Orbitalkarussell
New Brazilia, Yellowstone,
Epsilon Eridani
2546
Volyova verließ das Shuttle des Lichtschiffs und folgte Triumvir Hegazi in den Ausstiegstunnel. Durch ein verschlungenes System von Schleusen ging es ins Zentrum einer sphärischen Transit-Halle im Herzen des Karussells. Hier herrschte Schwerelosigkeit.
Jede menschliche Splittergruppe war hier vertreten; ein Rausch von bunten Farben, frei schwebend, überwältigend wie ein Schwarm tropischer Fische im Fressrausch: Ultras, Raumpiraten, Synthetiker, Demarchisten, einheimische Händler, interplanetare Reisende, Schmarotzer und Mechaniker kamen sich auf ihren scheinbar willkürlichen Bahnen oft bedrohlich nahe, ohne dass sich jemals ein Zusammenstoß ereignet hätte. Manche hatten sich — wenn ihr Körperbau es zuließ — transparente Flügel unter die Ärmel genäht oder direkt an der Haut befestigt. Weniger Abenteuerlustige begnügten sich mit kleinen Rucksackgeneratoren oder mieteten sich kleine Schlepper, um sich ziehen zu lassen. Servomaten mit Gepäck und zusammengefalteten Raumanzügen flogen durch die Menge, uniformierte Kapuzineräffchen mit Flügeln suchten nach Abfällen und stopften alles, was sie fanden, in Beutel, die sie sich um den Leib gebunden hatten. Von allen Seiten drang scheppernde chinesische Musik an Volyovas ungeschultes Ohr, als streiche der Wind durch ein dissonantes Windspiel. Tausende von Kilometern unter ihnen bildete Yellowstone eine unheilvolle gelbbraune Kulisse für das wilde Treiben.
Volyova und Hegazi erreichten die andere Seite der Transitkugel, passierten eine materiedurchlässige Membran und gelangten in die Zollabfertigung. Auch in dieser Kugel herrschte Schwerelosigkeit. An den Wänden hingen Girlanden von selbst auslösenden Waffen, die jeden Ankommenden ins Visier nahmen. Im Zentrum schwebten durchsichtige Blasen mit einem Durchmesser von drei Metern, die entlang der Äquatorlinie zu öffnen waren. Zwei Kugeln orteten die Neuankömmlinge, schwebten auf sie zu und schlossen sie ein.
Im Innern von Volyovas Blase hing ein kleiner Servomat. Er hatte die Form eines japanischen Kabuto-Helms, unter dem Rand ragten verschiedene Sensoren und Anzeigen hervor. Das Gerät scannte sie. Sie spürte ein leises Prickeln, als ordne jemand mit zarter Hand einen Blumenstrauß in ihrem Kopf.
»Ich entdecke Reste von russischen Sprachstrukturen, stelle aber fest, dass Neu-Norte Ihre Standardsprache ist. Sind Sie imstande, damit die bürokratischen Formalitäten zu bewältigen?«
»Durchaus«, versetzte Volyova beleidigt. Was ging es die Maschine an, ob ihre Muttersprache eingerostet war?
»Dann werde ich mit Norte fortfahren. Von Systemen zur Kälteschlafeinleitung einmal abgesehen, kann ich weder Hirnimplantate noch exosomatische Elemente zur Wahrnehmungsveränderung entdecken. Wünschen Sie ein Leihimplantat, bevor wir die Befragung fortsetzen?«
»Ein Bildschirm und ein Gesicht genügen.«
»Schön.«
Unter dem Helmrand entstand ein Gesicht mit leicht mongolischem Einschlag. Eine weiße Frau, die das Haar ebenso kurz geschnitten trug wie Volyova. Hegazi hatte vermutlich einen dunkelhäutigen Mann mit Schnurrbart und ähnlich vielen mechanischen Teilen wie er selbst.
»Identifizieren Sie sich«, verlangte die Frau.
Volyova stellte sich vor.
