22

Obwohl sie durch ein goldenes Tal streiften, das seit unzähligen Jahren kaum ein Außenstehender betreten hatte, empfand Vol’jin keine Furcht. Er wusste, dass er eigentlich angespannt sein sollte, und er traf ganz bewusst alle Vorkehrungen, um nicht entdeckt zu werden. Doch er spürte keinen Schauder über sein Rückgrat kriechen, und das Fell in seinem Nacken stellte sich nicht auf. Es war, als würde er eine Rush’kah-Maske tragen, an der alle Angst abperlte.

Doch er wusste, dass es etwas völlig anderes war. Er träumte nicht, als sie im Tal der Ewigen Blüten schliefen weil er keine Träume brauchte. Durch dieses Tal zu schreiten war, als würde er sich durch eine lebendige Vision bewegen. Die Realität an diesem Ort war anders, und sie beeinflusste ihn. Er spürte eine Arroganz, die teilweise aus seinem Trollerbe geboren war, und der Geist des Mogu-Reiches streichelte ihn, wann immer er das nachklingende Echo der Mogu-Magie berührte.

Hier, an diesem Ort, wo große Völker große Macht errungen hatten, gab es für ihn keine Furcht. Drüben, auf den weit entfernten Stufen des Mogu’shan-Palastes, wo seine Feinde vermutlich gerade in ihrem Lager schliefen, hatten stolze Mogu-Väter einst die Köpfe ihrer Söhne nach Westen gedreht und ausholende Handbewegungen gemacht, die das gesamte Tal umfassten. Sie hatten ihnen gesagt, dass all dieses Land ihnen gehörte und das Land, das daran anschloss, ebenfalls. Dass sie damit tun konnten, was immer ihnen beliebte, dass sie dort ihre Herzenswünsche verwirklichen könnten. Es gab dort nichts, was ihnen gefährlich werden könnte, denn jeder und alles in diesem Land fürchtete die Mogu.

Es war dieser letzte Gedanke, der Vol’jin von dem Bann befreite. Er wusste, was es hieß, gefürchtet zu werden, und es gefiel ihm, das seine Gegner Angst vor ihm hatten, aber diese Furcht war aus seinen Taten geboren. Er hatte sie sich verdient, Schwerthieb um Schwerthieb, Zauber um Zauber, Sieg um Sieg. Er hatte sie nicht geerbt, und er sah sie auch nicht als sein Geburtsrecht an.

Dieses Verständnis unterschied ihn von den jungen Mogu-Prinzen, die von den Stufen auf ihr Reich hinausgeblickt hatten. Denn er verstand die Furcht und konnte sie nutzen. Er spürte ihren Fluss, spürte Ebbe und Flut der Angst. Doch sie standen darüber, sahen und hörten nur, was sie sehen und hören wollten. Und nie fühlten sie das Bedürfnis, zu den höchsten Höhen hinaufzuklettern, um zu sehen, wie die Welt wirklich aussah.

Als sie an dem Tag, nachdem sie die Hälfte des Tals durchquert hatten, ihr Lager aufschlugen, blickte Tyrathan ihn an. „Du spürst es, oder?“

Vol’jin nickte.

Chen sah von seiner Teeschale auf. „Was spürst du?“

Der Mensch lächelte. „Das beantwortet meine Frage.“

Der Pandaren schüttelte den Kopf. „Was für eine Frage? Was spürst du?“

Tyrathan zog die Augenbrauen zusammen. „Ein Gefühl, dass dieser Ort mir gehört, dass ich hierher gehöre, weil das Land in Blut getränkt ist und ich schon so viel Tod gesät habe. Ist das auch das, was du fühlst, Vol’jin?“

„So ungefähr.“

Chen lächelte und goss sich Tee ein. „Oh, das.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Dann spürst du es auch?“

„Nein, aber ich weiß, dass ihr es spürt.“ Der Braumeister blickte sie beide an und zuckte mit den Schultern. „Ich habe diesen Ausdruck in euren Augen schon früher gesehen. Bei dir, Vol’jin, ist er stärker als bei Tyrathan, aber vielleicht kommt mir das auch nur so vor, weil ich noch nicht so oft an seiner Seite gekämpft habe wie an deiner. In jeder Schlacht, an dem Punkt, wenn du am verbissensten kämpfst, tritt dieser Ausdruck auf dein Gesicht. Er ist hart, unerbittlich. Wann immer ich ihn sehe, weiß ich, du wirst gewinnen. Dieser Ausdruck sagt mir, dass du an diesem Tag der beste Krieger auf dem Schlachtfeld bist und dass jeder, der dich herausfordert, sterben wird.“

