Achtundzwanzig

Cerberus/Hades,

an der Heliopause von Delta Pavonis

2566


Wieder hatte Volyova die Kontrolle verloren.

Sie musste hilflos zusehen, wie die Weltraumgeschütze das Feuer auf Cerberus eröffneten. Die Strahlenwaffen fanden das Ziel natürlich zuerst und meldeten den Treffer mit einem bläulichweißen Lichtblitz, der genau an der Stelle der grauen, trockenen Oberfläche aufflammte, wo in Kürze der Brückenkopf aufschlagen sollte. Die relativistischen Projektilwaffen waren kaum langsamer. Nur wenige Sekunden später trafen auch von ihnen Erfolgsmeldungen ein: Neutronen- und Antimateriegeschosse krachten in die Kruste und erzeugten spektakuläre Druckwellen. Volyova schrie immer wieder die Befehle zur Entschärfung in ihr Armband, obwohl sie eigentlich kaum noch Hoffnung hatte, die Waffen beeinflussen zu können. Zunächst hatte sie törichterweise gedacht, das Ersatzarmband sei defekt, aber das konnte natürlich nicht der Grund sein, warum sich die Waffen selbständig gemacht hatten. Sie hatten gezielt gefeuert; und ebenso gezielt hatten sie ihren Befehl missachtet, in den Rumpf des Schiffes zurückzukehren.

Eine andere Instanz hatte das Steuer übernommen.

»Was ist los?«, fragte Pascale, ohne wirklich eine vernünftige Antwort zu erwarten.

»Es muss Sonnendieb sein«, sagte Volyova und ließ das Armband endlich in Ruhe. Es gab ohnehin keine Aussicht mehr, die Kontrolle über die Waffen zurückzugewinnen. »Khouris Mademoiselle kommt nicht in Frage. Selbst wenn sie noch imstande wäre, die Geschütze zu beeinflussen, würde sie alles tun, was in ihrer Macht steht, um diese Entwicklung zu verhindern.«

»Ein Teil von ihm muss im Leitstand geblieben sein«, sagte Khouri und brach so plötzlich ab, als bedauere sie die Worte. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Ich meine, wir wussten immer, dass er in den Leitstand eingreifen konnte — nur deshalb konnte er schließlich Widerstand leisten, als die Mademoiselle Sylveste mit dem ersten Geschütz töten wollte.«

»Aber mit solcher Präzision?« Volyova schüttelte den Kopf. »Nicht alle meine Befehle an die Weltraumgeschütze gehen über den Leitstand; ich wusste ja, dass ich das nicht riskieren durfte.«

»Soll das heißen, dass auch die anderen nicht wirken?«

»Sieht ganz danach aus.«

Auf dem Display war zu sehen, dass die Geschütze nicht mehr feuerten. Sie hatten ihre Energie oder Munition verschossen und gingen nun in einen Orbit um Hades. Dort würden sie ein paar Millionen Jahre untätig verharren, bis sie durch Gravitationsschwankungen aus der Bahn gedrängt wurden. Dann würden sie auf Cerberus stürzen oder zu den Trojanischen Punkten hinausgeschleudert werden, um dort vielleicht sogar den Tod des Roten Riesen Delta Pavonis zu überdauern. Für Volyova war es ein gewisser Trost, dass niemand die unbrauchbaren Waffen mehr gegen sie einsetzen konnte. Aber für solche Überlegungen war es viel zu spät. Der Schaden gegen Cerberus war bereits angerichtet, und der Brückenkopf war kaum noch aufzuhalten. Die Wirkung des Angriffs war bereits auf dem Display zu beobachten. Am Aufschlagspunkt schossen Fontänen von pulverisiertem Regolith ins All.

Sylveste erreichte die Krankenstation. Sajaki hing zentnerschwer an seiner Schulter. Der Mann wog viel zu viel für seinen schmächtigen Körper, dachte Sylveste. Ob das wohl am Gewicht der Maschinen lag, die durch sein Blut strömten oder in seinen Zellen schliefen, bis sie durch eine Krise wie diese aktiviert wurden? Sajaki fühlte sich auch heiß an, als hätte er Fieber — vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Nanos mit ungezügelter Vermehrungswut reagierten, um die Anforderungen der Situation zu bewältigen, und auch Moleküle aus dem ›normalen‹ Gewebe des Mannes dienstverpflichteten, bis die Gefahr abgewendet war. Sylveste warf zögernd einen Blick auf das lädierte Handgelenk des Triumvirs. Die Blutung war zum Stillstand gekommen. Die grässliche Wunde war bereits mit einer Membran verschlossen. Von innen drang ein schwacher bernsteingelber Schein durch das Gewebe.

