Einundzwanzig

Im Anflug auf Cerberus/Hades

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Sylveste hatte immer gewusst, dass dieser Moment kommen würde. Aber bis jetzt war es ihm gelungen, den Gedanken auszusperren, seine Existenz zu registrieren, ohne sich mit seinen Konsequenzen zu befassen — er hatte sich verhalten wie ein Mathematiker, der den entkräfteten Teil eines Beweises so lange ignorierte, bis er den Rest aufs Gründlichste überprüft und sich vergewissert hatte, dass er frei von krassen Widersprüchen war und nicht den kleinsten Fehler enthielt.

Sajaki hatte darauf bestanden, dass sie allein zum Captainsdeck hinunter fuhren. Weder Pascale noch jemand von der Besatzung durfte sie begleiten. Sylveste widersprach nicht, obwohl er seine Frau gern bei sich gehabt hätte. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft auf der Unendlichkeit war er mit Sajaki allein, und im Fahrstuhl suchte er verzweifelt nach irgendeinem Thema, nur um nicht über das grässliche Ding sprechen zu müssen, zu dem sie unterwegs waren.

»Ilia meint, ihre Maschinen brauchen an Bord der Lorean noch drei bis vier Tage«, sagte Sajaki. »Sind Sie ganz sicher, dass sie die Arbeit fortsetzen sollen?«

»Ich pflege meine Meinung nicht zu ändern«, erklärte Sylveste.

»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mich Ihren Wünschen zu fügen. Nach sorgfältiger Abwägung aller Umstände bin ich zu dem Schluss gekommen, Ihrer Drohung Glauben zu schenken.«

»Dachten Sie wirklich, das hätte ich noch nicht gemerkt?

Dafür kenne ich Sie zu gut, Sajaki. Wenn Sie mir nicht glaubten, hätten Sie mich gezwungen, Ihrem Captain zu helfen, so lange wir noch um Resurgam kreisten, um mich dann in aller Stille aus dem Weg zu räumen.«

»Das ist nicht wahr«, wehrte Sajaki ab. Es klang belustigt. »Sie unterschätzen meine Neugier. Ich glaube, ich hätte schon deshalb so lange mitgespielt, weil ich sehen wollte, wie viel von Ihrer Geschichte stimmte.«

Das wollte Sylveste zunächst nicht glauben, aber jeder Widerspruch war vermutlich zwecklos. »Woran zweifeln Sie denn noch, nachdem Sie Alicias Bericht gesehen haben?«

»Aber der hätte sich doch ohne weiteres fälschen lassen. Die Schäden am Schiff könnten auch von der eigenen Besatzung stammen. Ich werde erst vollends überzeugt sein, wenn irgendetwas aus Cerberus herausspringt und uns angreift.«

»Das können Sie haben, fürchte ich«, sagte Sylveste. »Warten Sie nur noch vier oder fünf Tage. Es sei denn, Cerberus wäre wirklich tot.«

Danach sprachen sie kein Wort mehr, bis sie am Ziel waren.

Sylveste hatte den Captain natürlich bereits gesehen — sogar bei diesem Aufenthalt. Aber das Ausmaß der Transformationen schockierte ihn von neuem; jedes Mal hatte er wieder das Gefühl, erstmals damit konfrontiert zu werden. Tatsächlich war dies sein erster Besuch auf dem Captainsdeck, seit Calvin mit den fortgeschrittenen medizinischen Einrichtungen, die das Schiff bot, seine Augen restauriert hatte, aber das war es nicht allein. Dazu kam, dass sich der Captain seit dem letzten Mal weiter verändert hatte; es war nicht zu übersehen — er breitete sich immer schneller aus, als müsse er, während das Schiff auf Cerberus zu raste, den Übergang in eine Seinsform vollziehen, die sich niemand vorstellen konnte. Vielleicht, dachte Sylveste, war er im letzten Moment gekommen — immer vorausgesetzt, dass dem Captain überhaupt noch irgendwie geholfen werden konnte.

