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Vol’jin, Schattenjäger des Dunkelspeer-Clans, konnte sich keinen schlimmeren Albtraum vorstellen. Er vermochte sich nicht zu rühren. Seine Gliedmaßen blieben steif. Was auch immer sie an Ort und Stelle hielt, lastete so schwer auf ihm wie Schiffstaue und war fester als Stahlketten. Zu atmen schmerzte, und er war außerstande, tief Luft zu holen. Er hatte es aufgegeben, sich dieser Mühe zu unterziehen, doch der Schmerz und die erschöpfte Furcht davor, dass er dann vielleicht ganz damit aufhören würde, hinderten ihn daran. Solange er Angst davor hatte, nicht zu atmen, war er am Leben.

Oder nicht?

Fürs Erste, mein Sohn, fürs Erste.

Vol’jin erkannte die Stimme seines Vaters sofort, genauso, wie er wusste, dass er sie nicht wirklich mit den Ohren hörte. Er versuchte, seinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der die Worte zu kommen schienen. Er konnte sich nicht rühren, doch sein Bewusstsein veränderte sich. Er sah seinen Vater, Sen’jin, mit sich Schritt halten, ohne dass er tatsächlich neben ihm herging. Sie bewegten sich beide, doch Vol’jin wusste weder wie noch wohin.

Wenn ich nicht tot bin, muss ich noch am Leb’n sein.

Von der anderen Seite, links von ihm, ertönte eine Stimme, kräftig und tief. Diese Entscheidung hängt noch in der Schwebe, Vol’jin.

Der Troll strapazierte sein Bewusstsein, um in Richtung dieser Stimme zu blicken. Eine Gestalt musterte ihn mit erbarmungslosen Augen – ein Troll, dem Aussehen nach zu urteilen, Furcht einflößend und mit einem Antlitz, das auf Vol’jin wie eine Rush’kah-Maske wirkte. Bwonsamdi, das Loa, das den Trollen als Wächter der Toten diente, schüttelte langsam den Kopf.

Was soll ich nur mit dir machen, Vol’jin? Ihr Dunkelspeere bringt mir nicht die Opfer dar, die ihr mir schuldet, obgleich ich euch dabei geholfen habe, eure Heimat von Zalazane zu befreien. Und jetzt klammerst du dich ans Leben, obgleich du dich vielmehr in meine Obhut begeben solltest. Habe ich euch vielleicht schlecht behandelt? Bin ich eurer Verehrung etwa nicht würdig?

Vol’jin wünschte verzweifelt, seine Hände würden sich zu Fäusten ballen, doch sie hingen schwach und schlaff an den Enden seiner toten Arme. Ich habe noch Dinge zu erledig’n.

Das Loa lachte; das Geräusch geißelte Vol’jins Seele. Hör dir deinen Sohn an, Sen’jin. Würde ich ihm sagen, dass seine Zeit gekommen ist, würde er mir sagen, dass seine Bedürfnisse aber von noch größerer Wichtigkeit seien. Wie kommt es nur, dass du einen so rebellischen Sohn großgezogen hast?

Sen’jins Gelächter senkte sich einem lindernden, kühlen Nebel gleich herab, der Vol’jins geschundenes Fleisch badete. Ich lehrte ihn, dass das Loa Stärke respektiert. Du hast dich darüber beschwert, dass er dir nicht genügend Opfer dargebracht hat. Und jetzt beschwerst du dich auch darüber, dass er mehr Zeit haben möchte, um dir größere Opfer zu bringen. Langweile ich dich so sehr, dass du meinen Sohn brauchst, um dich zu unterhalten?

Denkst du allen Ernstes, Sen’jin, dass er sich so am Leben festklammert, damit er mir dienen kann?

Vol’jin konnte fühlen, dass sein Vater lächelte. Mein Sohn mag für sein Handeln viele Gründe haben, Bwonsamdi; dir sollte der eine genügen, der deinen Zwecken entgegenkommt.