Servomaten eilten ihm aus der Krankenstation entgegen, nahmen ihm die Last ab, legten Sajaki auf eine Liege und untersuchten ihn. Schwanenhalsgleiche Monitoren schwenkten über das Bett; Neuralsensoren hefteten sich sanft an seine Kopfhaut. Die Wunde erregte offenbar keine größere Besorgnis. Vielleicht hatten die Diagnosesysteme bereits Verbindung mit den Nanomaschinen aufgenommen und erfahren, dass in diesem Stadium kein weiteres Eingreifen erforderlich war. Sylveste fiel auf, dass der Triumvir trotz seiner Schwäche das Bewusstsein nicht verloren hatte.

»Wie konnten Sie Volyova so viel Vertrauen schenken?«, grollte er. »Sie hatte viel zu viel Macht, und sie hat alles ruiniert. Das war ein schwerer Fehler, Sajaki.«

Sajakis Flüstern war nur ein Hauch. »Wir mussten ihr doch vertrauen, Dummkopf. Sie war eine von uns! Teil des Triumvirats!« Heiser fuhr er fort: »Was wissen Sie über Khouri?«

»Sie war ein Infiltrator«, sagte Sylveste. »Man hatte sie eingeschleust. Sie sollte mich suchen und töten.«

Damit entlockte er Sajaki nur ein Lächeln. »Das ist alles?«

»Alles, was ich von ihrer Geschichte glaube. Ich weiß nicht, wer sie geschickt hat und warum — aber sie präsentierte eine absurde Rechtfertigung, die Volyova und meine Frau offenbar für die reine Wahrheit halten.«

»Es ist noch nicht vorbei«, sagte Sajaki. Seine Augen waren weit aufgerissen und gelblich verfärbt. »Was meinen Sie, es ist noch nicht vorbei?«

»Ich weiß es einfach«, sagte Sajaki, dann schloss er die Augen und ließ sich zurücksinken. »Noch ist alles offen.«


Sylveste betrat die Brücke. »Er wird überleben«, sagte er. Er hatte ganz offensichtlich keine Ahnung, was hier soeben vorgefallen war.

Er sah sich um. Volyova konnte sich seine Verwirrung vorstellen. Oberflächlich betrachtet hatte sich nichts verändert, während er Sajaki auf die Krankenstation brachte — die Waffen befanden sich noch immer in den Händen derselben Personen, aber die Stimmung war eine völlig andere. Zum Beispiel stand Hegazi am falschen Ende von Khouris Nadler, aber er wirkte nicht wie ein Besiegter. Allerdings auch nicht wie ein strahlender Held.

Die Sache liegt nicht mehr in unserer Hand, dachte Volyova. Und Hegazi weiß es.

»Etwas ist schief gegangen, nicht wahr?«, fragte Sylveste. Er hatte inzwischen das Bild von Cerberus auf dem Display bemerkt, die blutende Wunde in der Kruste des Planeten. »Ihre Geschütze haben nun doch das Feuer eröffnet, genau wie wir es wollten.«

»Bedauere.« Volyova schüttelte den Kopf. »Ich hatte damit nichts zu tun.«

»Hör auf sie«, mahnte Pascale. »Was immer hier gespielt wird, wir sollten uns nicht einmischen. Es ist stärker als wir, Dan. Auf jeden Fall stärker als du — auch wenn du das nur schwer akzeptieren kannst.«

Er sah sie verächtlich an. »Begreifst du immer noch nicht? Genau das wollte Volyova erreichen.«

»Sie sind verrückt«, sagte Volyova.

