Cuvier, Resurgam
2561
Laute Stimmen rissen ihn aus dem Schlaf.
Sylveste griff nach seinem Blindenwecker und ertastete die Position der Zeiger. Er hatte heute eine Verabredung; in einer knappen Stunde. Der Tumult draußen war dem Wecker nur um Minuten zuvorgekommen. Neugierig schlug er die Laken zurück, stieg aus seiner Koje und stolperte an das hohe, vergitterte Fenster. Am Morgen nach dem Aufwachen war er zunächst immer halb blind, bis sich seine Augen durch den Systemcheck gestottert hatten. Alles war wie mit großen farbigen Tüchern verhüllt, als sei ein Trupp übereifriger Kubisten in der Nacht in sein Zimmer eingedrungen und habe alles umdekoriert.
Sylveste zog den Vorhang auf. Er war nicht klein, aber er konnte nur dann in einem vernünftigen Winkel aus dem Fensterchen schauen, wenn er sich auf einen Stapel gedruckter Bücher — alter Faksimile-Ausgaben — aus seinen Regalen stellte. Auch dann war die Aussicht nicht berauschend. Cuvier war in und um eine geodätische Kuppel errichtet und bestand überwiegend aus rechteckigen Gebäuden mit sechs oder sieben Stockwerken, die man in den Anfangstagen der Mission rasch hochgezogen hatte, wobei mehr Wert auf Haltbarkeit gelegt wurde als auf Schönheit. Selbstreparierende Systeme waren nicht darunter, und da immer mit Lecks in der Kuppel gerechnet werden musste, konnten die Gebäude nicht nur Schmirgelstürmen standhalten, sondern waren auch einzeln zu belüften. Die grauen Klötze mit den kleinen Fenstern waren durch Straßen miteinander verbunden und normalerweise waren immer ein paar Elektrofahrzeuge unterwegs.
Aber nicht heute.
Calvin hatte Sylvestes Augen mit einem Zoom- und Aufzeichnungsmodus versehen, aber die Bedienung erforderte ähnlich viel Konzentration wie die Korrektur einer optischen Täuschung. Zunächst sah Sylveste die Menschen auf der Straße nur als perspektivisch verkürzte Strichmännchen. In der Vergrößerung zerfiel die amorphe Masse in aufgeregt gestikulierende Individuen. Zwar konnte er den Mienen nichts entnehmen, er konnte nicht einmal Gesichter unterscheiden, aber die Menschen verrieten sich auch durch die Art ihrer Bewegungen, und für solche Nuancen hatte er inzwischen einen sehr scharfen Blick. Die Hauptmasse wälzte sich hinter einer Barrikade aus Spruchbändern und improvisierten Fahnenstangen über die Hauptverkehrsstraße von Cuvier. Der Pöbel hatte nur ein paar Schaufenster an der Promenade beschmiert und eine junge Zierquitte ausgerissen, sonst war bisher kaum Schaden entstanden. Die Demonstranten sahen freilich nicht, dass Girardieus Miliz am Ende der Straße aufmarschierte. Ein Truppentransporter hatte die Soldaten ausgespuckt, nun schnallten sie sich die Chamäleon-Panzer um. Die Schutzschilde durchliefen alle Farben und entschieden sich schließlich für ein beruhigendes Chromgelb.
Sylveste wusch sich mit warmem Wasser und einem Schwamm, stutzte sich sorgfältig den Bart und band sich das Haar zurück. Dann zog er sich an: Samthemd, Hosen, darüber einen Kimono, der mit Amarantin-Skeletten bedruckt war. Danach frühstückte er — das Essen stand immer schon in einer kleinen Nische bereit, wenn der Wecker klingelte — und sah wieder auf die Uhr. Sie würde bald hier sein. Er machte das Bett und klappte es um. Jetzt war es eine Couch mit einem Bezug aus scharlachrotem grob genarbtem Leder.
Pascale wurde wie immer von einem menschlichen Leibwächter und zwei bewaffneten Servomaten begleitet, die aber die Zelle nicht betraten. Was sie mitbrachte, war ein kleiner Flugkörper, der surrte wie eine aufziehbare Wespe. Das Ding sah ganz harmlos aus, aber Sylveste wusste, dass er mit einem dritten Auge in der Mitte der Stirn belohnt würde, wenn er in Gegenwart seiner Biografin nur einer Blähung nachgab.
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Was soll an diesem Morgen gut sein?«, fragte Sylveste und deutete mit einem Nicken zum Fenster hin. »Erstaunlich, dass Sie es überhaupt geschafft haben, hierher durchzukommen.«
Sie setzte sich auf einen Schemel mit Samtpolsterung. »Ich habe gute Beziehungen zum Sicherheitsdienst. Deshalb gab es trotz der Ausgangssperre keine Schwierigkeiten.«
»Hat man jetzt schon eine Ausgangssperre verhängt?«
Pascale trug eine Kappe im Violett der Fluter. Ihr dichter, schnurgerader schwarzer Pony betonte die Blässe ihres maskenhaft starren Gesichts. Die knappe Jacke und die eng anliegenden Hosen waren violett und schwarz gestreift. Sie wurde umschwärmt von entoptischen Tautropfen, Seepferdchen und fliegenden Fischen, die rosa-bläuliche Flitterstreifen hinter sich herzogen. Die Füße hatte sie nach innen gedreht, so dass sich die Zehen berührten, und der Oberkörper war leicht nach vorne geneigt. Sylveste saß ihr gegenüber und beugte sich ebenfalls vor.
»Die Zeiten ändern sich, Doktor. Das sollte gerade Ihnen klar sein.«
Sie hatte Recht. Er saß jetzt seit zehn Jahren in diesem Gefängnis im Herzen von Cuvier. Das neue Regime, das ihn nach dem Umsturz abgelöst hatte, war in altbewährter Revolutionsmanier ebenso brüchig geworden wie seine Vorgänger. Doch obwohl die politische Landschaft zerrissen war wie eh und je, war die Grundsituation eine völlig andere. Zu seiner Zeit hatte es nur zwei gegnerische Parteien gegeben: eine Gruppe, deren Ziel es war, die Amarantin zu studieren, und eine andere, die Resurgam terraformen wollte, um aus der provisorischen Forschungsstation eine lebensfähige menschliche Kolonie zu machen. Selbst die Verfechter des Terraformens, die Fluter, hatten eingeräumt, dass sich das Studium der Amarantin einmal gelohnt haben mochte. Heutzutage stritten die politischen Parteien nur noch darüber, in welchem Tempo das Terraformen vorangetrieben werden sollte, wobei das Spektrum von Befürwortern langsamer, auf Jahrhunderte angelegter Projekte bis zu Anwälten einer Atmosphäretransformation reichte, die so radikal war, dass die Menschen während des betreffenden Zeitraums vermutlich evakuiert werden müssten. Nur eines stand fest: selbst die schonendsten Eingriffe würden viele Geheimnisse der Amarantin unwiderruflich zerstören. Doch das beeindruckte offenbar kaum jemanden — und die wenigen, die anders dachten, waren zu eingeschüchtert, um die Stimme zu erheben. Abgesehen von einer Stammtruppe verbitterter, schlecht bezahlter Archäologen bekundete inzwischen kaum noch jemand Interesse an den Amarantin. Innerhalb von zehn Jahren war die Beschäftigung mit den ausgestorbenen Fremdintelligenzen zu einer toten Wissenschaft verkommen.
Und die Bedingungen verschlechterten sich noch weiter.
Fünf Jahre zuvor war ein Handelsschiff durch das System gekommen. Das Lichtschiff hatte seine Ramscoop-Felder[1] eingezogen und war, ein neuer, heller Stern am Himmel über Resurgam, in den Orbit gegangen. Sein Kommandant, Captain Remilliod, hatte ein riesiges Sortiment an technischen Wunderwerken zu bieten: neue Produkte aus anderen Systemen und Dinge, die man vor der Meuterei zum letzten Mal gesehen hatte. Aber die Kolonie konnte sich nicht alles leisten, was Remilliod zu verkaufen hatte. Wofür man sich entscheiden sollte, war Gegenstand leidenschaftlicher Debatten: lieber Maschinen oder Medikamente; Flugzeuge oder Terraformungs-Anlagen? Gerüchte von heimlichen Geschäften mit Waffen und verbotener Technologie machten die Runde, und obwohl der allgemeine Lebensstandard in der Kolonie höher war als zu Sylvestes Zeit — man denke nur an die Servomaten und die Implantate, die für Pascale inzwischen selbstverständlich waren —, hatten sich unüberbrückbare Risse unter den Flutern aufgetan.
