlte den dritten.

Von seinem Blickwinkel aus konnte Vol’jin sehen, dass dieser Schuss ohnehin keinen Unterschied mehr gemacht hätte. Die Frau starrte mit glasigen Augen aus einer roten Totenmaske zu ihnen beiden hinauf. Das Blut sprudelte, und ihr Wappenrock saugte es gierig auf. Falls etwas Erinnerungswürdiges an ihrem Tod war, dann die Art, wie ihre Hand sich zärtlich auf den breiten Schädel ihres leblosen Tierbegleiters legte.

Tyrathan ließ sich auf ein Knie fallen, aber da traf ihn etwas hart in die Seite. Sein Bogen flog ihm aus der Hand und segelte durch die Luft, und er selbst wurde gegen eine Steinschlange geschleudert. Sie traf ihn direkt unter der linken Hüfte, und sein Bein knickte um, woraufhin ein glühender Schmerz seinen Körper durchzuckte. Er prallte einmal auf und rollte weiter, bis er zum Liegen kam. Direkt über der toten Frau.

Es ist meine Schuld, dass du nicht mehr am Leben bist.

Da war sie, die Wurzel des Zweifels. Vol’jin blickte hinab und sah einen schwarzen Faden, der in einen spitzen Dorn auslief. Er stach ihn einmal, verfehlte nur knapp sein Herz und schoss aus seinem Rücken wieder hervor, dann zuckte er zurück nach vorne, die Spitze vorgereckt wie eine Viper kurz vor dem Zustoßen, diesmal direkt auf sein Herz gerichtet.

Doch Vol’jin streckte seine Geisterhand aus und packte ihn unterhalb des Dorns, so wie er auch eine Schlange ergreifen würde. Mit einem Streicheln seines Daumens köpfte er den Zweifel, dann packte er ihn weiter unten und riss auch den Rest des Fadens los.

Doch der mittlere Teil der schwarzen Viper kroch schnell und tief in Tyrathan hinein, und dort schlang er sich fest um das Herz des Jägers und begann zuzudrücken. Der Körper des Menschen verspannte sich, sein Rücken krümmte sich, aber der zerrissene Faden konnte nicht fest genug zudrücken. Also wand er sich nach unten, fort vom Herzen, und schlängelte sich stattdessen um seine Wirbelsäule, um auf Tyrathans Schmerzen in sein Gehirn hinaufzureiten.

Dort angekommen stieß er zu und entlockte dem Menschen einen markerschütternden Schrei. Vol’jins Bild von Tyrathan verschwand wie ein Spiegelbild im Wasser, das von einem Strudel verschlungen wird. Sämtliches Licht versickerte in einem schwarzen Loch, und nur silberne Qualen züngelten wieder heraus, die Mensch wie Troll gleichermaßen erschütterten.


Vol’jin zuckte hoch, sein Gesicht nass vor Schweiß, und seine Hände suchten seinen Körper instinktiv nach Wunden ab. Er griff an seine Hüfte, spürte, wie der Schmerz der gebrochenen Knochen schwand, und nach einem Keuchen blickte er zu Tyrathan hoch.

Ein wenig Farbe war unter die Haut des Menschen zurückgekehrt, und er atmete leichter, außerdem strampelte er nicht länger unter seinen Decken.

Vol’jin musterte ihn genauer. Er war noch immer so schwach und so viel zerbrechlicher, als der Troll sich hätte vorstellen können, bevor er in seine Haut geschlüpft war. Doch er hatte einen stählernen Willen, und er würde sich erholen. Ein Teil von Vol’jin hasste den Gedanken, weil er erkannte, dass viele Menschen diese Eigenschaft teilten. Das bedeutete nichts Gutes für die Trolle. Doch zugleich bewunderte er Tyrathan, denn man brauchte einen starken Geist, um so erbittert gegen den Tod anzukämpfen.

Der Troll blickte hoch zu Meister Taran Zhu. „Ein paar Zweifel sind mir entwischt. Ich konnte sie nicht alle auslöschen.“

„Ihr habt genug getan.“ Der Pandaren-Mönch nickte ernst. „Fürs Erste wird es reichen müssen.“

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