16

Chen Sturmbräu überprüfte ein letztes Mal seinen Rucksack. Er war ziemlich sicher, dass er alles hatte, was er brauchen würde. Physisch zumindest. Dennoch verharrte er noch einen Moment länger am Eingang des Tempels.

Und lächelte.

Drinnen im Hof überwachte Li Li das Beladen eines Ochsenkarrens; das hieß, sie gab den Steinacker-Brüdern Befehle, wie sie die Ladung auf den Karren hieven und verteilen sollten. Die beiden schienen nicht mehr so sehr unter den Peitschenhieben ihrer Zunge zu leiden, was, wie Chen vermutete, weniger mit ihrer Furcht vor der Pandaren zu tun hatte, sondern damit, dass sie begonnen hatten, sie ins Herz zu schließen. Yalias Vater, Tswen-luo, half den beiden, und seine Gegenwart dämpfte Li Lis Kommentare.

Yalia, die Li Li beobachtet hatte, kam zu Chen herüber. Hätte sie nicht kurz den Blick gesenkt, als sie sich ihm näherte, hätte er geglaubt, dass sie ganz auf ihre Aufgabe konzentriert war. Doch dieser kurze Moment ließ sein Herz höherschlagen. „Wir werden bald zum Aufbruch bereit sein, Meister Chen.“

„Das sehe ich. Ich finde es nur schade, dass unsere Pfade sich so bald schon wieder trennen.“

Sie blickte über die Schulter zu ihrer Familie, die bei der ersten Gruppe von Flüchtlingen stand. „Es war ein guter Vorschlag von Euch, die Leute in die Sturmbräu-Brauerei im Tal der Vier Winde zu schicken. Es ist eine beschwerliche Reise, aber ihre Sicherheit ist die Mühe wert. Ich bin sehr froh, dass meine Familie ausgewählt wurde.“

„Es war nur logisch. Dort können sie alles lernen, was sie für die Brauerei in Zouchin wissen müssen. Ich hätte schon früher darauf kommen sollen.“

Sie legte ihm eine Pfote auf den Unterarm. „Ich weiß, Ihr schickt meine Familie, weil die Mission, sie sicher an ihr Ziel zu bringen, der einzige Weg ist, Li Li von hier fortzubekommen.“

„Und ich bin froh, dass Ihr auf sie aufpassen werdet.“ Chen schnürte seinen Rucksack wieder zu. „Es war nicht leicht, damals auf der Straße fortgehen zu müssen, während Ihr die anderen gerettet habt. Und jetzt fällt es mir ebenso schwer zu gehen.“

Sie hob die Pfote und streichelte seine Wange. „Ihr ehrt mich, indem Ihr mir Li Lis Wohl anvertraut und ihr das Wohl meiner Familie.“

Er drehte sich um, und am liebsten hätte er sie in die Arme geschlossen, aber er konnte all die Augen spüren, die sie beobachteten. Ihn selbst kümmerte es zwar nicht, was andere über ihn dachten, aber er wollte ihre Würde nicht beflecken. Mit gesenkter Stimme sagte er: „Wärt Ihr keine Shado-Pan …“

„Still, Chen! Wäre ich keine Shado-Pan, wären wir uns nie begegnet. Dann wäre ich jetzt die Frau eines Fischers mit einem halben Dutzend Kinder, und wärt Ihr nach Zouchin gekommen, hättet Ihr mir ein Lächeln und ein Nicken geschenkt und vielleicht Feuer gespuckt, um meine Kleinen zum Lachen zu bringen, aber das wäre alles gewesen.“

Er lächelte. „Eure Weisheit macht Euch nur noch attraktiver.“

„Das Gleiche gilt für Eure Ehrlichkeit.“ Yalia blickte ihm in die Augen und lächelte. „Ihr seid der Schildkröte nachgejagt, darum nehmt Ihr die Traditionen nicht so ernst wie wir. Diese Traditionen fördern Stabilität, aber sie machen uns auch unflexibel. Doch die Umstände bedrohen unsere Stabilität und verlangen nach Flexibilität. Es gefällt mir, dass Ihr teilen könnt, was in Eurem Herzen ist.“

„Mir gefällt es, diese Dinge mit Euch zu teilen.“

„Und ich freue mich darauf, bald mehr Zeit mit Euch zu teilen.“

„Chen, bist du bereit … oh, vergebt mir, Schwester Yalia.“ Tyrathan, der sich seinen Rucksack bereits über den Rücken geworfen hatte, hielt dicht vor dem Eingang inne und verbeugte sich.