»Sie haben dieses System zum letzten Mal… mal sehen.« Ein kurzer Blick nach unten. »Vor fünfundachtzig Jahren besucht; 2461. Ist das richtig?«
Wider besseres Wissen ging Volyova näher an den Schirm heran. »Natürlich ist das richtig. Du bist eine Gamma-Simulation. Also lass das Theater und mach voran. Ich bin hier, um Waren zu tauschen, und jede Sekunde, die du mir stiehlst, kostet Gebühren für den Parkorbit um euren Hundeköttel von einem Planeten.«
»Aufsässiges Verhalten«, sagte die Frau und vermerkte etwas in einem unsichtbaren Notizbuch. »Nur zu Ihrer Information, die Archive von Yellowstone sind vielfach lückenhaft, wir hatten ausgedehnte Datenverluste durch die Seuche. Meine Frage hatte den Zweck, einen nicht bestätigten Eintrag zu verifizieren.« Sie hielt inne. »Und übrigens heiße ich Vavilov und sitze mit einer lauwarmen Tasse Kaffee und meiner letzten Zigarette seit acht Stunden in einem zugigen Büro. Meine Schicht dauert zehn Stunden. Wenn ich heute nicht zehn Leute abweise, hält mir mein Chef vor, dass ich im Dienst schlafe, und bisher sind es erst fünf. Mir bleiben also nur noch zwei Stunden, um die Quote zu erfüllen, und dafür ist mir jedes Mittel recht. Sie sollten sich Ihren nächsten Ausbruch sehr sorgfältig überlegen.« Die Frau zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch in Volyovas Richtung. »Können wir jetzt fortfahren?«
»Entschuldigen Sie, ich dachte…« Volyova unterbrach sich. »Werden solche Arbeiten denn hier nicht von Simulationen erledigt?«
»Früher schon«, seufzte die Vavilov resigniert. »Das Problem mit Simulationen ist nur, dass sie sich viel zu viel bieten lassen.«
Vom Zentrum des Karussells fuhren Volyova und Hegazi mit einem Fahrstuhl von der Größe eines Hauses an einem der vier Radialspeichen des Rades entlang nach außen. Dabei stieg ihr Gewicht stetig an, bis sie die Peripherie erreichten. Die hier herrschende normale Yellowstone-Schwerkraft unterschied sich nicht merklich vom Erdstandard, an dem die Ultras festhielten. Das Orbitalkarussell New Brazilia brauchte vier Stunden für einen Umlauf um Yellowstone. Seine Bahn machte einen Bogen um den Rostgürtel — einen Schuttring, der erst seit der Seuche entstanden war. Es war gebaut wie ein Rad, einer der häufigsten Karussellgrundrisse, und hatte einen Durchmesser von zehn Kilometern und eine Dicke von elfhundert Metern. Alle menschlichen Aktivitäten spielten sich auf der dreißig Kilometer langen Außenfelge ab, die Platz bot für einige kleinere Städte, etliche Dörfer und verschiedene Landschaften im Kleinformat. Man hatte sogar Wälder angelegt und in die schräg nach oben strebenden Seiten der Felge azurblaue, schneebedeckte Berge eingeschnitten, um den Anschein von Weite zu erwecken. Einen halben Kilometer über der Felge wölbte sich ein durchsichtiges Dach über den konkaven Teil des Rades. Es war kreuz und quer von Metallschienen durchzogen, auf denen dicke, computergesteuerte Kunstwolken ihre Bahnen zogen. Die Wolken simulierten nicht nur Planetenwetter, sie milderten auch die manchmal erschreckend starke Krümmung dieser Welt. Volyova hielt sie für realistisch, ohne sich dessen ganz sicher sein zu können. Sie hatte mit eigenen Augen noch nie echte Wolken gesehen, jedenfalls nicht von unten. Sie hatten den Fahrstuhl verlassen und standen nun über der größten Siedlung des Karussells. Dicht zusammengedrängt ragten zahlreiche Gebäude zwischen den terrassierten Talhängen empor. Rimtown, Randstadt, nannte sich der Ort. Ein unschönes Durcheinander verschiedenster Stilrichtungen zeugte davon, wie viele unterschiedliche Bewohner das Karussell im Lauf seiner Geschichte schon beherbergt hatte. Auf der untersten Etage wartete eine Reihe von Rikschas. Der Fahrer der ersten trank Bananensaft aus einer Dose, die in einem Halter an der Lenkstange steckte. Hegazi reichte ihm ein Stück Papier mit dem Fahrtziel. Der Fahrer hielt sich das Blatt dicht vor die schwarzen, eng beieinanderstehenden Augen und nahm den Auftrag brummend an. Bald waren sie mitten im Verkehrsgewühl. Kraftfahrzeuge und pedalgetriebene Vehikel kamen von allen Seiten, Fußgänger stürzten sich todesmutig in jede Lücke des scheinbar ziellosen Stroms. Mindestens die Hälfte der Passanten waren Ultranauten, erkennbar an ihrer Blässe, dem schmächtigen Körperbau und den stolz zur Schau getragenen künstlichen Körperteilen. Schwarze Lederbandagen und Unmengen an blitzendem Schmuck, Tätowierungen und Handelstrophäen ergänzten das Bild. Volyova sah keine extremen Chimären. Hegazi war vielleicht eine Ausnahme, er gehörte wohl zu den fünf am höchsten aufgerüsteten Menschen im ganzen Karussell. Aber die Mehrheit trug das Haar nach herkömmlicher Ultramanier zu dicken Zöpfen geflochten, die die Zahl der absolvierten Kälteschlafperioden anzeigten, und viele hatten sich die Kleider aufgeschlitzt, um ihre Prothesen zu zeigen. Wenn Volyova sich diese Exemplare ansah, konnte sie kaum glauben, derselben Kultur anzugehören.