»So eine Chance bekommen Sie niemals wieder«, sagte Sylveste. »Sie können Ihren Planetenzertrümmerer in Aktion sehen, nachdem Sie mit Ihrem leider erfolglosen Rückzieher in letzter Minute Ihr Gewissen beruhigt haben.« Er klatschte in die Hände. »Nein, wirklich — ich bin aufrichtig beeindruckt.«

»Sie werden bald aufrichtig tot sein.«

Sie hasste ihn für seine Bemerkung, fühlte sich aber doch irgendwie betroffen. Sie hätte alles getan, was in ihrer Macht stand, um zu verhindern, dass die Waffen ihren Auftrag erfüllten — verdammt; sie hatte alles in ihrer Macht Stehende getan, aber es hatte nichts genutzt. Selbst wenn sie dem Schiff nicht befohlen hätte, sie abzusetzen, Sonnendieb hätte sicher eine andere Möglichkeit gefunden, davon war sie überzeugt. Doch seit der Angriff erfolgt war, spürte sie nur noch Neugier, gepaart mit Fatalismus. Der Brückenkopf würde einschlagen wie geplant, es sei denn, sie fände noch einen Weg, ihn aufzuhalten, und sie wusste nicht, was sie noch versuchen sollte. Da es also keine Möglichkeit mehr gab, das Schlimmste zu verhindern, keimte klammheimlich so etwas wie Vorfreude in ihr auf. Verlockend war nicht nur, was die Aktion an neuen Erkenntnissen bringen mochte, sie wollte auch wissen, wie gut ihr Kind die Probe bestand. Wie immer es ausging — wie schrecklich die Folgen auch sein mochten —, dies würde zwangsläufig das faszinierendste Schauspiel werden, das sie jemals erlebt hatte. Und vielleicht das schrecklichste.

Jetzt konnte sie nur noch warten.

Die Zeit verging weder langsam noch schnell, denn Vorfreude und Angst hielten sich die Waage. Tausend Kilometer über Cerberus leitete der Brückenkopf die letzte Bremsphase ein. Die beiden Synthetiker-Triebwerke flammten auf wie zwei Miniatursonnen und verliehen der Landschaft darunter eine messerscharfe Klarheit. Krater und Schluchten zeichneten sich in ihrem gnadenlos grellen Schein so überdeutlich ab, dass die Kruste für einen Moment so künstlich wirkte, wie sie tatsächlich war; als hätten Cerberus’ Schöpfer sich zu sehr bemüht, die Verwitterungsspuren uralter Kometeneinschläge zu imitieren.

Auf ihrem Armband sah sie jetzt Bilder der nach unten gerichteten Kameras, die den Brückenkopf umrahmten.

Alle hundert Meter war ein Kameraring um den vier Kilometer langen Konus gelegt, so dass sich immer einige Kameras über- und unterhalb der Kruste befänden, wie tief er auch eindrang. Nun konnte sie auch durch die Kruste sehen; die Weltraumgeschütze hatten eine Wunde geschlagen, die noch nicht verheilt war.

Sylveste hatte nicht gelogen.

Darunter verbarg sich ein Schlangennest von riesigen organischen Gebilden. Die Hitze des Einschlags hatte sich verteilt, der schwarze Rauch, der immer noch aus dem Loch quoll, stammte vermutlich eher von brennenden Maschinen als von verkohlter Krustensubstanz. Die schlangenartigen Röhren bewegten sich nicht. Ihre segmentierte, silbrig glänzende Außenhaut war von schwarzen Flecken und hundert Meter breiten Schrammen gezeichnet, aus denen kleinere Schlangen herausgeschleudert worden waren wie explodierende Eingeweide.

Volyova hatte Cerberus verletzt.

Sie wusste nicht, ob die Wunde tödlich war oder nur ein Kratzer, der in wenigen Tagen heilen würde, jedenfalls hatte sie Schaden angerichtet, und die Erkenntnis ließ sie frösteln. Sie hatte ein fremdes Wesen verwundet…

Und dieses Wesen schlug nun zurück.

Als der Schlag erfolgte, zuckte sie zusammen. Sie hatte zwar damit gerechnet, aber nur mit dem Verstand. Der Brückenkopf war noch zwei Kilometer von der Oberfläche entfernt — die Hälfte seiner eigenen Länge.

Es ging fast zu schnell. Innerhalb eines Lidschlags veränderte sich die Kruste in erschreckender Weise. Um die kilometergroße Wunde waren mehrere Reihen von konzentrischen grauen Erhebungen entstanden. Sie sahen aus wie steinerne Brandblasen. Bevor Volyova sie noch richtig zur Kenntnis nehmen konnte, explodierten sie auch schon und entließen etwas wie blitzende Sporen oder Silberflitter, die wie Schwärme von Glühwürmchen auf den Brückenkopf zustrebten. Ob es Antimateriesplitter, winzige Sprengköpfe, Virenkapseln oder kleine Geschützbatterien waren, konnte sie nicht erkennen. Sie wusste nur, dass sie ihr Geschöpf angreifen wollten.