Der Troll legte den Kopf auf die Seite. „Und diesen Ausdruck habe ich jetzt auch?“

„Nun, nicht wirklich. Ein wenig um die Augen. Ihr habt ihn beide, aber nur wenn ihr glaubt, dass niemand euch beobachtet. Oder wenn ihr nicht bemerkt, dass jemand euch beobachtet. Dieses Gefühl sagt euch, dass das hier euer Land ist, dass ihr es rechtmäßig gewonnen habt und es nicht wieder aufgeben werdet.“ Chen zuckte mit den Schultern. „Angesichts unserer Mission ist das wohl etwas Gutes.“

Der Mensch hielt dem Pandaren seine Tasse hin und nickte, als sie wieder gefüllt war. „Und was fühlst du hier?“

Chen setzte den Trinkschlauch ab und kratzte sich am Kinn. „Ich fühle das Versprechen von Frieden an diesem Ort. Ich denke, ihr beide spürt eher das Erbe der Mogu, aber für mich ist es der Friede, das Versprechen davon. Alles, was ich mir von einem Zuhause wünsche. Das Tal sagt mir, dass ich aufhören kann umherzuwandern – aber ich muss nicht. Ich bin hier willkommen, ganz gleich, wofür ich mich entscheide.“

Er blickte die beiden an, und zum ersten Mal, seit Vol’jin ihn kannte, füllten sich die großen goldenen Augen des Pandaren mit Bedauern. „Ich wünschte, ihr könntet es auch fühlen.“

Vol’jin schenkte seinem Freund ein Lächeln. „Mir reicht es, dass du es fühlst, Chen. Ich habe eine Heimat, und du hast mitgeholf’n, sie zu befreien. Du hast mir mein Zuhause gegeben. Wie könnte ich also nicht glücklich sein, wenn du es bist?“

Ohne sie zu drängen, bat Vol’jin Chen und die Mönche, ihm die Gefühle genauer zu schildern, welche dieser Ort in ihnen wachrief. Sie kamen seiner Bitte bereitwillig nach, und er erfreute sich an ihren Ausführungen. Doch nachdem die Sonne untergegangen war, wehte eine dunkle, kalte Woge aus dem Osten herbei, und die Mönche verstummten. Tyrathan, der auf dem Hügelkamm über ihrem Lager Wache gehalten hatte, hob den Arm.

„Sie sind hier.“

Vol’jin und die anderen kletterten zu ihm hinauf. Dort, im Osten, erstrahlte der Mogu’shan-Palast in hellem Licht. Silberne und blaue Blitze tanzten über seine Fassade und zeichneten ein Bauwerk mit efeuartigen Windungen nach, bevor sie von den Ecken fortstoben. Diese magische Demonstration beeindruckte Vol’jin, aber nicht, weil sie ihm ein Gefühl von Macht vermittelte, sondern vielmehr, weil sie so beiläufig und gleichgültig wirkte.

Chen schauderte. „Jetzt lässt das Gefühl, hier willkommen zu sein, nach.“

„Es lässt nicht nur nach, es wird erstickt.“ Vol’jin schüttelte den Kopf. „Mehr noch, es wird begrab’n, tief unter der Erde. Hier ist jetzt niemand mehr willkomm’n.“

Tyrathan blickte den Dunkelspeer an. „Es ist mehr als eine Bogenschussweite entfernt, aber wir könnten es bis zum Morgengrauen schaffen. Lange bevor die ersten von ihnen aufwachen, um zu beten.“

„Nein. Das ist nur der Eindruck, den sie vermitteln woll’n, um uns zu ködern. Sie möchten, dass wir gerade dann angreifen.“

Der Mensch zog die Braue nach oben. „Wissen sie etwa, dass wir kommen?“

„Sie müssen davon ausgeh’n, dass jemand kommt. Sie werden sich denk’n können, dass wir ihr Protokollbuch gefunden hab’n, also rechnen sie auch damit, dass wir entsprechend handeln.“ Vol’jin deutete zu den Bergen im Süden. „Die Horde und die Allianz haben vermutlich Späher auf den Graten postiert. Sie werden das hier auch seh’n, und sie werden darauf reagieren. Es wird nur ein wenig dauern, bis sie sich auf einen Plan geeinigt haben und sich in Bewegung setz’n.“