»Girardieu müsste Todesängste ausstehen«, sagte Sylveste.
»Keine Ahnung«, sagte Pascale eine Spur zu hastig. »Für mich zählt nur mein Ablieferungstermin.«
»Worüber wollen Sie heute sprechen?«
Pascale schaute auf das Notepad nieder, das sie auf den Knien hielt. Innerhalb der letzten sechshundert Jahre hatten die Computer jede Form und jeden Aufbau durchlaufen, die man sich nur vorstellen konnte, aber die einfache Zeichentafel — eine flache Platte mit handschriftlicher Eingabemöglichkeit — war nie für längere Zeit aus der Mode gekommen. »Ich möchte, dass Sie mir erzählen, was mit Ihrem Vater geschehen ist«, sagte sie.
»Sie meinen die Achtzig? Ist der Komplex für Ihre Bedürfnisse denn noch nicht ausreichend dokumentiert?«
»Fast.« Pascale berührte ihre purpurrot geschminkten Lippen mit der Spitze ihres Eingabestifts. »Ich habe natürlich alle Standardberichte durchgesehen. Nur eine kleine Frage konnte ich noch nicht zu meiner Zufriedenheit beantworten.«
»Und wie lautet die?«
Eines musste er ihr lassen. Es war beeindruckend, wie sie es schaffte, auch die leiseste Spur von Anteilnahme zu unterdrücken. Als ginge es wirklich nur darum, ein loses Ende zu verknüpfen. Es war eine Kunst. Um ein Haar wäre er ihr in die Falle gegangen. »Ich spreche von der Alpha-Aufzeichnung Ihres Vaters«, sagte Pascale.
»Ja?«
»Ich möchte gerne wissen, was hinterher wirklich daraus geworden ist.«
Der Mann mit der Trickwaffe lotste Khouri durch den leichten Innenregen zu einer wartenden Seilbahn, die ebenso unauffällig und ohne Kennzeichen war wie der Palankin, den er im Denkmal zurückgelassen hatte.
»Steigen Sie ein.«
»Einen Augenblick bitte…« Doch Khouri hatte kaum den Mund aufgemacht, als sie die Mündung der Waffe im Rücken spürte. Nicht schmerzhaft, nicht brutal — nur eine deutliche Erinnerung. Gerade diese Zurückhaltung verriet, dass der Mann ein Profi war und sehr viel bedenkenloser schießen würde als jemand, der aggressiver vorgegangen wäre. »Immer mit der Ruhe; ich gehe ja schon. Aber wer ist eigentlich diese Mademoiselle? Steht sie hinter einem Konkurrenten der Schatten!«
»Nein. Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Denken Sie nicht so provinziell.«
Sie sah schon, er würde ihr nichts Brauchbares verraten. Obwohl sie sicher war, damit nicht weiterzukommen, fragte sie: »Und wer sind Sie?«
»Carlos Manoukhian.«
Das beunruhigte sie noch mehr als seine Art, mit der Waffe umzugehen. Es klang zu aufrichtig. Das war kein Deckname. Jetzt kannte sie also seinen Namen — und konnte sich denken, dass der Mann zumindest ein Verbrecher war, auch wenn diese Bezeichnung im rechtsfreien Raum von Chasm City nur Gelächter hervorgerufen hätte. Das wiederum bedeutete, dass er vorhatte, sie später zu töten.
Die Tür der Seilbahngondel knallte zu. Manoukhian drückte auf dem Armaturenbrett den Knopf, der die Luft von Chasm City reinigte. Dampfstrahlen schossen unter der Gondel hervor, als sie sich mit dem nächsten erreichbaren Kabel in die Lüfte schwang.
»Wer sind Sie, Manoukhian?«
»Ich helfe der Mademoiselle.« Das lag ja wohl auf der Hand. »Wir haben eine ganz besondere Beziehung. Wir sind uralte Bekannte.«
»Und was will sie von mir?«
»Ich dachte, das sei inzwischen klar«, sagte Manoukhian. Er bedrohte Khouri weiter mit der Waffe, behielt aber dabei die Navigationskonsole der Gondel im Auge. »Sie hat einen Mordauftrag für sie.«
»Von solchen Aufträgen lebe ich.«
»Gewiss.« Er lächelte. »Diesmal geht es allerdings um jemanden, der nicht dafür bezahlt hat.«
Es verstand sich von selbst, dass die Biografie nicht Sylvestes Idee gewesen war. Die Anregung war vielmehr von einem Mann gekommen, von dem Sylveste das am allerwenigsten erwartet hätte. Es war vor sechs Monaten gewesen, bei einer der äußerst seltenen persönlichen Begegnungen mit seinem Feind. Nils Girardieu hatte das Thema ganz beiläufig angeschnitten und sich überrascht gezeigt, dass noch niemand daran gedacht habe, ein solches Werk zu verfassen. Fünfzig Jahre auf Resurgam seien schließlich fast ein zweites Leben, und selbst wenn dieses Leben nicht gerade rühmlich ende, so rücke es doch die Jahre auf Yellowstone in eine neue Perspektive. »Das Problem war«, sagte Girardieu, »dass Ihre früheren Biografen zu wenig Distanz zum Geschehen hatten — sie waren zu sehr eingebunden in das gesellschaftliche Umfeld, das sie zu analysieren versuchten. Alle Welt war entweder von Cal oder Ihnen fasziniert, und die drangvolle Enge in der Kolonie machte es unmöglich, auf Abstand zu gehen und die größeren Zusammenhänge zu sehen.«
»Wollen Sie behaupten, auf Resurgam wäre es weniger eng?«
»Das natürlich nicht — aber wir haben zumindest den nötigen Abstand, räumlich wie zeitlich.« Girardieu war ein untersetzter, kräftiger Mann mit wirrem, rotem Haar. »Sagen Sie selbst, Dan — wenn Sie an Yellowstone zurückdenken, kommt es Ihnen da nicht manchmal vor, als habe das alles ein anderer erlebt, in einem längst vergangenen Jahrhundert?«
Sylveste blieb das spöttische Lachen im Halse stecken, denn er war — ausnahmsweise — ganz einer Meinung mit Girardieu. Die Erkenntnis erschütterte ihn tief, sie verletzte sozusagen ein Naturgesetz.
»Ich verstehe immer noch nicht, warum Sie ein solches Projekt unterstützen sollten«, sagte Sylveste und wies mit dem Kinn zu dem Wärter hin, der das Gespräch überwachte. »Es sei denn, Sie hoffen, irgendwie davon profitieren zu können?«
Girardieu hatte genickt. »Zum Teil — vielleicht ist das sogar mein stärkstes Motiv, wenn Sie es genau wissen wollen. Es dürfte Ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen sein, dass sie für die Bevölkerung nach wie vor eine faszinierende Persönlichkeit sind.«
»Auch wenn die meisten es besonders faszinierend fänden, mich hängen zu sehen.«
»Das ist zwar richtig, aber wahrscheinlich würden sie Ihnen vorher die Hand schütteln wollen — um Ihnen dann auf den Galgen zu helfen.«
»Und diese Sensationslust wollen Sie ausschlachten?«
Girardieu hatte die Achseln gezuckt. »Natürlich entscheidet die neue Regierung, wer mit Ihnen sprechen darf — außerdem befinden sich alle Ihre Aufzeichnungen und das Archivmaterial in unseren Händen. Das gibt uns einen gewissen Vorteil. Wir haben Zugriff auf Dokumente aus den Yellowstone-Jahren, von denen außer Ihren nächsten Angehörigen niemand weiß, dass sie überhaupt existieren. Wir würden natürlich nur sehr vorsichtig Gebrauch davon machen — aber es wäre doch töricht, sie zu ignorieren.«
»Ich verstehe«, sagte Sylveste, dem die Sache plötzlich sonnenklar war. »In Wirklichkeit wollen Sie mich mit dieser Biografie nur in Verruf bringen.«
»Wenn die Tatsachen ein so schlechtes Licht auf Sie werfen…« Girardieu vollendete den Satz nicht.
