Dreißig

Cerberus/Hades

an der Heliopause von Delta Pavonis

2566


Als sie endlich allein in ihrer Kabine waren, sagte Pascale: »Du kannst nicht weitermachen, Dan. Verstehst du, was ich damit sagen will?«

Er war müde; sie waren alle müde, aber sein Verstand lief auf Hochtouren, und Schlaf war das Letzte, wonach ihm zumute war. Aber wenn der Brückenkopf so lange standhielt, dass er wie geplant ins Innere von Cerberus einsteigen konnte, war jetzt auf viele Stunden, womöglich auf Tage hinaus die letzte Gelegenheit, sich noch einmal richtig auszuschlafen. Er musste so wach und reaktionsfähig sein wie noch nie in seinem Leben, wenn er die fremde Welt betrat. Doch davon suchte ihn Pascale offenbar mit allen Mitteln abzubringen.

»Dazu ist es jetzt viel zu spät«, sagte er matt. »Wir haben uns schon angemeldet; Cerberus wurde beschädigt. Die Welt weiß, dass wir da sind; sie weiß auch schon etwas von unserer Wesensart. Wenn ich sie jetzt betrete, ändert das nichts mehr, aber ich kann sehr viel mehr über sie erfahren, als Volyovas klapprige Roboterspione mir jemals sagen werden.«

»Du weißt nicht, was dich da unten erwartet, Dan.«

»O doch. Eine Antwort auf die Frage, was mit den Amarantin geschehen ist. Begreifst du denn nicht, dass die Menschheit diese Information braucht?«

Er sah, dass er sie, wenn auch nur theoretisch, überzeugt hatte. Dennoch gab sie zu bedenken: »Und wenn sie nun vernichtet wurden, weil sie genauso neugierig waren wie du jetzt? Du hast selbst gesehen, was mit der Lorean geschehen ist.«

Wieder dachte er an Alicia, die bei diesem Angriff ums Leben gekommen war. Warum war er eigentlich nicht bereit gewesen, sich die Zeit zu nehmen, um ihren Leichnam aus dem Wrack zu bergen? Schon jetzt empfand er seinen Befehl, sie mit dem Brückenkopf untergehen zu lassen, als eiskalt und fremd. Für einen Moment war ihm, als hätte nicht er ihn gegeben, auch Calvin nicht, sondern eine andere Instanz, die sich hinter ihnen verbarg. Der Gedanke erschreckte ihn, und er erstickte ihn mit bewusster Betroffenheit, als zerdrücke er ein Insekt.

»Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind, nicht wahr?«, sagte er. »Dann wissen wir endlich Bescheid. Und selbst wenn es uns das Leben kostet, werden andere erfahren, was geschehen ist — die Bewohner von Resurgam oder sogar die Menschen in einem anderen System. Du musst dir darüber im Klaren sein, Pascale, dass ich bereit bin, das Risiko einzugehen.«

»Nicht nur aus reiner Neugier, nicht wahr?« Sie sah ihn an, als wollte sie ihm eine Antwort abfordern. Er starrte schweigend zurück — wohl wissend, wie einschüchternd seine blicklosen Augen sein konnten — bis sie fortfuhr. »Khouri wurde an Bord gebracht, um dich zu töten. Das hat sie selbst zugegeben. Volyova sagte, ihr Auftraggeber sei möglicherweise Carine Lefevre gewesen.«

»Das ist nicht nur unmöglich, das ist eine Beleidigung.«

»Aber es könnte trotzdem die Wahrheit sein. Und es könnte mehr dahinter stecken als ein persönlicher Rachefeldzug. Vielleicht ist Lefevre tatsächlich tot, aber jemand hat ihre Gestalt angenommen, ihren Körper geerbt, was auch immer — jemand, der weiß, mit welcher Gefahr du spielst. Kannst du eine solche Möglichkeit nicht wenigstens in Betracht ziehen?«

»Was vor Lascailles Schleier geschah, kann nichts mit dem Schicksal der Amarantin zu tun haben.«

»Wieso bist du dir da so verdammt sicher?«

Jetzt wurde er wütend. »Weil ich dort war!«, schrie er. »Weil ich Lascaille in den Raum der Erkenntnis folgte und weil man mir dort zeigte, was man Lascaille gezeigt hatte.« Er dämpfte seine Stimme und fasste Pascales Hände. »Sie waren uralt und so fremd, dass mich fröstelte. Sie drangen in mein Bewusstsein ein. Ich habe sie gesehen… sie hatten keine Ähnlichkeit mit den Amarantin.«