Der Gedanke, die Beschleunigung könnte irgendeine und womöglich gar symbolische Bedeutung haben, war verlockend. Immerhin war der Mann seit Jahrzehnten krank — falls man seinen Zustand als Krankheit bezeichnen konnte — und doch hatte er sich ausgerechnet diesen Moment ausgesucht, um in eine neue Phase seines Leidens einzutreten. Aber diese Sicht war falsch. Man musste den Zeitrahmen des Captains berücksichtigen; der relativistische Flug hatte die Jahrzehnte zu einer Hand voll von Jahren komprimiert. Dieser jüngste Krankheitsschub war weniger unwahrscheinlich, als es den Anschein hatte, und er war in keiner Weise bedrohlich.

»Wie soll die Sache eigentlich ablaufen?«, fragte Sajaki. »Wollen Sie genauso vorgehen wie beim letzten Mal?«

»Fragen Sie Calvin — er trägt die Verantwortung.«

Sajaki nickte bedächtig, als sei ihm sein Einwand eben erst eingefallen. »Sie sollten aber etwas mitzureden haben, Dan. Schließlich wird er durch Sie arbeiten.«

»Gerade deshalb brauchen Sie auf mich keine Rücksicht zu nehmen — ich werde gar nicht anwesend sein.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort. Sie werden da sein, Dan — und nach allem, was ich vom letzten Mal noch weiß, werden Sie auch alles mitbekommen. Ohne Kontrolle, mag sein, aber durchaus beteiligt. Und Sie werden diesen Zustand verabscheuen — auch das haben wir noch gut in Erinnerung.«

»Sie verfügen ja plötzlich über ganz erstaunliche Fachkenntnisse.«

»Warum hätten Sie sich von uns fern gehalten, wenn nicht aus Abscheu vor dieser Prozedur?«

»Das war keine Absicht. Es gab gar keine Fluchtmöglichkeit für mich.«

»Ich rede nicht nur von der Zeit, als Sie im Gefängnis saßen. Ich rede von Ihrer Expedition in dieses System. Warum hätten Sie die unternehmen sollen, wenn nicht, um vor uns wegzulaufen?«

»Ich könnte durchaus andere Gründe gehabt haben.«

Sylveste befürchtete schon, Sajaki könnte auf dem Thema noch weiter herumreiten, aber der Triumvir ließ die Gelegenheit vorübergehen und hakte den Fragenkomplex im Geiste ab. Vielleicht langweilte ihn das Thema. Sajaki war ein Mensch, der in der Gegenwart existierte, dachte Sylveste, und sich viel mit der Zukunft beschäftigte. Die Vergangenheit reizte ihn wenig. Sajaki interessierte sich nicht für Motive oder alternative Entwicklungen, vermutlich weil dies Fragen waren, die sich auf einer bestimmten Ebene seinem Zugriff entzogen.

Sylveste hatte gehört, dass Sajaki — genau wie er selbst vor seiner Reise zu den Schleierwebern — die Musterschieber aufgesucht hatte. Für einen Besuch bei den Schiebern gab es nur einen Grund: man wollte sich einer Neuraltransformation unterziehen, um seinen Geist für neue Bewusstseinsformen zu öffnen, die für die menschliche Wissenschaft nicht erreichbar waren. Es hieß — eventuell war es nur ein Gerücht — kein Schieber-Transform sei ohne Nebenwirkungen; man könne den menschlichen Geist nicht umformen, ohne vorhandene Fähigkeiten einzubüßen. Immerhin gebe es nur eine endliche Zahl von Neuronen im menschlichen Gehirn, und entsprechend sei auch die Zahl der möglichen interneuronalen Verbindungen begrenzt. Die Schieber könnten das Netz zwar neu verdrahten, aber dabei würden zwangsläufig bestehende Verbindungen zerstört. Auch Sylveste mochte gewisse Ausfälle zu verzeichnen haben, allerdings hatte er bisher noch nichts davon bemerkt. Vielleicht zeigten sich die Verluste bei Sajaki deutlicher. Der Mann hatte fast schon autistische Züge, ihm fehlte jedes intuitive Verständnis für das Wesen des Menschen. Die Gespräche mit ihm hatten eine gewisse Sterilität, aber das fiel erst auf, wenn man genau hinhörte. In Calvins Labors auf Yellowstone hatte Sylveste einmal mit einem historischen Computersystem gesprochen, das mehrere Jahrhunderte vor dem Transrationalismus, in der ersten Blütezeit der Erforschung der Künstlichen Intelligenz gebaut worden war. Das System hatte von sich behauptet, die menschliche Sprache zu imitieren, und anfangs antwortete es auf eingegebene Fragen auch durchaus verständig. Doch schon nach wenigen Sätzen war die Illusion dahin, und mit der Zeit stellte man fest, dass die Maschine das Gespräch von sich weg steuerte und alle Fragen mit der Gleichgültigkeit einer Sphinx an sich abprallen ließ. Bei Sajaki waren diese Ausweichmanöver längst nicht so extrem, aber spürbar waren sie auch hier, und er ging dabei nicht einmal sonderlich geschickt vor. Er bemühte sich gar nicht, seine Gleichgültigkeit zu verbergen; die menschliche Tünche des Soziopathen fehlte. Sajaki hatte es ja auch nicht nötig, seine Natur zu verleugnen. Er hatte nichts zu verlieren und war auf seine Art nicht mehr und nicht weniger fremdartig als der Rest der Besatzung.