„Ich komme gleich.“ Chen verbeugte sich vor ihm, dann vor Yalia, anschließend eilte er zu seiner Nichte hinüber. „Li Li!“

„Ja, Onkel Chen?“ Ihre Worte hatten einen eisigen Unterton, der zeigte, wie unzufrieden sie war, den „Reiseführer“ spielen zu müssen.

„Benimm dich diesmal weniger wie eine wilde Hündin, Li Li, und mehr wie eine Sturmbräu!“

Sie versteifte sich, aber dann beugte sie den Kopf. „Ja, Onkel Chen.“

Er umarmte sie und drückte sie fest an sich. Zunächst wehrte sie sich dagegen, aber dann schlang sie die Arme um ihn. „Li Li, was du jetzt tust, wird Leben retten, wichtige Leben. Und nicht nur wichtig für mich oder Schwester Yalia, sondern für ganz Pandaria. Eine große Veränderung hat diesen Ort erreicht, ein brutaler, schrecklicher Wandel. Die Weisenweiden und die Steinacker und andere wie sie werden den Pandaren zeigen, dass wir diese Veränderung überleben können.“

„Ich weiß, Onkel Chen.“ Sie drückte so fest zu, dass er keuchte. „Sobald wir sie zur Brauerei gebracht haben, könnten ich und Schwester Yalia …“

„Nein.“

„Glaubst du nicht, dass …?“

Er schob sie von sich fort und hob ihr Gesicht an, sodass sie ihm in die Augen blickte. „Li Li, ich habe dir viele Geschichten erzählt. Über Oger, darüber, wie ich Murlocs überredet habe, nicht mich, sondern sich selbst in ihren Eintopf zu schneiden …“

„… wie du Eisavataren und Frostriesen das Tanzen beigebracht hast …“

„Ja. Du hast viele Geschichten gehört, aber nicht alle. Es gibt ein paar Dinge, die ich mit niemandem teilen konnte.“

„Mit Vol’jin oder Tyrathan würdest du sie sicher teilen.“

Chen blickte zu dem Menschen hinüber, der sich gerade mit Yalia unterhielt. „Vol’jin würde ich sie erzählen, weil er bei vielen von ihnen dabei war. Aber diese Geschichten sind schrecklich, Li Li. Es gibt keine Freude in ihnen, nichts, was einen lachen ließe. Die Leute von Zouchin haben jetzt traurige Dinge zu erzählen, aber dass sie überlebt haben, macht daraus gute Geschichten. Bei dem, was wir gesehen haben, was Tyrathan und Vol’jin und Yalia noch sehen werden, gibt es keinen solchen Anlass zum Lächeln.“

Li Li nickte langsam. „Mir ist aufgefallen, dass Tyrathan nicht oft lächelt.“

Chen schauderte, weil er sich an Tyrathans breites Grinsen in Zouchin erinnerte. „Ich kann dich nicht vor diesen Geschichten bewahren, Li Li. Aber ich möchte, dass du die Leute vorbereitest, wenn ihr die Brauerei erreicht, damit ihnen solche Geschichten erspart bleiben. Die Steinacker mögen lausige Ackerbauern sein, aber mit einer Sense und Dreschflegeln in den Pfoten können sie einem Zandalari Albträume bereiten. Taran Zhu und Vol’jin haben nur dann eine Chance, Pandaria zu retten, wenn sie von so vielen Bauern und Fischern unterstützt werden, wie du nur ausbilden kannst.“

„Du vertraust mir die Zukunft von Pandaria an.“

„Bei wem wäre sie besser aufgehoben?“

Li Li warf sich in seine Arme und drückte ihn so fest an sich wie damals, als sie noch ein Kind gewesen war und er sich zu seinen abenteuerlichen Reisen aufgemacht hatte. Er erwiderte die Umarmung und streichelte ihren Rücken. Schließlich ließen sie voneinander ab, dann verbeugten sie sich lange und tief vor dem anderen und widmeten sich wieder ihren jeweiligen Pflichten.


Die Flüchtlingskarawane begleitete Chen und Tyrathan Khort nur kurz, dann bogen Li Li und Yalia auf die Straße nach Süden ab, während die anderen gen Norden weiterzogen. Auf der Kuppe eines Hügels machte der Mensch halt, augenscheinlich, um sich Notizen über das Gelände zu machen. Chen blickte den Flüchtlingen nach, bis sie hinter einer Biegung verschwanden – und ungefähr zur selben Zeit beendete Tyrathan auch seine Notizen.