Willst du mir etwa sagen, wie ich meine Angelegenheiten zu regeln habe, Sen’jin?

Ich erinnere dich, großer Geist, lediglich an das, was du uns vor langer Zeit gelehrt hast, um in deinem Sinne zu dienen.

Anderes Gelächter, fernes Gelächter, vibrierte sanft durch Vol’jin. Noch ein Loa. Der hohe, wehklagende Tonfall eines Lachens, dann das dumpfe Grollen eines anderen, und beides wies darauf hin, dass Hir’eek und Shirvallah ihren Spaß an dem Wortwechsel hatten. Auch Vol’jin selbst fand einigen Gefallen daran, obgleich er wusste, dass er für diese Freiheit bezahlen würde.

Aus Bwonsamdis Kehle drang ein Knurren. Wärst du so leicht dazu zu bringen, dich zu fügen, Vol’jin, würde ich dich zurückweisen. Dann wärst du keines meiner wahren Kinder. Doch, Schattenjäger, wisse dies: Die Schlacht, die dir bevorsteht, könnte sich als schrecklicher erweisen als jede bisherige, die du erlebt hast. Womöglich wirst du dir wünschen, dich mir jetzt gefügt zu haben, da die Bürde, die dein Sieg mit sich bringt, so an dir nagen könnte, dass du letztlich zu Staub zermahlen wirst.

Schlagartig löste sich Bwonsamdis Präsenz in nichts auf. Vol’jin hielt nach dem Geist seines Vaters Ausschau. Er fand ihn dichtbei, doch auch er verblasste. Verliere ich dich jetzt von Neuem, Vater?

Du kannst mich überhaupt nicht verlieren, Vol’jin, denn ich bin ein Teil von dir. Solange du dir selbst treu bist, werde ich stets bei dir sein. Wieder spürte er, dass sein Vater lächelte. Und ein Vater, der so stolz auf seinen Sohn ist wie ich auf dich, würde diesen Sohn niemals alleine lassen.

Obgleich die Worte seines Vaters ein gewisses Maß an Nachdenken erforderten, schenkten sie Vol’jin genügend Trost, dass er nicht mehr länger um sein Leben fürchtete. Er würde leben. Er würde seinen Vater weiterhin mit Stolz erfüllen.

Er würde sich geradewegs jenem grässlichen Schicksal stellen, das Bwonsamdi ihm vorhergesagt hatte, und es allen Prophezeiungen zum Trotz meistern. Von dieser Überzeugung erfüllt, ging sein Atem leichter, sein Schmerz klang ab, und er versank in einem schwarzen Quell des Friedens.


Als er wieder zu Bewusstsein kam, stellte Vol’jin fest, dass er gesund und munter war, über beträchtliche Körperkraft verfügte und aufrecht stand. Die Sonne brannte grimmig auf ihn hernieder, während er sich zusammen mit Tausenden von anderen Trollen in einem Hof drängte. Die meisten schienen fast einen Kopf größer zu sein als er, doch keiner machte eine große Sache daraus. Tatsächlich schien ihn überhaupt keiner von den anderen zu bemerken.

Wieder ein Traum. Eine Vision.

Er erkannte den Ort, an dem er sich befand, nicht sofort, auch wenn ihn das Gefühl beschlich, früher schon einmal hier gewesen zu sein. Oder eher später, da sich diese Stadt der Invasion des Dschungels ringsum noch nicht ergeben zu haben schien. Die Steinschnitzereien an den Wänden waren klar und deutlich. Die Torbögen waren allesamt noch intakt. Die Pflastersteine waren weder kaputt gemacht noch geplündert worden. Und die Stufenpyramide, vor der sie alle standen, war noch nicht von den Zähnen der Zeit verwüstet.