Als er schließlich klargestellt hatte, dass er Sylvestes Gründen für die Resurgam-Expedition nicht weiter nachzuspüren gedachte, wandte er sich an das Schiff und befahl ihm, Calvin zu rufen und sein simuliertes Abbild auf das Captainsdeck zu projizieren. Die sitzende Gestalt erschien praktisch sofort. Wie üblich spielte Calvin zunächst ein wenig Theater, indem er so tat, als sei er aus tiefem Schlaf erwacht. Er räkelte sich und sah sich um, aber diesmal war er nicht mit dem Herzen dabei.

»Fangen wir an?«, fragte er. »Soll ich in dich einfahren? Die Maschinen, mit denen ich deine Augen behandelte, bereiten mir wahre Tantalusqualen, Dan — zum ersten Mal seit Jahren erkenne ich, was mir fehlt.«

»Es ist leider noch nicht so weit«, sagte Sylveste. »Dies ist nur ein — wie soll ich sagen? Eine Probebohrung?«

»Warum habt ihr mich dann überhaupt geweckt?«

»Weil ich in der unerfreulichen Lage bin, deinen Rat zu brauchen.« Während er sprach, tauchten zwei Servomaten aus dem finsteren Korridor auf. Es waren riesige Kettenfahrzeuge. Aus ihren Rümpfen wuchsen dicke Bündel blitzender Spezialmanipulatoren und Sensoren. Obwohl sie antiseptisch rein und spiegelblank waren, schienen sie etwa tausend Jahre alt und geradewegs einem Museum entsprungen zu sein. »Hier gibt es nichts, was für die Seuche anfällig wäre«, erklärte Sylveste. »Keine kleinen, mit bloßem Auge nicht zu erkennenden Bauteile; nichts was sich repliziert, selbst repariert oder seine Gestalt verändert. Alle Cybernetiker sind weit entfernt — Kilometer über uns, und mit den Drohnen stehen wir nur optisch in Verbindung. Bevor wir Volyovas Retrovirus einsetzen, kommt kein Replikator gleich welcher Art an den Captain heran.«

»Sehr vernünftig.«

»Für die Feinarbeit«, sagte Sajaki, »müssen Sie das Skalpell natürlich selbst führen.«

Sylveste fasste sich an die Stirn. »Meine Augen sind nicht völlig immun. Du musst sehr vorsichtig sein. Wenn die Seuche sie erwischt…«

»Vorsicht ist gar kein Ausdruck, glaube mir.« Calvin warf in der monolithischen Abgeschiedenheit seines Lehnstuhls den Kopf zurück und lachte wie ein Betrunkener über seinen eigenen Witz. »Wenn deine Augen hochgehen, bleibt selbst mir keine Zeit mehr, meine Angelegenheiten zu ordnen.«