»Sie haben mich abgesetzt… reicht Ihnen das noch nicht?«
»Das ist neun Jahre her.«
»Was heißt das?«
»Das heißt, es ist so lange her, dass die Leute alles vergessen haben. Eine kleine Erinnerung wäre durchaus angebracht.«
»Besonders, weil sich neue Unzufriedenheit breit macht?«
Girardieu zuckte zusammen wie unter einer unerhörten Taktlosigkeit. »Den Wahren Weg können Sie vergessen — glauben Sie ja nicht, er sei Ihre Rettung. Diese Leute hätten sich nicht damit begnügt, Sie einzusperren.«
»Na schön«, sagte Sylveste, den das Thema bereits langweilte. »Was springt dabei für mich heraus?«
»Sie setzen einfach voraus, dass ich ein Angebot in der Tasche habe?«
»Normalerweise ja. Warum hätten Sie mir sonst davon erzählt?«
»Vielleicht liegt es ja in Ihrem Interesse, uns zu unterstützen. Natürlich könnten wir auch mit dem Material arbeiten, das wir an uns gebracht haben — aber Ihre Sicht der Dinge wäre von Interesse. Besonders bei den weniger gesicherten Episoden.«
»Damit wir uns recht verstehen. Sie wollen, dass ich meiner eigenen Hinrichtung zustimme? Sie wollen zu Ihrem Rufmord nicht nur meinen Segen, ich soll auch noch Beihilfe leisten?«
»Es könnte sich für Sie auszahlen.« Girardieu sah sich in der engen Zelle um und nickte. »Denken Sie an Janequin, dem ich gestattet habe, sich weiter mit seinen Pfauen zu beschäftigen. Auch bei Ihnen könnte ich mich flexibel zeigen, Dan. Zugang zu neuem Material über die Amarantin; Verbindung zu Ihren Kollegen; Erfahrungsaustausch — vielleicht sogar hin und wieder ein Ausflug.«
»Feldstudien?«
»Das müsste ich mir noch überlegen. Etwas in diesem Rahmen…« Sylveste spürte plötzlich ganz deutlich, dass Girardieu ihm etwas vorspielte. »Gute Führung wäre zu empfehlen. Die Biografie ist bereits in Arbeit, aber Sie würden erst in einigen Monaten gebraucht. In einem halben Jahr vielleicht. Ich schlage vor, wir warten so lange, bis Sie uns die Informationen geben, die wir brauchen. Sie werden natürlich mit der Autorin in Verbindung stehen, und wenn die Zusammenarbeit fruchtbar ist — was sie zu beurteilen hätte —, dann könnte man vielleicht darüber diskutieren, ob man Ihnen in begrenztem Rahmen auch Feldarbeit ermöglichen könnte. Wohlgemerkt, man könnte darüber diskutieren — das ist keine Zusage.«
»Ich kann meine Begeisterung kaum noch zügeln.«
»Nun, Sie werden wieder von mir hören. Noch irgendwelche Fragen, bevor ich gehe?«
»Nur eine. Sie sprachen von einem weiblichen Autor. Dürfte ich fragen, um wen es sich handelt?«
»Um eine Verehrerin, deren Illusionen nur darauf warten dürften, zerstört zu werden.«
Volyova arbeitete in der Nähe des Geschützparks und dachte nur an Waffen, als ihr eine Pförtnerratte auf die Schulter sprang und ihr etwas ins Ohr flüsterte.
»Besuch«, sagte die Ratte.
Die Ratten waren eine Spezialität der Sehnsucht nach Unendlichkeit, etwas, das es möglicherweise auf keinem anderen Lichtschiff gab. Sie waren nur eine Spur intelligenter als ihre wilden Vorfahren, aber sie waren biochemisch mit der Befehlsmatrix des Schiffes verbunden, und das machte die einstigen Schädlinge zu brauchbaren Schiffsgenossen. Jede Ratte besaß spezielle Pheromonrezeptoren und -transmitter, über die sie, in komplexen Molekülverbindungen verschlüsselt, Befehle vom Schiff empfangen und Informationen übertragen konnte. Sie ernährten sich von Abfällen und fraßen buchstäblich alles, was organisch und nicht niet- und nagelfest war oder noch atmete. Wenn die Nahrung in den Eingeweiden grob vorverdaut war, suchten sie bestimmte Schiffszonen auf und führten ihre Ausscheidungen in Pillenform den größeren Wiederaufbereitungssystemen zu. Einige waren sogar mit einer Voicebox und einem kleinen Lexikon mit den wichtigsten Wendungen ausgerüstet, so dass sie unter bestimmten biochemisch programmierten Bedingungen durch externe Stimuli zum Sprechen angeregt werden konnten.
Volyova hatte die Ratten so programmiert, dass sie ihr mitteilten, wenn sie menschliche Rückstände wie abgestorbene Hautzellen und dergleichen verdauten, die nicht von ihr stammten. Auf diese Weise erfuhr sie sofort, wenn die anderen Besatzungsmitglieder aufwachten, auch wenn sie sich in einer ganz anderen Schiffszone aufhielt.
»Besuch«, quiekte die Ratte wieder.
»Schon gut. Ich habe verstanden.« Sie setzte den kleinen Nager auf das Deck und fluchte in allen Sprachen, deren sie mächtig war.
Die Verteidigungsdrohne, die Pascale begleitet hatte, fing die Stress-Schwingungen in Sylvestes Stimme auf und kam surrend näher. »Sie wollen etwas über die Achtzig erfahren? Das können Sie haben. Ich empfinde für diese Menschen keine Spur von Bedauern. Sie wussten alle, worauf sie sich einließen. Außerdem waren es nur neunundsiebzig Freiwillige, nicht achtzig. Die Leute vergessen bequemerweise, dass der achtzigste mein Vater war.«
»Das können Sie ihnen kaum verdenken.«
»Wenn Dummheit erblich ist, dann wohl nicht.« Sylveste versuchte sich zu entspannen. Es fiel ihm schwer. Irgendwann im Lauf des Gesprächs hatte die Miliz angefangen, Angstgas in den Luftraum unter der Kuppel einzuleiten. Nun war das Morgenrot mit schwärzlichen Flecken durchsetzt. »Hören Sie«, sagte Sylveste ruhig. »Die Regierung hat Calvin beschlagnahmt, als ich verhaftet wurde. Er kann sich für seine Handlungen durchaus selbst rechtfertigen.«
»Ich will Sie ja auch nicht zu seinen Handlungen befragen.«
Pascale machte einen Eintrag auf ihrem Notepad. »Ich will wissen, was hinterher aus ihm — aus seiner Alpha-Simulation — geworden ist. Jedes Alpha enthielt etwa zehn hoch achtzehn Byte an Information«, fuhr sie fort und umgab ihre Notiz mit einem Kreis. »Die Archive von Yellowstone weisen große Lücken auf, aber sie geben doch einiges her. Ich konnte feststellen, dass sich Sechsundsechzig Alphas in Orbitalen Datenspeichern um Yellowstone befanden; auf Karussellen, in Kandelaberstädten und in verschiedenen Schlupfwinkeln der Raumpiraten und der Ultras. Die meisten waren natürlich abgestürzt, aber niemand wollte sie löschen. Zehn weitere konnte ich in korrumpierten Datenbanken auf dem Planeten selbst aufspüren, damit bleiben vier, die verschollen sind. Drei von diesen vieren zählen zu den Neunundsiebzig und waren in der Obhut sehr armer oder ausgestorbener Familien. Das letzte ist Calvins Alpha.«
»Hat die Geschichte auch eine Pointe?«, fragte er gelangweilt, um sie nicht merken zu lassen, wie sehr ihn das Thema berührte.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Calvin auf die gleiche Weise verloren ging wie die anderen. Das passt nicht zusammen. Das Sylveste-Institut hatte es nicht nötig, seine Erbstücke in die Obhut von Gläubigern oder Treuhändern zu geben. Es war bis zum Ausbruch der Seuche eine der wohlhabendsten Einrichtungen auf dem Planeten. Was also ist aus Calvin geworden?«
»Sie glauben, ich hätte ihn mit nach Resurgam gebracht?«
»Nein. Allem Anschein nach war er da schon längst verschwunden. Der letzte Beleg dafür, dass sich das Sim im System befand, datiert mehr als einhundert Jahre vor dem Aufbruch der Resurgam-Expedition.«
»Das ist ein Irrtum«, widersprach Sylveste. »Wenn Sie sich die Unterlagen genauer ansehen, werden Sie feststellen, dass das Alpha Ende des vierundzwanzigsten Jahrhunderts in einen Orbitalen Datenspeicher ausgelagert wurde. Dreißig Jahre später zog das Institut um, und davon war sicher auch das Sim betroffen. ‘39 oder ‘40 wurde das Institut dann vom Haus Reivich angegriffen. Die Reivichs haben die Hauptspeicher gelöscht.«
»Nein«, sagte Pascale, »diese Möglichkeiten habe ich ausgeschlossen. Mir ist durchaus bekannt, dass das Sylveste-Institut im Jahre 2390 etwa zehn hoch achtzehn Byte in den Orbit ausgelagert und die gleiche Datenmenge siebenunddreißig Jahre später wieder zurückgeholt hat. Aber zehn hoch achtzehn Byte Information müssen nicht zwangsläufig Calvin sein. Es kann sich ebenso gut um zehn hoch achtzehn Byte metaphysischer Lyrik handeln.«
»Das beweist gar nichts.«
Sie reichte ihm das Notepad. Ihr Hofstaat aus Seepferdchen und Fischen stob auseinander wie ein Glühwürmchenschwarm. »Nein, aber es ist verdächtig. Warum sollte das Alpha genau dann verschwinden, als Sie zu Ihrer Begegnung mit den Schleierwebern aufbrachen, wenn es zwischen den beiden Ereignissen keinerlei Verbindung gibt?«
»Wollen Sie unterstellen, ich hätte etwas damit zu tun gehabt?«
»Die späteren Datenbewegungen können nur von jemandem innerhalb der Sylveste-Organisation gefälscht worden sein. Damit fällt der Verdacht natürlich auf Sie.«
»Ein Motiv wäre nicht schlecht.«
»Oh, machen Sie sich darüber keine Sorgen«, sagte sie und nahm das Notepad wieder auf den Schoß. »Das fällt mir schon noch ein.«
Drei Tage nachdem Volyova durch die Pförtnerratte erfahren hatte, dass die Crew aus dem Kälteschlaf erwacht war, fühlte sie sich endlich in der Lage, ihren Kollegen gegenüberzutreten. Das sollte nicht heißen, dass sie sich auf das Wiedersehen freute. Volyova war zwar nicht direkt ein Menschenfeind, aber es war ihr noch nie schwergefallen, mit sich allein zu sein. Diese Begegnung versprach besonders schwierig zu werden. Nagorny war tot, und das hatten inzwischen natürlich auch die anderen bemerkt.
