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Vol’jin wagte nicht, die Augen zu öffnen, denn er spürte die Gegenwart seines Vaters. Der Schattenjäger hatte sich in seine Kammer im Kloster zurückgezogen, obwohl ringsum die Vorbereitungen auf den kommenden Angriff auf hektischen Hochtouren liefen. Alles, was er Taran Zhu gesagt hatte, war aus tiefer Überzeugung geboren: dass er hierher gehörte, dass das Kloster sein neues Zuhause war und dass sein Ebenbild, das in die Knochen des Berges geschnitzt war, ihn mit den Shado-Pan verband.

So stark war diese Überzeugung, dass er den Drang verspürt hatte, sofort mit den Loa in Verbindung zu treten. Er hatte zwar keinen Zweifel daran, dass er das Richtige tat, aber er konnte sich vorstellen, dass die Loa sich deswegen von ihm abwenden würden. Sie sahen zwar, dass das Treiben der Zandalari der Sache der Trolle schadete, aber seine Treue zu den Pandaren könnte in ihren Augen ebenso nachteilig erscheinen.

Die Gegenwart seines Vaters schenkte Vol’jin Mut, denn zumindest spürte er keine Feindseligkeit darin. Er zwang sich, gleichmäßig ein und aus zu atmen, während er die althergebrachten Praktiken mit dem verband, was er im Kloster gelernt hatte, und dann trat er vor die Loa, wie es einem Schattenjäger gebührte – selbstsicher und entschlossen. Dennoch erfüllte ihn zugleich die jugendliche Freude, wie sie jeder Erwachsene verspürt hätte, der seinen Vater und dessen Träume in Ehren hielt. Sen’jin war zuerst zu ihm gekommen.

Der Dunkelspeer blickte sich suchend um, ohne die Augen zu öffnen. Dort stand sein Vater, ein wenig mehr vom Alter gebeugt, als Vol’jin in Erinnerung hatte, aber noch immer mit denselben glänzenden Augen. Sen’jin trug einen schweren Umhang mit Kapuze, gewoben aus blauer Wolle, aber die Kapuze war zurückgeschlagen und hing auf seine Schultern herab. Es sah aus, als würde er lächeln.

Der Schattenjäger versuchte gar nicht erst, sein eigenes Lächeln zu verbergen, auch wenn es nur ein paar Augenblicke anhielt. „Ist es dies, was du von mir erwartet hast?“

„Dass du hier gegen die Zandalari kämpfen willst, an einem Ort, wo du unterliegen musst? Dass du dich zu einem Kampf verpflichtet hast, den du nicht gewinnen kannst, und das für Leute, die dich nicht verstehen und es auch gar nicht versuchen?“ Sen’jins Schultern sackten nach unten, und er schüttelte den Kopf. „Nein, mein Sohn.“

Vol’jin blickte zu Boden. Sein Herz schmerzte ihn; es fühlte sich an, als hätte man eine rostige Kette mit scharfen Dornen darum gewickelt, die jetzt straff gezogen wurde. Hätte er in seinem Leben nur ein Ziel verfolgen können, es wäre, seinen Vater stolz zu machen. Ich enttäusche ihn nur ungern, aber wenn es sein muss, soll es eb’n so sein.

Die Stimme seines Vaters klang sanft, erfüllt von einer Schwere, aus der aber auch ein wenig Freude herausklang. „Das ist nicht, was ich von dir erwartet habe, Vol’jin; aber es ist, was die Loa von einem Schattenjäger erwarten. Und auch wenn ich es nicht erwartet habe, habe ich doch immer gewusst, dass du in diesen Rang aufsteigen würdest, wenn die Zeit gekommen wäre.“

Vol’jin hob den Kopf, und der Druck auf seiner Brust ließ nach. „Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, Vater.“

„Du, Vol’jin, bist mein Sohn, und ich bin sehr stolz auf alles, was du erreicht hast.“ Der Geist seines Vaters hob einen Finger. „Aber indem du ein Schattenjäger wurdest, da wurdest du mehr als mein Sohn. Du wurdest ein Vater für alle Trolle. Du trägst die Verantwortung für uns alle, und für das, was aus uns wird. Unsere Zukunft liegt in deinen Händen – und mir will niemand einfallen, bei dem sie besser aufgehoben wäre.“

Die Welt um Vol’jin verschob sich. Ohne dass er sich bewegt hätte, stand er nun plötzlich neben seinem Vater und sah zu, wie Sterne an einem Nachthimmel voller Explosionen auseinanderbarsten. Er sah, wie sich aus dem Nichts Azeroth formte, wie die Loa kamen, um den Trollen ihr wahres Wesen zu schenken und im Gegenzug ewige Verehrung und Ergebenheit forderten. Er sah Kriege und Katastrophen, gute Zeiten und fröhliche Zeiten; alles huschte an ihm vorbei, schimmernde Augenblicke auf dem Seidenband der Geschichte.