»So lange du das Risiko kennst, ist es ja gut.«

Die Servomaten polterten auf den Captain zu, der wie ein gefallener Engel in seinem Kälteschlaf tank ruhte. Mehr denn je hatte man den Eindruck, als sei er nicht mit gletscherhafter Langsamkeit aus dem Behältnis gequollen, sondern mit der Wucht eines Vulkans explodiert, um dann in einem Lichtblitz zu erstarren. Er breitete sich parallel zur Wand nach allen Richtungen aus und reichte Dutzende von Metern weit in die Korridore hinein. In unmittelbarer Nähe bestanden die Wucherungen aus baumdicken Zylindern, die wie Quecksilber in allen Farben schillerten. Ihre Oberfläche war wie rauer, mit Edelsteinen besetzter Mörtel, der ständig blitzte und funkelte, als ginge es darunter zu wie in einem Bienenstock. Zur Peripherie hin unterteilten sich die Äste immer weiter und bildeten schließlich ein bronchienartiges Geflecht, das ganz am Rand mikroskopisch fein wurde und nahtlos in das Trägermaterial — das Schiff selbst — überging. Hier waberten die Brechungsmuster wie ein Ölfilm auf dem Wasser.

Der Captain bildete einen silbrig glänzenden Hintergrund, vor dem die silbernen Servomaten nahezu unsichtbar waren. Sie hatten sich zu beiden Seiten des zerstörten Kälteschlaftanks, nicht mehr als einen Meter von dem gesprengten Panzer entfernt, dicht neben seinem Herzen postiert. Hier war es immer noch kalt — hätte Sylveste den Tank des Captains berührt, er wäre daran hängen geblieben, und die chimärische Masse des Seuchengewebes hätte sein Fleisch bald in sich aufgenommen. Zur Operation selbst würden sie den Captain erwärmen müssen, um überhaupt arbeiten zu können. Das würde den Verfall beschleunigen — anders ausgedrückt, die Seuche würde die Gelegenheit nützen, um ihre Umgebung noch schneller zu transformieren —, aber nur so konnte man an ihm arbeiten. Bei seiner jetzigen Temperatur würden alle bis auf die primitivsten Instrumente sofort stumpf und damit unbrauchbar werden.

Jetzt fuhren die Maschinen Teleskoparme mit Sensoren an der Spitze aus: magnetische Resonanz-Scanner, die tief in das Seuchengewebe eindrangen und zwischen mechanischen, chimärischen und ehemals menschlichen organischen Schichten unterscheiden konnten. Sylveste ließ sich von den Drohnen alle Daten an seine Augen übermitteln. Die Bilder überlagerten den Captain wie ein lilafarbener Schleier. Nur mit Mühe konnte er die letzten Umrisse der menschlichen Larve erkennen, aus der sich dieses Gebilde entwickelt hatte; sie zeichneten sich ab wie ein Geisterbild unter den neuen Farbschichten auf einer wiederverwendeten Leinwand. Aber je tiefer die Resonanz-Scanner vordrangen, desto schärfer wurden die Konturen. Die bizarre Anatomie des Seuchenopfers schälte sich heraus. Nun war das Grauen kaum noch zu ertragen. Aber Sylveste konnte den Blick nicht abwenden.

»Wo sollen wir — ich meine, wo willst du anfangen?«, fragte er, ohne Calvin anzusehen. »Heilen wir einen Menschen oder sterilisieren wir eine Maschine?«

»Keines von beiden«, sagte Calvin trocken. »Wir helfen dem Captain, und ich fürchte, er hat den einen wie den anderen Zustand hinter sich gelassen.«

»Bewundernswert klar erkannt«, sagte Sajaki und zog sich aus der Kältezone zurück, damit Sylveste freie Sicht hatte. »Es geht nicht mehr um Heilung oder um Reparatur. Ich ziehe den Begriff Rekonstruktion vor.«

»Erwärmen Sie ihn«, verlangte Calvin.

