6

Vol’jin war vielleicht noch nicht ganz sicher, wer er war, aber er wusste genau, wer er nicht war. Stück für Stück zwang er sich von seinem Krankenbett hoch. Er schlug die Decke zurück, wobei er sie gründlich faltete, obwohl er sie doch eigentlich nur von sich schleudern wollte, und schwang dann die Beine über die Bettkante.

Als seine Füße den kalten Boden zum ersten Mal berührten, überraschte ihn das Gefühl, aber er zog auch Stärke daraus. Es überdeckte die Schmerzen in seinen Beinen und das Zerren der straffen Narben und Nähte. Auf den Bettpfosten gestützt, versuchte er sich aufzurichten.

Beim sechsten Versuch schaffte er es schließlich. Zuvor, beim vierten Anlauf, waren die Nähte an seinem Bauch aufgeplatzt, doch er weigerte sich, diese Tatsache anzuerkennen, und so hatte er die Mönche fortgescheucht, die durch den dunklen Fleck auf seiner Tunika angelockt wurden. Zunächst hatte er vorgehabt, sich bei Tyrathan für die zusätzliche Arbeit zu entschuldigen, die er ihm aufbürdete, aber dann bat er die Mönche stattdessen, die Tunika beiseitezulegen.

Das tat er, nachdem er sich wieder hingelegt hatte. Er hatte sich aufgerichtet und eine gefühlte Ewigkeit auf seinen Füßen gestanden. Wie viel Zeit wirklich vergangen war, hatte ihm das Sonnenlicht gezeigt, das durch das Fenster schien. Es hatte sich zwar nicht mal um eine Käferbreite über den Boden bewegt, aber immerhin: Er hatte aufrecht gestanden. Das war ein Sieg.

Nachdem die Mönche die Wunde wieder genäht und neu verbunden hatten, bat Vol’jin um einen Kessel mit Wasser und eine Bürste. Damit schrubbte er das Blut aus der Tunika, so gut es ihm eben möglich war. Der Fleck erwies sich als hartnäckig, und die Anstrengung ließ seine Muskeln brennen, dennoch war der Troll fest entschlossen, den Stoff rein zu waschen.

Tyrathan wartete, bis Vol’jins Bewegungen langsamer wurden und das Wasser sich wieder glättete, dann nahm er ihm die Tunika ab. „Es ist äußerst gütig von dir, Vol’jin, dass du meine Bürde erleichtern willst. Ich werde das jetzt zum Trocknen aufhängen.“

Am liebsten hätte der Troll protestiert, konnte er doch noch immer den dunklen Umriss erkennen, aber er blieb stumm, denn in diesem Augenblick sah er das Gleichgewicht von Huojin und Tushui wiederhergestellt. Er war impulsiv gewesen, und Tyrathan hatte bedachtsam gehandelt und zur rechten Zeit eingegriffen, auf eine Weise, die keinem von ihnen die Ehre kostete. Ohne es auszusprechen, hatte er Vol’jins Mühe und Absicht gewürdigt und so das beabsichtigte Ziel erreicht, ohne jeden Egoismus und ohne auf einen Sieg zu schielen.

Am nächsten Tag schaffte der Troll es schon beim dritten Versuch auf die Beine. Er blieb so lange stehen, bis der Rand des Sonnenlichts um eine Daumenbreite an der Fuge zwischen den Bodenplatten vorbeigewandert war. Und am darauffolgenden Tag schaffte er es in derselben Zeitspanne, von einem Ende des Bettes zum anderen und wieder zurück zu gehen. Am Ende der Woche schlurfte er schon bis zum Fenster und blickte hinaus in den Hof.

In der Mitte des Platzes standen Pandaren-Mönche in geraden Linien und exerzierten ihre Übungen durch, wobei sie mit rasender Geschwindigkeit in die Luft hieben. Der Kampf ohne Waffen war für Trolle nichts Neues, aber da sie von Natur aus schlaksiger waren, kamen ihre Techniken nicht an die Disziplin und Selbstkontrolle heran, die die Mönche hier an den Tag legten. An mehreren Stellen am Rand des Hofs kämpften weitere Pandaren mit Schwertern und Speeren, Stangenwaffen und Bögen. So wie sie zuschlugen, hätte ein einziger Hieb mit nichts weiter als einem Stock gereicht, um einen ganz in Stahl gekleideten Recken aus Sturmwind in die Schranken zu weisen. Hätte sich nicht das Sonnenlicht auf den rasiermesserscharfen Klingen gespiegelt, hätte vermutlich nicht einmal er selbst den verschwommenen Bewegungen der Waffen folgen können.