Zum ersten Mal, seit sie Resurgam verlassen hatten, dachte er an diesen Moment zurück. Als sein beschädigtes Kontaktmodul den Rand des Schleiers erreichte, hatte er in jäher Erkenntnis aufgeschrien. Die Schleierweber waren in sein Bewusstsein gekrochen wie uralte Versteinerungen; Abgründe hatten sich aufgetan. Lascaille hatte die Wahrheit gesprochen. Sie mochten biologisch fremd sein, mochten einen instinktiven Abscheu erregen, weil sie von dem, was der Mensch für die angemessene Erscheinungsform eines intelligenten Wesens hielt, so ungeheuer weit entfernt waren, aber in der Dynamik ihres Denkens standen sie den Menschen sehr viel näher, als ihre Gestalt vermuten ließ. Im ersten Moment beunruhigte ihn diese seltsame Dichotomie — doch es konnte gar nicht anders sein. Wie hätten die Musterschieber sein Gehirn so verdrahten können, dass er wie ein Schleierweber dachte, wenn von den grundlegenden Denkmustern her keinerlei Ähnlichkeit bestanden hätte? Die entsetzliche Übelkeit fiel ihm wieder ein, die der Kontakt ausgelöst hatte — der Schwall von Erinnerungen, der über ihn hereinbrach und ihm einen kurzen Eindruck von der schier endlosen Geschichte der Schleierweber vermittelte. Jahrmillionen lang hatten sie die Galaxis durchforstet, als die noch jünger war, und alle gefährlichen Spielsachen eingesammelt, die andere, noch ältere Zivilisationen zurückgelassen hatten. Diese sagenhaften Schätze waren fast in Reichweite; nur die Membran des Schleiers trennte ihn noch davon… fast hätte er es geschafft, sich hinein zu schmuggeln. Und dann…

Dann teilte sich etwas wie ein Vorhang, die Wolken glitten auseinander — der Augenblick war so kurz, dass er ihn bis jetzt beinahe vergessen hatte. Etwas offenbarte sich, das besser verborgen geblieben wäre — verborgen hinter vielen Identitätsschichten. Die Identität, die Erinnerungen einer längst ausgestorbenen Rasse… alles nur Tarnung…

Im Innern des Schleiers wohnte etwas ganz anderes, und für seine Existenz gab es ganz andere Gründe…

Doch die Erinnerung entzog sich, ließ sich nicht mehr fassen, und dann war er wieder allein mit Pascale und hatte nur den bitteren Nachgeschmack des Zweifels im Mund.

»Versprich mir, dass du nicht gehst«, sagte sie.

»Darüber reden wir morgen früh«, erwiderte Sylveste.


Er erwachte in seiner Kabine. Die Müdigkeit saß ihm noch immer in den Knochen. Er hatte nicht genug Schlaf bekommen.

Etwas hatte ihn geweckt, aber zunächst sah oder hörte er nichts. Dann bemerkte er, dass der Holoschirm neben seinem Bett so fahl leuchtete wie ein Spiegel im Mondschein.

Vorsichtig, um Pascale nicht zu wecken, aktivierte er die Verbindung. Die Gefahr war nicht groß; sie schlief tief und fest. Das Gespräch vor dem Einschlafen hatte ihr wohl die nötige innere Ruhe gegeben.

Sajakis Gesicht erschien auf dem Schirm, im Hintergrund sah man die Instrumente der Krankenstation. »Sind Sie allein?«, fragte er leise.

»Meine Frau ist hier«, flüsterte Sylveste. »Sie schläft.«

»Dann will ich mich kurz fassen.« Er hob die verletzte Hand. Die Schutzmembran war ausgefüllt, das Handgelenk hatte seine gewohnte Form zurückgewonnen, aber die Hülle leuchtete noch und darunter herrschte rege Aktivität. »Ich bin so weit genesen, dass ich die Station verlassen kann. Aber ich habe nicht die Absicht, Hegazis Schicksal zu teilen.«

»Das wird schwierig werden. Volyova und Khouri haben alle Waffen, und sie haben dafür gesorgt, dass wir keine weiteren in die Hand bekommen.« Er senkte die Stimme noch mehr. »Volyova wäre vermutlich leicht zu überreden, auch mich einzusperren. Meine Drohungen gegen das Schiff scheinen sie nicht beeindruckt zu haben.«

»Sie setzt voraus, dass Sie niemals so weit gehen würden.«

»Und wenn sie nun Recht hätte?«

Sajaki schüttelte den Kopf.