„Es sei denn, jemand kommt aus eigenem Antrieb her.“ Tyrathan lachte. „Bis vor ein paar Monaten hätte ich diesen Part übernommen. Ich frage mich, wer jetzt den Helden spielen wird?“

„Das hat keinen Einfluss auf unsere Mission – solange die Helden uns nicht in die Quere komm’n.“

„Ja.“ Der Mensch strich sich mit der Hand über den Bart. „Wir gehen also weiter geradeaus und machen dann einen Bogen nach Osten?“

„Solange nichts diesen Plan vereitelt, ja.“

Auch diese Nacht war frei von Träumen, dennoch war sie nicht wirklich erholsam für Vol’jin. Er überlegte, ob er mit den Loa in Kontakt treten sollte, aber wie alle Götter konnten auch sie launisch sein. Wenn sie gelangweilt oder wütend waren, könnten sie seine Feinde auf seine Gegenwart aufmerksam machen. Zwar stimmte es, was er Tyrathan gesagt hatte: Die Zandalari wussten aller Wahrscheinlichkeit nach, dass sie kommen würden, aber sie wussten nicht, wo genau die sieben Krieger lauerten. Das war ein Vorteil, und angesichts der Natur ihrer Mission war jeder Vorteil Gold wert.

Falls die Sonne am nächsten Morgen aufging, konnte Vol’jin jedenfalls nichts davon sehen. Die Wolken waren noch dichter geworden. Das einzige Licht, das, abgesehen von einem schwachen gelblichen Schimmern, durch sie hindurchdrang, war das Resultat der umhergeisternden Blitze in ihren tiefsten Tiefen. Diese Blitze berührten nie den Boden, als hätten sie Angst vor einer Vergeltung aus dem Mogu’shan-Palast.

Die sieben drosselten gezwungenermaßen ihr Tempo, denn im fahlen Licht häuften sich die Fehltritte. Zudem klang jedes Knirschen von Steinen unter ihren Füßen so laut wie Donner. Wann immer es ertönte, erstarrten sie und lauschten angestrengt nach einer Reaktion. Die Späher hielten sich nun auch näher an der Hauptgruppe, schon allein deswegen, weil die Düsternis die Sicht einschränkte. Aus demselben Grund machten sie auch viel häufiger halt.

Nacht für Nacht wiederholte sich das Blitzspektakel am Mogu’shan-Palast, und jedes Mal verstärkte es die Gefühle, die das Tal in ihnen wachrief. Dieser Ort gehörte rechtmäßig Vol’jin, und die, die jetzt in dem Palast hausten, wollten ihn herausfordern. Das alte Bauwerk war wie eine Flamme, und sie waren die Motten, aber keiner der sieben gab diesen Gefühlen nach.

Sie entdeckten keinerlei Zandalari-Späher, und das beunruhigte Vol’jin. Hätte er das Kommando über ihre Truppen gehabt, hätte er leichte Einheiten weit vorgeschickt, vielleicht sogar bis zur westlichen Mauer, die das Tal von der Heimat der Mantid genannten Kreaturen trennte. Die Geschichten, die man sich über diese Wesen erzählte, waren von der Art, mit der man widerspenstigen Kindern einen Schrecken einjagte – und Vol’jin meinte damit Trollkinder und nicht die schreckhaften jungen Pandaren. Diese Grenze nicht zu sichern, wäre ein grobes Versäumnis, vor allem, da die Zandalari ja wussten, dass sie mit einem Angriff rechnen mussten.

Nach zwei Tagen ohne Sonne stießen sie schließlich auf die ersten Anzeichen der Zandalari. Bruder Shan, der die Spitze übernommen hatte, verharrte am frühen Abend in der Senke zwischen zwei größeren Hügeln. Sie hatten den Rand der südlichen Bergkette erreicht und zogen nun nach Osten durch die Gebirgsausläufer. Der Mönch gab ein Zeichen, woraufhin Vol’jin und Tyrathan nach vorne traten, dann zog Shan sich zu der Stelle zurück, wo die anderen warteten.