Und dort drüben, auf der Treppe, fegte Chen Sturmbräu Schnee. Zwei Stufen über ihm tat Meister Taran Zhu dasselbe.

Vol’jin lehnte sich an den Rahmen des Fensters. Wie hoch is’ wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich den Leiter des Klosters bei niederen Arbeit’n sehen würde? Doch dann fiel ihm ein, dass er ein wenig ein Gewohnheitstier geworden war und immer zur selben Zeit aufstand. Das wird sich jetzt ändern.

Das bedeutete, dass Taran Zhu wusste, was sein Gast getrieben hatte, und dass er genau vorausberechnet hatte, wann der Troll das Fenster erreichen würde. Doch das war nicht alles. Vol’jin war sicher, falls er Chen fragte, wie oft Taran Zhu hier Schnee fegte, würde er erfahren, dass der alte Pandaren es nur heute, nur dieses eine Mal getan hatte. Der Troll blickte zur Seite und sah einige Mönche, die ihn ignorierten – was bedeutete, dass sie seine Reaktion beobachteten, dabei aber nicht auffallen wollten.

Keine fünf Minuten nachdem er sich wieder hingelegt hatte, kam Chen, um ihn zu besuchen, in der Hand eine kleine Schale mit dampfender Flüssigkeit. „Es war schön, dich wieder auf den Beinen zu sehen, mein Freund. Ich wollte dir das hier schon seit Tagen bringen, aber Meister Taran Zhu hat es verboten. Er dachte, es wäre zu stark für dich. Ich habe ihm erklärt, dass schon etwas viel Stärkeres nötig wäre, um dich umzubringen. Ich meine, du hast sogar diesen Hinterhalt überlebt, richtig? Also darfst du jetzt als Erster probieren. Als Erster nach mir jedenfalls.“ Chen lächelte. „Ich musste schließlich sichergehen, dass es dich nicht doch umbringen würde.“

„Wie freundlich.“

Vol’jin hob die Schale und schnüffelte: Das Gebräu hatte einen intensiven Geruch, ein wenig wie Holz. Als er daran nippte, war es weder süß noch bitter, aber doch voll und reich in seiner Würze. Es schmeckte so, wie der Dschungel nach einem Regenguss roch, wenn der Dampf von den Pflanzen aufstieg und alles zusammenbrachte. Als er erkannte, dass das Getränk ihn an die Echo-Inseln erinnerte, zog sich ihm fast die Kehle zusammen.

Er zwang sich zu schlucken, dann nickte er, während das Getränk bis in seinen Bauch hinunterbrannte. „Sehr gut.“

„Danke!“ Chen blickte kurz zur Tür hinüber. „An dem Tag, an dem wir hier ankamen, sahst du nicht sonderlich gut aus. Die Reise war hart, und man sagte uns, dass wir dich vermutlich auf dem Berg begraben müssten. Aber ich habe dir ins Ohr geflüstert – in dein gutes Ohr, nicht in das andere, das Li Li wieder zusammengeflickt hat –, dass ich etwas Besonderes für dich hätte, falls du durchkommst. In einem Fach einer Tasche hatte ich ein paar Gewürze und Blumen aus deiner Heimat aufbewahrt, um mich daran zu erinnern, wie es dort ist. Die habe ich nun benutzt, um daraus ein Bier für dich zu brauen. Ich nenne es Gute Besserung.“

„Meine Genesung. Dein Verdienst.“

Der Pandaren blickte auf. „Ich konnte nur eine kleine Menge brauen, Vol’jin. Es wird nicht reichen, bis du wieder gesund bist.“

„Ich. Komme schon wieder. Auf die Beine.“

„Weswegen ich bereits mit meiner nächsten Kreation begonnen habe. Sie heißt Freudenfest.“


Ob es nun Chens Bier war, seine Trollkonstitution, die klare Bergluft oder die Therapien, die die Mönche ihm angedeihen ließen – oder alles zusammen –, innerhalb weniger Wochen machte Vol’jin großartige Fortschritte. Jeden Tag, wenn er sich in einer Reihe mit den Mönchen aufstellte und sich vor ihrem Lehrer verbeugt hatte, glitt sein Blick stets zu dem Fenster hinüber, von dem er sie zuvor beobachtet hatte. Damals hätte er kaum geglaubt, dass er sich ihnen würde anschließen können, aber inzwischen ging es ihm so viel besser, dass er sich kaum noch an die Person erinnern konnte, die er an diesem Fenster gewesen war.