Wenn man die Ratten nicht mitzählte und auch Nagorny ausschloss, hatte das Schiff noch eine Besatzung von sechs Mann. Fünf, wenn man auch den Captain nicht gelten ließ.
Und warum sollte man, wenn er — jedenfalls, soweit es die anderen betraf — nicht bei Bewusstsein und erst recht nicht ansprechbar war. Er war nur an Bord, weil man hoffte, ihn wiederherstellen zu können. Ansonsten lag die Befehlsgewalt in den Händen des Triumvirats, also bei Yuuji Sajaki, Abdul Hegazi und — natürlich — ihr selbst. Unterhalb davon gab es derzeit noch zwei gleichrangige Besatzungsmitglieder, Kjarval und Sudjic, beides Chimären, die noch nicht lange an Bord waren. Den niedrigsten Rang von allen bekleidete der Waffenoffizier. Diesen Posten hatte Nagorny innegehabt. Nach seinem Tod war dieser Thron sozusagen verwaist; ein Vakuum war entstanden.
Wenn die Besatzung nicht im Kälteschlaf lag, beschränkte sie sich im Allgemeinen auf bestimmte streng abgegrenzte Bereiche des Schiffes und überließ Volyova und ihren Maschinen den Rest. Jetzt war es nach Schiffszeit Morgen. Hier oben, wo sich die Mannschaft aufhielt, folgte die Beleuchtung nach wie vor einem Tag-Nacht-Schema, das von einer Vierundzwanzig-Stunden-Uhr gesteuert wurde. Volyova ging zuerst in den Kälteschlafraum. Er war leer, und alle Tanks bis auf einen waren geöffnet. Der letzte gehörte natürlich Nagorny. Volyova hatte ihm den Kopf wieder aufgesetzt, die Leiche in den Behälter gelegt und heruntergekühlt. Später hatte sie dafür gesorgt, dass das Gerät versagte und Nagorny sich wieder erwärmte. Da war er natürlich schon tot gewesen, aber um das im Nachhinein festzustellen, musste man schon ein erfahrener Pathologe sein. Offensichtlich hatte niemand von der Besatzung besondere Lust verspürt, ihn genauer zu untersuchen.
Wieder kam ihr Sudjic in den Sinn. Sudjic und Nagorny hatten sich eine Zeit lang sehr nahe gestanden. Sie durfte Sudjic nicht unterschätzen.
Volyova verließ den Kälteschlafraum und suchte mehrere Orte auf, die als Treffpunkt in Frage kamen. Schließlich betrat sie einen der Wälder und kämpfte sich durch ein schier undurchdringliches Dickicht aus abgestorbenen Pflanzen, bis sie eine Stelle erreichte, wo die UV-Lampen noch brannten. Dort gab es eine Lichtung, die über eine schlichte Holztreppe zu erreichen war. Schwankenden Schrittes stieg sie nach unten. Die Lichtung war eine Idylle — besonders nach dem langen Weg durch den toten Wald. Der Wind bewegte das Dach aus grünen Palmblättern, durch das immer wieder gelbe Sonnenstrahlen fielen. In der Ferne stürzte ein Wasserfall über schroffe Felswände in eine Lagune. Große und kleine Papageien flogen von Ast zu Ast und krächzten heiser in den Baumkronen.
Volyova knirschte mit den Zähnen. Die künstliche Szenerie war ihr ein Gräuel.
Die vier verbliebenen Besatzungsmitglieder saßen beim Frühstück an einem langen Holztisch, der mit Brot, Obst, Fleisch und Käse, Krügen mit Orangensaft und Karaffen mit Kaffee überreich gedeckt war. Jenseits der Lichtung waren zwei Ritter-Hologramme nach Kräften bemüht, sich gegenseitig mit ihren Lanzen die Bäuche aufzuschlitzen.
»Guten Morgen«, sagte Volyova und trat von der letzten Stufe ins Gras. Es war tatsächlich nass vom Tau.
»Es ist sicher kein Kaffee mehr übrig?«
Alle blickten auf, zwei drehten sich sogar nach ihr um. Sie beobachtete die Reaktionen. Drei murmelten einen leisen Gruß, nachdem sie mit diskretem Klirren ihr Besteck abgelegt hatten. Sudjic sagte gar nichts, dafür hob Sajaki die Stimme.
»Schön, Sie zu sehen, Ilia.« Er griff nach einem Teller. »Eine Grapefruit?«
»Danke. Warum nicht?«
Sie trat näher und nahm Sajaki den Teller ab. Die glänzende Frucht war mit Zucker bestreut. Sie setzte sich bewusst zwischen Sudjic und Kjarval, die anderen zwei Frauen. Beide waren im Augenblick schwarzhäutig und hatten bis auf die feuerroten Dreadlocks, die förmlich aus dem Scheitel hervorbrachen, kahlgeschorene Köpfe. Auf ihre steifen Zöpfe legten die Ultras großen Wert: sie zeigten an, wie viele Kälteschlafperioden ein Raumfahrer absolviert und wie oft er demnach auf Kussnähe an die Lichtgeschwindigkeit herangekommen war. Die zwei Frauen hatten sich der Besatzung angeschlossen, nachdem ihr eigenes Schiff von Volyovas Leuten geentert worden war. Ultras verkauften ihre Loyalität ebenso bedenkenlos wie Wassereis, Monopole und Daten. Letztere dienten ihnen als Geldersatz. Sudjic und Kjarval waren eindeutige Chimären, obwohl ihre Transformationen verglichen mit Hegazi eher bescheiden waren. Sudjics Arme gingen unterhalb der Ellbogen in kunstvoll gravierte Bronzehandschuhe mit goldglitzernden Fenstern über, hinter denen ständig wechselnde Holografien zu sehen waren. Die künstlichen Hände endeten in überschlanken Fingern mit diamantenen Nägeln. Kjarvals Körper war zum größten Teil organisch, aber sie hatte rote, elliptische Katzenaugen mit einem Fadenkreuz in der Mitte, und ihre flache Nase wies an Stelle von Nasenlöchern nur schmale, gerippte Öffnungen auf, die so aussahen, als könnte sie damit auch unter Wasser atmen. Sie war unbekleidet, aber ihre Haut umschmiegte sie bis auf die Öffnungen für Augen, Nüstern, Mund und Ohren so glatt und nahtlos wie ein ebenholzschwarzer Neopren-Anzug. Ihre Brüste hatten keine Brustwarzen, die zierlichen Finger hatten keine Nägel, und die Zehen waren nur angedeutet. Sie sah aus wie das Werk eines Bildhauers, der es eilig gehabt hatte, mit dem nächsten Auftrag anzufangen. Als Volyova sich setzte, warf ihr Kjarval nur einen kurzen Blick zu. Ihre Gleichgültigkeit war etwas zu dick aufgetragen, um echt zu sein.