Er stand inmitten einer Gruppe von Zandalari, Angehörigen jenes Troll-Stamms, von dem alle anderen Stämme abstammten. Im Laufe der Jahre waren die Zandalari größer geworden als die meisten und überschwänglich. In seiner Vision schien es sich bei ihnen weniger um einen Stamm als um eine Kaste von Priestern zu handeln, mächtig und gebildet, in jeder Hinsicht bereit, die Führung zu übernehmen.

In Vol’jins Zeit jedoch war ihre Gabe zu führen nicht mehr dieselbe wie zuvor. Wegen ihrer Träume waren alle hier gefangen.

Dies war das Zandalari-Imperium auf dem Höhepunkt seiner Macht. Einst beherrschte es Azeroth, bevor es seiner eigenen Macht zum Opfer fiel. Gier und Habsucht ließen Intrigen sprießen. Splittergruppen spalteten sich ab. Neue Reiche entstanden, wie etwa das Gurubashi-Reich, das Vol’jins eigene Dunkelspeertrolle ins Exil trieb, ehe es ebenfalls unterging.

Die Zandalari sehnten sich nach einer Rückkehr jener Zeiten, in denen sie die Vorherrschaft innehatten. In jenen Tagen waren die Trolle ein höchst nobles Volk gewesen. Vereint waren die Trolle in Sphären aufgestiegen, die alles übertrafen, was jemand wie Garrosh sich auch nur je hätte träumen lassen.

Ein Gefühl uralter, starker Magie durchströmte Vol’jin, um ihm die Erkenntnis zuteilwerden zu lassen, warum er ausgerechnet die Zandalari sah. Die Magie der Titanen war sogar noch älter als die Zandalari. Und sie war noch mächtiger. So hoch, wie die Zandalari über jenen Dingen gestanden hatten, die sich am Boden schlängelten und stachen, so weit standen die Titanen über ihnen – ebenso wie ihre Magie.

Vol’jin bewegte sich durch die Menge wie ein Zuschauer. In den Gesichtern der Zandalari glomm ein furchtsames Lächeln – ein Lächeln von der Art, wie er es bei Trollen gesehen hatte, wenn Trompeten schmetterten und Trommeln hämmerten, um sie in den Kampf zu rufen. Die Trolle waren dazu geboren, ihre Gegner zu erschlagen und in Stücke zu reißen – Azeroth war ihre Welt, und alles darin hatte sich ihnen zu unterwerfen. Und obgleich Vol’jin mit anderen Trollen vielleicht nicht einer Meinung darüber war, wer genau ihre Gegner waren, war er nicht weniger erbittert im Gefecht und ungemein stolz darauf, wie die Dunkelspeere ihre Feinde bezwungen und die Echo-Inseln befreit hatten.

Dann will Bwonsamdi mich mit dieser Vision also verhöhnen. Die Zandalari träumten von einem Imperium, und Vol’jin wünschte sich nur das Beste für sein Volk. Vol’jin kannte den Unterschied zwischen diesen Dingen. Ein Massaker zu planen war nicht schwer; eine Zukunft zu erschaffen, dazu brauchte es wesentlich mehr. Für ein Loa, das seine Opfer blutig und kampfgeschunden mochte, barg Vol’jins Ansatz nur wenig Reiz.

Vol’jin stieg die Pyramide empor. Während er höherkletterte, gewannen die Dinge an Substanz. Hatte er sich zuvor in einer stummen Welt befunden, konnte er jetzt Trommeln spüren, die durch den Stein vibrierten. Die Brise strich über sein helles Fell, zerzauste sein Haar. Sie trug den süßlichen Geruch von Blumen in sich – einen Geruch, der nur unwesentlich intensiver war als der von vergossenem Blut.

Das Trommeln ergriff von ihm Besitz. Sein Herz schlug rhythmisch. Stimmen drangen an sein Ohr. Rufe von unten. Befehle von oben. Er weigerte sich zurückzuweichen, kletterte aber auch nicht höher. Ihm war, als würde er durch die Zeit aufsteigen wie durch Seewasser. Wenn er die Spitze erreichte, würde er bei den Zandalari angelangt sein und fühlen, was sie fühlten. Er würde ihren Stolz erfahren. Er würde in ihren Träumen sein.