»Jetzt«, flüsterte sie. »Jetzt!«

Sie wurde nicht enttäuscht. Vielleicht wäre es aus irgendeiner Sicht besser gewesen, wenn der Brückenkopf in diesem Moment zerstört worden wäre, aber dann hätte sie nicht so atemlos zusehen können, wie er sich mit allem zur Wehr setzte, was sie ihm gegeben hatte. Die Waffen in seiner kreisförmigen Randeinfassung reagierten prompt. Sie spürten die Fünkchen auf und konnten die meisten mit Laser- und Boserstrahlen abschießen, bevor sie den Hyperdiamantpanzer erreichten.

Der Brückenkopf beschleunigte und legte die letzten zweitausend Meter in zwanzig Sekunden zurück. Um die Wunde in der Kruste bildeten sich immer neue Blasen, die immer neue Flitterschwärme entließen. Der Brückenkopf parierte alle Angriffe. Wo einige der rosa glitzernden Sporen blitzend in den Rumpf eingeschlagen hatten, waren Krater entstanden, aber das konnte die Funktion der Waffe nicht beeinträchtigen. Ihre nadelfeine Spitze bohrte sich genau in der Mitte der Öffnung in die Kruste.

Sekunden später berührte die Waffe mit dem breiten Ende die gezackten Wundränder. Der Untergrund bekam Risse, die sich nach allen Seiten ausbreiteten. Immer noch schossen neue Blasen aus dem Boden, aber jetzt in größerem Abstand, so als wären die Maschinen unter der Kruste in unmittelbarer Umgebung der Wunde beschädigt oder erschöpft. Der Brückenkopf war mehrere hundert Meter tief eingedrungen. Stoßwellen breiteten sich kreisförmig nach allen Seiten aus und rasten am Rumpf entlang nach oben. Die piezoelektrischen Kristallpuffer, die Volyova in den Hyperdiamant eingebaut hatte, würden die Stöße dämpfen und ihre Energie in Wärme umwandeln, die in die Verteidigungswaffen geleitet wurde.

»Sagen Sie, dass wir siegen«, bat Sylveste. »In Gottes Namen, sagen Sie es mir!«

Sie las wie im Fieber die Statusanzeigen ab, die sich auf ihr Armband ergossen. Für einen Moment war die Feindschaft vergessen; das Band der Neugier war stärker. »Wir halten stand«, sagte sie. »Die Waffe ist inzwischen einen Kilometer tief eingedrungen und schiebt sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von einem Kilometer pro neunzig Sekunden weiter vor. Schub steigt auf Maximalwerte; das heißt, sie trifft auf mechanischen Widerstand…«

»Was passiert sie gerade?«

»Weiß nicht«, gestand sie. »Alicias Aufzeichnungen nach sollte die falsche Kruste nur einen halben Kilometer dick sein, aber in der Außenhülle der Waffe befinden sich kaum Sensoren — sie hätten die Anfälligkeit gegen cybernetische Angriffe erhöht.«

Die Schiffskameras übertrugen eine abstrakte Skulptur auf die Projektionssphäre: einen Kegelstumpf, der mit dem schmalen Ende auf einer löchrigen, grauen Oberfläche ruhte. Ringsum entstanden immer neue Risse und Spalten, und die Blasen spien ihre Sporen so wild durch die Gegend, als seien ihre Zielsucheinrichtungen ausgefallen. Die Waffe wurde nun erheblich langsamer. Auf der Brücke war kein Laut zu hören, aber Volyova konnte sich mühelos vorstellen, was sich da unten akustisch abspielte, das ohrenbetäubende Reiben und Knirschen, das nur deshalb nicht nach außen drang, weil keine Luft da war, um den Schall zu leiten. Das Armband zeigte an, dass der Druck auf die Spitze drastisch nachgelassen hatte, als hätte der Brückenkopf die Kruste durchstoßen und sei in den darunter liegenden Hohlraum vorgedrungen: in das Reich der Schlangen.