»Schön, Sie bei uns zu haben«, sagte Sajaki. »Sie waren sehr fleißig, während wir geschlafen haben. Irgendwelche besonderen Vorfälle?«
»Das eine oder andere.«
»Sehr interessant.« Sajaki lächelte. »Das eine oder andere also. Ich nehme nicht an, dass Sie zwischen dem ›einen‹ und dem ›anderen‹ etwas bemerkt haben, was ein Licht auf Nagornys Tod werfen könnte?«
»Ich habe mich schon gefragt, wo Nagorny geblieben ist. Jetzt haben Sie mir die Antwort gegeben.«
»Aber meine Frage ist noch offen.«
Volyova machte sich über ihre Grapefruit her. »Als ich ihn das letzte Mal sah, war er noch am Leben. Ich habe keine Ahnung… woran ist er denn gestorben?«
»Der Kälteschlaftank hat ihn vorzeitig erwärmt. Daraufhin setzten diverse bakteriologische Prozesse ein. Ich brauche wohl nicht weiter ins Detail zu gehen?«
»Nicht beim Frühstück, nein, danke.« Offenbar hatten sie ihn nicht genauer untersucht, sonst wären ihnen die Verletzungen, die er während seines Todeskampfes erlitten hatte, womöglich doch aufgefallen, obwohl sie sich bemüht hatte, sie zu kaschieren. »Verzeihung«, sagte sie mit einem schnellen Blick auf Sudjic. »Ich wollte keine Gefühle verletzen.«
»Natürlich nicht«, sagte Sajaki und riss ein Stück Brot in zwei Teile. Dann starrte er Sudjic mit seinen eng zusammenstehenden, ellipsenförmigen Augen so durchdringend an, als sei sie ein tollwütiger Hund. Die Tätowierungen, die er sich zugelegt hatte, als er sich bei den Raumpiraten von Bloater einschleusen ließ, waren inzwischen verschwunden, aber feine, weißliche Linien waren trotz der langwierigen Behandlungen während des Kälteschlafs geblieben. Vielleicht, dachte Volyova, hatte Sajaki seine Nanomaschinen sogar angewiesen, nicht alle Spuren seiner Heldentaten bei den Bloaterianern zu beseitigen; vielleicht betrachtete er die Narben als Trophäen des wirtschaftlichen Sieges, den er dort errungen hatte. »Ich bin sicher, dass niemand von uns Ilia in irgendeiner Weise für Nagornys Tod verantwortlich macht — nicht wahr, Sudjic?«
»Warum sollte ich ihr die Schuld an einem Unfall geben?«, fragte Sudjic.
»Genau. Und damit ist die Sache erledigt.«
»Nicht ganz«, widersprach Volyova. »Vielleicht sollte ich das Thema nicht gerade jetzt anschneiden, aber…« Sie verstummte. »Ich wollte nur sagen, dass ich gern die Implantate aus seinem Kopf entfernen möchte. Aber selbst wenn man mir das gestattete, sie wären wahrscheinlich beschädigt.«
»Können Sie keine neuen anfertigen?«, fragte Sajaki.
»Schon, aber das kostet Zeit.« Sie seufzte resigniert. »Ich brauche auch einen neuen Waffenoffizier.«
»Wenn wir um Yellowstone Zwischenstation machen«, sagte Hegazi, »können Sie sich doch jemanden suchen?«
Auf der anderen Seite der Lichtung gingen die Ritter immer noch aufeinander los, aber niemand beachtete sie mehr, obwohl dem einen offenbar ein Pfeil durch das Visier gedrungen war, der ihn sehr behinderte.
»Es wird sich schon ein passender Kandidat finden«, sagte Volyova.
Die kalte Luft im Haus der Mademoiselle roch so sauber, wie Khouri es seit ihrer Ankunft auf Yellowstone nicht mehr erlebt hatte. Was nicht allzu viel bedeutete. Sauber, aber nicht gut. Eher wie in dem Sanitätszelt auf Sky’s Edge mit seiner Mischung aus Jod, Kohl und Chlor, wo sie Fazil zum letzten Mal gesehen hatte.
Sie waren mit Manoukhians Gondel quer durch die Stadt und unter der Oberfläche durch ein teilweise überflutetes Aquädukt bis in eine unterirdische Höhle gefahren. Dort waren sie in einen Fahrstuhl umgestiegen, der so schnell nach oben raste, dass ihnen fast das Trommelfell platzte. Schließlich waren sie in diesem dunklen Gang gelandet, wo jeder Schritt ein Echo erzeugte. Vermutlich war es nur die Akustik, aber Khouri hatte das Gefühl, durch ein riesiges, unbeleuchtetes Mausoleum zu schreiten. Hoch oben in der Wand gab es Fenster mit filigranen Gittern, durch die jedoch nur mitternächtlich fahles Licht hereinfiel. Nachdem es draußen noch Tag war, verursachte das ein leises Unbehagen.
»Die Mademoiselle liebt das Tageslicht nicht«, sagte Manoukhian und ging weiter.
»Was Sie nicht sagen!« Khouris Augen gewöhnten sich allmählich an die Düsternis, sie konnte mehrere große Gegenstände unterscheiden. »Sie sind nicht von hier, Manoukhian?«
»Damit sind wir wohl schon zu zweit.«
»Sind Sie auch durch eine Verwechslung nach Yellowstone gekommen?«
»Nicht ganz.« Sie merkte, dass Manoukhian sich überlegte, wie viel er ihr anvertrauen durfte. Das war seine Schwäche, dachte Khouri. Für einen Berufskiller oder was immer er sein mochte, war er viel zu gesprächig. Auf der Fahrt hierher hatte er ununterbrochen mit seinen Heldentaten in Chasm City geprahlt — einem anderen als diesem eiskalten Typen mit dem ausländischen Akzent und der Trickwaffe hätte sie kein Wort geglaubt. Bei Manoukhian stand jedoch zu befürchten, dass vieles davon auch wahr sein konnte. »Nein«, sagte er. Seine Freude am Erzählen war ganz offensichtlich stärker als die mürrische Verschlossenheit, die ein Zeichen seines Berufes war. »Nein, es war keine Verwechslung. Aber es war ein Fehler — oder zumindest ein Unfall.«
Von den sperrigen Gegenständen gab es eine ganze Menge. Ihre Form war schwer zu erkennen, aber sie steckten alle auf schmalen Stangen, die auf schwarzen Postamenten ruhten. Einige erinnerten an Teile einer Eierschale, andere an zarte Hirnkorallen. Alle hatten einen metallischen Glanz, dem das fahle Licht im Gang jede Farbe entzog.
»Sie hatten einen Unfall?«
»Nein… nicht ich. Sie. Die Mademoiselle. So haben wir uns kennen gelernt. Sie war… eigentlich dürfte ich Ihnen das alles nicht erzählen, Khouri. Wenn sie davon erfährt, bin ich ein toter Mann. Im Mulch kann man eine Leiche jederzeit verschwinden lassen. He, wissen Sie, was ich neulich dort gefunden habe? Sie werden es mir nicht glauben, es war ein ganzes verdammtes…«
Und schon war er in der nächsten Geschichte. Khouri strich mit der Hand über eine der Skulpturen. Sie fühlte sich kühl und metallisch an. Die Kanten waren sehr scharf. Sie kam sich vor, als wären sie und Manoukhian zwei Kunstliebhaber, die mitten in der Nacht heimlich in ein Museum eingebrochen waren. Die Skulpturen standen reglos da, als warteten sie auf etwas — aber ihre Geduld schien nicht unerschöpflich.
Verwirrt erkannte Khouri, dass sie um die Gesellschaft des Killers froh war.
»Hat sie die gemacht?«, unterbrach sie Manoukhians Redeschwall.