Er würde zu einem der ihren werden.

Diesen Luxus würde er sich nicht erlauben.

Sein Traum für den Dunkelspeerstamm mochte Bwonsamdi nicht begeistert haben, doch für die Dunkelspeere bedeutete er Leben. Das Azeroth, das die Zandalari einst kannten, hatte sich vollkommen und unwiederbringlich verändert. Portale hatten sich aufgetan, durch die neue Völker hergekommen waren. Länder waren zerschmettert, Völker pervertiert und mehr Macht freigesetzt worden, als die Zandalari auch nur ahnten, dass sie existierte. Die grundverschiedenen Völker – darunter Elfen, Menschen, Trolle, Orcs und sogar Goblins – hatten sich zusammengetan, um Todesschwinge zu bezwingen, um so ein Machtgefüge zu erschaffen, das gegen die Zandalari aufbegehrte und sie beleidigte. Die Zandalari gierten danach, ihre Herrschaft über eine Welt zurückzuerlangen, die sich so sehr gewandelt hatte, dass sich ihre Träume niemals erfüllen würden.

Vol’jin zügelte sich. Niemals ist so ein endgültiges Wort.

Innerhalb eines Lidschlags veränderte sich die Vision. Er stand auf dem Gipfel der Pyramide und blickte in die Gesichter der Dunkelspeere hinab. Seiner Dunkelspeere. Sie vertrauten auf sein Wissen der Welt. Wenn er ihnen sagte, dass es ihnen gelingen könne, den Ruhm wiederzuerlangen, den sie einst besessen hatten, würden sie ihm folgen. Wenn er ihnen befahl, das Schlingendorntal oder Durotar zu nehmen, würden sie es tun. Die Dunkelspeere würden die Inseln tilgen und alles unterjochen, was ihnen in die Quere kam, und das allein, weil er wünschte, dass es getan wurde.

Er konnte es vollbringen. Er sah eine Möglichkeit dazu. Thrall hatte ihm Gehör geschenkt, und der Orc hatte ihm in militärischen Angelegenheiten vertraut. Er konnte die Monate der Genesung dazu nutzen, Feldzüge zu planen und Strategien in die Wege zu leiten. Innerhalb von ein oder zwei Jahren nach seiner Rückkehr aus Pandaria – falls er sich nach wie vor dort aufhielt – würde das Dunkelspeer-Banner mit Blut gesalbt sein und gefürchteter als jemals zuvor.

Und was würde mir das bringen?

Ich wäre zufriedengestellt.

Vol’jin wirbelte herum. Bwonsamdi ragte über ihm auf, eine titanenhafte Gestalt mit nach vorne gerichteten Ohren, bestrebt, die pulsierenden Rufe von unten in sich aufzunehmen. Es würde dir Frieden bringen, Vol’jin, da du damit das tätest, was deine Troll-Natur verlangt.

Ist das alles, wofür wir bestimmt sind?

Für das Loa braucht ihr nicht zu mehr bestimmt zu sein. Welchen Sinn hätte es auch, wenn ihr mehr wäret?

Vol’jin suchte nach einer Antwort auf diese Frage, doch alles, was sich ihm darbot, war eine Leere, deren Dunkelheit sich nach ihm ausstreckte und ihn umschlang, um ihn ohne Antworten und mit Sicherheit auch ohne Frieden zurückzulassen.


Schließlich erwachte Vol’jin wirklich, und er öffnete die Augen, um jeden Zweifel auszuräumen, dass es ein Traum war. Schwaches Licht drang zu ihnen vor, gefiltert durch eine Mullbinde. Er wollte sehen, doch dazu müsste er den Verband abnehmen, und dazu wiederum müsste er die Hand heben – ein Unterfangen, das ihm unmöglich war. Ob es nun daran lag, dass seine Hand gefesselt oder vielleicht auch einfach am Handgelenk abgehackt war, konnte er nicht sagen. Seine Verbindung zu seinem Körper war viel zu schwach.