Chens Herz schmerzte, aber er wollte sich dennoch nicht deprimiert fühlen. Während er und der Mensch sich nach Norden vorarbeiteten, wobei sie stets den Straßen fernblieben, sah der Pandaren immer wieder Dinge, die ihn an Yalia denken ließen. Er pflückte ein wenig Herzensruhe und zerrieb es, um den Geruch in der Nase zu haben, dann prägte er sich die Form eines Steines ein, der aussah wie ein Oger mit großem Hintern, wenn er sich vornüberbeugte, um in ein Shed-Ling-Loch zu blicken. Sie hätte das witzig gefunden, und noch viel mehr hätte sie sich über seine Verlegenheit amüsiert, wenn ihm mitten in der Beschreibung plötzlich eingefallen wäre, wie unangebracht so ein Vergleich war.

Es war noch keine Stunde vergangen, da machte Tyrathan in einer grasbewachsenen Senke, eine halbe Meile östlich der Straße, erneut halt. Im Westen erhob sich der Kun-Lai, halb hinter Wolken verborgen. Vol’jin und Taran Zhu sollten inzwischen wieder dorthin zurückgekehrt sein, gemeinsam mit jedem Mönch, der nicht wie Yalia die Flüchtlinge beschützte. Die Shado-Pan würden mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, eine Verteidigung planen und sich dann gemäß den Spähern verteilen.

Tyrathan wickelte ein klebriges Reisbällchen aus. „Schwester Yalia ist es bestimmt wert, ihr nachzuschmachten, Chen, aber wir müssen konzentriert sein, wenn wir weitergehen. Also schließ damit ab!“

Der Pandaren starrte ihn an. „Ich habe den größten Respekt vor Yalia Weisenwisper, mein Freund. Nachschmachten – was immer das bedeuten mag – ist wohl kaum der passende Ausdruck, um …“

„Ja, Chen, natürlich. Mein Fehler.“ Die Augen des Menschen funkelten. „Es ist ziemlich offensichtlich, dass ihr Gefühle füreinander habt. Und sie scheint etwas Besonderes zu sein.“

„Das ist sie. Bei ihr fühle ich mich … zu Hause.“ So, jetzt hatte er es ausgesprochen. Pandaria mochte der Ort gewesen sein, nach dem er sein ganzes Leben lang gesucht hatte, aber sie war der Grund, warum er sich überhaupt auf diese Suche gemacht hatte. „Ja, bei ihr fühle ich mich zu Hause.“

„Fein. Also heiratet, bekommt Kinder und werdet gemeinsam im Schatten deiner Brauerei alt. Oder deiner Brauereien.“

„Das würde mir gefallen.“ Chen lächelte, aber nur kurz. „Dürfen Shado-Pan-Mönche überhaupt heiraten? Dürfen sie Kinder haben?“

„Ich bin sicher, dass sie das dürfen.“ Der Mensch lachte leichtherzig. „Und ich bin sicher, eure Kinder würden euch mächtig auf Trab halten.“

„Nun, du wärst jederzeit bei uns willkommen. Ich würde dir sogar dasselbe Privileg anbieten wie Yalias Vater: Dein Krug würde nie leer sein, wenn du in einem meiner Brauhäuser bist. Du könntest auch deine Familie mitbringen, dann könnten deine Kinder mit meinen spielen.“ Chen runzelte die Stirn. „Hast du eine Familie?“

Tyrathan blickte das halb aufgegessene Reisbällchen in seiner Hand an, dann wickelte er es wieder ein. „Das ist eine interessante Frage.“

Der Magen des Pandaren zog sich zusammen. „Du hast sie doch nicht verloren, oder? Hat ein Krieg sie …“

Der Mensch schüttelte den Kopf. „Sie leben noch, soweit ich weiß. Aber jemanden zu verlieren, heißt nicht, dass er tot ist. Das ist etwas völlig anderes. Was immer du tust, Chen, verliere niemals Yalia.“

„Wie könnte ich sie verlieren?“

„Allein die Tatsache, dass du mich das fragst, bedeutet wahrscheinlich, dass du sie nicht so davongleiten lassen würdest.“ Tyrathan legte sich auf den Bauch und studierte die Straße. „Ich würde meinen rechten Arm für eines dieser Gnomenfernrohre geben. Oder für das Goblin-Gegenstück. Oder besser noch, für eine Batterie ihrer Kanonen. Das war das Merkwürdige an den Zandalari-Schiffen: Sie hatten keine Kanonen. Ich habe nichts außer Trollen gesehen.“