»Wie?«

»Sie haben schon richtig gehört. Ich will, dass er erwärmt wird — nur vorübergehend, keine Sorge. Aber doch so lange, dass wir einige Gewebeproben entnehmen können. Volyova hat sich bei ihren Untersuchungen meines Wissens auf die Peripherie des verseuchten Gewebes beschränkt. Sie war sehr fleißig und hat gute Arbeit geleistet; die von ihr entnommenen Proben geben nicht nur wertvolle Hinweise auf das Wachstumsverhalten, sie waren natürlich auch unentbehrlich für die Entwicklung des Retrovirus. Aber jetzt müssen wir in den Kern vordringen; dorthin, wo noch lebendes Fleisch ist.« Er lächelte. Der angeekelte Ausdruck, der über Sajakis Gesicht huschte, bereitete ihm ein diebisches Vergnügen. Vielleicht ist doch eine gewisse Empathie vorhanden, dachte Sylveste — zumindest ein verkümmerter Rest dessen, was einmal war. Für einen Moment fühlte er sich dem Triumvir verwandt.

»Was interessiert Sie daran so sehr?«

»Seine Zellen natürlich.« Calvin spielte mit den Schnörkeln an seinen Armlehnen. »Man sagt, die Schmelzseuche zerstört unsere Implantate, indem sie die Replikationsfunktionen angreift, und vermengt sie mit dem Fleisch. Ich denke, es geht noch weiter. Ich denke, die Seuche strebt nach Hybridisierung — sie versucht, ein Gleichgewicht zwischen Leben und Cybernetik zu finden. Genau das tut sie hier — sie ist nicht bösartig, sie ist nur bemüht, den Captain, seine Cybernetik und das Schiff zu hybridisieren. Es ist geradezu eine gute Tat, ein Projekt mit künstlerischem Anspruch.«

»Wenn Sie an seiner Stelle wären, würden Sie das nicht so ausdrücken«, sagte Sajaki.

»Natürlich nicht. Deshalb will ich ihm ja helfen. Aber dazu muss ich ins Innere seiner Zellen sehen können. Ich möchte wissen, ob die Seuche seine DNA in Mitleidenschaft gezogen hat — ob sie versucht, seine eigenen Zellmechanismen zu übernehmen.«

Sajaki wies einladend in die Kälte. »Wenn das so ist, dann nur zu. Sie haben meine Erlaubnis, ihn zu erwärmen. Aber nicht länger als unbedingt nötig. Dann möchte ich ihn bis zur Operation wieder einfrieren. Und ich möchte nicht, dass die Proben dieses Deck verlassen.«

Sylveste bemerkte, dass die ausgestreckte Hand des Triumvirs zitterte.


»Alles hat mit einem Krieg zu tun«, sagte Khouri im Spinnenraum. »So weit ist mir die Sache klar. Sie nannten ihn den Morgenkrieg. Es war vor langer, langer Zeit, vor Millionen von Jahren.«

»Woher willst du das wissen?«

»Die Mademoiselle hat mir eine Lektion in galaktischer Geschichte verpasst, um mir zu zeigen, was auf dem Spiel steht. Und es hat funktioniert. Kannst du mir nicht einfach glauben, dass es nicht gut wäre, Sylveste bei seinem Vorhaben zu unterstützen?«

»Dieser Meinung bin ich doch ohnehin nie gewesen.«

Das kannst du erzählen, wem du willst, dachte Khouri. Volyova war immer noch von einer geradezu kindlichen Neugier auf Cerberus/Hades besessen, und diese Neugier war sogar noch stärker geworden, seit sie wusste, dass dort Gefahren lauerten. Vorher hatte das Rätsel aus einer einzelnen ungewöhnlichen Neutrino-Signatur bestanden. Jetzt hatte sie dank Alicias Aufzeichnung die Maschinen der Aliens mit eigenen Augen gesehen. Nein; in gewisser Hinsicht war Volyova von dem Planeten ebenso fasziniert wie Sylveste. Der Unterschied war nur, dass man mit ihr vernünftig reden konnte. Volyova besaß noch einen Rest von gesundem Menschenverstand.