Natürlich waren die Ultras nicht die einzigen Raumfahrer, die die Menschheit hervorgebracht hatte. Zumindest hier bildeten die Raumpiraten einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung. Obwohl auch sie das Weltall bereisten, fuhren sie nicht auf interstellaren Schiffen und hatten daher eine ganz andere Einstellung als die gespenstergleichen Ultras mit ihren Dreadlocks und ihrer altmodischen Sprache. Und auch damit nicht genug. Die Eisreiter waren ein Ableger der Raumpiraten, psychisch angepasst an die extreme Einsamkeit in den Kuiper-Gürteln. Sie blieben mit leidenschaftlicher Verbissenheit unter sich. Die Kiemer waren an das Leben im Wasser angepasste Menschen, die flüssige Luft atmeten. Sie eigneten sich als Besatzung für Kurzstreckenschiffe mit hoher Beschleunigung und stellten einen großen Teil der Polizei des Systems. Einige Kiemer waren nicht mehr fähig, unter normalen Bedingungen zu atmen und sich zu bewegen. Sie waren außer Dienst in großen, selbststeuernden Aquarien untergebracht.
Und schließlich waren da noch die Synthetiker: Abkömmlinge einer Gruppe von Experimentatoren auf dem Mars, die ihren Verstand systematisch immer weiter entwickelt und so lange Zellen gegen Maschinen ausgetauscht hatten, bis es zu einer jähen, drastischen Wandlung kam. Sie hatten sich mit einem einzigen Schritt zu einer neuen Bewusstseinsebene — dem so genannten Transrationalismus — emporgeschwungen und dabei einen kurzen, aber brutalen Krieg heraufbeschworen. Die Synthetiker waren in jeder Menge leicht zu erkennen: vor kurzem hatten sie sich mit biotechnischen Verfahren wunderschöne große Schädelkämme angezüchtet, um über deren Adern die Abwärme der auf Hochtouren arbeitenden Maschinen in ihren Köpfen abzuleiten. In letzter Zeit sah man sie seltener und deshalb erregten sie umso mehr Aufmerksamkeit. Andere Gruppen — wie etwa die Demarchisten, die sich längst mit den Synthetikern verbündet hatten — litten darunter, dass nur die Synthetiker Triebwerke bauen konnten, die für die Lichtschiffe geeignet waren.
»Halt«, befahl Hegazi. Die Rikscha schoss an den Straßenrand und hielt vor einigen Mummelgreisen an, die an Klapptischen saßen und Karten oder Mah-Jongg spielten. Hegazi drückte dem Fahrer seinen Lohn in die fleischige Hand und trat hinter Volyova auf den Gehsteig. Sie standen vor einer Bar.
›Schieber und Weber‹, las Volyova auf einem holografischen Schild über der Tür. Es zeigte einen nackten Mann, der dem Meer entstieg, während im Hintergrund seltsame Phantasmagorien über den Wellen schwebten. Über ihm hing eine schwarze Kugel am Himmel. »Sieht ziemlich merkwürdig aus.«
»Es ist die Stammkneipe aller Ultras. Also gewöhnen Sie sich daran.«
»Schön, ich habe verstanden. Wenn ich recht überlege, gibt es eigentlich keine Ultra-Bar, in der ich mich wohl fühlen würde.«
»Das Lokal, in dem Sie sich wohl fühlen würden, müsste mit einem Navigationssystem und jeder Menge Zerstörungswaffen ausgerüstet sein, Ilia.«
»Das hört sich sehr vernünftig an.« Eine Gruppe von Jugendlichen drängte auf die Straße.
Sie waren schweißüberströmt und hatten sich Bier über die Kleidung geschüttet. Jedenfalls hoffte Volyova, dass es Bier war. Sie hatten Armdrücken gespielt: einer hielt eine Prothese in der Hand, die an der Schulter abgerissen war; ein anderer blätterte in einer Rolle Banknoten. Das war wohl der Gewinner. Sie trugen die gängigen Schlafzöpfe und die handelsüblichen Sternen-Tätowierungen und gaben Volyova das Gefühl, uralt zu sein. Das größte Problem, das diese Jugendlichen quälte, war wohl die Frage, woher sie den nächsten Drink und ein Bett zum Schlafen nehmen sollten. Hegazi sah sie warnend an — sein Anblick schüchterte sie sichtlich ein. Zwar hatten sie selbst chimärische Ambitionen, aber bei Hegazi war kaum noch auseinanderzuhalten, was an ihm mechanisch war und was nicht.