Die Mönche, die ihn ohne Kommentar, aber mit großer Beflissenheit in ihrer Mitte akzeptierten, nannten ihn Vol’jian. Irgendwie kam ihnen das leichter über die Zunge. Doch der Troll wusste, dass das nicht der einzige Grund war. Chen hatte ihm erklärt, dass Jian mehrere Bedeutungen hatte, welche allesamt mit Größe zu tun hatten, auch im Sinne von „beträchtlich“ oder „ausgeprägt“. Zunächst benutzten die Mönche dieses Wort, um seine unbeholfene Schwerfälligkeit zu beschreiben, großer Trampel also, doch inzwischen stand es für die Geschwindigkeit, mit der er lernte.

Wären sie nicht so bereitwillige Lehrer gewesen, hätte ihn ihre Respektlosigkeit mit Verachtung erfüllt. Er war immerhin ein Schattenjäger. Ganz egal wie groß ihre Fähigkeiten waren, keiner diese Mönche konnte sich auch nur vorstellen, was es ihn gekostet hatte, ein Schattenjäger zu werden. Sie kämpften, um ein perfektes Gleichgewicht zu finden, aber ein Schattenjäger zu sein, das hieß, das Chaos zu meistern.

Sein Wissensdurst und der Umstand, dass er sich kleinere Lektionen schnell und sicher aneignete, zwangen die Pandaren, ihm immer komplexere Techniken zu zeigen. Als seine Stärke zurückkehrte und sein Körper langsam wieder lernte, sich von Schnitten und blauen Flecken zu heilen, gab es nur noch eines, was ihn zurückhielt, und das war seine mangelnde Ausdauer. Er war versucht, der dünnen Bergluft die Schuld dafür zu geben, aber den Menschen schien keine Kurzatmigkeit zu behindern.

Dafür gab es andere Dinge, die Tyrathan plagten. Er zog noch immer ein Bein nach, wenn auch längst nicht mehr so stark wie zuvor. Er benutzte jetzt einen Gehstock, und wenn die Mönche mit Stabwaffen kämpften, trainierte er oft mit. Vol’jin war aufgefallen, dass das Humpeln verschwand, wenn Tyrathan mitten in den Übungen war. Erst am Ende, wenn er wieder zu Atem kam und sich seiner selbst wieder bewusst wurde, kehrte es zurück.

Der Mensch beobachtete die Pandaren auch oft beim Bogenschießen, und man musste schon blind sein, um nicht zu erkennen, wie sehr er sich wünschte, selbst ein paar Pfeile abzufeuern. Er musterte die Mönche, sah zu, wie sie schossen, und wenn einer von ihnen nicht traf, senkte er den Kopf; bohrte sich ein Pfeil jedoch neben einen anderen ins Ziel, erhellte ein Lächeln seine Züge.

Jetzt, wo er weit genug war, um trainieren zu können, zog Vol’jin in eine kleine, spartanische Kammer im östlichen Flügel des Klosters um. Die Ausstattung war schlicht: eine Schlafmatte, ein niedriger Tisch, ein Becken und eine Kanne, außerdem zwei Haken, an denen er seine Kleider aufhängen konnte. Da war nichts, womit man sich hätte ablenken können. Sicher machte die Nacktheit der Unterkünfte es den Mönchen leichter, sich zu sammeln und Frieden zu finden.

Vol’jin erinnerte sein neues Zimmer an Durotar – nur dass es hier deutlich kälter war –, und es fiel ihm nicht schwer, sich dort einzugewöhnen. Die Schlafmatte platzierte er so, dass das erste Licht des Morgengrauens ihn wecken würde. Nach dem Aufstehen erledigte er wie die anderen auch einige Arbeiten im Kloster, bevor er ein einfaches Frühstück zu sich nahm und dann mit den morgendlichen Übungen begann. Ihm fiel auf, dass man ihm mehr Fleisch auf den Teller legte als den Mönchen, was angesichts seines gesundheitlichen Zustands wohl Sinn ergab.