Doch er war noch am Leben, und das weckte den Drang in ihm, sich zu erinnern. Daran, wie er verletzt worden war. Solange er Zweifel gehegt hatte, ob er überleben würde, war ihm diese Mühe wie Kraftverschwendung vorgekommen.

Ohne von irgendjemandem dazu aufgefordert worden zu sein und in bewusster und schadenfroher Missachtung von Garrosh Höllschreis Wünschen, hatte Vol’jin beschlossen, das neue Land, Pandaria, zu besuchen, um zu sehen, was Garrosh mit der Horde vorhatte. Die Pandaren kannte er durch Chen Sturmbräu, und er hatte den Wunsch verspürt, ihre Heimat zu erkunden, bevor der Krieg zwischen der Horde und der Allianz sie in eine Trümmerlandschaft verwandelte. Es war nicht so, als hätte Vol’jin geplant, Garrosh aufzuhalten, aber er hatte einmal gedroht, dem Orc einen Pfeil durch den Körper zu jagen, und für alle Fälle wollte er seinen Bogen auf diese Reise mitnehmen.

Da hatte Garrosh ihm angeboten, einen Beitrag zur Sache der Horde zu leisten, auch wenn er diesen Vorschlag auf seine typische respektlose Art vorbrachte. Vol’jin hatte zugestimmt, weniger um der Horde einen Vorteil zu verschaffen, sondern vielmehr um den Ehrgeiz ihres Häuptlings zu bremsen. Gemeinsam mit einem von Garroshs getreuen Orcs, Rak’gor Blutklinge, und einigen weiteren Abenteurern war der Schattenjäger also zu dieser Mission ins Herz von Pandaria aufgebrochen.

Vol’jin hatte die Reise genossen und sie genutzt, dieses Land mit den anderen zu vergleichen, in denen er schon gewesen war. Die meisten runden Berge, die er bislang gesehen hatte, waren verwittert, von den Elementen besiegt, doch in Pandaria wirkten sie lediglich befriedet. Auch gezackte, wütende Berge sah er, ebenso scharf wie in anderen Landen, doch hier schienen sie nur begierig, den Himmel zu berühren. In den Dschungeln und Hainen wimmelte es von Leben, doch nie hatte er den Eindruck, dort würden sich tödliche Gefahren verbergen, wie es beispielsweise im Schlingendorntal der Fall wäre. Es gab Ruinen, doch nur weil sie verlassen worden waren, nicht weil man sie zerstört oder begraben hatte. Im Gegensatz zum Rest der Welt, der von Hass und Gewalt gezeichnet war, hatte Pandaria noch nicht die Peitsche des Krieges gespürt.

Noch nicht.

Schneller als Vol’jin lieb gewesen war, erreichte der Trupp sein Ziel, und Rak’gor und zwei seiner Helfer brachen mit Wyvern auf, um das Gebiet auszukundschaften. Sie waren noch nicht zurückgekehrt, als die anderen eine Höhle erreichten, deren Eingang von vage menschenähnlichen Eidechsenbestien bewacht wurde. Die Abenteurer machten kurzen Prozess mit den Kreaturen und bereiteten sich darauf vor, die dunklen Tiefen der Höhle zu erforschen.

Schwarze Fledermäuse stoben kreischend aus den verborgenen Nischen des Gewölbes hervor, aber Vol’jin vernahm ihre Schreie nur vage, und er bezweifelte, dass die anderen überhaupt etwas hörten, abgesehen vielleicht vom Flattern ledriger Flügel. Eines der Loa, Hir’eek, hatte die Gestalt einer Fledermaus, erinnerte sich der Troll. Ist das eine Warnung der Götter, dass uns nur Übles droht, wenn wir weitergehen?