»Los!«, sagte er und drängte sich vorbei. »Zähne zusammenbeißen und lächeln, Ilia!«
Drinnen war es dunkel und verräuchert. Die laute Musik — hämmernde Burundi-Rhythmen, überlagert von Klängen, die an menschlichen Gesang erinnerten — zusammen mit den leichten Halluzinogenen im parfümierten Rauch machten Volyova im ersten Moment benommen. Dann deutete Hegazi auf einen Ecktisch, der wie durch ein Wunder frei war, und sie folgte ihm mit einem Minimum an Begeisterung.
»Sie werden sich doch setzen?«
»Was bleibt mir schon anderes übrig. Wir müssen den Eindruck erwecken, als könnten wir uns zumindest ertragen, sonst werden die Leute misstrauisch.«
Hegazi grinste und schüttelte den Kopf. »Irgendetwas an Ihnen muss mir doch sympathisch sein, Ilia, sonst hätte ich Sie schon vor Jahren getötet.«
Sie nahm Platz.
»Sagen Sie so etwas ja nicht, wenn Sajaki dabei ist. Drohungen gegen Angehörige des Triumvirats hört er gar nicht gern.«
»Nicht ich habe Schwierigkeiten mit Sajaki, falls Sie das vergessen haben sollten. Also, was möchten Sie trinken?«
»Etwas, das mein Verdauungssystem bewältigen kann.«
Hegazi bestellte verschiedene Getränke — seine Physiologie war darauf ausgelegt — und wartete, dass das Verteilersystem sie brachte.
»Die Sache mit Sudjic ärgert Sie noch immer, nicht wahr?«
»Keine Sorge«, sagte Volyova und verschränkte die Arme. »Mit Sudjic werde ich schon fertig. Außerdem bräuchte ich eine Menge Glück, um ihr auch nur ein Haar zu krümmen, bevor Sajaki sie erledigt.«
»Vielleicht lässt er Ihnen etwas übrig.« Die Getränke kamen in einer kleinen Plexiglaswolke mit Klappdeckel. Die Wolke hing an einem Wagen, der auf Schienen über die Decke entlang fuhr. »Glauben Sie, er könnte sie tatsächlich töten?«
Volyova nahm einen tiefen Zug. Es tat gut, nach der Rikschafahrt den Staub hinunterzuspülen. »Ich würde für Sajaki die Hand nicht ins Feuer legen. Er wäre imstande, uns alle zu töten.«
»Früher hatten Sie volles Vertrauen zu ihm. Was hat Sie veranlasst, Ihre Meinung zu ändern?«
»Sajaki ist nicht mehr derselbe, seit der Captain erneut erkrankt ist.« Sie sah sich nervös um, Sajaki konnte durchaus in Hörweite sein. »Wussten Sie eigentlich, dass sie vorher zusammen die Musterschieber besucht hatten?«
»Wollen Sie damit andeuten, die Schieber hätten sich an Sajakis Gehirn zu schaffen gemacht?«
Sie dachte an das Bild mit dem nackten Mann, der dem Schieber-Ozean entstieg. »Genau das pflegen die Schieber zu tun, Hegazi.«
»Aber nur mit Einwilligung der Betroffenen. Das würde ja heißen, dass Sajaki grausamer werden wollte.«
»Nicht nur grausamer. Zielbewusster. Die Sache mit dem Captain…« Sie schüttelte den Kopf. »Für mich bleibt sie ein Rätsel.«
»Haben Sie in letzter Zeit mit ihm gesprochen?«
Sie verstand, was er meinte. »Nein; ich glaube übrigens nicht, dass er den Mann gefunden hat, nach dem er sucht, aber das werden wir sicher bald erfahren.«
»Und wie steht es bei Ihnen?«
»Ich suche nicht nach einem bestimmten Individuum. Ich habe nur eine Bedingung: Ein neuer Kandidat sollte weniger verrückt sein als Boris Nagorny. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.« Sie ließ den Blick über die Trinker in der Bar schweifen. Auf den ersten Blick schien kein ausgesprochener Psychopath darunter zu sein, aber auch niemand, der einen besonders stabilen und angepassten Eindruck machte. »Jedenfalls hoffe ich das.«
Hegazi nahm eine Zigarette und bot auch Volyova eine an. Sie nahm sie dankbar und zog fünf Minuten lang schweigend daran, bis das allerletzte Molekül in der heißen Asche glühte. Sie durfte nicht vergessen, bei diesem Aufenthalt ihren Zigarettenvorrat aufzufüllen. »Aber ich fange eben erst zu suchen an«, sagte sie. »Und ich muss behutsam vorgehen.«
»Sie meinen«, sagte Hegazi und lächelte wissend, »Sie wollen den Kandidaten vor der Einstellung nicht allzu genau erklären, was sie erwartet?«
Volyova grinste. »Natürlich nicht.«
Das Shuttle mit dem Saphirrumpf hatte keinen langen Flug hinter sich: es war nur vom Familien-Habitat der Sylvestes durch den Orbit gehüpft. Aber der Besuch war nicht leicht zu arrangieren gewesen. Calvin missbilligte ausdrücklich jeden Kontakt seines Sohnes zu dem Wesen, das jetzt im Institut untergebracht war, als befürchte er, dessen Geisteszustand könnte sich durch geheimnisvolle sympathetische Schwingungen auf Sylveste übertragen. Aber Sylveste war mit seinen einundzwanzig Jahren alt genug, selbst zu entscheiden, mit wem er verkehrte. Ob Calvin sich erhängte oder sich bei dem wahnwitzigen Experiment, dem er sich und seine neunundsiebzig Jünger unterziehen wollte, das Gehirn verschmorte… Sylveste würde sich jedenfalls nicht vorschreiben lassen, mit wem er sich treffen durfte.