„Vol’jin könnte dir sicher den Grund dafür nennen.“ Chen nickte, während er sich neben dem Menschen ausstreckte und den Blick über die Straße schweifen ließ. „Er wollte ja mitkommen, aber du hattest recht. Taran Zhu braucht ihn dringender als wir.“

„Wie ich ihm schon sagte, dies ist meine Art der Kriegsführung.“ Tyrathan rutschte vom Kamm des Hügels nach unten in die Senke. „Mit einer Taktik bin ich schnell bei der Hand, aber ich bin kein strategischer Denker. Er hingegen hat sich schon bei der Horde um solche Dinge gekümmert. Was ich sagen will, ist, weder ich noch du könnten das tun, aber er schon. Und das wird Pandarias Rettung sein.“


Die nächsten drei Tage folgten Pandaren und Mensch im Zickzack dem Verlauf der Straße, wobei sie auf jedes Detail achteten. Verglichen mit dem Tempo, mit dem sie sich nach Norden vorarbeiteten, hätte sich selbst eine Schnecke wie ein fliegender Greif gefühlt. Tyrathan machte zahlreiche Notizen und zeichnete ebenso viele Skizzen, und Chen vermutete, dass seit der Herrschaft des letzten Mogu-Kaisers niemand mehr so gründlich dieses Land inspiziert hatte.

Sie schlugen ihre Lager in den höheren Lagen auf, verzichteten aber auf Lagerfeuer. Für Chen mit seinem Fell und seinem massigen Körper war das nicht weiter schlimm, aber Tyrathan setzte die Kälte sichtlich zu, und oft war es schon mitten am Morgen, wenn sie bereits ein oder zwei Meilen zurückgelegt hatten, dass die letzten sichtbaren Zeichen seines Humpelns verschwanden. Der Mensch gab sich große Mühe, jegliche Spuren ihrer Reise zu verwischen, und obwohl sie niemanden sahen, beharrte er darauf, dass sie immer wieder ein Stück zurückgingen, um möglichen Verfolgern einen Hinterhalt zu legen – nur für alle Fälle.

Indem er Tyrathan beobachtete und ihm half, begann Chen, auch Vol’jin und die Beweggründe für sein Handeln besser zu verstehen. Dass sie keinen zandalarischen Plünderern oder Scharmützlern begegneten, ließ darauf schließen, dass die Invasoren sich gut vorbereitet hatten und mit ausreichend Vorräten angerückt waren, wie der Mensch ihm erklärte. Nach Tyrathans Schätzungen hatten zwei Drittel der Schiffe Vorräte und Hilfskräfte an Bord gehabt, und da die Zandalari noch nicht nach Süden vorgerückt waren, rüsteten sie sich vermutlich für einen langen Feldzug. Einerseits gab das den Pandaren mehr Zeit, sich zu sammeln, andererseits bedeutete es aber auch, dass die Aufgabe, die vor ihnen lag, ungleich schwerer sein würde.

Und trotzdem sagst du, dass du kein guter Stratege bist. Chen gewann den Eindruck, dass Tyrathan einfach nicht ins Kloster zurückkehren wollte. Hier draußen, im Feld, war er ständig von Ablenkungen umgeben. Er wollte nicht über Zouchin nachdenken müssen, und auch wenn die Gründe Chen ein Rätsel blieben, hatte es doch vermutlich mit dem breiten Grinsen zu tun, das er nach der Schlacht auf dem Gesicht des Menschen gesehen hatte.

Obwohl der Mensch seine Fähigkeit, auf strategischer Ebene zu denken, herunterspielte, hatte Chen schon erlebt, wie leicht Vol’jin diese Art von Informationen verarbeiten und in einen exzellenten Schlachtplan einbringen konnte. Es war eine Sache, die Größe einer Armee einzuschätzen, aber eine völlig andere, zu erkennen, was ein guter General aus dieser Streitmacht herausholen konnte. Vol’jin verstand sich auf beides, und er war in der Lage, diese kleinen Fehler in einem Plan aufzuspüren, die selbst die beste Strategie zunichtemachen konnten.

Chen bemerkte, dass Tyrathan seine Gedanken über ihre Mission vor allem abends mit ihm teilte, in jenen stillen Stunden, wenn ein möglicher Themenwechsel die Sprache nur allzu leicht wieder auf seine Familie hätte bringen können. Aus natürlicher Neugier hätte Chen gerne mehr darüber erfahren, aber er vermutete, dass Chen mit einer Gegenfrage über Yalia kontern und ihn dann wegen seiner Absichten traktieren würde.