»Schon möglich«, sagte Manoukhian. »In diesem Fall könnte man sagen, sie hätte für ihre Kunst gelitten.« Er hielt inne und fasste sie an der Schulter. »Also. Sehen Sie die Treppe dort?«
»Ich nehme an, ich soll sie hinaufsteigen.«
»Sie begreifen schnell.«
Er drückte ihr leicht die Waffe in den Rücken — nur zur Erinnerung.
Durch eine Luke in der Wand neben der Kabine des Toten sah Volyova einen orangeroten Gasriesen. Der Südpol lag im Schatten, Polarlichter zuckten darüber hin. Sie befanden sich tief im Innern des Epsilon Eridani-Systems und flogen in einem flachen Winkel zur Ekliptik. Yellowstone war nur noch Tage entfernt; sie schlängelten sich nur wenige Lichtminuten abseits vom interplanetaren Verkehr durch ein Netz von Sichtfunkverbindungen, an das alle größeren Habitats und Raumschiffe im System angeschlossen waren. Auch ihr eigenes Schiff hatte sich verändert. Durch dasselbe Fenster konnte Volyova auch das vordere Ende eines der Synthetiker-Triebwerke erkennen. Sobald das Schiff die zur Stauverdichtung erforderliche Geschwindigkeit unterschritt, hatten die Triebwerke ihre Ramscoop-Felder eingezogen und ihre Form unmerklich auf interplanetare Verhältnisse umgestellt. Der Ansaugschlund schloss sich wie eine Blüte am Abend. Irgendwie erzeugten die Triebwerke zwar immer noch Schub, aber woher sie die Reaktionsmasse oder die Energie zur Beschleunigung nahmen, war nur eines von vielen Geheimnissen der Synthetiker-Technologie. Vermutlich konnten die Triebwerke nur für begrenzte Zeit so funktionieren, sonst wäre es nicht nötig, im interstellaren Betrieb das All nach Treibstoff abzufischen…
Ihre Gedanken schweiften ab, jedes andere Thema wäre ihr lieber gewesen als das gerade anstehende Problem.
»Ich denke, sie wird Schwierigkeiten machen«, sagte Volyova. »Ernsthafte Schwierigkeiten.«
»Nicht, wenn ich sie richtig einschätze.« Triumvir Sajaki schenkte ihr ein Lächeln. »Sudjic kennt mich zu gut. Sie weiß, dass ich keine Zeit mit einer Abmahnung verschwenden würde, wenn sie gegen ein Mitglied des Triumvirats vorginge. Ich würde ihr nicht einmal den Gefallen tun, sie von Bord gehen zu lassen, wenn wir Yellowstone erreichen. Ich würde sie sofort töten.«
»Das wäre doch etwas zu hart.«
Ein schwächlicher Einwand, sie verachtete sich dafür, aber so dachte sie nun einmal. »Ich kann sie ja sogar verstehen. Immerhin hatte Sudjic nichts gegen mich persönlich, bis ich… bis Nagorny starb. Könnten Sie nicht einfach eine disziplinarische Strafe verhängen, falls sie gegen mich vorgehen sollte?«
»Das lohnt sich nicht«, sagte Sajaki. »Wenn sie vorhat, Ihnen etwas anzutun, wird sie sich nicht mit kleinlichen Schikanen begnügen. Wenn ich sie nur bestrafe, findet sie sicher eine Möglichkeit, Ihnen dauerhaften Schaden zuzufügen. Das einzig Vernünftige wäre, sie zu töten. Immerhin — ich bin doch etwas erstaunt, dass Sie die Sache aus ihrer Warte betrachten. Haben Sie noch nicht daran gedacht, dass Nagornys Probleme auf sie abgefärbt haben könnten?«
»Sie fragen mich, ob ich sie für vollkommen normal halte?«
»Das spielt keine Rolle. Sie wird jedenfalls nichts gegen Sie unternehmen — darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«
Sajaki hielt inne. »Können wir das Thema damit abschließen? Ich habe von Nagorny bis an mein Lebensende genug gehört.«
»Das kann ich Ihnen nachfühlen.«
Es war einige Tage nach dem ersten Wiedersehen mit der Crew. Sie standen auf Deck 821 und waren im Begriff, die Kabine des Toten zu betreten. Sie war seit seinem Tod versiegelt gewesen — soweit es die anderen betraf, sogar noch länger. Nicht einmal Volyova war hineingegangen, um keine verräterischen Spuren zu hinterlassen.
Jetzt sprach sie in ihr Armband. »Sicherheitssperre Kabine Waffenoffizier Boris Nagorny deaktivieren. Gezeichnet Volyova.«
Die Tür öffnete sich und entließ einen deutlich spürbaren Schwall stark gekühlter Luft.
»Schicken Sie sie hinein«, sagte Sajaki.
Binnen weniger Minuten hatten die bewaffneten Servomaten den Raum abgesucht und festgestellt, dass keine erkennbare Gefahr drohte. Damit war natürlich auch nicht zu rechnen gewesen. Nagorny hatte seinen Tod wohl kaum für genau den gleichen Zeitpunkt geplant wie Volyova. Aber bei Leuten wie ihm konnte man nie sicher sein.
Die Servomaten hatten bereits die Beleuchtung eingeschaltet. Volyova und Sajaki traten ein.
Nagorny war, wie die meisten Psychopathen, die Volyova kennen gelernt hatte, stets damit zufrieden gewesen, auf engstem Raum zu leben. Seine Kabine war noch voller als die ihre und von einer so fanatischen Ordnungsliebe gekennzeichnet, als sei hier ein Heinzelmännchen am Werk gewesen. Auf den Regalen waren die meisten von Nagornys Habseligkeiten — viele waren es ohnehin nicht — so gut befestigt, dass sie auch während der Schiffsmanöver, die ihn getötet hatten, an Ort und Stelle geblieben waren.
Sajaki schnitt eine Grimasse und hielt sich den Ärmel vor die Nase. »Dieser Geruch.«
»Das ist Borschtsch. Rote Bete. Nagorny hatte eine Vorliebe dafür, wenn ich mich nicht irre.«
»Erinnern Sie mich daran, sie nicht zu probieren.«
Sajaki schloss die Tür.
Noch hing ein frostiger Hauch im Raum. Den Thermometern nach herrschte Zimmertemperatur, aber die Luftmoleküle schienen noch etwas von der monatelangen Kälte zu bewahren, und die bedrückende Kargheit des Raumes wirkte diesem Eindruck auch nicht entgegen. Verglichen damit war Volyovas Kabine ein Luxusquartier. Das Problem war weniger, dass Nagorny versäumt hätte, seinem Domizil einen persönlichen Anstrich zu geben. Aber er hatte dabei für normale Begriffe so kläglich versagt, dass sich seine Bemühungen ins Gegenteil verkehrt hatten. Der Raum wirkte noch trostloser, als wenn er leer gewesen wäre.
Der Sarg machte die Sache nicht besser.
Das längliche Behältnis war als einziger Gegenstand im Raum nicht fest vertäut gewesen, als sie Nagorny tötete. Es war noch heil, aber Volyova ahnte, dass es einmal aufrecht gestanden und den ganzen Raum mit seiner schrecklich drohenden Würde beherrscht hatte. Der riesige Sarg war vermutlich aus Eisen, jedenfalls war er schwarz wie Ebenholz und schluckte das Licht wie die Außenseite eines Schleierweberverstecks. Alle Oberflächen waren mit Flachreliefs geschmückt, aber die Motive waren zu komplex, um ihre Geheimnisse auf den ersten Blick preiszugeben. Volyova betrachtete sie schweigend. Soll das etwa heißen, dachte sie, Boris Nagorny wäre zu so etwas fähig gewesen?