Als das SISS vor ihm aufragte, dachte er: das ist alles nicht wirklich; nur ein Kapitel aus meiner Biografie. Pascale hatte ihm den Rohentwurf gegeben und ihn um seine Meinung gebeten. Jetzt durchlebte er die Episoden. Ohne die Mauern seines Gefängnisses in Cuvier zu verlassen, schwebte er wie ein Geist auf den Spuren seines jüngeren Ich durch seine eigene Vergangenheit. Tief vergrabene Erinnerungen stiegen wie von selbst an die Oberfläche. Die Biografie war noch längst nicht abgeschlossen. Später sollte sie der Öffentlichkeit von vielen Seiten, aus verschiedenen Blickwinkeln und mit unterschiedlich hoher Interaktivität zugänglich sein. Ein ungemein komplexes Werk mit vielen Facetten und so vielen Details, dass jemand ohne weiteres sein ganzes Leben damit zubringen konnte, nur einen Abschnitt von Dan Sylvestes Vergangenheit zu erkunden.
Das SISS sah genauso aus wie in seiner Erinnerung. Das organisatorische Zentrum des Sylveste-Instituts für Schleierweber-Studien lag in einem radförmigen Gebäude, das noch aus Amerikano-Tagen stammte, wobei jeder einzelne Kubik-Nanometer über die Jahrhunderte mehrfach ausgetauscht worden war. Auf zwei grauen, pilzförmigen Halbkugeln, die aus der Radnabe sprossen, befanden sich die Andockschleusen und die bescheidenen Verteidigungssysteme, die von der demarchistischen Ethik zugelassen waren. Den Rand des Rades bildete ein Konglomerat von Wohnmodulen, Labors und Büros, eingebettet in eine dicke Schicht Chitin-Polymer und durch ein Netz von Tunnelgängen und Versorgungsrohren mit Wänden aus Hai-Kollagen miteinander verbunden.
»Sie ist gut.«
»Finden Sie?«, fragte Pascale kühl.
»Genau so war es«, sagte Sylveste. »Das waren meine Gefühle, als ich ihn besuchte.«
»Danke, ich… aber das war noch gar nichts — der Teil war einfach. Umfassend dokumentiert. Wir hatten Pläne vom SISS, und in Cuvier gibt es sogar noch Leute wie Janequin, die Ihren Vater kannten. Schwierig ist, was hinterher passierte — dazu haben wir kaum Unterlagen, nur das, was Sie bei Ihrer Rückkehr erzählten.«
»Sie haben die Aufgabe sicher ganz ausgezeichnet gelöst.«
»Sie werden ja sehen — und zwar schon bald.«
Das Shuttle dockte an. Hinter der Schleuse warteten schon die Sicherheitsservomaten des Instituts, um seine Identität zu überprüfen.
»Calvin wird nicht begeistert sein«, sagte Gregori, der Verwalter des Instituts. »Aber jetzt ist es vermutlich zu spät, um dich nach Hause zu schicken.«
Die Szene hatte sich in den letzten Monaten schon zwei oder drei Mal abgespielt. Immer lehnte Gregori jede Verantwortung für die Folgen ab. Sylveste brauchte keine Begleitung mehr, er fand den Weg durch die Tunnel aus Hai-Kollagen bis dahin, wo es — das Wesen — untergebracht war, auch allein.
»Keine Sorge, Gregori. Wenn Vater Ärger machen sollte, dann sagen Sie ihm einfach, ich hätte Ihnen befohlen, mich herumzuführen.«
Gregori zog die Augenbrauen hoch und die auf seine Emotionen abgestimmten entoptischen Figuren brachten seine Belustigung zum Ausdruck.