Das Bild, das sich unter ihnen erstreckte, ließ Vol’jins Blut zu Eis werden. Eine Kompanie von rund zwanzig Zandalari-Kriegern in leichter Rüstung hatte dort einen Außenposten errichtet. Dazu hatten sie eine Gruppe von Bäumen gefällt und die Zweige mit dem goldenen Laub abgehackt, anschließend die Enden der Stämme und größeren Äste zugespitzt und sie in einem Kreis rings um ihr Lager in den Boden gerammt. In allen Richtungen zeigten Spitzen der Pfähle nach außen, nur an der westlichen Seite gab es eine kleine Lücke. Aber da sich die Enden des Ringes dort überlappten, musste ein Angreifer sich erst zwischen den beiden Reihen hindurchschlängeln, um ins Lager zu gelangen.

Die Nasenlöcher des Trolls blähten sich, aber er hielt sein wütendes Schnauben zurück. Einen Hain so wunderschöner Bäume für einen unbarmherzigen Außenposten zu roden, kam ihm geradezu wie Blasphemie vor. Ein kleines Verbrechen, aber auch dafür werden sie bezahl’n.

In der Mitte des Lagers, direkt neben einem großen Feuerplatz, hatte man zwei weitere Baumstämme in den Boden gerammt, beide zwanzig Fuß hoch und durch knapp die Hälfte ihrer Länge voneinander getrennt. An der Spitze jedes Pfahls waren Seile befestigt worden, und sie führten hinab zu den Handgelenken eines Kriegers. Sein blauer Wappenrock hing in Fetzen von seiner Mitte und wurde nur noch durch einen unsichtbaren Gürtel zusammengehalten. An zahlreichen Stellen übersäten Schnitte sein nacktes Fleisch, nie wirklich tief, aber tief genug, um Schmerzen zu bereiten und Blut zum Vorschein zu bringen.

Vol’jin war sich sicher, dass er den Menschen noch nie gesehen hatte, dennoch kam er ihm bekannt vor. Da waren noch vier weitere Männer, alle in zerrissene Wappenröcke gekleidet, die vermutlich dem des Folteropfers glichen; sie waren mit einem Seil aneinandergefesselt und kauerten sich unter den Augen ihrer Zandalari-Wachen zusammen.

Zwei Trolle hatten an der Lücke im Pfahlkreis Position bezogen, zwei weitere standen bei den Gefangenen, alle anderen, einschließlich eines niederrangigen Offiziers, hatten sich um den Mann versammelt, der zwischen den Baumstämmen hing. Der Offizier, der ein Menschenschwert in der Hand hielt, sagte etwas, und die Zandalari lachten, dann fügte er dem Menschen einen weiteren Schnitt zu.

Vol’jin hatte genug gesehen, und er war bereit weiterzugehen. Er blickte in die Gesichter seiner Begleiter. „Wir können nicht eingreif’n. Das wisst ihr.“

Tyrathan schluckte mit großer Mühe. „Ich kann ihn nicht ihrer Folter überlassen.“

„Du hast keine Wahl.“

„Nein, du hast keine Wahl.“

Der Troll nickte und nahm einen Pfeil aus dem Köcher. „Ich verstehe. Dann werde ich ihn töt’n.“

Tyrathans Kiefer sackte herunter, dann klappte er den Mund wieder zu und schüttelte den Kopf, aber er weigerte sich, Vol’jin in die Augen zu blicken. „Ich kann ihn nicht sterben lassen.“

„Ihn zu rett’n, wäre Selbstmord.“

„Wir können es schaffen.“

„Wer sind diese Menschen, dass du uns’re Leb’n und uns’re Mission für sie aufs Spiel setzt?“

Die Schultern des Mannes sackten herab. „Es ist nicht genug Zeit, um das zu erklären. Zumindest auf eine Weise, die Sinn ergeben würde.“

„Für dich oder für mich?“

„Vol’jin, bitte, es ist meine Pflicht.“ Der Jäger schloss die Augen, und Schmerz huschte über seine Züge. „Aber du hast recht, was unsere Mission betrifft. Bring die anderen von hier weg. Ich glaube, ich schaffe es auch allein. Wir müssen unserem Ziel schon sehr nahe sein. Betrachten wir es also als Ablenkungsmanöver. Bitte, mein Freund.“

Als Vol’jin die Qual in der Stimme des Menschen hörte, betrachtete er die Szenerie unter ihnen ein zweites Mal, anschließend nickte er. „Schleich dich runter, so nah an das Lager ran wie möglich. Ich werde ihren Anführer erschieß’n, dann werden sie mir folgen, direkt in einen Hinterhalt der Pandaren. Du befreist derweil die Gefangenen. Zieh dich mit ihnen in die Berge zurück!“