Morgens, mittags und abends folgten alle demselben Muster: Arbeiten, Essen und Übungen. Für Vol’jin drehten sich diese Übungen allesamt um Stärke und Beweglichkeit, er erlernte den Kampf und lernte dadurch seine körperlichen Grenzen kennen. Nachmittags erhielt er einige individuelle Lektionen, wieder von mehreren, sich abwechselnden Mönchen, weil die meisten der Pandaren zu dieser Zeit am Unterrichtsprogramm teilnahmen. Sie gesellten sich erst beim abendlichen Training wieder zu ihm, welches größtenteils aus Dehn- und Beweglichkeitsübungen bestand, um einen erholsamen Schlaf zu fördern.

Die Mönche waren gute Lehrer. Vol’jin hatte gesehen, wie einige von ihnen mit einem einzigen Hieb bis zu einem Dutzend Bretter durchschlugen, und er hatte sich schon darauf gefreut, es selbst zu versuchen, denn er wusste, dass er es konnte. Doch als er sich dann endlich an dieser Übung versuchen durfte, übernahm Meister Taran Zhu sein Training, und anstelle von Holzbrettern setzte man ihm eine zwei Finger dicke Steinplatte vor.

Wollt ihr mich verspott’n? Vol’jin musterte das Gesicht des Mönchs, konnte aber keine Hinterlist erkennen. Was natürlich nicht bedeutete, dass da keine war; hinter ihrer gleichgültigen Miene konnten die Pandaren alles Mögliche verbergen. „Ich soll Stein zerbrechen. Die ander’n zerbrech’n Holz.“

„Die anderen glauben nicht, dass sie das Holz zerbrechen können. Ihr schon.“ Taran Zhu deutete auf einen Punkt eine Fingerlänge hinter der Steinplatte. „Legt dort Eure Zweifel ab. Schlagt durch sie hindurch.“

Zweifel? Vol’jin wehrte den Gedanken ab. Er war nur eine Ablenkung. Im Grunde wollte er ihn verdrängen, doch stattdessen tat er, was der Mönch ihm aufgetragen hatte. Er stellte sich seine Zweifel bildhaft vor, als schimmernde blauschwarze Kugel, aus der Funken aufstoben, dann ließ er sie durch den Stein hindurchschweben, sodass sie eine Fingerlänge dahinter zum Stehen kam.

Nun konzentrierte der Troll sich, wobei er tief ein- und dann scharf ausatmete. Er stieß seine Faust nach vorne, und er hielt nicht inne, als die Steinplatte zerbarst, sondern zog ganz durch, um die Kugel seiner Zweifel zu zerschmettern. Er hätte schwören können, dass er keinen Widerstand spürte, bis er die Kugel traf, so als wäre der Stein überhaupt nicht da gewesen. Da war nur der Staub, den er sich nach dem Schlag vom Arm wischte.

Taran Zhu verbeugte sich respektvoll.

Vol’jin erwiderte die Geste, und diesmal hielt er den Kopf länger gesenkt als zuvor.

Die anderen Mönche verbeugten sich ebenfalls, erst vor ihrem Meister, als dieser sich zurückzog, dann vor ihm. Vol’jin neigte erneut den Kopf. Wie sich später zeigte, hatte das Jian an diesem Tag erneut eine andere Bedeutung angenommen.


Erst am Abend, als er allein in seinem Zimmer saß, den Rücken gegen den kühlen Stein gelehnt, erkannte er zumindest teilweise, was er gelernt hatte. Seine Hand war weder geschwollen noch steif, aber er konnte noch immer spüren, wie sie seine Zweifel zertrümmert hatte. Er spreizte die Finger, sah zu, wie sie sich bewegten, froh, dass sie wieder eins mit ihm waren.

Taran Zhu hatte recht gehabt, indem er seine Zweifel zum Ziel machte. Zweifel zerstörten die Seele. Welche denkende Kreatur konnte zur Tat schreiten, solange sie Zweifel an ihrem Erfolg hegte? Daran zu zweifeln, dass er den Stein durchschlagen könnte, hieß einzugestehen, dass seine Hand brechen, seine Knochen zersplittern, sein Fleisch reißen und sein Blut fließen könnte. Und wenn er lange genug über diese Möglichkeit nachdachte, würde sie zwangsläufig auch eintreten. Dieses Ende würde zu seinem Ziel werden, und es wäre das Einzige, was er erreichen könnte. Wenn er sich hingegen zum Ziel setzte, seine Zweifel zu zerstören, und er dieses Ziel traf, was war dann noch unmöglich?