»Glaubst du, wir hätten eine Chance, Sajaki von den Risiken zu überzeugen?«

»Kaum. Wir haben ihm zu viel verheimlicht. Schon deshalb würde er uns töten. Ich fürchte immer noch, er könnte dich trawlen. Eben hat er erst wieder davon gesprochen. Ich konnte ihn ablenken, aber…« Sie seufzte. »Wie auch immer, Sylveste hat jetzt die Fäden in der Hand. Was Sajaki will oder nicht, spielt kaum noch eine Rolle.«

»Dann müssen wir Sylveste umstimmen.«

»Das wird nicht funktionieren, Khouri. Er wäre selbst vernünftigen Argumenten nicht zugänglich — und was du mir eben erzählt hast, fällt noch nicht einmal in diese Kategorie.«

»Aber du glaubst mir.«

Volyova hob die Hand. »Ich glaube manches, Khouri — aber das ist nicht dasselbe. Ich habe einige Dinge erlebt, von denen du behauptest, sie erklären zu können, zum Beispiel den Vorfall mit dem Weltraumgeschütz. Und wir wissen, dass mächtige Fremdintelligenzen irgendwie die Hand im Spiel haben, deshalb kann ich deine Morgenkriegsgeschichte nicht völlig verwerfen. Aber den großen Überblick haben wir noch lange nicht.« Sie hielt inne. »Vielleicht, wenn ich mit der Analyse dieses Metallstücks fertig bin…«

»Welches Metallstücks?«

»Das Manoukhian dir heimlich eingepflanzt hat.« Und dann erzählte Volyova, wie sie das Stück gefunden hatte, als sie Khouri nach ihrer Anwerbung untersuchte. »Damals dachte ich, es handelt sich nur um einen Granatsplitter aus deiner Soldatenzeit. Und ich fand es merkwürdig, dass eure Ärzte ihn nicht gleich entfernt hatten. Vermutlich hätte ich sofort feststellen müssen, wie ungewöhnlich er ist… aber es war kein funktionstaugliches Implantat, sondern eben nur ein scharfkantiges Stück Metall.«

»Und du bist noch nicht dahinter gekommen, was es ist?«

»Nein, ich…« Volyova sprach die Wahrheit. Hinter der kleinen Scherbe steckte sehr viel mehr, als auf den ersten Blick zu erkennen war. Die Metallmischung war selbst für jemanden, der schon mit den ausgefallensten Legierungen gearbeitet hatte, ziemlich ungewöhnlich. Auch, sagte Volyova, habe sie verschiedene bizarre Fabrikationsfehler gefunden, aber das könnten auch später aufgetretene mechanische Spannungsrisse sein, Ermüdungserscheinungen im Nanobereich. »Immerhin bin ich fast am Ziel«, schloss sie.

»Vielleicht verrät uns das Ding, was wir wissen müssen. Aber eines wird sich dadurch nicht ändern. Ich kann die einzige Tat, die uns aus dem Schlamassel heraus helfen würde, nicht vollbringen, nicht wahr? Ich kann Sylveste nicht töten.«

»Nein. Sollte das Risiko allerdings noch höher werden — sollte sich mit absoluter Klarheit herausstellen, das er getötet werden muss —, dann müssten wir uns wohl überlegen, was dazu erforderlich wäre.«

Khouri brauchte einen Moment, um zu begreifen, was Volyova damit sagen wollte.

»Selbstmord?«

Volyova nickte finster. »Doch bis dahin muss ich alles tun, was in meinen Kräften steht, um Sylvestes Wunsch zu erfüllen. Sonst bringe ich uns alle in Gefahr.«

»Du hast mich missverstanden«, widersprach Khouri. »Du unterstellst einfach, dass wir alle sterben müssen, wenn der Angriff gegen Cerberus keinen Erfolg hat, aber das sage ich doch gar nicht. Ich sage, dass auch dann etwas Schreckliches passiert, wenn der Angriff glückt. Das ist der Grund, warum die Mademoiselle Sylveste töten wollte.«

Volyova hatte die Lippen zusammengepresst und schüttelte entschieden den Kopf wie eine gestrenge Mutter, die ihr Kind zurechtweist.