Tyrathan legte dem Troll eine Hand auf die Schulter. „Dieser Plan ist sogar noch dümmer als der, der uns hierhergeführt hat, mein Freund. Das kann nur auf eine Weise funktionieren, und zwar, indem ich mich bis zu der Felsgruppe dort vorarbeite. Du und die Pandaren, ihr schleicht euch hinunter in diese Senke nahe dem Eingang. Sobald die ersten Pfeile fliegen, müssen alle Zandalari sterben.“

Vol’jin musterte die beiden Punkte, die der Jäger ausgewählt hatte, und er musste ihm zustimmen. „Aber überlass mir das Schieß’n. Dir werd’n deine Leute aus dem Lager folg’n, aber wohl kaum einem Troll.“

„Der Mann, den sie aufgehängt haben … Er ist hier, weil sie mich für tot halten. Es ist besser, wenn sie das auch weiterhin glauben. Brüll sie einfach an und sag ihnen dann, sie sollen fliehen! Schwester Quan-li kann sie führen und zur Allianz zurückbringen.“ Tyrathan seufzte. „Das wird das Beste sein.“

Vol’jin maß den Abstand mit seinen Augen und nickte. Die Komplexität menschlicher Beziehungen einmal außen vor, wusste er doch, dass er den Zandalari im Nahkampf mehr Schaden zufügen konnte. Mehr noch, er wollte gegen sie kämpfen. Sie hatten verunreinigt, was dieses Tal eigentlich sein sollte, und dafür verdienten sie den Tod. Er wollte, dass sie die Verachtung in seinem Gesicht sahen, wenn sie starben.

„In Ordnung.“

Der Mann drückte die Schulter des Trolls. „Und ich weiß, dass du sie getroffen hättest.“

„Du weißt, dass ich besser geschoss’n hätte als du.“

„Das auch.“ Der Jäger lächelte. „Ihr werdet mein Signal erkennen, wenn ihr in Position seid.“

Tyrathan machte sich auf zu seinem Überfallpunkt, und Vol’jin kehrte zu den Pandaren zurück, um ihnen kurz die Lage zu erklären. Es überraschte ihn, dass keiner von ihnen gegen diesen wahnsinnigen Plan protestierte, aber dann fiel ihm ein, dass Chen stets ein treuer Freund gewesen war und dass Loyalität unter den Pandaren einen hohen Stellenwert hatte. Sie würden nicht blind an ihren Befehlen festhalten, wenn ein Freund ihre Hilfe brauchte – und genau diese Einstellung war es, die das Unmögliche bisweilen möglich machte. Darüber hinaus sahen die Mönche in der Befreiung der Menschen eine Gelegenheit, die Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In diesem Sinne war es für sie vermutlich noch wichtiger einzugreifen als für Tyrathan selbst.

Die Einheit schlich mühelos an die vereinbarte Stelle und kauerte sich in einem kleinen Gehölz zusammen, zwanzig Schritt von der Lücke im Pfahlkreis entfernt. Allein dass der Zandalari-Offizier versäumt hatte, diese Sichtbehinderung abholzen zu lassen, war für Vol’jin Grund genug, ihn zu töten. Der Schattenjäger nahm die Gleve in die Hand und lächelte langsam.

Viereinhalb Fingerbreit.

Tyrathans Signal hatte die Form eines einzelnen Pfeils, der in den offenen Mund des Offiziers schoss. Der Troll hatte sich gerade wieder seinem Opfer zugewandt, sodass die beiden Krieger, die hinter ihm hockten, mit Blut bespritzt wurden. Bevor einer von ihnen aufspringen konnte, verschwand ein zweiter Pfeil in der Brust des einen und drang aus seinem Rücken wieder hervor. Der Krieger taumelte und spießte einen anderen Troll mit der blutigen Pfeilspitze auf, als er nach hinten fiel.

Der andere kauernde Troll kippte einen Moment später zurück und starrte ächzend auf die blaue Befiederung an dem roten Schaft hinab, die zitternd aus seiner Brust ragte.

Die Wachen am Eingang wirbelten zu dem Tumult am Lagerfeuer herum. Dieser Fehler kostete sie ihre Nachtsicht – nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte. Vol’jin näherte sich ihnen so leise wie der Tod, und die Shado-Pan waren die Schatten des Todes. Selbst Chen, der ein wenig hinter die anderen zurückfiel, verursachte so wenig Geräusche, dass sie im Knistern des Feuers und in dem gurgelnden Todeskampf der Wache bei den Gefangenen untergingen.