»Yuuji«, sagte sie. »Das gefällt mir gar nicht.«
»Das kann ich Ihnen nicht verdenken.«
»Was für ein Verrückter baut sich denn seinen eigenen Sarg?«
»Einer, der zu allem entschlossen ist, würde ich sagen. Aber der Sarg ist nun einmal da, und er ist vermutlich unsere einzige Möglichkeit, einen Blick in sein Bewusstsein zu werfen. Was halten Sie von den Verzierungen?«
»Zweifellos eine Projektion seiner Psychose, eine Konkretisierung.« Indem Sajaki sie zwang, Ruhe zu bewahren, drängte er sie in eine unterwürfige Haltung. »Ich sollte die Metaphorik studieren. Vielleicht begreife ich dann mehr.«
Sie hielt inne, dann fügte sie hinzu: »Ich meine, wir sollten den gleichen Fehler nicht zwei Mal machen.«
»Sehr vernünftig«, sagte Sajaki. Er kniete nieder und strich mit dem behandschuhten Zeigefinger über die eingeritzten Schnörkel. »Ein Glück, dass sie nicht auch noch in die Situation kamen, ihn töten zu müssen.«
»Ja«, sagte sie und sah ihn skeptisch an. »Aber was halten Sie denn nun von den Verzierungen, Yuuji-san?«
»Ich wüsste gerne, wen oder was er mit Sonnendieb meint«, sagte er. Nun sah auch sie, dass dieses Wort in kyrillischen Lettern in den Sarg geschnitzt war. »Ist Ihnen der Ausdruck irgendwie bekannt? Was bedeutete er für Nagorny? In Zusammenhang mit seiner Psychose, meine ich.«
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung.«
»Lassen Sie mich trotzdem einmal raten. Ich würde sagen, in Nagornys Phantasie stellte dieser Sonnendieb jemanden dar, mit dem er tagtäglich zu tun hatte, und da bieten sich zwei Möglichkeiten an.«
»Er selbst oder ich«, sagte Volyova. Sie wusste, dass Sajaki nicht so leicht von einer Fährte abzubringen war. »Ja, ja, das liegt auf der Hand… aber es bringt uns keinen Schritt weiter.«
»Sie sind ganz sicher, dass er diesen Sonnendieb nie erwähnt hat?«
»Das hätte ich sicher nicht vergessen.«
Das stimmte sogar. Natürlich erinnerte sie sich: schließlich hatte Nagorny genau dieses Wort mit seinem eigenen Blut an ihre Kabinenwand geschrieben. Es war ihr also durchaus vertraut, auch wenn sie nichts damit anfangen konnte. Vor dem unerfreulichen Ende ihrer beruflichen Beziehung hatte Nagorny kaum noch von etwas anderem gesprochen. Sonnendieb geisterte durch seine Träume und er sah wie alle Paranoiker selbst hinter den alltäglichsten Ärgernissen Sonnendiebs boshafte Hand. Ob auf dem Schiff plötzlich ein Licht ausfiel, ob ihn ein Fahrstuhl im falschen Deck absetzte, alles war Sonnendiebs Werk. Es gab keine einfachen Pannen, es gab nur gezielte Machenschaften eines hinter den Kulissen agierenden Wesens, das nur Nagorny wahrnehmen konnte. Volyova hatte die Zeichen törichterweise nicht zur Kenntnis genommen. Sie hatte gehofft — ja, gebetet, soweit ihr das möglich war —, das Phantom möge in die Jenseitswelt von Nagornys Unterbewusstsein zurückkehren. Aber Sonnendieb war bei seinem Opfer geblieben; der Sarg auf dem Fußboden war Zeuge dafür.
Nein… so etwas hätte sie nicht vergessen.
»Gewiss nicht«, sagte Sajaki mit wissendem Lächeln und wandte sich wieder den Reliefs zu. »Ich finde, wir sollten zuerst eine Kopie dieser Muster anfertigen«, sagte er. »Sie könnten uns helfen, aber durch diesen verdammten Braille-Effekt sind sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen. Was mag das wohl sein?« Er fuhr mit der flachen Hand über ein Strahlenmuster. »Vogelschwingen? Oder Sonnenstrahlen von oben? Ich finde, es sieht eher nach Vogelschwingen aus. Aber warum sollte er sich mit Vogelschwingen beschäftigen? Und was ist das überhaupt für eine Sprache?«
Volyova sah hin, aber das Mustergewirr überforderte sie. Die Sache interessierte sie — sogar sehr. Aber sie wollte den Sarg für sich allein und wünschte sich Sajaki möglichst weit weg. Hier schrie alles viel zu laut, in welch bodenlose Tiefen Nagornys Verstand gestürzt war.
»Ich denke, man muss sich eingehender damit auseinandersetzen«, sagte sie vorsichtig. »Sie sagten ›zuerst‹. Was gedenken Sie zu tun, nachdem wir die Kopie angefertigt haben?«
»Ich dachte, das versteht sich von selbst.«
»Sie wollen das verdammte Ding zerstören«, vermutete sie.
Sajaki lächelte. »Oder es Sudjic überlassen. Aber ich persönlich wäre dafür, es zu zerstören. Särge haben auf einem Schiff nichts zu suchen, schon gar nicht, wenn sie selbst gefertigt sind.«
Die Treppe ging immer weiter. Nach einer Weile — sie hatte mehr als zweihundert Stufen gezählt — gab Khouri auf. Doch gerade als ihr die Knie weich zu werden drohten, waren die Stufen plötzlich zu Ende, und sie stand in einem langen weißen Korridor mit vielen Nischen zu beiden Seiten. Sie kam sich vor wie auf einer Portikus im Mondschein. Mit hallenden Schritten ging sie bis zur Doppeltür am Ende des Gangs. Die Türblätter waren mit schwarzen Schneckenmustern verziert und hatten leicht getönte Glasfenster. Aus dem Raum dahinter drang lavendelfarbenes Licht.
Sie war offenbar am Ziel.
Es war durchaus möglich, dass es sich um eine Falle handelte und dass es glatter Selbstmord wäre, den Raum zu betreten. Aber Umkehren kam nicht in Frage — das hatte ihr Manoukhian charmant, aber unmissverständlich klar gemacht. Also legte Khouri die Hand auf die Türklinke und trat ein. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln in der Nase, ein leichter Blütenduft überdeckte den Krankenhausgeruch im Rest des Hauses. Khouri fühlte sich ungewaschen, obwohl erst wenige Stunden vergangen waren, seit Ng sie geweckt und ihr befohlen hatte, sich auf den Weg zu machen, um Taraschi zu töten. Seither hatte der Regen von Chasm City für einen Monat Schmutz auf ihr abgeladen, und der hatte sich mit ihrem Angstschweiß vermischt.
»Manoukhian hat es also geschafft, Sie heil zu mir zu bringen«, sagte eine Frauenstimme.
»Mich oder sich?«
»Beides, mein Kind«, antwortete die unsichtbare Sprecherin. »Ihr habt alle beide einen Furcht erregenden Ruf.«
Die Doppeltür fiel hinter Khouri ins Schloss. Sie sah sich um. Nicht ganz einfach in diesem seltsamen rosigen Licht. Der Raum war rund wie ein Kessel. In eine der konkaven Wände waren zwei Fenster mit geschlossenen Läden eingelassen, die wie Augen aussahen.
»Willkommen in meinem Heim«, sagte die Stimme, »fühlen Sie sich bitte ganz wie zu Hause.«
Khouri trat an die Fenster. Seitlich davon standen zwei Kälteschlaftanks, die glänzten wie verchromte Silberfische. Einer der Behälter war geschlossen und in Betrieb, der andere stand offen und wartete darauf, dass sich ein Schmetterling darin verpuppte.
»Wo bin ich?«
Die Läden flogen auf.
»Wo Sie immer waren«, sagte die Mademoiselle.
Unter ihr lag Chasm City. Aber so hoch oben war sie noch nie gewesen. Sie befand sich noch über dem Moskitonetz, vielleicht fünfzig Meter von seiner fleckigen Oberfläche entfernt. Die Stadt lag unter dem Netz wie ein phantastisches, in Formaldehyd konserviertes Meeresungeheuer. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war, nur, dass dies eins der höchsten Gebäude sein musste und dass sie es wahrscheinlich für unbewohnt gehalten hatte.
Die Mademoiselle sagte: »Ich nenne es das Château des Corbeaux, das Rabenschloss. Weil es so schwarz ist. Sie haben es sicher schon gesehen.«
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Khouri endlich.
»Sie sollen einen Auftrag für mich erledigen.«
»Und deshalb dieser Aufwand? Ich meine, warum mussten Sie mich mit vorgehaltener Waffe entführen lassen, nur weil Sie einen Auftrag für mich haben? Warum sind Sie nicht den normalen Weg gegangen?«
»Weil es kein normaler Auftrag ist.«
Khouri nickte zu dem offenen Kälteschlaftank hin. »Was hat der damit zu tun?«
»Sagen Sie nicht, er wäre Ihnen unheimlich. Schließlich sind Sie in so einem Ding auf unsere Welt gekommen.«
»Ich wollte nur wissen, was er hier soll.«
»Alles zu seiner Zeit. Drehen Sie sich bitte um?«
Khouri hörte ein leises Surren hinter sich, als würde ein Aktenschrank geöffnet.