Die Loa antworteten nicht, und so ging der Dunkelspeer voran. Ein kaltes Gefühl der Verdorbenheit erfüllte die Höhle, und es wurde stärker, je weiter sie vordrangen. Schließlich blieb Vol’jin stehen und kniete sich hin, wobei er einen Handschuh abstreifte, dann nahm er eine Handvoll feuchter Erde vom Boden und hob sie an seine Nase. Er erkannte das leicht süßliche Odeur verrotteter Pflanzen, vermischt mit dem sauren Gestank von Guano, aber da war auch ein Hauch von etwas anderem. Saurokgeruch, keine Frage, aber irgendwie anders.

Vol’jin verschloss die Nase und kniff die Augen zu, die Hand halb geballt, anschließend siebte er die Erde mit dem Daumen zwischen seinen Fingern hindurch. Als alles fortgerieselt war, streckte er die Finger wieder aus. So leicht wie ein Spinnennetz, flackernd wie der Rauch einer erloschenen Kerze trieb schwache Restmagie über seine Handfläche.

Sie reizte seine Haut wie Brennnesseln.

Das is’n ganz mieser Ort.

Er öffnete die Augen wieder und ging den uralten Gang entlang, der tiefer in die Höhle hineinführte. Wann immer sie eine Gabelung erreichten, sicherten die Orcs beide Gänge, aber der Troll musste nicht einmal die Luft schnüffeln, um den richtigen Weg zu erkennen. Seine rechte Hand war noch immer nackt und gespreizt, und was anfangs noch Spinnweben gewesen waren, hatte sich erst zu einem Faden verstärkt, dann zu einem Garn, und nun drohte es sich in ein Seil zu verwandeln. Jede dieser Veränderungen wurde von winzigen Nadelstichen begleitet, aber zumindest nahm der Schmerz nicht zu, je breiter der Streifen auf seiner Handfläche wurde.

Als die Magie die Breite eines Schiffstaus erreicht hatte, stießen sie auf einen gewaltigen Raum und darin auf den größten Saurok, dem sie bislang begegnet waren. Ein dampfender unterirdischer See dominierte das Zentrum des Gewölbes, und ringsum lagen Hunderte – womöglich sogar Tausende – Saurokeier, die in der Wärme des Wassers heranreiften.

Vol’jin hob die Hand, und die anderen blieben stehen. Dies war ein Nest im Herzen der Magie.

Bevor er die ganze Bedeutung dieser Erkenntnis ausloten konnte, entdeckte der Saurok sie und griff an. Der Troll und seine Begleiter schlugen wild entschlossen zurück, doch das Reptilienwesen kämpfte so verbissen, dass jeder von ihnen blutige Wunden davontrug, bevor sie die Kreatur schließlich niedergestreckt hatten. Doch während die anderen Mitglieder der Gruppe sich nun um ihre Verletzungen kümmerten, spürte Vol’jin den Drang, sich weiter umzusehen.

Leise watete er in das seichte Wasser des Sees und streckte die Arme aus, dann schloss er die Augen und drehte sich langsam im Kreis. Das unsichtbare magische Seil wickelte sich bei der Bewegung wie eine Dschungelliane um seine Arme, schlang sich um seinen Körper. Darin eingeschnürt, liebkost von ihrer brennenden Berührung begann er diesen Ort zu verstehen, wie nur ein Schattenjäger es konnte.

Geister schrien vor uralten Qualen, die Essenz der Saurok stürmte auf ihn ein und schlängelte sich durch seinen Bauch wie die Natter, die einst, vor vielen Zeitaltern, über den kalten steinernen Boden der Höhle gekrochen war – eine Schlange, rein in ihrer Natur und ihrem Geist.