Diese Sticheleien wären gewiss ohne jede böse Absicht, und unter anderen Umständen und bei einem Krug Bier oder einer Tasse dampfenden Tees hätte Chen nach bestem Willen dagegengehalten, aber er wollte seine Gedanken an Yalia nicht verderben. Nein, diese Gefühle und Erinnerungen wollte er in Ehren halten. Und auch wenn er wusste, wie unwahrscheinlich die Zukunft war, die er sich mit ihr ausmalte, hatte er keine große Lust, an diese Tatsache erinnert zu werden.

Also ließen sie die Unterhaltung an diesem Punkt in der Dunkelheit verebben, und jeder war aus seinen eigenen Gründen froh darüber. Und dann, am nächsten Morgen, würden sie die Spuren ihres Lagers verwischen und weiterziehen.

Am dritten Tag entdeckten sie einen kleinen Bauernhof, der in die Seite eines Hügels hineingebaut war. Die Anhöhen ringsum waren terrassenartig ausgelegt, und einst waren sie auch sorgsam bebaut worden, doch nun spross dort Unkraut, und Tiere hatten an dem Getreide geknabbert. Im Norden zogen sich langsam dunkle Wolken zusammen, geschwängert mit schwarzem Regen. Ohne ein Wort zu wechseln, und nun weniger vorsichtig als zuvor, gingen die beiden zu dem Bauernhaus hinüber, kurz bevor die ersten Tropfen vom Himmel fielen.

Das Gebäude war solide aus Stein erbaut, mit einem Holzdach, das den Regen fernhielt. Der Bauer und seine Familie waren wohl von Flüchtlingen oder Mönchen gewarnt worden und geflohen, aber ungeachtet der Tatsache, dass einige Dinge in großer Hast eingepackt worden waren, machte das Haus noch immer einen sauberen, ordentlichen Eindruck. Um die Wahrheit zu sagen, fand Chen, abgesehen von den knarzenden Bodenbrettern, nichts an dem Ort auszusetzen.

Tyrathan hatte andere Dinge im Kopf. Er klopfte mit der Faust gegen die hintere Wand, auch in der Speisekammer neben der Feuerstelle. Dort klang das Pochen hohl, und so tastete der Mensch umher, bis er eine Art Hebel fand. Als er ihn zog, glitt die Wand der Speisekammer hinter den Kamin, und ein schwarzes Loch wurde sichtbar, mit Stufen, die in einen Lagerkeller hinabführten.

Tyrathan ging voran, den gezogenen Dolch in der rechten Hand, und Chen folgte ihm mit einem kleinen Knüppel in der einen Pfote und einer brennenden Laterne in der anderen. Als er die Mitte der Treppe erreichte, war der Mensch bereits unten angekommen, und einer von ihnen musste wohl auf einen Schalter getreten sein, denn die Wand der Speisekammer glitt hinter ihnen wieder zu und rastete mit einem Klicken ein.

Der Mann blickte nach oben, dann winkte er Chen die restlichen Stufen herunter. „Mein Freund, ich glaube, diesen Sturm werden wir äußerst komfortabel aussitzen.“

Der Lagerkeller war zwar winzig, aber er war mit Regalen ausgestattet, und auf jedem Brett standen Dutzende Gläser mit eingelegten Rüben und Kohl. Karotten stapelten sich in Körben, und Fisch, den der Bauer vermutlich gegen Gemüse eingetauscht hatte, hing in langen Reihen von den Deckenbalken.

In einer Ecke stand zudem ein kleines Eichenfass, das nur darauf wartete, angezapft zu werden.

Chen blickte erst das Fass, dann Tyrathan an. „Nur mal probieren?“

Der Mensch dachte eine Sekunde darüber nach und wollte gerade antworten, da jaulte der Wind über ihnen. Die Tür des Hauses flog mit einem lauten Donnern auf. Vielleicht war es nur der Sturm gewesen.

Doch das Trampeln schwerer Füße über ihren Köpfen und die harschen Verwünschungen, mit denen ein Troll das Wetter bedachte, ließen auf einen anderen Ursprung schließen.

Chen und Tyrathan wechselten einen Blick.

Langsam schüttelte der Mensch den Kopf. Sie würden das Fass nicht anzapfen, auch wenn sie vor dem Ende dieser Nacht vermutlich sehr durstig sein würden.

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