»Das spielt alles keine Rolle mehr. In wenigen Tagen — höchstens fünf — wird ihre Waffe versagen. So viel Zeit haben Sie, um ins Innere des Planeten zu gelangen. Und tun Sie nicht so, als ob Sie durch die kleinen Roboter irgendetwas in Erfahrung bringen könnten.«

»Das ist mir auch schon klar geworden.«

Neben ihm regte sich Pascale.

»Dann mache ich Ihnen folgenden Vorschlag«, sagte Sajaki. »Ich führe Sie hinein. Nur wir beide, niemand sonst. Wir brauchen nicht einmal ein Raumschiff. Wir können zwei Anzüge vom gleichen Typ nehmen wie der, mit dem Sie von Resurgam hierher gekommen sind. In knapp einem Tag können wir Cerberus erreichen. Damit bleiben Ihnen zwei Tage, um hinein zu kommen, ein Tag, um sich umzusehen, und ein weiterer Tag, um den Planeten auf dem gleichen Weg wieder zu verlassen. Denn bis dahin wissen Sie natürlich, wie das geht.«

»Und was ist mit Ihnen?«

»Ich begleite Sie. Wie wir nach meiner Ansicht mit dem Captain verfahren sollten, sagte ich Ihnen ja bereits.«

Sylveste nickte. »Sie glauben, im Innern von Cerberus etwas zu finden, das ihn heilen kann.«

»Irgendwo muss ich anfangen.«

Sylveste sah sich um. Sajakis Flüstern war so leise gewesen wie der Wind in den Bäumen und in der Kabine herrschte eine geradezu übernatürliche Stille. Er sah seine Umgebung wie in einer Laterna Magica. Auf Cerberus tobte im Moment ein erbitterter Kampf, dachte er. Dort prallten Maschinen, die allerdings fast alle kleiner waren als Bakterien, wütend aufeinander. Der Lärm, den sie machten, war für menschliche Ohren nicht zu hören. Aber die Schlacht fand statt und Sajaki hatte Recht: in wenigen Tagen würden die zahllosen Maschinentruppen des Planeten Cerberus Volyovas gewaltige Belagerungsmaschine zerstört haben. Jede Sekunde, die er noch zauderte, war eine Sekunde weniger, die er im Innern des Planeten verbringen konnte, und eine Sekunde, um die sich seine Rückkehr verzögerte. Je später, desto gefährlicher, denn die Brücke würde sich schließen. Wieder regte sich Pascale, aber er spürte, dass sie noch in tiefen Träumen lag. Sie war nicht gegenwärtiger als die ineinander verschlungenen Vögel an den Wänden der Kabine; sie konnte ebenso wenig zum Leben erweckt werden.

»Das kommt alles sehr plötzlich«, sagte er.

»Sie warten doch schon Ihr ganzes Leben auf diesen Moment.« Sajaki sprach jetzt etwas lauter. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie noch nicht so weit wären. Dass Sie Angst hätten, Sie könnten etwas finden.«

Sylveste begriff, dass er sich entscheiden musste, bevor ihm die ungewöhnliche Situation noch vollends zu Bewusstsein gekommen war.

»Wo treffen wir uns?«

»Außerhalb des Schiffs«, sagte Sajaki und erklärte, warum das nötig war; warum es zu gefährlich war, sich vorher zu treffen, warum Sajaki nicht riskieren konnte, Volyova, Khouri oder gar Sylvestes Frau über den Weg zu laufen. »Sie halten mich immer noch für krank«, erklärte er und rieb sich die Membran über dem verletzten Handgelenk. »Aber wenn sie mich außerhalb der Krankenstation ertappen, geht es mir wie Hegazi. Von hier aus kann ich in wenigen Minuten einen Anzug erreichen, ohne Schiffszonen betreten zu müssen, die meine Anwesenheit noch registrieren können.«

»Und ich?«

»Gehen Sie zum nächsten Fahrstuhl. Ich werde dafür sorgen, dass er Sie zu einem Anzug in Ihrer Nähe bringt. Weiter brauchen Sie nichts zu tun. Der Anzug erledigt alles Übrige.«

»Sajaki, ich…«

»Sie müssen nur in zehn Minuten draußen sein. Ihr Anzug bringt Sie zu mir.« Sajaki lächelte zum Abschied. »Und ich rate Ihnen dringend davon ab, Ihre Frau zu wecken.«


Sajaki hielt Wort; der Fahrstuhl und der Anzug schienen genau zu wissen, wohin Sylveste zu gehen hatte. Er begegnete niemandem und niemand störte ihn, als der Anzug seine Maße nahm, sich entsprechend konfigurierte und sich zärtlich um ihn schmiegte.