»Tust du das nicht tatsächlich, Dan?«
»Ich wollte die Sache nur gütlich regeln.«
»Spar dir die Mühe, mein Junge. Uns allen wäre es sehr viel lieber, wenn du dem Beispiel deines Vaters folgen würdest. Bei einem guten totalitären Regime weiß man wenigstens, woran man ist.«
Durch die Tunnel brauchte man zwanzig Minuten von der Nabe bis hinaus zum Rand. Er kam vorbei an wissenschaftlichen Abteilungen, wo Denkerteams — aus Menschen und Maschinen — sich unermüdlich bemühten, das Rätsel der Schleier zu lüften. Obwohl das SISS alle bisher entdeckten Schleier mit Überwachungsstationen umgeben hatte, wurden die meisten Informationen im Orbit um Yellowstone gesammelt und verarbeitet. Hier stellte man komplizierte Theorien auf und versuchte, sie mit den vorhandenen Fakten, die zwar spärlich, aber nicht zu ignorieren waren, in Einklang zu bringen. Bisher hatte keine Theorie mehr als ein paar Jahre überdauert.
Das Wesen, das Sylveste besuchen wollte, war in einem bewachten Anbau am Rand untergebracht; in Anbetracht der Tatsache, dass sich nicht feststellen ließ, ob es dieses Geschenk überhaupt zu würdigen wusste, war der Wohnraum sogar recht großzügig bemessen. Der Name des Wesens — des Mannes — war Philip Lascaille.
Inzwischen bekam er nicht mehr viel Besuch. Zu Anfang, gleich nach seiner Rückkehr, waren die Menschen in Scharen gekommen. Aber als sich herausstellte, dass Lascaille den Forschern nichts sagen konnte, was mehr oder weniger brauchbar gewesen wäre, hatte das Interesse nachgelassen. Sylveste hatte jedoch rasch erfasst, dass es für ihn nur günstig war, wenn sich niemand mehr eingehender mit Lascaille beschäftigte. Selbst seine eigenen eher seltenen Besuche — er kam ein oder zwei Mal im Monat — gingen so weit über die Norm hinaus, dass sie zwischen den beiden — ihm selbst und dem, was aus Lascaille geworden war — so etwas wie eine Beziehung entstehen ließen.
Zu Lascailles Anbau gehörte auch ein Garten, über dem sich ein künstlicher, tief blauer Himmel spannte. Dort wehte immer ein leichter Wind, gerade stark genug, um die Windspiele in den dichten Baumkronen am Rand erklingen zu lassen.
Der Garten war angelegt wie ein primitives Labyrinth, mit Wegen, Felsblöcken, kleinen Hügeln, Gitterspalieren und Goldfischteichen. Deshalb brauchte Sylveste immer etwa eine Minute, bis er Lascaille gefunden hatte. Er bot fast immer den gleichen Anblick: nackt oder halb nackt, ziemlich schmutzig, die Finger verschmiert von Buntstiften und Kreide in allen Regenbogenfarben. Sylveste wusste immer, dass er fast am Ziel war, wenn er Kritzeleien auf den Steinplatten entdeckte, komplexe symmetrische Muster oder Zeichen, die aussahen, als wolle jemand die chinesische oder die Sanskrit-Schrift imitieren, ohne die Buchstaben zu kennen. Manchmal erinnerte das, was Lascaille auf den Weg malte, auch an Boolesche Algebra oder an Morsezeichen.
Bald darauf — es war immer nur eine Frage der Zeit — bog er um eine Ecke und stand vor Lascaille, der an einer neuen Zeichnung arbeitete oder eine löschte, an der er zuvor gearbeitet hatte. Sein Gesicht war in völliger Konzentration erstarrt und jeder Muskel seines Körpers war zum Zerreißen gespannt. Es herrschte völlige Stille bis auf das Klirren des Windspiels, das leise Plätschern des Wassers oder das Scharren der Buntstifte und der Kreide auf dem Stein.
Sylveste musste oft Stunden warten, bis Lascaille Notiz von ihm nahm. Und dann wandte ihm der Mann meist nur für einen Moment das Gesicht zu, um sich gleich wieder seinem Tun zu widmen. Doch in diesem Moment passierte immer das Gleiche. Die Starre löste sich, und an die Stelle der Maske trat — ganz kurz nur — ein Lächeln. Stolz lag darin, Spott oder etwas völlig anderes, etwas, das Sylveste niemals begreifen würde.
Dann kehrte Lascaille zu seinen Kreidezeichnungen zurück. Und nichts deutete darauf hin, dass dieser Mann — als einziger Mensch — zur Oberfläche eines Schleiers geflogen und lebend zurückgekehrt war.