Zalazane kehrte in seine Gedanken zurück, aber nicht als Vision, sondern in Gestalt mehrerer Erinnerungen. Zweifel hatten seine Seele zerstört. Sie waren gemeinsam aufgewachsen, als beste Freunde. Weil Sen’jin, der Anführer der Dunkelspeertrolle, sein Vater war, war Vol’jin schon immer als der Bessere der beiden betrachtet worden, doch er selbst hatte nie so gedacht. Zalazane hatte das gewusst, und sie hatten oft darüber gesprochen und über die Ignoranz derer gelacht, die einen von ihnen für einen Helden und den anderen für seinen unbedeutenden Gefährten hielten. Während Vol’jin darauf hinarbeitete, ein Schattenjäger zu werden, hatte sich Zalazane unter Meister Gadrin zum Hexendoktor ausbilden lassen. Sen’jin selbst hatte ihn dazu ermutigt, und einige unter den Dunkeltrollen vermuteten, dass er Zalazane zu seinem Nachfolger heranzog, weil Vol’jin zu Höherem bestimmt war.

Doch auch damit hatten die Trolle falschgelegen, denn Zalazane und Vol’jin glaubten an Sen’jins Traum von einem Heimatland für die Dunkelspeere. Ein Ort, an dem sie aufblühen konnten, ohne Furcht und ohne Feinde, die sie heimsuchten. Nicht einmal Sen’jins Tod durch die Klauen der Murlocs hatte diesen Traum auslöschen können.

Irgendwo, irgendwann hatten sich dann Zweifel in Zalazanes Seele gefressen. Vielleicht weil er gesehen hatte, dass selbst ein mächtiger Hexendoktor wie Sen’jin einfach so sterben konnte. Vielleicht weil er einmal zu oft gehört hatte, dass Vol’jin der Held war und er nur der Wegbegleiter. Vielleicht aus irgendeinem anderen Grund, den Vol’jin nicht einmal erahnen konnte. Doch warum auch immer, Zalazane hatte beschlossen, die Macht brutal an sich zu reißen.

Diese Macht hatte ihn in den Wahnsinn getrieben. Er hatte die meisten der Dunkelspeere versklavt und in hirnlose Lakaien verwandelt, während Vol’jin mit einigen anderen geflohen war. Später war der Schattenjäger dann mit seinen Verbündeten von der Horde zurückgekehrt, um die Echo-Inseln zu befreien. Er selbst hatte den Angriff geführt, dem Zalazane zum Opfer gefallen war, und er hatte das Blut seines alten Freundes gespürt, gehört, wie er seinen letzten Atemzug tat. Wenn er an diesen Moment zurückdachte, an den letzten Funken, den er in Zalazanes Augen gesehen hatte, dann wollte er glauben, dass sein Freund wieder zu Sinnen gekommen war und dass es ihn mit Freude erfüllt hatte, endlich frei zu sein.

Garrosh muss es so ähnlich geh’n. In die höchsten Ränge erhoben, weil er seines Vaters Sohn war, aber kaum um seiner selbst oder seiner Taten willen verehrt, war Garrosh bei den meisten gefürchtet. Er hatte gelernt, dass Furcht eine wirkungsvolle Peitsche war, um seine Untergebenen im Zaum zu halten. Doch nicht alle zuckten unter dem Schnalzen dieser Peitsche zusammen.

Ich nicht.

Garrosh zweifelte an seiner Position, weil er spürte, dass er sie sich nicht selbst verdient hatte, sondern sie dem Andenken seines Vaters schuldete. Und wenn man sich selbst als unwürdig betrachtete, dann taten andere es sicher auch. Ich zum Beispiel, und das habe ich ihm auch gesagt. Zweifel konnten verborgen werden, was bedeutete, dass jeder ein potenzieller Feind war, und der einzige Weg, diese Feinde auszuschalten, war, sie alle zu beherrschen.

Doch alle Siege der Welt würden die Stimme in seinem eigenen Kopf nicht zum Schweigen bringen, die sagte: „Ja, aber du bist nicht dein Vater.

Vol’jin streckte sich auf der Schlafmatte aus. Mein Vater hatte einen Traum, und er teilte ihn mit mir. Er machte ihn zu meinem Erbe, und glücklicherweise hab ich ihn verstand’n. Darum kann ich ihn Wahrheit werden lass’n. Darum kann ich Frieden find’n.

Er flüsterte in die Leere hinein. „Aber Garrosh wird nie Frieden find’n. Und er wird auch niemand ander’n Frieden find’n lassen.“

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