Unterwegs nach Delta Pavonis
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»Ich nehme an«, sagte Volyova, »dass Sie zu den rational denkenden Menschen gehören, die stolz darauf sind, nicht an Gespenster zu glauben.«
Khouri runzelte leicht die Stirn. Volyova hatte von Anfang an gewusst, dass die Frau nicht dumm war, trotzdem fand sie es interessant zu beobachten, wie sie auf diese Frage reagierte.
»Gespenster, Triumvir? Das kann nicht Ihr Ernst sein.«
»Eines werden Sie sehr schnell lernen müssen«, sagte Volyova. »Ich sage nur sehr selten etwas, das ich nicht völlig ernst meine.« Dann wies sie auf die Tür, durch die sie gekommen waren. Es war eine schwere Tür und sie war ganz unauffällig in eine der rostroten Innenwände des Schiffes eingelassen. Hinter mehreren Rost- und Fleckschichten war die stilisierte Zeichnung einer Spinne zu erkennen. »Nur zu. Ich bin direkt hinter Ihnen.«
Khouri gehorchte; ohne zu zögern. Volyova war zufrieden. In den drei Wochen, seit sie die Frau geshanghait — oder angeheuert hatte, um es weniger drastisch auszudrücken —, hatte Volyova ein ganzes Bündel von komplexen Maßnahmen zur Loyalitätsveränderung eingeleitet. Nun war die Behandlung fast abgeschlossen und musste nur immer wieder mit zusätzlichen Eingriffen ergänzt werden. Bald war die Loyalität der Frau so weit gefestigt, dass sie über bloßen Gehorsam hinausging und zu einem inneren Zwang wurde, einem Gesetz des Handelns, dem sie sich ebenso wenig entziehen konnte wie ein Fisch aufhören konnte, im Wasser zu atmen. Im Extremfall würde Khouri sich nicht nur wünschen, dem Willen der Besatzung zu gehorchen, sondern sie würde ihr auch noch dankbar sein, weil sie ihr Gelegenheit dazu gab. Aber Volyova hoffte, dass sie nicht so weit zu gehen brauchte. Sie wollte aufhören, bevor die Programmierung diese Schichten erreichte. Nach ihren wenig erfolgreichen Experimenten mit Nagorny würde sie sich hüten, noch ein Meerschweinchen zu züchten, das keine Fragen stellte. Sie hätte nichts dagegen, wenn Khouri eine Spur von Auflehnung behielte.
Nun folgte sie ihr wie versprochen durch die Tür. Die Neue hatte wenige Meter hinter der Schwelle erkannt, dass sie nicht weiterkam, und war stehen geblieben.
Volyova schloss die große Irisblende hinter ihnen.
»Wo sind wir, Triumvir?«
»In einem meiner kleinen Schlupfwinkel«, sagte Volyova. Sie sprach in ihr Armband, ein Licht ging an, aber das Innere blieb dämmrig. Der Raum hatte die Form eines dicken Torpedos, zwei Mal so lang wie breit. Die Einrichtung war auffallend prächtig. Vier scharlachrote Polstersessel waren nebeneinander auf dem Fußboden festgeschraubt und dahinter war noch Platz für zwei weitere, von denen allerdings nur noch die Verankerungen zu sehen waren. Wo die gewölbten Wände mit den Messingrippen nicht mit Samt gepolstert waren, glänzten sie in tiefem Schwarz, als bestünden sie aus Obsidian oder Marmor. Volyova setzte sich auf den vordersten Sessel. An der Armlehne war eine schwarze Ebenholzkonsole befestigt. Sie klappte sie herunter und machte sich mit den Anzeigen und Schaltern vertraut. Alle waren aus Messing oder Kupfer gefertigt und mit kunstvoll beschrifteten Täfelchen versehen, die von verschnörkelten Intarsien aus verschiedenen Holzarten und aus Elfenbein umrahmt wurden. Volyova fand sich schnell zurecht, denn sie besuchte den Spinnenraum ziemlich regelmäßig, aber sie genoss es, einfach mit den Fingerspitzen über das Schaltpult zu streichen.
»Sie sollten auch Platz nehmen«, sagte sie. »Wir heben gleich ab.«
Khouri setzte sich neben Volyova. Die legte mehrere Elfenbeinschalter um und leitete Strom in die Schaltkreise des Spinnenraums. Verschiedene Anzeigen auf dem Schaltpult leuchteten rosig auf und die Zeiger begannen zu zittern. Khouris verwirrter Blick bereitete ihr ein geradezu sadistisches Vergnügen. Die Neue hatte ganz eindeutig keine Ahnung, wo im Schiff sie sich befand und was ihr bevorstand. Ein dumpfer Schlag war zu hören, und plötzlich schwankte der Raum wie ein Rettungsboot, das sich soeben vom Mutterschiff losgerissen hatte.
»Wir bewegen uns«, stellte Khouri fest. »Was ist das — ein Luxusfahrstuhl für das Triumvirat?«
»So dekadent sind wir nicht. Wir befinden uns in einem alten Schacht, der zur Außenhülle führt.«
»Sie brauchen einen eigenen Raum, nur um zur Hülle zu kommen?« Khouris Verachtung für gewisse Details des Ultra-Lebens brach wieder durch. Volyova freute sich diebisch. Nun war sie überzeugt, dass die Loyalitätstherapien die Persönlichkeit der Frau nur in neue Bahnen gelenkt, aber nicht zerstört hatten.
»Wir wollen nicht nur zur Hülle«, sagte Volyova. »Sonst gingen wir zu Fuß.«
Der Raum glitt jetzt ruhig dahin, aber nach wie vor waren Schläge zu hören, wenn die Fahrt durch Luftschleusen oder über Kettenantriebssysteme ging. Die Schachtwände blieben tief schwarz, aber Volyova wusste, dass sich das bald ändern würde. Bis dahin beobachtete sie Khouri und versuchte einzuschätzen, ob die Frau verängstigt oder lediglich neugierig war. Wenn sie logisch dachte, musste sie mittlerweile erkannt haben, dass Volyova schon zu viel Zeit investiert hatte, um sie ohne weiteres zu töten — andererseits hatte sie während ihres Militärdienstes auf Sky’s Edge sicher gelernt, nie etwas als selbstverständlich vorauszusetzen.
Äußerlich hatte sie sich seit der Anwerbung sehr verändert, aber das war nur in geringem Maße auf Volyovas Behandlungsmethoden zurückzuführen. Das Haar hatte sie schon immer kurz getragen, jetzt war sie ganz kahl. Nur aus der Nähe war ein leichter pfirsichfarbener Flaum zu erkennen. Wo Volyova den Schädel geöffnet hatte, um die Implantate einzuführen, die Boris Nagorny zuvor getragen hatte, zeigten sich feine lachsrosa Narben.
Doch die Schädeloperation war nicht die einzige gewesen. Khouri hatte von ihren Militäreinsätzen her gut verheilte Narben von Strahlenwaffen oder Projektileinschlägen, die fast unsichtbar waren, doch zusätzlich war ihr Körper mit Granatsplittern durchsiebt. Einige davon saßen tief — offenbar so tief, dass die Ärzte auf Sky’s Edge sie nicht hatten entfernen können, aber sie waren sicher kaum zu spüren, weil sie aus biologisch neutralen Legierungen bestanden hatten und nicht zu nahe an lebenswichtigen Organen lagen. Doch die Ärzte hatten auch mehrfach geschlampt. Unter Khouris Haut, ganz dicht an der Oberfläche, fand Volyova etliche Splitter, die man ohne Schwierigkeiten hätte herausoperieren können. Das holte sie nun nach und untersuchte dabei jedes einzelne Fragment, bevor sie es in ihrem Labor aufbewahrte. Mit einer Ausnahme waren die Scherben für ihre Systeme harmlos: sie bestanden aus nicht-metallischen Legierungen, die die empfindlichen Induktionsfelder der Interfaceanlagen im Feuerleitstand nicht stören konnten. Sie katalogisierte und archivierte sie trotzdem. Den einzigen Metallsplitter betrachtete sie stirnrunzelnd, verfluchte die Nachlässigkeit der Mediziner und legte ihn zu den anderen.