Nichts wies darauf hin, dass das Schiff überhaupt bemerkte, wie sich die Luftschleuse öffnete und ihn ins All entließ.


Volyova schreckte jäh aus dem Schlaf. Sie hatte in Schwarzweiß von wütenden Insektenarmeen geträumt.

Khouri hämmerte gegen ihre Tür und schrie etwas, aber Volyova war zu benommen, um sie zu verstehen. Als sie die Tür öffnete, schaute sie in die Mündung des Plasmagewehrs im Lederfutteral. Khouri zögerte einen Sekundenbruchteil, dann senkte sie die Waffe. Sie schien selbst nicht mehr zu wissen, was sie hinter der Tür erwartet hatte.

»Was ist?«, fragte Volyova.

»Es geht um Pascale«, sagte Khouri. Der Schweiß stand ihr in dicken Tropfen auf der Stirn und ihre Hände hinterließen feuchte Flecken auf dem Griff der Waffe. »Sie ist aufgewacht, und Sylveste war nicht da.«

»War nicht da?«

»Er hatte ihr das hinterlassen. Es hat sie ziemlich mitgenommen, aber sie will, dass ich es dir zeige.« Khouri ließ das Gewehr in den Tragriemen fallen und zog ein Blatt Papier aus der Tasche.

Volyova rieb sich die Augen und nahm es an sich. Die Berührung machte die gespeicherte Nachricht sichtbar; Sylvestes Gesicht erschien vor einem Hintergrund aus ineinander verschlungenen Vögeln.

»Ich habe dich belogen«, summte seine Stimme vom Papier. »Pascale, es tut mir Leid — es ist dein gutes Recht, mich dafür zu hassen, aber ich hoffe, du wirst es nicht tun; wir haben so viel zusammen durchgemacht.« Er sprach jetzt sehr leise. »Ich musste dir versprechen, Cerberus nicht zu betreten. Aber ich gehe trotzdem. Wenn du das liest, bin ich längst unterwegs, und du kannst mich nicht mehr aufhalten. Es gibt keine Rechtfertigung für mein Handeln, ich kann einfach nicht anders. Ich glaube, du hast immer gewusst, dass ich nicht aufgeben würde, wenn wir dem Ziel jemals so nahe kämen.« Er hielt kurz inne, um Atem zu holen oder sich die nächsten Worte zu überlegen. »Pascale, du warst die Einzige, die erraten hat, was vor Lascailles Schleier wirklich geschehen ist. Weißt du, wie sehr ich dich dafür bewundert habe? Deshalb hatte ich auch keine Angst, dir die Wahrheit zu gestehen. Ich glaubte tatsächlich, alles sei so gewesen, wie ich es dir sagte; das war keine Lüge, ich schwöre es dir. Doch nun behauptet diese Frau — diese Khouri —, jemand, der Carine Lefevre sein könnte, habe sie zu mir geschickt, sie sollte mich töten, um mein Vorhaben zu verhindern.«

Wieder verstummte das Papier.

»Ich tat so, als glaubte ich kein Wort davon, Pascale, und vielleicht war es zu diesem Zeitpunkt auch tatsächlich so. Aber ich muss die Gespenster endlich loswerden; ich muss mich davon überzeugen, dass die Ereignisse hier in keinem Zusammenhang zu dem stehen, was damals vor dem Schleier geschah.

Du verstehst das doch, nicht wahr? Ich muss auch die letzte Meile noch gehen, um die Phantome zum Schweigen zu bringen. Vielleicht sollte ich Khouri sogar dankbar sein. Sie hat mir einen Grund gegeben, diesen Schritt zu tun, obwohl mir das, was ich dort unten finden könnte, die größten Ängste meines Lebens einjagt. Ich halte sie — und auch die anderen — nicht für schlechte Menschen. Auch auf dich bin ich nicht böse, Pascale. Du hast dich von ihnen überzeugen lassen, gewiss, aber das war nicht deine Schuld. Du wolltest mir mein Vorhaben ausreden, weil du mich liebst. Und was ich tat — was ich tun wollte —, schmerzte mich umso mehr, weil ich wusste, dass ich deine Liebe verraten würde.