Die Waffe wurde immer langsamer.

Totenkopfsymbole tanzten über das Armbanddisplay und meldeten, dass der Brückenkopf mit Molekularwaffen angegriffen wurde. Dagegen hatte Volyova Vorsorge getroffen. Schon verteilten sich Antikörper in der Panzerung, um die fremden Quälgeister in Empfang zu nehmen und zu bekämpfen.

Die Waffe wurde noch langsamer — und hielt an.

Sie hatte ihre endgültige Tiefe erreicht. Etwa dreizehnhundert Meter Kegel ragten noch über die von Rissen durchzogene Oberfläche hinaus; das Ganze sah aus wie eine kopflastige zylindrische Festung. Die Waffen in der Randeinfassung schossen immer noch auf die Kruste, aber die Sporen kamen jetzt aus zwanzig bis dreißig Kilometern Entfernung. Wenn sich die Kruste nicht unglaublich schnell regenerierte, stellten sie keine Bedrohung mehr dar.

Der Brückenkopf würde sich nun verankern, seine Position festigen, eine Analyse der Molekularwaffen vornehmen, die ihn bedrängten, und seine Gegenmaßnahmen genauestens darauf abstimmen.

Er hatte Volyova nicht enttäuscht.

Sie drehte ihren Sessel herum und bemerkte dabei — zum ersten Mal seit einer Ewigkeit —, dass sie den Nadler immer noch krampfhaft umklammert hielt.

»Wir sind drin«, sagte sie.


Es war wie eine Biologiestunde für Götter oder ein pornografischer Schnappschuss der Art, wie man sie auf empfindungsfähigen Planeten schätzte.

Unmittelbar nachdem sich die Waffe verankert hatte, hielt Khouri mehrere Stunden lang engen Kontakt mit Volyova, um den Überblick über die ständigen Wechselfälle der träge geführten Schlacht zu behalten. Von der Geometrie her erinnerten die beiden Protagonisten an ein zwergenhaft kleines konisches Virus, das von einer riesigen Kugelzelle zerstört wurde. Khouri musste sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass dieser winzige Konus so groß wie ein Gebirge und dass die Zelle eine Welt war.

Seither schien nicht mehr viel zu passieren, aber das lag nur daran, dass der Konflikt in erster Linie auf molekularer Ebene ausgetragen wurde, an einer unsichtbaren fraktalen Front, die sich über mehr als zehn Quadratkilometer erstreckte. Zunächst hatte Cerberus vergeblich versucht, mit hochgradig entropischen Waffen zurückzuschlagen und den Eindringling in Megatonnen atomarer Asche zu verwandeln. Dann war es zu einer Art Verdauungsstrategie übergegangen. Es versuchte zwar noch immer, den Gegner in seine Atome zu zerlegen, aber jetzt ging es systematisch vor. Wie ein Kind, das ein komplexes Spielzeug auseinander nimmt, anstatt es in Stücke zu schlagen, legte es jede Komponente sorgfältig in einem eigenen Fach ab, um sie irgendwann bei einem bisher noch nicht einmal angedachten Projekt wiederverwenden zu können. Dahinter steckte durchaus eine gewisse Logik. Die Weltraumgeschütze hatten einige Kubikkilometer der Welt vernichtet und Volyovas Angriffswaffe bestand vermutlich aus Materie mit ganz ähnlichen Elementar- und Isotopenverhältnissen wie die zerstörten Substanzen. Der Feind konnte potenziell als riesiges Reservoir für Reparaturmaterial genutzt werden und es Cerberus ermöglichen, seine eigenen, begrenzten Ressourcen zu schonen. Vielleicht hatte sich der Planet auch früher schon solche Materiedepots gesucht, um daraus die unvermeidlichen Schäden und Abriebverluste zu beheben, die über die Jahrzehntausende durch Meteoriteneinschläge und das ständige Bombardement mit kosmischer Strahlung entstanden waren. Vielleicht hatte er Sylvestes erste Sonde gar nicht aus dem übersteigerten Bedürfnis heraus geschluckt, das Geheimnis seiner Existenz zu bewahren, sondern vielmehr aus Hunger; vielleicht hatte er wie eine Venusfliegenfalle nur blind auf den Reiz reagiert, ohne irgendwie an die Zukunft zu denken.