Es war ein blutiges Gemetzel, aber lange nicht so schlimm wie die Arbeit an den Nerven. Die üblichen Implantate wurden seit Jahrhunderten entweder in situ gezüchtet, oder sie waren so gebaut, dass sie sich durch schon vorhandene Körperöffnungen selbst einführten, ohne dem Patienten Schmerzen zu bereiten. Die Implantate für das Interface mit dem Feuerleitstand waren jedoch empfindliche Spezialanfertigungen, und das schloss beide Verfahren aus. Um sie einzusetzen oder zu entnehmen, brauchte man Knochensäge und Skalpell, und hinterher schwamm alles im Blut. Die Routine-Implantate, die Khouri bereits im Kopf hatte, machten die Operation noch schwieriger, aber Volyova hatte nach einer flüchtigen Untersuchung keinen Anlass gesehen, sie zu entfernen. Andernfalls hätte sie früher oder später ganz ähnliche Instrumente reimplantieren müssen, damit Khouri außerhalb des Feuerleitstands normal funktionieren konnte. Die Implantate waren gut eingewachsen, und schon nach einem Tag hatte Volyova die — noch bewusstlose — Khouri in den Kampfsitz gesetzt und sich vergewissert, dass sich das Schiff mit ihren Implantaten verständigen konnte und umgekehrt. Weitere Tests mussten bis zum Abschluss der Loyalitätsbehandlungen warten. Das meiste ließ sich erledigen, bevor die übrige Besatzung aus dem Kälteschlaf geweckt wurde.
Vorsicht: das war Volyovas Parole. Der ganze Ärger mit Nagorny war nur durch mangelnde Vorsicht entstanden.
Diesen Fehler würde sie nicht wiederholen.
»Wie komme ich nur darauf, dass es sich hier um einen Test handeln könnte?«, fragte Khouri.
»Es ist kein Test. Es ist nur…« Volyova winkte ab. »Machen Sie mir doch einfach die Freude, ja? Ich verlange nicht viel.«
»Was soll ich denn tun — soll ich behaupten, Gespenster zu sehen?«
»Sie sollen sie nicht sehen, Khouri, nein. Sie sollen sie hören.«
Jetzt strahlte hinter den schwarzen Wänden des beweglichen Raumes ein Licht auf. Die Wände waren natürlich nur aus Glas und dahinter war bis zu diesem Moment nur das unbeleuchtete Metall des Schachts gewesen. Nun näherte sich dieser Schacht dem Ende, und dort wurde es heller. Der Rest der kurzen Fahrt verlief schweigend. Der Raum strebte dem Licht entgegen, bis der frostig blaue Schein von allen Seiten hereinflutete. Dann schob er sich durch die Hülle nach draußen.
Khouri erhob sich und ging mit Herzklopfen auf das Glas zu. Das Glas war natürlich Hyperdiamant, daher war nicht zu befürchten, dass es zerbrach oder dass Khouri stolperte und hindurchfiel. Aber es wirkte lächerlich dünn und spröde und das Vertrauen des Menschen in seine Umwelt hatte nun einmal Grenzen. Mit einem Blick zur Seite hätte sie die gegliederten Spinnenbeine sehen können, acht an der Zahl, die den Raum an der Außenseite des Schiffsrumpfes festhielten. Und sie hätte auch verstanden, warum Volyova diesen Raum Spinnenraum nannte.
»Ich weiß nicht, wer oder was ihn gebaut hat«, sagte Volyova. »Vermutlich hat man ihn beim Bau des Schiffes mit vorgesehen oder bei den Umbauten vor einem Besitzerwechsel mit eingeplant — immer vorausgesetzt, jemand konnte sich ein solches Schiff leisten. Ich denke, er sollte als raffiniertes Lockmittel für potenzielle Käufer dienen — deshalb auch die luxuriöse Einrichtung.«
»Demnach hätte man ihn als Verkaufsargument benützt?«
»Das klingt zumindest einleuchtend — falls es überhaupt einen Grund gibt, aus einem solchen Schiff aussteigen zu wollen. Wenn es unter Schub steht, muss jede Beobachtungskapsel, die man hinausschickt, genauso stark angetrieben werden, sonst bleibt sie zurück. Das wäre nicht weiter schlimm, so lange es sich nur um eine Kamera handelt; aber wenn Menschen an Bord sind, wird die Sache schon schwieriger; dann muss jemand das verdammte Ding tatsächlich fliegen oder zumindest wissen, wie man den Autopiloten so programmiert, dass er tut, was man will. Der Spinnenraum umgeht dieses Problem, indem er sich buchstäblich an das Schiff heftet. Dabei ist er kinderleicht zu bedienen; er kriecht sozusagen auf allen achten herum.«
»Was passiert, wenn…«
»Er den Halt verliert? Das ist noch nie vorgekommen — aber wenn, dann hat er eine Reihe von Greifern, die er einsetzen kann, magnetische und solche, die sich in den Rumpf bohren. Sollten auch die versagen — was nun wirklich sehr unwahrscheinlich ist —, dann kann der Raum auch aus eigener Kraft fliegen, jedenfalls lange genug, um das Schiff einzuholen. Und sollte auch der Antrieb ausfallen…« Volyova hielt inne. »Nun, in diesem Fall müsste ich wohl ein Wörtchen mit der Gottheit meiner Wahl reden.«
Volyova hatte sich mit dem Spinnenraum nie weiter als ein paar hundert Meter von der Austrittsöffnung entfernt, obwohl er imstande gewesen wäre, ums ganze Schiff herumzukriechen. Das war jedoch nicht unbedingt zu empfehlen, denn bei relativistischer Geschwindigkeit raste das Schiff durch einen Strahlungssturm, der normalerweise von der Rumpfisolierung abgeschirmt wurde. Die dünnen Wände des Spinnenraums hielten nur einen Bruchteil dieser Strahlung ab, und das verlieh solchen Ausflügen ins All den Reiz eines zweifelhaften Abenteuers.
Der Spinnenraum war Volyovas kleines Geheimnis; in den großen Schiffsplänen war er nicht eingetragen, und soweit ihr bekannt war, wusste sonst niemand von der Besatzung von seiner Existenz. Dabei hätte sie es nur zu gern belassen, aber die Verhältnisse waren nicht ideal, und die Probleme mit dem Leitstand hatten sie gezwungen, die Geheimhaltung da und dort ein wenig zu lockern. Obwohl das Schiff ziemlich heruntergekommen war, verfügte Sajaki über ein ausgedehntes Netz von Überwachungseinrichtungen, und der Spinnenraum war einer der wenigen Orte, an denen Volyova sich völlig sicher fühlen konnte, wenn sie mit den ihr unterstellten Besatzungsmitgliedern vertrauliche Dinge zu besprechen hatte, von denen die anderen Triumvirn nichts zu wissen brauchten. Nagorny hatte sie notgedrungen eingeweiht, um das Sonnendieb-Problem offen mit ihm erörtern zu können, doch als sich sein Zustand verschlimmerte, hatte sie die Entscheidung tief bereut und monatelang in ständiger Angst gelebt, er könnte den Raum an Sajaki verraten. Dabei hatte sie sich ganz umsonst gesorgt. Am Ende war Nagorny viel zu sehr mit seinen Albträumen beschäftigt gewesen, um seine Vorgesetzten gegeneinander auszuspielen. Nun hatte er das Geheimnis mit ins Grab genommen, und Volyova hatte seither in dem Bewusstsein, dass niemand ihren Zufluchtsort verraten konnte, wieder ruhig schlafen können. Khouri hierher mitzunehmen mochte ein Fehler sein, den sie später ebenfalls bereuen würde — eigentlich hatte sie sich geschworen, das Geheimnis des Raumes nicht noch einmal zu lüften —, aber wie so oft hatte eine neue Entwicklung sie genötigt, ihren Entschluss zu revidieren. Sie hatte etwas mit Khouri zu besprechen; die Gespenster waren nur ein Vorwand, um ihre Untergebene abzulenken und zu verhindern, dass sie sich allzu eingehend mit Volyovas tieferen Beweggründen beschäftigte. »Noch sehe ich keine Gespenster«, sagte die Neue.