Kannst du mich verstehen? Und wirst du mir verzeihen können, wenn ich wiederkomme? Ich werde nicht lange fort sein, Pascale — höchstens fünf Tage; vielleicht auch weniger.« Wieder hielt er inne, dann setzte er zu einem letzten Postskriptum an. »Ich habe Calvin mitgenommen. Er ist in mir, während ich zu dir spreche. Ich will nicht leugnen, dass wir beide zu einem neuen… Gleichgewicht gefunden haben. Ich glaube, er wird mir gute Dienste leisten.«

Damit verschwand das Bild auf dem Papier.

»Weißt du«, sagte Khouri. »Es gab Momente, da konnte ich ihn fast verstehen. Aber jetzt hat er sich alles verscherzt.«

»Du sagst, Pascale ist am Boden zerstört?«

»Ginge dir das nicht so?«

»Das kommt darauf an. Vielleicht hat er Recht: vielleicht wusste sie schon immer, dass es dazu kommen würde. Vielleicht hätte sie sich besser überlegen sollen, ob sie dieses Svinoi wirklich heiraten wollte.«

»Was glaubst du, wie weit ist er gekommen?«

Wieder sah Volyova das Papier an, als hoffe sie, aus seinen Falten noch weitere Erkenntnisse herauspressen zu können.

»Er muss Hilfe gehabt haben. Es sind nicht mehr viele von uns übrig, die dafür in Frage kommen. Eigentlich niemand, wenn du Sajaki ausschließt.«

»Vielleicht sollten wir ihn nicht ausschließen. Vielleicht haben ihn seine Nanos schneller geheilt, als wir dachten.«

»Nein«, sagte Volyova. Sie klopfte auf ihr magisches Armband. »Ich weiß immer, wo sich die Angehörigen des Triumvirats aufhalten. Hegazi ist noch in der Luftschleuse und Sajaki auf der Krankenstation.«

»Können wir trotzdem nachsehen? Nur für alle Fälle?«

Volyova schnappte sich noch ein paar warme Kleidungsstücke, um jeden belüfteten Schiffsbereich betreten zu können, ohne Erfrierungen davonzutragen. Den Nadler steckte sie in ihren Gürtel und das schwere Gewehr, das Khouri ihr aus der Waffenkammer besorgt hatte, hängte sie sich um. Es war ein hyperschnelles Projektilgewehr, eine zweihändig zu bedienende Sportwaffe aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert, hergestellt in der ersten europanischen Demarchie. Der Kolben war mit schmiegsamem, schwarzem Neopren bezogen, die Seiten waren mit Einlegearbeiten aus Gold und Silber verziert, Darstellungen von chinesischen Drachen mit Rubinaugen. »Nichts dagegen«, sagte sie.


Sie erreichten die Luftschleuse, wo Hegazi die ganze Zeit gesessen und mangels anderer Beschäftigung sein Spiegelbild in den blanken Stahlwänden betrachtet hatte. Das dachte jedenfalls Volyova, wenn sie, selten genug, überhaupt an den eingesperrten Triumvir dachte. Sie spürte keinen Hass auf Hegazi, sie fand ihn nicht einmal ausgesprochen unsympathisch. Er war einfach ein Schwächling, der nur in Sajakis Schatten leben konnte. — »Hat er Schwierigkeiten gemacht?«, fragte Volyova.

»Eigentlich nicht. Er beteuerte nur immer wieder seine Unschuld und schwor, nicht er habe Sonnendieb aus dem Leitstand gelassen. Klang so, als meinte er es ehrlich.«

»Eine uralte Technik, wird auch Lüge genannt, Khouri.«

Volyova schulterte das Drachengewehr, suchte mit beiden Füßen einen festen Stand im Matsch und legte die Fäuste auf den Griff der inneren Schleusentür.

Dann drückte sie fest nach unten.

»Ich kriege sie nicht auf.«

»Lass mich mal ran.« Khouri schob sie beiseite und rüttelte am Türgriff. »Nein«, ächzte sie schließlich und gab auf. »Er hat sich verklemmt. Ich kann ihn nicht bewegen.«

»Du hast ihn doch nicht etwa zugeschweißt?«

»Natürlich, ich Dummkopf, wie konnte ich das nur vergessen?«

Volyova klopfte an die Tür. »Hegazi, hören Sie mich? Was haben Sie mit der Tür gemacht? Sie geht nicht auf.«

Keine Antwort.