Ganz gleich, was er sah oder wie kurz er es sah, konnte Vol’jin doch immer wieder einen Schattenjäger ausmachen oder zwei oder fünf. Manchmal standen sie im Vordergrund, aber meist hatten sie den Platz neben oder hinter einem dynamischen Anführer eingenommen, und gelegentlich saßen sie auch als Mitglieder eines Rates beisammen. Stets ersuchte man um ihre Ratschläge, und die Weisheit ihrer Entscheidungen wurde ausnahmslos respektiert.

Bis die Zandalari sich vom Rest abzusondern begannen. Es ergab durchaus Sinn, denn die Trolle wurden geschickter und begannen Städte zu errichten. Sie hörten auf, durchs Land zu ziehen, eigneten sich Reichtum an, bauten sich ein Zuhause. Sie erschufen Tempel und Schreine, es entstand eine Klasse von spirituellen Mittelsmännern, die Opfer forderten und die Botschaften der Loa interpretierten. Als die Bevölkerung wuchs, gingen immer weniger Trolle Beschäftigungen nach, die sie mit der Natur und den Loa in Verbindung brachten, und alte Gebote mussten umgeschrieben und an die neue Zeit und die Zivilisation angepasst werden. Es waren die Zandalari, die sich dieser Aufgabe widmeten, und sie fanden darin ihre Erfüllung. Gleichzeitig mussten sie aber auch die Notwendigkeit ihrer Rolle betonen, damit niemand auf die Idee kam, ihre Kaste hätte keine Existenzberechtigung.

Aus diesem Grund war es auch nötig, die Rolle des Schattenjägers neu zu definieren. Ja, die Vorbereitung und die Prüfungen zu bestehen war eine gewaltige Leistung, ein Erfolg, den jeder feiern musste. Schattenjäger wurden zu Helden von geradezu mythischen Proportionen erhoben – verehrt, aber auch gefürchtet, da sie unter den Loa wandelten und daher die Nöte und Bedürfnisse der Sterblichen nie vollends verstehen konnten.

Vol’jin schauderte. Dieser Wunsch, den er verspürt hatte, der Drang, die Anerkennung der Zandalari zu gewinnen, wohnte auch den anderen Trollstämmen inne, und nicht nur ihnen. Khal’ak war ebenfalls ein Opfer dieses Wunsches, wenn auch in einem anderen Sinne. Sie wollte eine Allianz mit einem Schattenjäger eingehen, weil er einen so hohen Status genoss. Indem sie zusammenarbeiteten, hatte sie das Gefühl, dass auch sie eine höhere Stufe erklomm.

Aber dann bin ich gefloh’n und habe ihren Wunsch ruiniert.

Hin und wieder verlangsamte sich der Bilderreigen der Geschichte, wenn ein bedeutsamer Wegpunkt erreicht war. Die Szenarien waren ausladender geworden, die Trollmengen größer und die Reden hetzerischer und giftiger. Mehrere gewaltige Horden, die über das Land verteilt waren, fielen übereinander her.

In diesen Bildern konnte Vol’jin jedoch keine Schattenjäger entdecken. Und falls er doch einen erhaschte, hatte dieser sich von den Geschehnissen abgewandt. So wie ich, als Zul mich bat, den anderen Troll’n beizutreten. Oder als ich mit Garrosh brach.

Da fiel plötzlich der letzte Teil des Puzzles an seinen Platz. Die Zandalari hatten sich zum Sprachrohr der Loa erhoben, und vielleicht begannen sie irgendwann zu glauben, dass sie auf einer Stufe mit den Geistern stünden. Auf jeden Fall betrachteten sie sich nicht als Brüder der anderen Trolle. Sie waren besser. Sie waren mehr. Später versuchten die Gurubashi und Amani, den Zandalari nachzueifern, und so verfielen auch sie diesem Irrglauben, diesem Gefühl der Überlegenheit, das zu Überheblichkeit führte und all ihre Bestrebungen dem Untergang weihte.