Der Dunkelspeer warf sich in den Kampf, und seine Gleve summte, als er sie durch die Luft wirbelte. Der erste Hieb zerfetzte einen Schenkel, und als der Troll sich zu ihm herumdrehte, sprang er zurück, doch nur, um wieder vorzuschnellen und mit seinem zweiten Streich den Schädel des Kriegers zu zerschmettern. Der herrliche Geruch von heißem Blut erfüllte die Luft, und Vol’jin wandte sich um, auf der Suche nach dem nächsten Opfer.

Rings um ihn griffen die Pandaren die Zandalari furchtlos an, obwohl die Trolle größer und schwer bewaffnet waren. Schwester Quan-li duckte sich unter einem Axthieb hinweg und stieß ihre messerscharfen Klauen in den Hals des Gegners. Der Zandalari ächzte und versuchte, trotz seines zertrümmerten Kehlkopfes Atem zu holen, aber da zerschmetterte die Pandaren mit einer Geraden seinen spitzen Kiefer, und der anschließende Drehtritt schickte ihn zu Boden.

Bruder Dao hatte sich einen Speer geschnappt und griff damit einen ebenso bewaffneten Troll an. Der Shado-Pan parierte jeden Hieb seines Gegners, und jedes Mal, wenn die Speere sich berührten, wich er ein Stück zurück. Der Zandalari sah das als Zeichen für die Furcht des Pandaren und fühlte sich seines Sieges schon sicher. Zwei weitere Paraden lang durfte er sich noch dieser Illusion hingeben, dann schnellte Dao nach vorne und wirbelte um die eigene Achse. Der Schaft seines Speers schlug gegen die Knie des Trolls und ließ sie einknicken, dann traf ein Faustschlag den Zandalari an der Schläfe. Vermutlich tötete ihn bereits dieser Treffer, in jedem Fall verlor er aber die Besinnung, sodass er die letzte Schmähung nicht mehr mit ansehen musste, als Dao mit dem Speer zustieß und ihn auf dem Boden aufspießte.

Chen stürmte ohne die Präzision der Shado-Pan in den Kampf, aber das machte er durch seine Erfahrung mehr als wett. Er wirbelte einen langen Stab in den Pfoten, wehrte damit einen Überhandschlag mit einem Kriegshammer ab und drehte sich dann, sodass die Waffe seines Gegners nach links abglitt. Der Troll, fest entschlossen, den kleineren Pandaren zu überwältigen, riss seinen Hammer in die andere Richtung zurück.

Chen ließ ihn gewähren, dann duckte er sich und hakte ein Bein hinter dem Knie des Zandalari ein. Nun musste er das Bein einfach nur anziehen, und sein Gegner landete auf dem Rücken. Der Troll prallte heftig auf, und einen Moment später sauste Chens rechter Fuß herab und donnerte auf den Hals des Kriegers hinab. Knochen barsten, und der Braumeister sprang seinem nächsten Feind entgegen.

Während des gesamten Kampfes sausten weiter Pfeile durch die Luft. Eines der Seile, mit denen der Gefangene aufgehängt war, riss mit einem lauten Schnalzen, und der Mensch drehte sich und prallte gegen den Baumstamm auf der anderen Seite, wobei er sich den Hinterkopf anstieß. Der nächste Pfeil durchtrennte auch den zweiten Strick, sodass der Mann auf den Boden sackte, während der Schaft zitternd in dem Baumstamm über ihm stecken blieb.

Die Zandalari erholten sich schnell von ihrem anfänglichen Schock, und nun setzten sie zum Gegenangriff an. Zwei von ihnen stürmten dabei zischend auf Vol’jin ein, wobei einer mit einem Schwert zu einem tiefen Schlag ausholte. Der Schattenjäger parierte den Hieb mit der einen Klinge seiner Gleve und riss dann das andere Ende der Waffe scharf nach oben. Die Klinge dort versank in der Brust des Trolls, aber als der Soldat nach hinten fiel, verhakte der Stahl sich zwischen den Rippen, und die Gleve wurde Vol’jin aus den Händen gerissen.

Der andere Zandalari brüllte siegessicher. „Jetzt stirbst du, Verräter!“

Vol’jin, die Hände zu Klauen gekrümmt, brüllte zurück.