»Sie werden sie in Kürze sehen oder vielmehr hören können«, versprach Volyova.
Khouri fand das Verhalten des Triumvirs ziemlich merkwürdig. Volyova hatte mehr als einmal angedeutet, dieser Raum sei ihr ganz persönlicher Zufluchtsort und die anderen — Sajaki, Hegazi und die beiden Frauen — wüssten nicht einmal, dass er existierte. Da war es doch befremdlich, dass Volyova in einem so frühen Stadium ihrer beruflichen Beziehung bereit sein sollte, Khouri in ihr Geheimnis einzuweihen. Volyova war ein zwanghafter Einzelgänger, selbst wenn man berücksichtigte, dass sie mit militaristischen Chimären auf einem Schiff zusammenlebte — und Khouri hätte so viel Vertrauensseligkeit gerade von ihr nicht erwartet. Volyova war ihr gegenüber die Liebenswürdigkeit selbst, aber ihre Bemühungen wirkten nicht echt… eher allzu berechnet und ohne jede Spontaneität. Wenn Volyova einen Annäherungsversuch unternahm — mit ein paar belanglosen Worten, ein wenig Klatsch, einem Witz —, wirkte es unweigerlich so, als hätte sie stundenlang geübt, um möglichst locker zu klingen. Khouri hatte beim Militär ähnliche Typen kennen gelernt; anfangs hielt man sie für echt, aber meistens stellten sie sich als ausländische Agenten oder als Spitzel heraus, die im Auftrag des Oberkommandos Informationen sammeln sollten. So sehr sich Volyova auch bemühte, die Spinnenraumgeschichte herunterzuspielen, Khouri sah ganz deutlich, dass hinter der Sache mit den Gespenstern mehr steckte. Das löste eine Reihe von beunruhigenden Überlegungen aus, an erster Stelle den Verdacht, Volyova habe nicht die Absicht, sie lebend wieder aus diesem Raum zu lassen.
Aber dieser Verdacht bestätigte sich nicht.
»Ach ja, was ich Sie schon seit längerem fragen wollte«, warf Volyova lässig hin. »Können sie mit dem Namen Sonnendieb schon etwas anfangen?«
»Nein«, antwortete Khouri. »Sollte ich denn?«
»O nein, warum auch — es war nur eine Frage. Die Hintergründe zu erklären wäre viel zu mühsam — aber Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen.«
Sie war etwa so überzeugend wie eine Wahrsagerin aus dem Mulch.
»Nein«, sagte Khouri. »Ich mache mir auch keine Sorgen…« Und dann fügte sie hinzu: »Warum sagten Sie eigentlich ›schon‹?«
Volyova verfluchte sich innerlich: hatte sie sich verraten? Vielleicht noch nicht; sie hatte die Frage so unbeschwert gestellt wie nur möglich, und Khouris Reaktion gab keinen Anlass zu der Vermutung, dass sie ihr besondere Bedeutung beimaß. Dennoch… gerade jetzt durfte sie sich keinen Fehler erlauben.
»Hatte ich das gesagt?«, fragte sie, hoffentlich mit der richtigen Mischung aus Überraschung und Gleichgültigkeit in der Stimme. »Ein Versprecher, nichts sonst.« Sie wechselte rasch das Thema. »Sehen sie diesen Stern, der so matt rot leuchtet?«
Inzwischen hatten sich die Augen an die Lichtverhältnisse des innerstellaren Raums gewöhnt und selbst der blaue Schein aus den Triebwerken überstrahlte nicht mehr alles andere. Man konnte einige Sterne erkennen.
»Ist das die Sonne von Yellowstone?«
»Epsilon Eridani, richtig. Wir sind drei Wochen vom System entfernt. Bald wird sie nicht mehr so leicht zu finden sein. Wir fliegen nicht mehr relativistisch — mit nur ein paar Prozent Lichtgeschwindigkeit — sondern beschleunigen ständig. Bald werden sich die sichtbaren Sterne verschieben und die Sternbilder verzerren, bis sich alle Himmelskörper vor und hinter uns zusammenballen. Wir werden gleichsam in der Mitte eines Tunnels verharren, in den von beiden Seiten Licht einströmt. Die Sterne werden auch ihre Farbe ändern. Das ist nicht so einfach zu erklären, da die endgültige Farbe vom Spektraltyp des jeweiligen Sterns abhängt; das heißt davon, wie viel Energie er in verschiedenen Frequenzbereichen einschließlich Infrarot und Ultraviolett abstrahlt. Aber die Sterne vor uns werden sich eher nach Blau verschieben und die hinter uns nach Rot.«
»Das sieht sicher sehr hübsch aus«, sagte Khouri und verdarb damit die feierliche Stimmung. »Aber ich verstehe noch immer nicht, wo die Gespenster ins Spiel kommen.«
Volyova lächelte. »Die hätte ich fast vergessen. Und das wäre schade gewesen.«
Dann sprach sie so leise in ihr Armband, dass Khouri nicht hören konnte, was sie dem Schiff befahl.
Die Stimmen toter Seelen erfüllten den Raum.
»Die Gespenster«, sagte Volyova.
Sylveste schwebte körperlos über der vergrabenen Stadt.
Ringsum ragten, über und über behauen mit dem Äquivalent von zehntausend gedruckten Büchern in Amarantin-Schrift, die Wände auf wie ein Käfig. Obwohl die Schriftzeichen nur wenige Millimeter hoch waren und er Hunderte von Metern von der Wand entfernt war, brauchte er sich nur auf einen Bereich zu konzentrieren, und schon wurden die Worte gestochen scharf. Übersetzungs-Algorithmen verarbeiteten den Text zu einer dem Canasischen ähnlichen Sprache und Sylvestes Gehirn tat mit halb intuitiven Denkprozessen das Gleiche. In der Mehrzahl der Fälle kamen beide Übersetzer zu übereinstimmenden Lösungen, doch gelegentlich entging den Programmen eine vielleicht wichtige Feinheit, die nur aus dem Kontext zu erschließen war.
Währenddessen saß er in Cuvier in seinem Gefängnis und kritzelte Seite um Seite eines Schreibblocks mit Notizen voll. Zurzeit zog er Papier und Stift allen modernen Aufzeichnungsgeräten vor, wann immer das möglich war. Digitale Medien konnten zu leicht von seinen Feinden nachträglich manipuliert werden. Wenn seine Notizen eingestampft würden, wären sie wenigstens für immer verloren und könnten nicht in ideologisch verzerrter Form wiederkehren, um ihn zu verfolgen.
Er übersetzte ein bestimmtes Teilstück des Textes zu Ende, und als er zu den gefalteten Flügeln gelangte, einer Glyphe, die das Ende eines Abschnitts anzeigte, zog er sich von dem Schwindel erregenden Abgrund aus Mauern und Texten zurück.
Er schob ein Löschblatt in den Block und klappte ihn zu. Dann tastete er nach einem Regal, schob den Block hinein und zog einen anderen heraus. Auch hier war ein Löschblatt eingelegt. Er öffnete ihn auf der entsprechenden Seite und fuhr mit den Fingern bis dahin, wo er keine Tinte mehr spürte. Dann legte er den Block genau parallel zur Schreibtischkante und setzte den Stift am Beginn der ersten neuen Zeile an.
»Du arbeitest zu viel«, sagte Pascale.
Er hatte sie nicht eintreten hören; nun musste er sich erst vergegenwärtigen, dass sie an seiner Seite stand — oder vielleicht auch saß.