Eine Hermetikersänfte war in den Raum gekommen. Vielleicht war sie auch schon die ganze Zeit da gewesen, nur durch irgendeinen Trick getarnt. Der Palankin war so dunkel und eckig wie ein Metronom und wies keinerlei Ornamente auf. Die Außenhülle war primitiv zusammengeschweißt und vollkommen glatt. Khouri sah keine Sensoren und das winzige Monokel auf der Vorderseite war so schwarz wie das Auge eines Hais.
»Sie hatten sicher schon mit Artgenossen von mir zu tun«, sagte eine Stimme aus dem Palankin. »Also kein Grund zur Beunruhigung.«
»Ich bin nicht beunruhigt«, sagte Khouri.
Aber das war eine Lüge. Die Kiste war beunruhigend; sie hatte eine Ausstrahlung, wie sie sie in Gegenwart von Ng oder anderen Hermetikern ihrer Bekanntschaft nie gespürt hatte. Vielleicht lag es daran, dass der Palankin so völlig schmucklos war, vielleicht auch an dem — ganz unterbewussten — Gefühl, dass die Kiste nur selten bewohnt war. Das ungewöhnlich kleine Sichtfenster nährte noch den Verdacht, hinter den schwarzen, undurchsichtigen Wänden verberge sich ein Ungeheuer.
»Ich kann Ihnen jetzt nicht alle Ihre Fragen beantworten«, sagte die Mademoiselle. »Aber ich habe Sie natürlich nicht nur hierher bringen lassen, um Ihnen zu zeigen, in welcher Zwangslage ich mich befinde. Vielleicht bringt uns das weiter.«
Neben dem Palankin entstand eine Gestalt, die sich rasch verfestigte.
Es war natürlich eine Frau — eine junge Frau, und sie war paradoxerweise mit einer Eleganz gekleidet, die auf Yellowstone seit der Seuche völlig aus der Mode gekommen war. Entoptische Figuren umflimmerten sie. Das schwarze Haar war straff aus der edlen Stirn gekämmt und wurde von einer blitzenden Spange gehalten. Das stahlblaue Gewand war schulterfrei und hatte ein gewagtes Dekollete. Wo der Stoff den Boden berührte, schien er sich aufzulösen.
»So war ich«, sagte die Gestalt. »Bevor die Fäulnis zuschlug.«
»Warum können Sie sich nicht immer noch so zeigen?«
»Ich kann die Sänfte nicht verlassen, das Risiko ist zu groß — selbst in den Schutzzonen für Hermetiker. Ich traue den Sicherheitsvorkehrungen nicht.«
»Warum haben Sie mich hierher bringen lassen?«
»Hat Ihnen das Manoukhian nicht ausführlich erklärt?«
»Das kann man nicht sagen. Er meinte nur, es sei meiner Gesundheit förderlicher, wenn ich mit ihm käme.«
»Wie unfein. Aber durchaus zutreffend, das lässt sich nicht bestreiten.« Das starre, fahle Frauengesicht verzog sich zu einem Lächeln. »Aus welchem Grund ließ ich Sie wohl hierher bringen, was meinen Sie?«
Was immer hinter alledem stecken mochte, Khouri wusste, dass sie schon zu viel gesehen hatte. Sie konnte nicht mehr in die Stadt zurückkehren und ihr normales Leben wiederaufnehmen.
»Ich bin Berufskiller. Manoukhian hat mich bei der Arbeit gesehen und mir bestätigt, ich würde meinem Ruf gerecht. Nun vermute ich — das mag etwas voreilig sein —, dass ich jemanden für Sie töten soll.«
»Sehr gut.« Die Gestalt nickte. »Aber hat Ihnen Manoukhian auch erklärt, dass es sich um keinen gewöhnlichen Auftrag handelt?«
»Er hat von einem entscheidenden Unterschied gesprochen.«
»Und würde Sie das stören?« Die Mademoiselle sah sie eindringlich an. »Ein interessanter Punkt, nicht wahr? Mir ist bekannt, dass Ihre Opfer normalerweise ihr Einverständnis geben, sich töten zu lassen, bevor Sie die Verfolgung aufnehmen. Aber sie tun das nur, weil sie überzeugt sind, Ihnen entrinnen und hinterher damit prahlen zu können. Wenn Sie sie erst gestellt haben, treten wohl die wenigsten widerspruchslos ab.«
Khouri dachte an Taraschi. »Das ist richtig. Meistens flehen sie mich an, sie zu schonen, versuchen mich zu bestechen und so weiter.«
»Und?«
Khouri zuckte die Achseln. »Ich töte sie trotzdem.«
»Eine sehr professionelle Einstellung. Sie waren Soldat, Khouri?«
»Früher.« Daran wollte sie jetzt wirklich nicht denken. »Wie weit sind Sie über meine Vergangenheit informiert?«
»So weit wie nötig. Ihr Mann — er hieß Fazil — war ebenfalls Soldat. Sie haben gemeinsam auf Sky’s Edge gekämpft. Dann ist etwas passiert. Es kam zu einer Verwechslung. Man brachte Sie auf ein Schiff, das Kurs auf Yellowstone nahm. Der Fehler wurde erst zwanzig Jahre später bemerkt, als Sie hier erwachten. Da war es für eine Rückkehr nach Sky’s Edge bereits zu spät — selbst wenn Sie gewusst hätten, dass Fazil noch lebte. Bis zu Ihrer Ankunft wäre er vierzig Jahre älter gewesen.«
»Nun wissen Sie, warum mir die Vorstellung, zum Killer zu werden, keine schlaflosen Nächte bereitet hat.«
»Nein; ich kann mich gut in Sie hineinversetzen. Sie fühlten sich dem Universum und seinen Bewohnern gegenüber zu nichts verpflichtet.«
Khouri nickte. »Aber für einen solchen Auftrag brauchen Sie keinen ehemaligen Soldaten. Dafür brauchen Sie nicht einmal unbedingt mich. Ich weiß nicht, wen sie umlegen lassen wollen, aber es gibt bessere Leute. Ich meine, ich bin technisch gut — nur ein Fehler auf zwanzig Schüsse. Aber ich kenne Leute, bei denen steht es fünfzig zu eins.«
»Sie erfüllen andere Voraussetzungen. Ich suche jemanden, der gern bereit ist, diese Stadt zu verlassen.« Die Gestalt nickte zu dem offenen Kälteschlaftank hinüber. »Um auf eine lange Reise zu gehen.«
»Über das System hinaus?«
»Ja.« Das klang mütterlich nachsichtig, so als habe die Frau dieses Gespräch in seinen Grundzügen Dutzende von Malen geprobt. »Genauer gesagt über zwanzig Lichtjahre. Das ist die Entfernung nach Resurgam.«
»Ich könnte nicht behaupten, von dieser Welt schon gehört zu haben.«
»Das würde mich auch beunruhigen.« Die Mademoiselle streckte den linken Arm aus. Wenige Zentimeter über ihrer Handfläche erschien eine kleine Kugel. Eine graue, tote Welt — keine Meere, keine Flüsse, kein Grün. Nur ein dünner Atmosphäreschleier — als feiner Bogen am Horizont zu erkennen — und zwei schmutzigweiße Eiskappen deuteten darauf hin, dass es sich nicht um einen Mond ohne Lufthülle handelte. »Es ist nicht einmal eine von den neueren Kolonien — oder nicht das, was wir unter einer Kolonie verstehen. Auf dem ganzen Planeten gibt es nur ein paar kleine Forschungsstationen. Bis vor kurzem hatte Resurgam nicht die geringste Bedeutung. Aber das hat sich geändert.« Die Mademoiselle hielt inne, wie um sich zu sammeln. Vielleicht überlegte sie, wie viel sie in diesem Stadium schon preisgeben wollte. »Jemand ist auf Resurgam eingetroffen — ein Mann namens Sylveste.«
»Kein sehr häufiger Name.«
»Dann wissen Sie, welches Ansehen sein Clan auf Yellowstone genießt. Gut. Das vereinfacht die Dinge ganz gewaltig. Sie werden ihn ohne Mühe finden.«
»Aber es ist nicht damit getan, dass ich ihn finde?«
»O nein«, sagte die Mademoiselle. Sie fing die Kugel mit der Hand ein und zerdrückte sie zwischen den Fingern, bis feiner Staub zu Boden rieselte. »Bei weitem nicht.«