Aber Volyovas Waffe war nicht so angelegt, dass sie sich widerstandslos verdauen ließ.

»Sieh nur, Cerberus lernt von uns«, sagte sie und rief die Baupläne von mehreren Dutzend verschiedener Komponenten des molekularen Arsenals auf, das die Welt zurzeit gegen ihre Waffe einsetzte. Das Display sah aus wie eine Seite aus einem Lehrbuch für Entomologie: eine Ansammlung von Metallinsekten mit unterschiedlicher Spezialisierung. Einige waren Disassembler: die vorderste Front des amarantinischen Verteidigungssystems. Sie griffen die Oberfläche des Brückenkopfes physisch an, lösten mit ihren Manipulatoren Atome und Moleküle heraus und zerrissen die chemischen Bindungen. Außerdem lieferten sie sich Nahkämpfe mit Volyovas Fronttruppen. Was sie an Materie ergattern konnten, gaben sie an fettere Insekten hinter den vordersten Linien weiter. Diese Einheiten ordneten und sortierten wie unermüdliche Beamte die Materieklumpen, die sie empfingen. Waren sie von einfacher Struktur, wie etwa ein einzelner, nicht differenzierter Eisen- oder Kohlebrocken, dann wurde er mit einer Recycling-Markierung versehen und an noch fettere Fabrikationsinsekten weitergeleitet, die nach internen Bauvorschriften weitere Insekten herstellten. Waren die Materieklumpen dagegen so organisiert, dass sie feste Strukturen enthielten, dann wurden sie nicht sofort zur Wiederverarbeitung freigegeben, sondern gingen an eine andere Insektenart, die sie zerlegte und auf brauchbare Prinzipien hin untersuchte. Wurden diese Insekten fündig, dann eigneten sie sich die Prinzipien an, schneiderten sie auf ihre Bedürfnisse zurecht und gaben sie an die Fabrikationsinsekten weiter. Auf diese Weise war jede Insektengeneration ein wenig höher entwickelt als ihr Vorgänger. »Sie lernen von uns«, wiederholte Volyova ebenso begeistert wie beunruhigt. »Nehmen unsere Gegenmaßnahmen auseinander und integrieren die darin enthaltene Konstruktionscharakteristiken in die eigene Strategie.«

»Das klingt ja richtig begeistert.« Khouri aß einen Apfel aus schiffseigener Produktion.

»Warum auch nicht? Es ist ein elegantes System. Ich kann natürlich ebenfalls daraus lernen, aber das ist nicht das Gleiche. Was da unten passiert, ist ein systematischer, unendlicher Prozess — ohne das kleinste Körnchen Empfindungsfähigkeit.«

Ihre Bewunderung war aufrichtig.

»Sehr eindrucksvoll«, versetzte Khouri. »Blinde Replikation — ein Prozess ohne einen Funken Intelligenz, der aber an unzähligen Stellen gleichzeitig passiert, so dass wir schon zahlenmäßig erdrückt werden. So wird es doch kommen? Du wirst hier sitzen und dir das Gehirn zermartern, aber du wirst am Ausgang nichts ändern können. Früher oder später wird dir jeder Trick abgeschaut.«

»Aber so weit sind wir noch nicht.« Volyova schaute mit schief gelegtem Kopf auf ihre Schemazeichnungen. »Glaubst du, ich wäre so dumm gewesen, ihnen gleich unsere ausgeklügeltsten Gegenmaßnahmen entgegenzuwerfen? So führt man keinen Krieg, Khouri. Man verschwendet auf den Feind niemals mehr Energie — oder Intelligenz — als in der aktuellen Situation unbedingt erforderlich. Man spielt doch auch beim Pokern nie die beste Karte zuerst aus, sondern wartet, bis der Einsatz hoch genug ist.« Und dann erklärte sie, die Gegenmaßnahmen, die ihre Waffe derzeit einsetze, seien eigentlich archaisch und nicht besonders raffiniert. Sie habe sie uralten Einträgen im holografisch verteilten Datenspeicher der Waffenkammer entnommen und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten. »Aktuell wären sie vor etwa dreihundert Jahren gewesen«, schloss sie.