Und jedes Mal hatte sich ein Schattenjäger abgewandt. Die Trolle interpretierten das so, dass sich ein Überbleibsel aus der Vergangenheit von der Zukunft abwandte. Aus ihrer Sicht war das die einzig logische Erklärung für dieses Handeln. Doch indem sie so dachten, lösten sie sich von ihrer Vergangenheit und ihrer wahren Natur.

Ein Schattenjäger konnte Berater oder Anführer sein, doch das war nicht seine eigentliche Aufgabe; das war nicht der Grund, warum die Loa zu ihm kamen und sich auf ihn verließen. Ein Schattenjäger war der Maßstab für alles, was einen Troll ausmachte. Alle Trolle und all ihre Taten wurden am Schattenjäger gemessen. Es war wichtig, den Unterschied zwischen echten Taten und Fähigkeiten oder Potenzial zu erkennen. Die Fähigkeiten der Schattenjäger überragten zwar die der meisten Trolle, aber dennoch konnte jeder Troll dem Schattenjäger nacheifern und das Gemeinwesen durch seine Taten stärken. Dadurch konnten sie sich gleichzeitig auch als Trolle bestätigt sehen.

Vol’jin stellte sich vor, dass er auf einer simplen Kaufmannswaage stand. Khal’ak und Vilnak’dor traten auf die andere Schale, und die Waage neigte sich zu Vol’jins Gunsten, sodass die Zandalari in die Höhe gehoben wurden. Er konnte verstehen, dass sie von ihrem erhöhten Standpunkt aus den Eindruck gewinnen konnten, dass er weniger Troll war als sie.

Dann verschwanden sie, und Chen nahm ihre Stelle ein, gefolgt von Taran Zhu und Bruder Cuo. Anschließend tauchte sein alter Freund Rexxar auf, und dann trat sogar Tyrathan auf die Waage. Bei jedem von ihnen pendelten sich die Schalen auf gleicher Höhe ein. Anders bei Garrosh; als er an die Reihe kam, schoss er nach oben wie eine Goblin-Rakete.

Vol’jin fragte sich, ob das, was er da spürte, die wahre Natur seiner Gefährten im Kloster und bei der Horde war. Natürlich waren die Pandaren und der Mensch ihm nicht ebenbürtig, immerhin war er ein Troll; aber ihre Bemühungen, Pandaria zu retten, würden den seinen in nichts nachstehen, ebenso wie ihr Streben nach Freiheit, ihre Selbstlosigkeit und ihre Opferbereitschaft seinen Gefühlen gleichkamen. Auf dieser Waage gemessen hatten auch sie das Herz und den Charakter eines Trolls.

Rexxar, der die Horde genauso liebte wie Vol’jin, verkörperte ebenfalls diese Tugenden, und der Dunkelspeer wünschte sich, sein Mok’nathal-Freund könnte jetzt hier sein. Nicht, um an seiner Seite zu sterben, sondern damit er ihnen helfen konnte, die Zandalari zu zerstören. Rexxar hätte sich freudig in diesen Kampf gestürzt, ganz gleich, wie freudlos das unausweichliche Resultat auch scheinen mochte.

Und viele andere aus der Horde hätten sich ihm angeschloss’n. Die meisten sogar, denke ich.

Die Horde, die Shado-Pan, ja selbst Tyrathan, kamen der wahren Essenz des Trollseins näher als die Zandalari. Denn die Zandalari und ihresgleichen waren wie Köter, die mit eingezogenen Schwänzen vor den Wölfen winselten. Weil sie einst selbst Wölfe gewesen waren und jetzt nicht mehr, glaubten sie, sie müssten zwangsläufig etwas Besseres sein. Ja, ihr Fell mochte nun heller schimmern, und sie konnten einige Aufgaben besser erfüllen, und vielleicht lebten sie sogar länger; aber sie hatten vergessen, dass nichts von alledem einem Wolf etwas bedeutete. Die Aufgabe eines Wolfes war es, ein Wolf zu sein. Die Hunde hatten diese Tatsache vergessen und an ihrer statt neue Wahrheiten geschmiedet, doch ganz gleich, wie überzeugend sie auch klangen, letzten Endes waren es nur Schatten der einen echten Wahrheit.