Doch dann hatte Magie die Schlange erfasst. Schreckliche Magie, ein Vulkan, gegen den sich die Fähigkeiten der meisten Magier wie kleine Funken ausnahmen. Sie strömte durch die Schlange, durchbohrte ihren goldenen Geist mit tausend schwarzen Dornen. Diese Dornen zogen ihre Seele auseinander, von hier nach dort, von oben nach unten, von innen nach außen, selbst aus der Vergangenheit in die Zukunft, aus der Wahrheit in die Lüge.

Vor seinem geistigen Auge sah Vol’jin, wie die Dornen an dem Gold zerrten und zogen, bis es so straff gespannt war wie Bogensehnen. Anschließend zuckten die Dornen alle wieder vor, zurück in das Zentrum der Schlangenseele. Dabei zogen sie die goldenen Fäden hinter sich her, verwoben sie zu einem arkanen Gewirr. Die Fasern der Schlangenseele verdrehten und verknoteten sich; einige zerrissen, andere verschmolzen mit den Enden neuer Fäden. Die ganze Zeit über schrie die Natter. Was sie einst gewesen war, verwandelte sich in eine fremde Kreatur; eine Kreatur, halb wahnsinnig von den Folgen dieser Erfahrung, doch biegsam und formbar in den Händen ihres Schöpfers.

Sie war alles andere als allein.

Der Name Saurok schoss durch Vol’jins Kopf – vor diesem brutalen Akt der Schöpfung hatte das Wort nicht existiert. Namen trugen Macht in sich, und dieser Name definierte nicht nur die neugeborene Kreatur, sondern auch seine Meister, und er teilte den Schleier der Magie. Die Mogu hatten die Saurok erschaffen. Die Mogu, die Vol’jin als vage Schemen aus alten Legenden kannte. Die schon lange tot und vergessen waren.

Doch die Magie war nicht mit ihnen gestorben. Energien, die ein Ding so völlig und vollkommen verändern konnten, stammten vom Anbeginn der Zeit, vom Beginn aller Existenz. Die Titanen, die Schöpfer von Azeroth, hatten derartige Magie für ihre Kreationen verwandt. Kein gesunder Verstand konnte solchen Zauber verstehen, geschweige denn ihn meistern, und Träume von solcher Macht nährten wahnsinnige Hirngespinste.

Indem er der Entstehung der Saurok beiwohnte, erhielt Vol’jin auch Einblick in die elementare Wahrheit dieser Magie. Er sah einen Weg vor sich, den Schimmer eines Pfades nur, aber genug, um diese Energie weiter zu studieren. Der Zauber, der die Saurok in diese Welt gebracht hatte, konnte sicher auch eingesetzt werden, um die Murlocs, die seinen Vater ermordet hatten, von ihrem Angesicht zu tilgen; oder um die Menschen in die Vrykul zurückzuverwandeln, von denen sie so offensichtlich abstammten. Sowohl das eine als auch das andere wäre eine sinnvolle Verwendung für diese Macht und würde die Jahrzehnte des Studiums rechtfertigen, die nötig wären, um eine solche Magie zu beherrschen.

Der Schattenjäger rief sich zur Ordnung. Allein indem er so etwas dachte, könnte er in die Falle tappen, der zweifelsohne auch die Mogu zum Opfer gefallen waren. Unsterbliche Magie verdarb jeden Sterblichen, das war unausweichlich. Wer sie einsetzte, wurde von der Verderbnis zerstört – und sein ganzes Volk vermutlich gleich mit.

Als Vol’jin die Augen wieder geöffnet hatte, standen Rak’gor und die anderen Überlebenden des Trupps vor ihm. „Wurde auch Zeit, dass ihr von euren Hintern hochkommt.“

„Der Kriegshäuptling sagt, es gibt eine Verbindung zwischen diesen Kreaturen und den Mogu.“

„Diese Mogu, das sind die Schöpfer der Saurok. Sie hab’n hier unten böse schwarze Magie gewirkt.“ Ein Schauder rann Vol’jin über den Rücken, als der Orc tiefer in die Höhle stolzierte. „Die schwärzeste Art von Magie.“