»Ich glaube, ich komme allmählich voran«, sagte Sylveste.
»Rennst du immer noch mit dem Kopf gegen diese alten Inschriften an?«
»Einer von uns zeigt die ersten Sprünge.« Er verschob seinen körperlosen Blickwinkel, so dass er nicht mehr die Wand sah, sondern das Zentrum der ummauerten Stadt. »Dennoch hätte ich nicht gedacht, dass es so lange dauern würde.«
»Ich auch nicht.«
Er wusste, was sie meinte. Achtzehn Monate waren vergangen, seit ihm Nils Girardieu die vergrabene Stadt gezeigt hatte; ein Jahr, seit sie beschlossen hatten zu heiraten, die Hochzeit aber aufzuschieben, bis er mit seiner Übersetzungsarbeit größere Fortschritte gemacht hätte. Jetzt war es so weit — und prompt bekam er es mit der Angst zu tun. Sie wusste so gut wie er, dass er jetzt keine Ausrede mehr hatte.
Warum war es überhaupt so ein Problem? Vielleicht nur deshalb, weil er es dazu erklärte?
»Du runzelst schon wieder die Stirn«, sagte Pascale. »Hast du Schwierigkeiten mit den Inschriften?«
»Nein«, sagte Sylveste. »Das ist vorbei.« Und so war es; es war ihm zur zweiten Natur geworden, die bimodalen Ströme der Amarantin-Schrift zu einem sinnvollen Ganzen zu verschmelzen. Er arbeitete wie ein Kartograph beim Studium einer stereografischen Projektion.
»Lass mich sehen.«
Er hörte, wie sie durch den Raum ging und sein Schreibpult anwies, einen Parallelkanal für ihr Sensorium zu öffnen. Die Konsole — Sylvestes einziger Zugang zum digitalen Modell der Stadt — war nicht lange nach jenem ersten Besuch eingerichtet worden. Die Idee kam ausnahmsweise nicht von Girardieu, sondern von Pascale. Der Erfolg der vor kurzem veröffentlichten Biografie Abstieg in die Finsternis und die bevorstehende Hochzeit gaben ihr ein Druckmittel gegen ihren Vater, und Sylveste hatte sich natürlich nicht gewehrt, als sie ihm — im wahrsten Sinne des Wortes — die Schlüssel zur Stadt überreichte.
In der Kolonie war die Hochzeit inzwischen Tagesgespräch. Was Sylveste an Klatsch darüber zu hören bekam, unterstellte ihm zumeist rein politische Motive; er habe Pascale umworben, um durch die Heirat dem Zentrum der Macht wieder näher zu kommen; die Hochzeit sei — zynisch betrachtet — nur Mittel zum Zweck, und der Zweck sei eine Expedition der Kolonie zum Cerberus/Hades-System. Vielleicht war ihm dieser Verdacht ganz kurz auch selbst gekommen; vielleicht hatte er sich gefragt, ob ihn nicht sein Unterbewusstsein um dieses Zieles willen dazu gebracht hatte, sich in Pascale zu verlieben. Vielleicht enthielt der Gedanke tatsächlich ein Körnchen Wahrheit. Doch das konnte er in seiner derzeitigen Situation zum Glück nicht feststellen. Auf jeden Fall hatte er das Gefühl, sie zu lieben — was für ihn das Gleiche war, wie sie wirklich zu lieben —, aber er war auch nicht blind für die Vorteile einer Ehe mit ihr. Er hatte auch wieder angefangen zu veröffentlichen; bescheidene Artikel nur, aufbauend auf Übersetzungen kleiner Teile der Amarantin-Texte. Pascale zeichnete als Mitautorin. Girardieu persönlich wurde als Mitarbeiter erwähnt. Vor fünfzehn Jahren wäre Sylveste darüber entsetzt gewesen; jetzt war er nicht einmal mehr über sich selbst empört. Für ihn zählte nur, dass die Stadt dem Verständnis des Ereignisses einen Schritt näher gekommen war.
»Hier bin ich«, sagte Pascale. Ihre Stimme klang lauter, aber sie war wie Sylveste nur eine körperlose Präsenz. »Haben wir den gleichen Blickwinkel?«
»Was siehst du?«
»Den Turm; den Tempel — wie du es nennen willst.«
»Gut so.«
Der Tempel befand sich im geometrischen Zentrum der Stadt, die im Maßstab 1:4 verkleinert war, und sah aus wie das obere Drittel eines Eies. Die Spitze verjüngte sich zu einem spitzen Türmchen, das — immer schmaler werdend — bis zum Dach der Stadthöhle reichte. Die Gebäude ringsum wirkten zusammengeschweißt wie Webervögelnester — vielleicht ein unterschwelliger Durchbruch entwicklungsgeschichtlich bedingter Zwänge — und kauerten wie misstönende Gebete vor dem riesigen Turm, der den Tempel überragte.
»Stört dich irgendetwas daran?«
Er beneidete Pascale. Sie hatte die Stadt Dutzende von Malen in Wirklichkeit besucht. Sie hatte sogar zu Fuß den Turm bestiegen, durch einen schlundartigen Wendelgang, der sich bis zur Spitze empor schraubte.
»Die Figur auf der Spitze? Sie passt nicht hierher.«
Im Verhältnis zur übrigen Stadt wirkte die Figurine klein und zierlich, aber sie war immerhin zehn bis fünfzehn Meter hoch und damit den ägyptischen Statuen im Tal der Könige zu vergleichen. Die unterirdische Stadt war, das ließ sich aus den Erfahrungen mit anderen Ausgrabungen ableiten, maßstabsgetreu auf etwa ein Viertel der üblichen Dimensionen verkleinert worden. In voller Größe wäre die Figur auf der Turmspitze also mindestens vierzig Meter hoch gewesen. Aber diese Stadt hatte niemals an der Oberfläche gestanden. Selbst wenn sie mit viel Glück die Feuerstürme des Ereignisses überdauert hätte, wäre sie in den folgenden neunhundertneunzigtausend Jahren durch Verwitterung, Vereisung, Meteoriteneinschläge und tektonische Verschiebungen mit Sicherheit zerstört worden.
»Passt nicht hierher?«
»Sie stellt keinen Amarantin dar — jedenfalls keinen Amarantin, wie ich sie kenne.«
»Also irgendeine Gottheit?«
»Mag sein. Aber dann verstehe ich nicht, warum man ihr Flügel gegeben hat.«
»Aha. Das hältst du also für problematisch?«
»Sieh dir die Stadtmauer an, wenn du mir nicht glaubst.«
»Am besten führst du mich hin, Dan.«
Die beiden körperlosen Präsenzen wandten sich vom Turm ab und stürzten sich in Schwindel erregende Tiefen.
Volyova beobachtete, wie die Stimmen auf Khouri wirkten. Irgendwo musste die Selbstsicherheit dieser Frau doch einen Riss haben, der Angst und Zweifel durchließ — vielleicht dachte sie, Volyova habe einen Weg gefunden, Phantom-Emanationen einzufangen, und glaubte tatsächlich, Gespenster zu hören.
Die Geisterstimmen klangen dumpf und klagend; langgezogene Laute, so leise, dass sie eher zu spüren als zu hören waren. Sie heulten wie der Wind in der unheimlichsten Winternacht, die man sich vorstellen konnte, wie ein Wind, der tausend Meilen weit durch Höhlen geweht war. Aber dies war eindeutig keine Naturerscheinung, es war nicht das Geräusch des Teilchenwindes, der das Schiff umströmte; es waren auch nicht die Schwankungen im empfindlichen Gleichgewicht der Triebwerksreaktionen. Aus diesem Geistergeheul klagten Seelen, riefen Stimmen durch die Nacht. Obwohl man kein einziges Wort verstehen konnte, waren die Strukturen einer menschlichen Sprache unverkennbar.
»Was halten Sie davon?«, fragte Volyova.