»Jedenfalls«, sagte Volyova, nachdem sie ihren Durst gelöscht hatte, »erwarte ich nicht, dass es einfach ist, aber ich zweifle nicht daran, dass sich früher oder später ein Kandidat findet. Ich habe die Stelle mit Angabe unseres nächsten Ziels ausgeschrieben. Zur Aufgabenstellung gebe ich nur an, dass Implantate benötigt werden.«
»Aber sie wollen nicht den Erstbesten nehmen, der des Weges kommt«, sagte Hegazi. »Oder?«
»Natürlich nicht. Ich werde, ohne die Kandidaten davon in Kenntnis zu setzen, auf militärische Erfahrungen achten. Jemand, der beim ersten Anzeichen von Schwierigkeiten die Nerven verliert oder keine Disziplin halten kann, nützt mir nichts.« Nachdem die Schwierigkeiten mit Nagorny jetzt ausgestanden waren, wurde sie allmählich ruhiger. Auf der Bühne spielte ein Mädchen auf einer goldenen Teeconax Ragamusik mit endlos wiederkehrenden Motiven. Volyova war nie ein großer Musikliebhaber gewesen. Aber die mathematische Strenge dieser Weisen hatte etwas so Betörendes, dass sie ihre Abneigung vorübergehend vergaß. Sie sagte: »Ich bin sehr zuversichtlich. Wir müssen nur auf Sajaki Acht geben.«
In diesem Augenblick wies Hegazi mit einem Nicken zur Tür hin. Helles Tageslicht fiel herein und Volyova kniff geblendet die Augen zusammen. Im Gegenlicht stand, nur in Umrissen zu erkennen, eine majestätische Gestalt in einem schwarzen, knöchellangen Umhang und mit einem Helm auf dem Kopf. Das Licht umstrahlte sie wie eine Gloriole. Ein langer, glatter Stab, mit beiden Händen gehalten, teilte ihr Profil diagonal in zwei Hälften.
Der Komuso-Mönch trat ins Dunkel des Lokals. Der vermeintliche Kendo-Stab war nur eine Bambus-Shakuhachi, ein traditionelles Musikinstrument. Nun schob er sie mit geübter Bewegung rasch in eine Scheide unter den Falten seines Umhangs. Dann nahm er mit würdevoller Langsamkeit den Weidenhelm ab. Seine Gesichtszüge waren schwer zu erkennen. Das Haar war mit Brillantine angeklatscht und am Hinterkopf zu einem sichelförmigen Schwanz zusammengebunden. Die Augen verschwanden hinter einer glatten Meuchelmörderbrille mit matten, infrarotempfindlichen Facetten, die das getönte Licht des Raums zurückwarfen.
Die Musik brach unvermittelt ab, das Mädchen mit der Teeconax war plötzlich wie vom Erdboden verschluckt.
»Sie glauben, die Polizei macht eine Razzia«, flüsterte Hegazi. Es war so still geworden, dass er die Stimme nicht zu heben brauchte. »Die hiesigen Bullen schicken die Körbe los, wenn sie keine Lust haben, sich selbst die Hände schmutzig zu machen.«
Der Komuso ließ seine Fliegenaugen durch den Raum wandern und nahm den Tisch mit Hegazi und Volyova ins Visier. Er konnte den Kopf unabhängig vom restlichen Körper bewegen wie eine Eule. Nun segelte, ja schwebte er mit wehendem Umhang auf die beiden zu. Hegazi zog lässig an seiner Zigarette und schob dabei mit dem Fuß einen freien Stuhl unter dem Tisch hervor.
»Schön, dass Sie da sind, Sajaki.«
Sajaki warf den Weidenhelm auf den Tisch und riss sich die Brille herunter. Dann setzte er sich auf den freien Stuhl, drehte sich um, warf gleichmütig einen Blick durch die Bar und bedeutete den übrigen Gästen mit einer Geste, sich ruhig wieder ihren Getränken zu widmen. Was sie trieben, kümmere ihn nicht. Allmählich kamen die Gespräche wieder in Gang, aber alle Anwesenden beobachteten die drei misstrauisch aus dem Augenwinkel.
»Ich wünschte, wir hätten einen Grund zum Feiern«, sagte Sajaki.
»Haben wir das nicht?«, fragte Hegazi und sah ihn so bestürzt an, wie es ihm seine umfangreichen Gesichtsumwandlungen gestatteten.
»Nein, definitiv nicht.« Die Gläser waren fast leer. Sajaki untersuchte sie genau, dann nahm er Volyovas Glas und kippte den letzten Rest hinunter. »Wie Sie vielleicht an meiner Verkleidung sehen, habe ich ein wenig spioniert. Sylveste ist nicht hier. Er befindet sich schon seit etwa fünfzig Jahren nicht mehr in diesem System.«
»Fünfzig Jahre?« Hegazi pfiff durch die Zähne.