Sein Gegner wirbelte einen dornenbesetzten Streitkolben auf Hüfthöhe, doch anstatt vor ihm zurückzuweichen, machte Vol’jin einen Schritt nach vorne. Das Handgelenk des Trolls prallte gegen seinen Brustkorb, und der Schattenjäger schlang seinen linken Unterarm rasch um den Arm des Zandalari, dann drehte er sich nach rechts zurück, mit genügend Wucht, dass der Ellbogen seines Feindes durchgedrückt wurde. Er drehte sich weiter, bis der Knochen aus dem Gelenk sprang und der Troll kreischend auf den Rücken fiel.

Nun wirbelte Vol’jin in die andere Richtung herum und rammte seine Faust durch das Gesicht des Kriegers hindurch.

Damit endete der Kampf ebenso abrupt, wie er begonnen hatte. Schwester Quan-li durchtrennte die Fesseln der Gefangenen, und Chen, der zu dem gefolterten Menschen geeilt war, ließ sich neben ihm auf ein Knie nieder. Vol’jin ging zu ihm hinüber, verlangsamte seine Schritte aber, als der Pandaren dem Mann auf die Beine half. Der Kerl betastete seinen Hinterkopf, und als er seine Hand zurückzog, klebte Blut daran, aber nicht sehr viel.

Nun blickte der Mensch zu dem Pandaren auf. „Wo ist er? Wo ist Tyrathan Khort?“

Vol’jin ergriff das Wort, bevor Chen antworten konnte. „Hier gibt es keinen Tyrathan Khort.“

Ein Feuer loderte in den Augen des Mannes, als er den Troll ansah. „Ich mag vielleicht Sterne sehen, aber es gibt nur einen, der so schießen kann. Ich kenne die Hand, die diese Pfeile bemalt und befiedert hat. Wo ist er?“

Der Dunkelspeer knurrte. „Er hat vielleicht diese Pfeile präpariert, aber Tyrathan Khort ist tot.“

„Ich glaube dir kein Wort.“

Vol’jin bleckte die Zähne. „Er ist durch meine Hand gestorb’n. Ich bin Vol’jin, Anführer der Dunkelspeertrolle.“

Das Blut wich aus dem Gesicht des Mannes. „Es heißt, du seist tot.“

„Dann sind wir jetzt beide Geister.“ Der Schattenjäger deutete mit seinem blutbefleckten Schwert nach Süden. „Verschwinde, bevor du auch noch einer wirst“

Anschließend nahm Schwester Quan-li den Menschen in ihre Obhut, und auch die anderen Gefangenen folgten ihr. Rasch suchten sie zwischen der Ausrüstung der Zandalari nach Vorräten, dann bewaffneten sie sich und flüchteten in die Berge.

Chen drehte sich zu Vol’jin herum. „Warum hast du gesagt, dass Tyrathan tot sei.“

„Es ist am besten so. Für sie, und für ihn.“ Der Troll wischte seine Gleve an einem toten Feind ab. „Geh’n wir.“

Vol’jin, Chen und die drei Mönche zogen sich aus dem Lager zurück, wobei sie mit den Zweigen, die die Zandalari von den Baumstämmen gehackt hatten, erst die Spuren der geflohenen Menschen und dann auch ihre eigenen verwischten. Anschließend machten sie sich auf den Weg nach Westen, zu der Stelle, wo die Pandaren zurückgeblieben waren, während Tyrathan und Vol’jin das feindliche Lager ausgespäht hatten.

Kaum dass sie auf die kleine Lichtung hinausgetreten waren, spaltete eine Säule aus Feuer die Nacht und blendete Vol’jin. Als seine Sicht sich langsam wieder klärte, stand eine Zandalari-Frau auf der anderen Seite der Lichtung, flankiert von einem halben Dutzend Bogenschützen mit angelegten Pfeilen und gespannten Sehnen. Tyrathan kniete vor der Anführerin der Gruppe, eine Augenbinde um den Kopf, die Hände hinter dem Rücken gefesselt.

Die Zandalari packte das Haar des Menschen und riss seinen Kopf nach hinten. „Dein Schoßhund hat mir große Unannehmlichkeit’n bereitet, Vol’jin. Aber ich bin heute in großzügiger Stimmung. Also leg deine Waffe nieder, dann müssen du und deine Pandaren-Freunde nicht erleb’n, was passiert, wenn meine Laune sich verschlechtert.“

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