»Es sind Stimmen, nicht wahr? Menschliche Stimmen. Aber sie klingen so… erschöpft; so traurig.« Khouri lauschte angestrengt. »Hin und wieder glaube ich, ein Wort herauszuhören.«
»Sie wissen natürlich, was es ist.« Volyova dämpfte den Ton, bis der Gespensterchor nur noch leise und unendlich schmerzvoll im Hintergrund zu hören war. »Raumschiffbesatzungen. Menschen wie Sie und ich, die ebenfalls in Schiffen durch das All fliegen und über das Nichts hinweg miteinander sprechen.«
»Aber warum…« Khouri zögerte. »Oh, warten Sie. Jetzt verstehe ich. Sie fliegen schneller als wir, nicht wahr? Viel schneller. Ihre Stimmen klingen langsamer, weil sie auch tatsächlich langsamer sind. Auf Schiffen, die knapp unter Lichtgeschwindigkeit fliegen, gehen die Uhren langsamer.«
Volyova nickte. Sie war ein klein wenig enttäuscht, dass Khouri so schnell begriffen hatte. »Zeitdilatation. Einige von den Schiffen bewegen sich natürlich auf uns zu, daher wird die Wirkung dank der Blauverschiebung durch den Dopplereffekt etwas reduziert, aber normalerweise ist der Dilatationsfaktor stärker…« Sie brach mit einem Achselzucken ab, als sie sah, dass Khouri ihrem Vortrag über die Feinheiten der relativistischen Kommunikation noch nicht folgen konnte. »Normalerweise gleicht die Unendlichkeit das alles natürlich automatisch aus; sie beseitigt die Verzerrungen durch Dopplerverschiebung und Dilatation und übersetzt das Ergebnis in verständliche Sprache.«
»Kann ich das einmal hören?«
»Nein«, sagte Volyova. »Es lohnt sich nicht. Am Ende kommt immer das Gleiche heraus. Belanglosigkeiten, technische Fachsimpeleien, die bekannten Werbesprüche der Händler. Und das ist noch das interessantere Ende des Spektrums. Am anderen stehen paranoider Klatsch oder irgendwelche armen Teufel mit einem Hirnschaden, die ihr Leid in die Nacht hinaus schreien. Meistens begrüßen sich nur zwei Schiffe, wenn sie aneinander vorbeifliegen, und tauschen nichtssagende Freundlichkeiten aus. Bei der Kommunikation zwischen Lichtschiffen geht die Zeitverzögerung meist in die Monate, deshalb sind sinnvolle Gespräche so gut wie unmöglich. Obendrein besteht der Chor etwa zur Hälfte aus Aufzeichnungen, weil die Besatzungen normalerweise im Kälteschlaf liegen.«
»Mit anderen Worten, wir hören nur ganz gewöhnliches Geschwätz.«
»Ja. Es verfolgt uns, wohin wir auch gehen.«
Volyova ließ sich in ihren Sitz zurücksinken und befahl der Verstärkeranlage, die klagenden, zeitgedehnten Stimmen noch lauter zu stellen. An sich hätte man erwarten können, dass diese Signale menschlicher Gegenwart die Sterne weniger kalt und fern erscheinen ließen, aber seltsamerweise bewirkten sie genau das Gegenteil, ähnlich wie Gespenstergeschichten, die man sich am Lagerfeuer erzählte, die Nacht außerhalb des Flammenscheins noch dunkler machten. Für einen Moment — einen Moment, den Volyova wie immer genoss, ohne sich um Khouris Gefühle zu kümmern — konnte man sich vorstellen, in den interstellaren Weiten hinter den Glaswänden hausten tatsächlich Gespenster.
»Merkst du etwas?«, fragte Sylveste.
Die Stadtmauer bestand aus gezackten Granitblöcken und wurde an fünf Stellen von Pförtnerhäusern unterbrochen, über denen Skulpturen von Amarantin-Köpfen angebracht waren. Der Stil war nicht ganz realistisch und erinnerte an die Kunst von Yucatan. Außen lief ein Bilderfries aus Keramikkacheln um die Mauer, auf dem Amarantin-Funktionäre bei der Ausübung vielfältiger protokollarischer Verpflichtungen dargestellt waren.
Pascale zögerte mit der Antwort. Sie betrachtete die verschiedenen Figuren auf dem Fries.
Einige hielten landwirtschaftliche Geräte in den Händen, die fast aus der Geschichte der Menschheit hätten stammen können, andere hatten Waffen — Spieße, Bogen und eine Art Muskete, aber sie benahmen sich nicht wie Soldaten im Kampf, sondern wirkten so steif und förmlich wie ägyptische Statuen. Es gab auch Chirurgen, Steinhauer und Astronomen — die Amarantin hatten Spiegel- und Refraktorteleskope erfunden —, Kartographen, Glasbläser, Drachenbauer und Künstler. Über jedem Repräsentanten gab eine bimodale Kette von goldenen und kobaltblauen Schriftzeichen den Namen des Schwarms an, der den jeweiligen Beruf ausübte.
»Keine einzige Gestalt hat Flügel«, bemerkte Pascale.
»Nein«, bestätigte Sylveste. »Aus den Flügeln sind irgendwann Arme geworden.«
»Aber was stört dich an einer Götterstatue mit Flügeln? Die Menschen hatten niemals Flügel, aber das hat sie nicht gehindert, ihre Engel damit auszustatten. Müsste das einer Gattung, die tatsächlich einmal Flügel hatte, nicht noch näher liegen?«
»Du vergisst dabei nur den Schöpfungsmythos.«
Erst in den letzten Jahren war es den Archäologen gelungen, den Ur-Mythos aus Dutzenden von späteren, ausgeschmückten Versionen herauszulösen. Nach diesem Mythos hatten sich die Amarantin den Himmel einst mit anderen vogelartigen Geschöpfen geteilt, die noch auf Resurgam existierten, als sie die Herrschaft übernahmen. Aber die Schwärme aus jener Frühzeit waren die letzten gewesen, die frei fliegen konnten. Eines Tages schlossen sie ein Abkommen mit einem Gott namens ›Vogelmacher‹ und tauschten die Fähigkeit zu fliegen gegen die Gabe der Empfindungsfähigkeit ein. Noch am gleichen Tag erhoben sie ihre Schwingen und ein alles verzehrendes Feuer fiel vom Himmel und verbrannte sie zu Asche. Damit war ihnen das Reich der Lüfte für immer verschlossen.
Zur Erinnerung an das Abkommen gab ihnen der Vogelmacher nutzlose, mit Krallen bewehrte Flügelstummel — sie ließen sie nie vergessen, was sie aufgegeben hatten, befähigten sie aber, ihre Geschichte aufzuschreiben. Auch in ihrem Geist brannte von nun an ein Feuer, aber das war die immer währende Flamme des Seins. Sie würde niemals erlöschen, erklärte ihnen der Vogelmacher — so lange sie nicht seinem Willen trotzten und versuchten, sich abermals zum Himmel aufzuschwingen. Sollten sie das aber tun, dann, so drohte er, würde er ihnen die Seelen wieder wegnehmen, die sie am Tag der Brennenden Schwingen erhalten hatten.
Sylveste deutete den Mythos als den begreiflichen Wunsch einer Kultur, sich selbst einen Spiegel vorzuhalten. Bedeutsam daran war, wie vollständig dieser Glaube die ganze Kultur erobert hatte — im Grunde hatte er alle anderen Religionen verdrängt und sich in verschiedenen Varianten über unglaublich viele Jahrhunderte erhalten. Die Sage musste das Denken und das Verhalten der Amarantin auf unzähligen Ebenen geprägt haben.