»Aber Cerberus holt auf.«

»Richtig, allerdings ist die Zuwachsrate an technischer Kompetenz derzeit ziemlich stabil — wahrscheinlich, weil unsere Geheimnisse so mechanisch verarbeitet werden. Intuitive Sprünge sind nicht möglich, deshalb entwickeln sich die amarantinischen Systeme linear. Es ist, als würde jemand versuchen, einen Code nur mit simpler Rechenkapazität zu knacken. Deshalb weiß ich ziemlich genau, wie lange Cerberus brauchen wird, um unseren derzeitigen Stand zu überschreiten. Im Moment verringert sich unser Vorsprung alle drei bis vier Stunden Schiffszeit um etwa zehn Jahre. Damit haben wir knapp eine Woche Zeit, bis es wirklich spannend wird.«

»Und das hier findest du nicht spannend?« Khouri schüttelte den Kopf. Nicht zum ersten Mal war ihr Volyovas Reaktion unbegreiflich. »Wie werden diese Steigerungen erreicht? Enthält deine Waffe auch eine Kopie der Waffenkammer?«

»Nein. Zu gefährlich.«

»Richtig; das wäre so, als schickte man einen Soldaten mit allen militärischen Geheimnissen hinter die feindlichen Linien. Wie gehst du also vor? Sendest du die Geheimnisse erst dann an die Waffe, wenn sie gebraucht werden? Ist das nicht ebenso riskant?«

»So ist es tatsächlich, aber es ist viel sicherer, als du denkst. Die Sendungen werden mit einer Stromchiffre, einem so genannten One-time-Pad verschlüsselt; diese per Zufallsgenerator erzeugte Ziffernfolge gibt die Veränderungen an, die an jedem Bit im Rohsignal vorzunehmen sind; ob man eine Null hinzufügt oder eine Eins. Wenn man das Signal so verschlüsselt, kann der Feind die Urfassung nur wiederherstellen, wenn er eine Kopie des Codes besitzt. Die Waffe braucht natürlich eine solche Kopie — aber sie ist tief in ihrem Innern gespeichert, unter zehn Meter dicken massiven Diamantschichten mit hypergesicherten optischen Verbindungen zu den Kontrollsystemen für den Assembler. Nur bei einem schweren Angriff auf die Waffe bestünde die Gefahr, dass der Code erbeutet wird — und in diesem Fall würde ich einfach nichts mehr senden.«

Khouri aß den Apfel mitsamt dem kernlosen Gehäuse auf. »Es gibt also eine Möglichkeit«, sagte sie nach kurzem Überlegen.

»Eine Möglichkeit wofür?«

»Ein Ende zu machen. Das wollen wir doch immer noch, oder nicht?«

»Meinst du nicht, dass das Kind schon in den Brunnen gefallen ist?«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Was ist, wenn doch noch etwas zu machen wäre? Bisher haben wir noch nicht viel gesehen, nur die Tarnschicht und darunter eine Schicht von Verteidigungsanlagen zu ihrem Schutz. Beides ganz erstaunlich, gewiss — und man könnte wahrscheinlich schon deshalb eine Menge daraus lernen, weil es sich um eine fremde Technik handelt —, aber was sich noch weiter unten verbirgt, wissen wir nicht.« Sie schlug auf ihren Stuhl, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, und sah mit Genugtuung, wie Volyova erschauerte. »So weit sind wir nicht gekommen, wir haben nicht einmal einen Blick darauf geworfen — und dabei wird es so lange bleiben, bis Sylveste tatsächlich hinuntergeht.«

»Das werden wir nicht zulassen.« Volyova klopfte auf den Nadler, den sie in den Gürtel gesteckt hatte. »Jetzt haben wir hier das Sagen.«

»Willst du riskieren, dass er die Bombe in seinen Augen zündet und uns alle tötet?«

»Pascale sagt, die Bombe sei nur ein Bluff.«

»Und das glaubt sie sicher auch selbst.« Khouri brauchte nicht weiterzusprechen. Volyova nickte bedächtig, sie hatte verstanden. »Es gibt eine bessere Möglichkeit«, fuhr Khouri fort. »Lass Sylveste ruhig gehen, wenn er will, aber lass uns dafür sorgen, dass es ihm nicht leicht fällt, ins Innere des Planeten zu kommen.«

»Womit du sagen willst…«

»Wenn du es nicht aussprechen willst, tue ich es. Wir müssen deine Waffe sterben lassen, Volyova. Wir müssen Cerberus den Sieg überlassen.«

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