»Ich kann nicht wegen einer vagen Vorahnung eine Meuterei anzetteln.«

»Dann muss ich es vielleicht tun.«

»Nimm dich in Acht, Khouri. Du musst sehr vorsichtig sein. Sajaki ist gefährlicher, als du dir vorstellen kannst. Er wartet nur auf einen Vorwand, um dir den Schädel aufzumeißeln und nachzusehen, was drin ist. Vielleicht wartet er auch gar nicht mehr. Und Sylveste… ich weiß nicht. Auch bei ihm sollte man sich gründlich überlegen, ob man ihm in die Quere kommen möchte. Besonders jetzt, wo er Blut gerochen hat.«

»Dann müssen wir auf Umwegen an ihn heran. Über Pascale. Verstehst du? Wenn ich den Eindruck gewinne, dass sie ihn zur Vernunft bringen kann, werde ich ihr alles offenbaren.«

»Sie wird dir nicht glauben.«

»Vielleicht doch, wenn du meine Geschichte bestätigst. Und das wirst du doch tun?« Khouri sah Volyova an. Der Triumvir erwiderte den Blick schweigend. Vielleicht hätte sie geantwortet, doch in diesem Moment zirpte ihr Armband. Sie zog den Ärmel zurück und schaute auf die Anzeige. Sie wurde oben im Schiff verlangt.

Wie immer erschien die Brücke viel zu groß. Die Hand voll Menschen, die sich in dem riesigen Raum verteilten, wirkten geradezu verlassen. Volyova überlegte kurz, ob sie einige der geliebten Toten beschwören sollte, um die Leere zu füllen und den Anlass ein wenig feierlicher zu gestalten. Aber das wäre eine Demütigung, und überhaupt war sie — obwohl sie sich so intensiv mit dem Projekt beschäftigt hatte — ganz und gar nicht in feierlicher Stimmung. Seit den jüngsten Gesprächen mit Khouri war auch der letzte Rest an Sympathie für das Unternehmen erloschen. Khouri hatte natürlich Recht — sie gingen schon ein unverantwortlich hohes Risiko ein, wenn sie sich nur in der Nähe von Cerberus/Hades aufhielten —, aber dagegen konnte sie nichts tun. Es ging auch nicht nur darum, dass das Schiff zerstört werden könnte. Khouri zufolge wäre es sogar besser, wenn das Schiff zerstört würde, als wenn es Sylveste gelänge, ins Innere von Cerberus vorzudringen. Das könnten zwar das Schiff und seine Besatzung überleben — aber das Glück wäre nur kurz, und was danach käme, wäre sehr viel schlimmer. Eine echte Katastrophe, nicht nur für Resurgam — nicht nur für dieses System —, sondern für die ganze Menschheit, wenn das, was Khouri über den Morgenkrieg erzählt hatte, nur halbwegs der Wahrheit entsprach.

Sie war im Begriff, den schlimmsten Fehler ihrer Laufbahn zu begehen, und es war nicht einmal ein Fehler im eigentlichen Sinn, denn sie hatte keine andere Wahl.

»Ich hoffe«, sagte Triumvir Hegazi, der auf seinem Sitz über ihr thronte, »der Aufwand lohnt sich, Ilia.«

Das hoffte sie auch — aber sie dachte nicht daran, Hegazi gegenüber ihre Bedenken einzugestehen. »Halten Sie sich vor Augen«, sagte sie, an alle gewandt, »dass es kein Zurück mehr gibt, wenn wir erst angefangen haben. Es könnte in jeder Hinsicht ein schlimmes Ende nehmen. Möglicherweise provozieren wir den Planeten zu einer unmittelbaren Reaktion.«

»Aber das muss nicht sein«, erklärte Sylveste. »Ich habe Ihnen wiederholt erklärt, dass Cerberus nichts unternehmen wird, was unerwünschte Aufmerksamkeit erregen könnte.«

»Dann wollen wir hoffen, dass Ihre Theorien richtig sind.«

»Ich denke, wir können unserem guten Doktor vertrauen«, sagte Sajaki, der neben Sylveste saß. »Er ist ebenso verwundbar wie wir alle.«