»Ich verstehe«, sagte Pascale. »Als Gattung war es ihnen unerträglich, nicht fliegen zu können, deshalb ersannen sie die Vogelmacher-Geschichte, um sich den Vögeln, die noch fliegen konnten, überlegen zu fühlen.«
»Richtig. Und solange der Glaube daran lebendig war, hatte er einen unerwarteten Nebeneffekt: er hielt sie davon ab, sich jemals wieder in die Lüfte zu erheben. Die Ähnlichkeit mit der Ikarus-Sage ist nicht zu übersehen, nur war der Einfluss auf die kollektive Psyche hier viel stärker.«
»Aber wenn das stimmt, dann ist die Figur auf dem Turm…«
»Ein doppelter Stinkefinger an den Gott, an den sie bis dahin glaubten.«
»Aber was mag sie dazu bewogen haben?«, fragte Pascale. »Religionen verschwinden sang- und klanglos und werden durch andere ersetzt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand eine Stadt wie diese mit allem, was dazu gehört, nur baut, um seinen alten Gott zu beleidigen.«
»Ich auch nicht. Und das bringt mich auf eine ganz andere Idee.«
»Und die lautet?«
»Ein neuer Gott hat Einzug gehalten. Ein Gott mit Flügeln.«
Volyova hielt den Zeitpunkt für gekommen, Khouri mit ihrem Arbeitsgerät vertraut zu machen. »Festhalten«, sagte sie, als sich der Fahrstuhl dem Geschützpark näherte. »Beim ersten Mal wird den meisten Leuten ziemlich unheimlich zumute.«
»Mein Gott«, sagte Khouri und drückte sich instinktiv gegen die Rückwand, als sich der Blick plötzlich weitete. Wie ein kleiner Käfer kroch der Fahrstuhl an einer Wand des riesigen Raums hinunter. »Wie kann eine solche Halle ins Innere des Schiffs passen?«
»Oh, das ist noch gar nichts. Es gibt vier weitere Säle dieser Größe. Saal zwei wird als Trainingsraum für Planeteneinsätze genutzt. Zwei stehen leer oder sind nur unzureichend belüftet; im vierten sind Shuttles und Flugzeuge für den interplanetaren Verkehr untergebracht. Diese Halle ist das einzige Depot für Weltraumgeschütze.«
»Sie meinen diese Dinger?«
»Ja.«
In der Halle standen vierzig Geschütze, doch keins davon sah aus wie das andere. Nur in der Gesamtkonstruktion zeigte sich eine gewisse Verwandtschaft. Jedes Geschütz war von einem grünlich-bronzefarbenen Metallgehäuse umgeben und so groß wie ein mittleres Raumschiff, ließ aber nicht erkennen, dass es als solches diente. Die Rümpfe hatten weder Fenster noch Luken, es gab weder Hoheitszeichen noch irgendwelche Kommunikationssysteme. Manche waren mit Verniertriebwerken ausgerüstet, aber die dienten ähnlich wie ein Schlachtschiff nur dazu, die Kanonen in Position zu bringen und auszurichten.
Denn im Grunde waren die Weltraumgeschütze nichts anderes als große Kanonen.
»Höllenklasse«, sagte Volyova. »So wurden sie von ihren Erbauern genannt. Natürlich liegt das ein paar Jahrhunderte zurück.«
Volyova sah, wie ihr neuer Waffenoffizier das nächste Geschütz, einen Koloss von gigantischen Ausmaßen, anerkennend betrachtete. Es hing senkrecht, die Längsachse parallel zur Schubachse des Schiffes ausgerichtet, vor ihnen wie ein Paradeschwert von der Zimmerdecke eines Kriegsbarons. Einer von Volyovas Vorgängern hatte alle Waffen in diesem Raum mit Gerüsten umgeben lassen, an denen verschiedene Kontroll—, Überwachungs- und Steuerungssysteme angebracht waren. Die Systeme standen auf Schienen — ein dreidimensionales Netz aus Geleisen und Weichen durchzog die Halle —, die weiter unten zusammenliefen und in einen sehr viel kleineren Raum eine Etage tiefer führten, der nur für ein Geschütz Platz bot. Von dort konnte die Weltraumwaffe durch die Hülle nach draußen ins All gebracht werden.
»Wer waren denn diese Erbauer?«, fragte Khouri.
»Das wissen wir nicht genau. Vielleicht eine der furchterregenderen Synthetikergruppen. Wir wissen nur, wo die Waffen gefunden wurden. Sie waren in einem Asteroiden um einen braunen Zwerg versteckt, der nicht einmal einen Namen hat, sondern nur eine Nummer.«
»Sie waren dabei?«
»Nein; das war lange vor meiner Zeit. Ich habe die Geschütze vom letzten Waffenmeister übernommen — und der hatte sie von seinem Vorgänger. Seither beschäftige ich mich damit. Bei einunddreißig von den vierzig ist es mir gelungen, auf die Kontrollsysteme zuzugreifen, und ich habe etwa achtzig Prozent der erforderlichen Aktivierungscodes herausgefunden. Aber getestet habe ich bisher nur siebzehn Systeme, und davon nur zwei in einer Gefechtssituation, wenn man so will.«
»Das heißt, Sie haben sie tatsächlich eingesetzt?«
»Es war nicht so, dass ich mich danach gedrängt hätte.«
Wozu sollte sie Khouri mit einer eingehenden Schilderung vergangener Gräuel belasten, dachte sie — das hatte keine Eile. Mit der Zeit würde Khouri mit den Geschützen ebenso vertraut sein wie Volyova — vielleicht sogar noch besser, denn Khouri konnte vom Leitstand aus über ihr Neural-Interface direkt mit ihnen in Kontakt treten.
»Wozu sind sie fähig?«
»Einige können mühelos ganze Planeten in Stücke reißen. Bei anderen… wage ich keine Vermutungen anzustellen. Aber es würde mich nicht überraschen, wenn sie einen Stern ziemlich übel zurichten könnten. Wer allerdings ein Interesse daran haben sollte, solche Waffen einzusetzen…« Sie verstummte.
»Gegen wen haben Sie sie denn eingesetzt?«
»Gegen Feinde natürlich.«
Khouri sah sie sekundenlang schweigend an.
»Ich weiß nicht, ob ich entsetzt sein soll, dass solche Waffen existieren… oder erleichtert, dass zumindest wir den Finger am Abzug haben und niemand anderer.«
»Seien Sie erleichtert«, sagte Volyova. »Es ist besser so.«
Sylveste und Pascale kehrten zum Turm zurück und schwebten darüber. Die geflügelte Amarantin-Gestalt stand noch genauso da wie zuvor, doch nun schien sie mit herrischer Gleichgültigkeit über die Stadt zu blicken. Die Vorstellung, hier habe tatsächlich ein neuer Gott Einzug gehalten, war verführerisch — was sonst hätte zum Bau eines solchen Denkmals anregen können, wenn nicht die Scheu vor dem Göttlichen? Aber der Begleittext auf der Turmwand ließ sich sehr schwierig entziffern. »Hier ist ein Hinweis auf den Vogelmacher«, sagte Sylveste.
»Damit steigen die Chancen, dass der Turm etwas mit dem Mythos von den Brennenden Schwingen zu tun hatte, auch wenn der geflügelte Gott eindeutig nicht den Vogelmacher darstellt.«
»Richtig«, sagte Pascale. »Hier steht das Schriftzeichen für Feuer und daneben das für Schwingen.«
»Was siehst du noch?«
Pascale konzentrierte sich auf den Text. »Hier wird auf einen Schwarm von Abtrünnigen Bezug genommen.«
»Abtrünnig in welchem Sinne?« Er stellte sie auf die Probe, und sie wusste es, aber Pascales Deutung konnte auch als Gradmesser für die Subjektivität seiner eigenen Analyse dienen.