Vol’jin neigte den Kopf und blickte seinen Vater an. „Ein Troll zu sein, hat nichts mit dem Körperbau oder der Blutlinie zu tun.“

„Diese Dinge darf man nicht ganz außen vorlassen, mein Sohn, aber es ist in der Tat unser Geist, der uns zu Trollen macht. Er entscheidet, ob wir der Aufmerksamkeit der Loa würdig sind, und er ist älter als die Gestalt, die wir jetzt haben.“ Das Lächeln seines Vaters wurde breiter. „Und wie du gesehen hast, wendet der Schattenjäger sich von einem Pfad ab, wenn dieser uns von diesem Geist fortführt. Da es der Geist ist, der uns definiert, kann es Anlass zu großer Freude sein, wenn man ihn auch in anderen entdeckt.“

Vol’jin lachte. „Du hättest also nichts dageg’n, wenn ich sage, dass die Horde mehr von Trollen hat als die Zandalari?“

„Vielleicht ist dem so.“ Sein Vater schmunzelte. „Weißt du, wie wir uns nannten, bevor wir den Namen Trolle wählten?“

„Ich habe nie …“ Der Dunkelspeer runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht, Vater. Wie?“

„Nun, ich weiß es auch nicht, mein Sohn.“ Der Geisttroll wackelte mit dem Kopf. „Aber ich bin sicher, dass wir etwas anderes waren, bevor wir Trolle wurden, und eines Tages werden wir sicher einen neuen Namen wählen. Die Zandalari haben seit jeher versucht, zu bestimmen, was wir sind, und andere haben die Umstände ausgenutzt, um diese Vorstellungen zu bekräftigten. Aber ich habe keinen Zweifel daran, dass in zwanzig Millennien ein Sohn seinen Vater fragen wird: ‚Wie hießen wir eigentlich, bevor wir uns Horde nannten?‘“

„Ist es das, was du dir für die Trolle wünschst, Vater?“

Langsam schüttelte Sen’jin den Kopf. „Was ich mir für die Trolle gewünscht habe, war simpel: dass wir wieder ein Volk werden, das einem Schattenjäger folgt. Doch um das möglich zu machen, brauchen wir erst etwas Besonderes – nämlich einen Schattenjäger, der die Trolle auch führen kann. Viele Schattenjäger haben sich damit begnügt, sich von dem Pfad abzuwenden, der in den Untergang führt. Du hingegen, mein Sohn, kannst uns von diesem Untergang fortführen. Falls das bedeutet, dass du uns an einen Ort bringst, wo das Blut weniger zählt als der Inhalt des Herzens, dann soll es so sein. Dann werden wir so wieder erstarken.“

„Aber werden die Loa das akzeptier’n?“

Bwonsamdis kaltes Lachen vibrierte durch Vol’jins Brust, und er wirbelte herum, um sich dem Loa zu stellen. „Hast du deinem Vater denn nicht zugehört, Schattenjäger? Die Loa gab es schon vor den Trollen. Dein Vater wollte wissen, wie die Trolle sich nannten, bevor sie sich Trolle nannten. Ich könnte dich fragen, wie sie davor genannt wurden – oder davor. Ihr seid ein Fluss. Manche würden sagen, das bedeutet, ihr seid wie Wasser, und dass ihr irgendwann stagnieren werdet. Aber ihr seid mehr, so wie ein Fluss mehr ist als nur Wasser.“

„Und die Horde?“

Das Loa spreizte die Hände. „Fluss ist Fluss. Ob breit, ob schmal, ob seicht, ob tief, ob schnell; das ist unwichtig. Wir sind Geister, darum ist es euer Geist, der uns interessiert. Haltet euch an unser Abkommen, seid eurem Geist und euren Pflichten treu, und ihr sollt erblühen.“

„Bald wirst du jede Menge Zandalari-Seelen bekommen.“

Das Lachen des Loa hallte freudlos wider. „Meinen Hunger wirst du nie stillen können.“

„Ich selbst werde ihnen bald folgen.“

„Und ich werde dich willkommen heißen. So wie ich alle Trolle willkommen heiße.“

Vol’jin fand diese Bemerkung seltsam tröstlich; nicht, weil er das Verlangen verspürte, tot zu sein, sondern weil es bedeutete, dass er nicht von seinen Freunden getrennt sein würde. Im Angesicht des drohenden Todes war das zwar nicht viel, aber zumindest für den Moment war es genug.

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