Volyova wollte die Sache gern hinter sich bringen. Sie beleuchtete das bisher noch dunkle Hologramm und füllte es mit einem Echtzeitbild der Lorean. Äußerlich zeigte das Wrack keinerlei Veränderung, seit sie es gefunden hatten — der Rumpf war immer noch durchsiebt von den Einschlägen, die ihn, wie sie inzwischen wussten, unmittelbar nach dem Angriff von Cerberus und der Zerstörung der Sonden getroffen hatten. Doch im Innern waren Volyovas Maschinen fleißig an der Arbeit gewesen. Zuerst hatte der Roboter, den sie ausgeschickt hatte, um Alicias Logbuch zu holen, nur einen kleinen Drohnenschwarm generiert. Doch dieser Schwarm hatte sich rasch vermehrt. Zur Förderung seines Wachstums hatte er Schiffsmetall konsumiert und sich an die schiffseigenen Replikations- und Autoreparatursysteme angeschlossen, von denen die meisten nach dem Angriff nicht mehr neu gestartet worden waren. So waren weitere Schwärme entstanden — und etwa einen Tag nach Einleitung des Fortpflanzungsprozesses hatten sie mit der eigentlichen Arbeit begonnen: der Transformation des Schiffsinnern und der Außenhülle. Ein flüchtiger Beobachter hätte von alledem nichts bemerkt. Aber bei jeder Aktivität entstand Wärme, und auch die äußerste Schicht des Schiffswracks hatte sich im Lauf der vergangenen Tage leicht erwärmt. Daran war die rege Aktivität im Innern zu erkennen.

Volyova strich über ihr Armband und vergewisserte sich noch einmal, dass alle Anzeigen im grünen Bereich waren. Gleich ging es los: was sie auch tat, der Prozess war nicht mehr aufzuhalten.

»Mein Gott«, sagte Hegazi.

Die Lorean veränderte sich, sie häutete sich. Große Teile der beschädigten Außenhülle lösten sich ab und bildeten einen Trümmerkokon um das Schiff, der sich langsam entfernte. Was darunter zum Vorschein kam, hatte die gleiche Form wie das Wrack, aber einen Panzer, der so glatt war wie die neue Haut einer Schlange. Die Transformation war nicht weiter schwierig gewesen — anders als die Unendlichkeit wehrte sich die Lorean nicht mit eigenen Replikationsviren gegen den Eingriff. Sie sträubte sich nicht gegen die Hand des Bildhauers. Die Unendlichkeit war so schwer zu bearbeiten wie Feuer; verglichen damit war das andere Schiff wie Wachs in Volyovas Händen.

Als immer mehr Trümmer abfielen, drehte sich die Lorean um ihre Längsachse, und der Blickwinkel veränderte sich. Die Synthetiker-Triebwerke waren noch funktionsfähig und blieben am Rumpf befestigt — doch gesteuert wurden sie jetzt von Volyovas Armband aus. Wahrscheinlich hätten sie nie wieder die erforderliche Leistung erbracht, um das Schiff auf knapp unter Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen, aber das hatte Volyova auch nicht vor. Die Lorean hatte nur noch eine Reise vor sich — ihre endgültig letzte — und die war fast beschämend kurz. Das Schiff war jetzt nahezu hohl, alles, was sich in seinem Innern befunden hatte, war komprimiert und zur Verstärkung des konischen Rumpfs verwendet worden. Der Kegel war unten offen; das Schiff glich einem riesigen, spitzen Fingerhut.

»Dan«, sagte Volyova. »Meine Maschinen haben Alicias Leiche und natürlich auch die Leichen der anderen Besatzungsmitglieder gefunden. Die meisten Meuterer hatten im Kälteschlaf gelegen… aber auch sie haben den Angriff nicht überlebt.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Wenn Sie wollen, kann ich sie bergen lassen. Das kostet natürlich Zeit — wir müssten ein Shuttle hinüber schicken, um sie hierher zu bringen.«

Sylveste entschied sich schneller, als sie erwartet hatte. Sie hatte angenommen, er würde sich bis zu einer Stunde Bedenkzeit erbitten. Stattdessen sagte er: »Nein. Wir können uns keine Verzögerung mehr leisten. Sie haben Recht. Cerberus hat die Aktivitäten sicher bemerkt.«

»Und die Leichen?«

Seine Antwort klang so, als gebe es nur eine vernünftige Lösung. »Sie werden mit der Lorean untergehen.«

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