»Ein Schwarm, der dem Abkommen mit dem Vogelmacher nicht zustimmte oder sich hinterher nicht daran hielt.«
»Darauf war ich auch gekommen. Ich hatte nur Bedenken, ob mir nicht der eine oder andere Fehler unterlaufen war.«
»Wer sie auch waren, man nannte sie jedenfalls die Verbanntem.« Sie las weiter, kehrte immer wieder zurück, überprüfte ihre Hypothesen und revidierte ihre Interpretation, wo es nötig war. »Sieht so aus, als hätten sie ursprünglich zu dem Schwarm gehört, der mit den Bedingungen des Vogelmachers einverstanden war, um dann einige Zeit später ihre Meinung zu ändern.«
»Findest du auch den Namen des Anführers?«
Pascale begann: »Geführt wurden sie von einem Individuum namens…« Doch dann brach sie ab. »Nein, diese Zeichenfolge kann ich nicht übersetzen; jedenfalls nicht aus dem Stegreif. Was hat das alles überhaupt zu bedeuten? Glaubst du, es hat diese Verbannten wirklich gegeben?«
»Nicht auszuschließen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, es waren Ungläubige, die mit der Zeit erkannten, dass der Mythos vom Vogelmacher eben nur ein Mythos war und nicht mehr. Das hätte den fundamentalistischen Schwärmen natürlich nicht besonders gefallen.«
»Und deshalb hat man sie verbannt?«
»Immer vorausgesetzt, sie haben überhaupt existiert. Aber ein Gedanke lässt mich nicht los: Was ist, wenn sie so etwas wie eine Technikersekte gewesen wären, eine Enklave von Wissenschaftlern? Amarantin, die Experimente machen und Fragen nach den Gesetzen ihrer Welt stellen wollten?«
»Wie die Alchimisten des Mittelalters?«
»Ja.« Der Vergleich sagte ihm auf Anhieb zu. »Vielleicht haben sie sogar Versuche mit Flugmaschinen gemacht wie einst Leonardo. Wenn man sich die Stimmung in dieser Amarantin-Kultur vorstellt, wäre das nicht anders gewesen, als hätten sie Gott ins Gesicht gespuckt.«
»Einverstanden. Aber nehmen wir an, es hätte sie gegeben — und sie wären verbannt worden —, was wurde dann aus ihnen? Sind sie einfach ausgestorben?«
»Ich weiß es nicht. Aber eines ist klar. Diese Verbannten spielten eine wichtige Rolle — sie waren nicht nur eine Fußnote in der langen Geschichte des Vogelmacher-Mythos. Sie tauchen an jeder Stelle des Turms auf, überall in der ganzen Stadt — und das viel häufiger als in anderen Amarantin-Funden.«
»Aber die Stadt kam erst ziemlich spät«, sagte Pascale. »Abgesehen vom Obelisken, der als Wegweiser diente, ist sie das jüngste Relikt, das wir gefunden haben. Sie entstand erst kurz vor dem Ereignis. Warum tauchen die Verbannten plötzlich wieder auf, nachdem sie so lange verschwunden waren?«
»Nun ja«, überlegte Sylveste. »Vielleicht sind sie zurückgekehrt.«
»Nach — Zehntausenden von Jahren?«
»Vielleicht.« Sylveste lächelte geheimnisvoll. »Wenn sie — nach so langer Abwesenheit — tatsächlich wiedergekommen wären, könnte man das doch zum Anlass genommen haben, gewisse Statuen zu errichten.«
»Das heißt, die Statue — meinst du, sie stellt womöglich ihren Anführer dar? Das Wesen mit dem Namen…« Pascale unternahm einen neuen Versuch, das Wort zu übersetzen. »Das ist doch das Symbol für Sonne, nicht wahr?«
»Und das andere?«
»Ich bin nicht sicher. Sieht so aus wie das Zeichen für… Diebstahl — aber wie könnte das sein?«
»Wenn du die beiden zusammenfügst, was kommt dann heraus?«
Im Geiste sah er, wie sie die Achseln zuckte, sich nicht festlegen wollte. »Einer, der die Sonne stiehlt? Ein Sonnendieb? Was soll das sein?«
Nun hob auch Sylveste die Schultern. »Das frage ich mich schon den ganzen Morgen. Das und noch etwas.«
»Nämlich?«
»Warum ich glaube, den Namen schon einmal gehört zu haben.«
Als sie den Geschützpark verließen, waren sie zu dritt. Sie stiegen in einen anderen Fahrstuhl, der sie tiefer ins Herz des Schiffes brachte.
»Gut gemacht«, lobte die Mademoiselle. »Volyova ist aufrichtig überzeugt, Sie für sich gewonnen zu haben.«
Sie war fast die ganze Zeit bei ihnen gewesen — hatte Volyovas Führung schweigend verfolgt und lediglich hin und wieder eine nur für Khouri bestimmte Bemerkung oder einen Hinweis eingeworfen. Khouri fand das zutiefst beunruhigend: sie wurde das Gefühl nicht los, dass Volyova die geflüsterten Vertraulichkeiten ebenfalls mitbekam.
»Vielleicht hat sie Recht«, antwortete Khouri automatisch in Gedanken. »Vielleicht ist sie stärker als Sie.«
Die Mademoiselle lachte höhnisch. »Haben Sie mir eigentlich zugehört?«
»Was bleibt mir denn anderes übrig?«
Wenn die Mademoiselle sprechen wollte, war sie nicht auszuschließen. Sie war so hartnäckig wie eine Melodie, die einem im Kopf herumging. Man konnte sich ihr nicht entziehen.
»Hören Sie«, sagte sie nun. »Wenn meine Gegenmaßnahmen nicht wirkten, müssten Sie Volyova von meiner Existenz erzählen. Ihre Loyalität würde sie dazu zwingen.«
»Ich war mehrmals in Versuchung.«
Die Mademoiselle warf ihr einen schiefen Blick zu. Khouri überlief ein Schauer der Genugtuung. Manchmal schien die Mademoiselle — oder vielmehr ihre zum Implantat geronnene Persönlichkeit — allwissend zu sein. Doch abgesehen von den Informationen, die ihm bei der Herstellung mitgegeben worden war, musste sich das Implantat auf das beschränken, was es mit Khouris Sinnen aufnehmen konnte. Möglicherweise konnte es sich auch dann in Datennetzwerke einloggen, wenn Khouri selbst nicht angeschlossen war, aber das war eher unwahrscheinlich. Das Risiko, von denselben Systemen entdeckt zu werden, wäre zu groß gewesen. Und obwohl es Khouris Gedanken hören konnte, wenn Khouri damit kommunizierte, konnte es nicht in ihr Bewusstsein eindringen, sondern registrierte nur oberflächliche biochemische Signale in seiner unmittelbaren neuralen Umgebung. Es musste also, was die Wirksamkeit seiner Gegenmaßnahmen anging, durchaus gewisse Zweifel haben.
»Volyova würde Sie töten. Sie hat auch ihren letzten Waffenoffizier getötet, falls Sie das noch nicht selbst herausgefunden haben sollten.«
»Vielleicht hatte sie einen triftigen Grund dafür.«
»Sie wissen gar nichts über sie — oder die anderen. Ich übrigens auch nicht. Wir haben noch nicht einmal den Captain kennen gelernt.«
Das war nicht zu bestreiten. Captain Brannigans Name war Sajaki oder den anderen in Khouris Gegenwart ein oder zwei Mal versehentlich entschlüpft, aber im Allgemeinen erwähnten sie ihren Anführer kaum. Sie waren sicher keine Ultras im herkömmlichen Sinn, obwohl sie diese Fassade so sorgfältig aufrechterhielten, dass nicht einmal die Mademoiselle sie durchschaut hatte. Sie trieben die Fiktion so weit, dass sie pro forma sogar Handel trieben wie alle anderen Ultra-Besatzungen.
Aber was befand sich hinter der Fassade?