Rak’gor warf ihm ein kurzes, wildes Grinsen zu. „Ja, die Macht, Fleisch zu formen und unglaubliche Krieger zu erschaffen. Der Kriegshäuptling will diese Magie.“

Die Eingeweide des Trolls zogen sich zu einem Knoten zusammen. „Garrosh will Gott spiel’n? Das ist nicht der Weg der Horde.“

„Er dachte sich schon, dass du nicht damit einverstanden wärst.“

Rak’gor schlug schnell und gnadenlos zu. Sein Dolch traf Vol’jin am Hals und riss ihn zur Seite, während sich die Verbündeten des Orcs ringsum auf die anderen stürzten. Sie kämpften mit brutaler Mordlust, ohne auf ihr eigenes Wohl zu achten, und sie starben bis zum letzten Mann. Vielleicht hatte Garrosh sie glauben gemacht, dass seine neue Magie sie von den Toten zurückbringen würde, neu und verbessert.

Vol’jin erhob sich auf ein Knie und hielt seine Verbündeten zurück, eine Hand an seine Kehle gepresst, um die Wunde zu schließen. „Garrosh betrügt sich selbst. Er muss glaub’n, dass wir tot sind. Nur so können wir uns die nötige Zeit verschaff’n, um ihn aufzuhalten. Geht. Beobachtet ihn. Findet andere, die denken wie ich. Schwört einen Bluteid. Für die Horde. Wenn ich zurückkomme, müsst ihr bereit sein.“

In jenem Moment, als die anderen davonrannten, glaubte er tatsächlich, dass er zurückkehren würde. Doch noch während er aufzustehen versuchte, schoss schwarze Pein durch seinen Körper. Garrosh hatte diese List genau geplant: Rak’gors Klinge war in ein schädigendes Gift getaucht. Nicht nur, dass seine Wunden nicht so heilten, wie sie sollten, er konnte auch spüren, wie seine Stärke dahinschwand. Der Troll kämpfte gegen die Schmerzen an, gegen den Nebel, der durch seinen Geist trieb.

Vielleicht hätte er es sogar geschafft, hätten ihn nicht weitere Saurok gefunden. Er konnte sich noch vage an den Kampf mit den Echsenwesen erinnern. Klingen, die in der Dunkelheit blitzten, quälende Schnittwunden, die sich nicht schließen wollten, Kälte, die in seine Glieder kroch. Er war blind davongerannt, gegen Wände geprallt, Gänge hinuntergestürzt, aber jedes Mal hatte er sich gezwungen, wieder aufzustehen und weiterzugehen.

Wie er aus der Höhle herausgefunden hatte und an diesen Ort hier gelangt war, konnte er nicht sagen. Es roch jedenfalls nicht länger nach der Höhle. Seine Nase erschnupperte etwas vage Vertrautes in der Luft, verborgen zwischen den Gerüchen von Wickeln und Salben. Er konnte zwar nicht davon ausgehen, dass er unter Freunden war, aber dass man sich um ihn kümmerte, deutete zumindest darauf hin. Andererseits mochten Feinde ihn ebenfalls gesund pflegen, wenn sie hofften, für ihn ein Lösegeld von der Horde erpressen zu können.

Garroshs Antwort würde sie sicher enttäusch’n.

Bei diesem Gedanken musste er beinahe lachen, aber daraus wurde nichts. Seine Bauchmuskeln spannten sich kurz an, dann gaben sie der Erschöpfung und dem Schmerz nach. Doch dass sein Körper noch zu solch unwillkürlichen Reaktionen in der Lage war, schenkte ihm Mut. Lachen war etwas für die Lebenden, nicht die Sterbenden.

Genauso wie Erinnerungen.

Zu wissen, dass er nicht sterben würde, war im Moment völlig ausreichend. Vol’jin atmete so tief ein, wie er konnte, und ließ die Luft dann langsam wieder entweichen. Noch bevor er ganz ausgeatmet hatte, war er eingeschlafen.

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