Volyova schaute wieder auf ihr Armband. »Er ist da drin«, sagte sie. »Aber vielleicht kann er uns durch die Panzerung nicht hören.«

»Da stimmt etwas nicht«, sagte Khouri. »Als ich wegging, war mit der Tür noch alles in Ordnung. Wir sollten das Schloss aufschießen.« Ohne Volyovas Einwilligung abzuwarten, rief sie: »Hegazi? Hören Sie uns? Wir schießen uns jetzt den Weg frei.«

Schon hatte sie das Plasmagewehr in einer Hand. Ihre Armmuskeln spannten sich unter seinem Gewicht. Sie drehte den Kopf zur Seite und hielt sich die andere Hand vor das Gesicht.

»Warte«, sagte Volyova. »Nichts überstürzen. Vielleicht ist die äußere Tür offen. Dann würden die Drucksensoren auf das Vakuum ansprechen und die innere Tür nicht freigeben.«

»In diesem Fall hätten wir mit Hegazi keine Schwierigkeiten mehr. Es sei denn, er könnte ein paar Stunden lang die Luft anhalten.«

»Zugegeben — aber wir sollten trotzdem kein Loch in die Tür schießen.«

Khouri trat näher.

Wenn es eine Anzeige für den Druck im Inneren der Schleuse gab, so war sie unter der Schmutzschicht nicht zu erkennen.

»Ich kann den Strahl ganz dünn einstellen. Dann bekommt die Tür nur ein nadelfeines Loch.«

Volyova überlegte kurz, dann sagte sie: »Tu das!«

»Wir ändern den Plan, Hegazi. Wir machen ganz oben in die Tür ein Loch. Sollten Sie stehen, dann würde ich Ihnen raten, sich hinzusetzen und sich Gedanken über die Regelung Ihres Nachlasses zu machen.«

Immer noch keine Antwort.

Was Khouri mit dem Plasmagewehr vorhatte, war fast eine Beleidigung, dachte Volyova. Es war schließlich kein Präzisionsinstrument. Ebenso gut könnte man versuchen, mit einem Industrielaser eine Hochzeitstorte zu schneiden. Aber Khouri probierte es trotzdem. Ein Blitz, ein Krachen, das Gewehr spie einen dünnen, langgezogenen Lichtstrahl gegen die Tür. Ein Loch von Holzwurmgröße war entstanden, aus dem ein Rauchfaden aufstieg.

Aber nur für einen Moment.

Dann spritzte in hohem Bogen und mit lautem Zischen eine schwarze Flüssigkeit aus der Öffnung.


Khouri vergrößerte unverzüglich das Loch, obwohl weder sie noch Volyova damit rechneten, dass in der Luftschleuse noch jemand am Leben war. Entweder war Hegazi tot — wodurch auch immer —, oder er hatte die Schleuse verlassen und dieser Hochdruckstrahl war eine letzte mysteriöse Botschaft an die, die ihn gefangen genommen hatten.

Khouri schoss weiter und der Strahl wurde armdick. Die trübe Flüssigkeit spritzte ihr mit solcher Wucht entgegen, dass sie rücklings in den Schlamm geschleudert wurde. Auch das Plasmagewehr fiel klirrend in die knöcheltiefe Pfütze. Das Zeug zischte erbost, als es die heiße Mündung der Waffe berührte. Als Khouri sich wieder aufgerappelt hatte, tröpfelte nur noch ein schwaches Rinnsal mit rülpsenden Geräuschen durch die Löcher in der Tür. Sie hob das Gewehr auf und schüttelte den Schlamm ab. Ob es noch funktionierte, war zu bezweifeln.

»Das ist Schiffsschleim«, sagte Volyova. »Das gleiche Zeug, in dem wir stehen. Den Gestank erkenne ich sofort.«

»Die Schleuse war voll Schiffsschleim?«

»Frag mich nicht, wie das zugeht. Mach mir nur ein größeres Loch in die Tür.«

Khouri schoss erneut, bis die Lücke so groß war, dass sie den Arm hindurchstecken und den inneren Öffnungsschalter bedienen konnte, ohne die heißen Metallränder zu berühren. Volyova hatte Recht, dachte sie, die Drucksensoren hatten den Schließmechanismus blockiert. Die Schleusenkammer war zum Bersten vollgepumpt mit Schiffsschleim.

Die Tür ging auf und eine letzte Schleimwelle ergoss sich in den Korridor.

Zusammen mit Hegazis Überresten. Entweder der zu hohe Druck oder die explosionsartige Entlastung hatten dazu geführt, dass sich seine organischen und seine metallischen Bestandteile im Unfrieden voneinander trennten.

Загрузка...