Waffenoffizier, hatte Volyova gesagt. Und jetzt hatte Khouri einen Teil der Waffen gesehen, die im Schiffsinnern lagerten. Man munkelte zwar, dass viele Handelsschiffe heimlich Waffen mitführten, um für katastrophale Verschlechterungen der Beziehungen zwischen Käufer und Verkäufer gewappnet zu sein oder in offener Piraterie andere Schiffe zu überfallen. Aber diese Geschütze waren für kleinere Auseinandersetzungen viel zu gewaltig, außerdem hatte das Schiff für solche Fälle sicher zusätzlich ein ganzes Arsenal an konventionellen Waffen an Bord. Wozu also ein solcher Geschützpark? Sajaki musste weitreichende Pläne haben, dachte Khouri, und das war beunruhigend — noch beunruhigender war allerdings die Vorstellung, dass es womöglich gar keinen Plan gab; dass Sajaki die Weltraumgeschütze nur so lange mit sich herumschleppte, bis sich ein Vorwand fand, sie einzusetzen. Wie ein hochgerüsteter Schläger, der auf der Suche nach einer Rauferei durch die Straßen schlenderte.
Im Lauf der vergangenen Wochen hatte Khouri eine ganze Reihe von Theorien aufgestellt und wieder verworfen, ohne eine Erklärung zu finden, die sie auch nur annähernd überzeugt hätte. Natürlich war es nicht die militaristische Atmosphäre auf dem Schiff, die ihr Kopfzerbrechen machte. Sie war für den Krieg geboren und empfand ihn als natürlichen Zustand. Er hatte nichts Fremdes für sie, obwohl sie nicht ausschloss, dass es auch noch andere, angenehmere Existenzformen gab. Allerdings musste sie zugeben, dass die Kriege, die sie auf Sky’s Edge erlebt hatte, mit Szenarien, in denen diese Weltraumgeschütze zum Einsatz kommen mochten, kaum zu vergleichen waren. Sky’s Edge hatte zwar die Verbindung zum interstellaren Handelsnetz aufrechterhalten, doch technisch gesehen lagen die Kontrahenten bei den Kämpfen auf dem Planeten durchschnittlich um Jahrhunderte hinter den Ultras zurück, die manchmal ihre Schiffe in der Umlaufbahn parkten. Eine Schlacht konnte allein dadurch gewonnen werden, dass eine Seite eine Ultra-Waffe in die Hand bekam… aber solche Waffen waren immer Mangelware gewesen und manchmal zu kostspielig, um sie auch tatsächlich zu gebrauchen. Selbst Atomwaffen waren in der Geschichte der Kolonie nur wenige Male und zu Khouris Lebzeiten gar nicht zum Einsatz gekommen. Sie hatte hässliche Szenen erlebt — die sie immer noch verfolgten —, aber sie hatte noch nie eine Waffe gesehen, die imstande war, auf einen Schlag ein ganzes Volk auszurotten. Und Volyovas Weltraumgeschütze konnten noch schlimmere Katastrophen auslösen.
Ein paar Mal hatte man sie sogar eingesetzt. Jedenfalls hatte Volyova so etwas angedeutet — vielleicht bei Piratenüberfällen. Es gab genügend dünn besiedelte Systeme, die nur lose mit den Handelsnetzen verbunden waren und wo man ohne weiteres einen Feind ausrotten konnte, ohne dass jemand davon erfuhr. Vielleicht waren einige dieser Feinde nicht weniger amoralisch als Sajaki und seine Leute und blickten auf eine Vergangenheit zurück, die nur so strotzte von Gräueltaten verschiedenster Art. Deshalb war es durchaus denkbar, dass Teile des Geschützparks auch getestet worden waren. Aber Khouri ging davon aus, dass dies immer nur als Mittel zum Zweck geschehen sei; zur Verteidigung oder für taktische Schläge gegen Feinde, die über dringend benötigte Ressourcen verfügten. Die schwereren Geschütze hatte man sicher nie ausprobiert. Was man letztlich mit dem Geschützpark vorhatte — wie man die weltenzerstörenden Maschinen entschärfen wollte — war vielleicht noch nicht einmal Sajaki klar. Und vielleicht war Sajaki auch nicht der Mann, der hier das letzte Wort hatte. Vielleicht war er in irgendeinem Sinne immer noch Captain Brannigan unterstellt.
Wer immer dieser geheimnisvolle Brannigan auch sein mochte.
»Willkommen im Leitstand«, sagte Volyova.
Sie waren irgendwo im Zentrum des Schiffs angekommen. Volyova hatte ein Loch in der Decke geöffnet, eine Teleskopleiter heruntergezogen und Khouri bedeutet, die scharfkantigen Sprossen hinaufzusteigen.
Nun ragte ihr Kopf in einen großen, sphärischen Raum voller bizarr geschwungener Maschinen mit zahlreichen Gelenkarmen. Im Zentrum eines bläulich-silbernen Lichtkreises stand inmitten von verschiedenen Gerätschaften und einem schier unübersehbaren Kabelgewirr ein eckiger, schwarzer Sitz mit einer Plane darüber. Er war gyroskopisch gelagert und konnte sich sehr elegant um so viele verschiedene Symmetrieachsen bewegen, dass er von der Schiffsbewegung unabhängig war. Die Kabel führten zu beweglichen Spulen, die Energie von einer konzentrischen Hülle zur anderen leiteten, bevor sie schließlich als schenkeldickes Bündel zwischen den Maschinen in die gewölbte Wand mündeten. Ein stechender Ozongeruch hing in der Luft.
In diesem Feuerleitstand gab es anscheinend nichts, was weniger als ein paar hundert Jahre alt gewesen wäre. Vieles wirkte noch weitaus älter. Doch alles war aufs Sorgfältigste gepflegt.
»Das ist der Höhepunkt der Vorstellung, nicht wahr?« Khouri zog sich durch die Falltür und schlängelte sich zwischen den geschwungenen Gerippen hindurch auf den schwarzen Sitz zu. Bei aller Massivität wirkte er bequem und verhieß eine Geborgenheit, die sie unwiderstehlich anzog. Sie konnte es nicht lassen und glitt hinein. Die in der sperrigen schwarzen Masse vergrabene Servomechanik begann zu schwirren, und die Polster schmiegten sich an ihren Körper.
»Wie fühlt sich das an?«
»Als hätte ich schon einmal hier gesessen«, sagte Khouri staunend. Ein dicker schwarzer Helm mit Metallbeschlägen war ihr über den Kopf geglitten und verzerrte ihre Stimme.
»Das haben Sie auch«, antwortete Volyova. »Bevor Sie wieder zu Bewusstsein kamen. Außerdem kennt sich das Implantat in Ihrem Kopf hier bereits aus — schon das ist großenteils für die Vertrautheit verantwortlich.«
Volyova hatte Recht. Der Kampfsitz kam Khouri vor wie ein altes Möbelstück aus ihrer Kindheit. Sie glaubte, jede Falte, jeden Kratzer zu kennen. Schon jetzt fühlte sie sich ungemein entspannt und ruhig, und der Drang, tätig zu werden — die Macht zu gebrauchen, die der Sitz ihr verlieh —, wurde von Sekunde zu Sekunde stärker.
»Ich kann die Weltraumgeschütze von hier aus bedienen?«
»So ist es gedacht«, sagte Volyova mit einem Nicken. »Aber natürlich nicht nur sie. Sie steuern auch alle anderen Waffensysteme an Bord der Unendlichkeit — so mühelos, als wären die Instrumente Teil Ihres eigenen Körpers. So wird es Ihnen vorkommen, wenn Sie ganz mit dem Leitstand verschmelzen — Ihr eigenes Körpergefühl weitet sich aus und umfasst schließlich das ganze Schiff.«
Khouri spürte schon die ersten Anzeichen; zumindest hatte sie den Eindruck, als würden die Grenzen zwischen ihrem Körper und dem Sitz verschwimmen. So verlockend es auch war, sie wollte nicht, dass der Prozess sich fortsetzte. Es kostete sie viel Überwindung, sich aus dem Stuhl zu lösen. Doch dann zogen sich die Polsterflächen schwirrend zurück und gaben sie frei.
»Ich weiß nicht recht, was ich davon halten soll«, bemerkte die Mademoiselle.