»Dann ist die Spur ziemlich kalt«, bemerkte Volyova. Sie bemühte sich, keine Schadenfreude zu zeigen, aber sie hatte immer gewusst, dass dieses Risiko bestand. Als Sajaki Befehl gegeben hatte, mit dem Lichtschiff Kurs auf das Yellowstone-System zu nehmen, hatte er das auf der Grundlage der damals verfügbaren Informationen getan. Aber das war Jahrzehnte her und die Informationen waren schon damals Jahrzehnte alt gewesen.
»Ja«, sagte Sajaki. »Aber nicht so kalt, wie Sie vielleicht denken. Ich weiß genau, wohin er geflogen ist, und es besteht kein Grund zu der Annahme, dass er diesen Ort jemals wieder verlassen hätte.«
»Und wo soll er sein?«, fragte Volyova mit einem flauen Gefühl im Magen.
»Auf einem Planeten namens Resurgam.« Sajaki stellte Volyovas Glas auf den Tisch zurück. »Eine weite Reise, liebe Kollegen. Aber dies wird wohl leider unser nächstes Ziel sein müssen.«
Er fiel wieder in die Vergangenheit zurück.
Diesmal noch weiter, bis ins Alter von zwölf Jahren. Pascales Rückblenden waren nicht chronologisch geordnet; die Biografie nahm keine Rücksicht auf die Feinheiten des linearen Zeitablaufs. Er fand sich nicht gleich zurecht, obwohl er sich von allen Personen im Universum in seiner Geschichte eigentlich am besten hätte auskennen sollen. Aber die Verwirrung wich allmählich der Erkenntnis, dass sie den richtigen Weg ging; es bot sich an, seine Vergangenheit wie ein Mosaik aus untereinander austauschbaren Ereignissen zu behandeln; als Akrostichon, das viele gleichermaßen berechtigte Deutungen enthielt.
Man schrieb das Jahr 2373. Erst wenige Jahrzehnte zuvor hatte Bernsdottir den ersten Schleier entdeckt. Seither waren um dieses Rätsel ganze wissenschaftliche Disziplinen mit zahlreichen staatlichen und privaten Forschungseinrichtungen entstanden. Das Sylveste-Institut für Schleierweber-Studien war nur eine von Dutzenden solcher Organisationen, aber dahinter stand eine der reichsten — und mächtigsten — Familien der Menschheit. Doch den Durchbruch schafften nicht die großen wissenschaftlichen Institutionen mit ihrer kalkulierten Vorgehensweise, den Durchbruch schaffte ein Einzelner, der blind entschlossen ein wahnsinniges Wagnis einging.
Sein Name war Philip Lascaille.
Er arbeitete als Wissenschaftler für das SISS auf einer der festen Forschungsstationen unweit des später nach ihm benannten Lascaille-Schleiers jenseits des Tau Ceti-Sektors. Außerdem war Lascaille Angehöriger eines Teams, das sich bereithielt, Abgeordnete der Menschheit zum Schleier zu entsenden, falls das jemals erforderlich werden sollte. Das hielt zwar niemand für allzu wahrscheinlich, aber die Kandidaten waren ausgewählt, und es stand auch ein Schiff zur Verfügung, mit dem sie die restlichen fünfhundert Millionen Kilometer bis zum Grenzbereich zurücklegen konnten, sollte jemals eine Einladung erfolgen.
Lascaille entschloss sich, nicht so lange zu warten.
Er ging allein an Bord des SISS-Kontaktschiffs und entführte es. Bis jemand bemerkte, was vorging, war es schon zu spät, um ihn noch aufzuhalten. Man hätte zwar die Fernzerstörung aktivieren können, aber das wagte man nicht, aus Angst, der Schleier könnte sich dadurch bedroht fühlen. Also beschloss man, dem Schicksal seinen Lauf zu lassen. Niemand rechnete ernsthaft damit, Lascaille lebend wiederzusehen. Und die Zweifler behielten in gewissem Sinne Recht, denn er kam zwar zurück, aber nur noch mit einem Bruchteil seiner früheren geistigen Fähigkeiten.
Lascaille war ganz nahe an den Schleier herangekommen, um dann von einer unbekannten Kraft zurückgeschleudert zu werden. Möglicherweise war er nur noch zwanzig- bis dreißigtausend Kilometer von der Oberfläche entfernt gewesen, wobei aus dieser Distanz schwer festzustellen war, wo das All aufhörte und der Schleier anfing. Fest stand jedoch, dass er ihm näher gekommen war als je ein Mensch, ja, ein Lebewesen zuvor.
Aber er hatte einen erschreckend hohen Preis dafür bezahlt.
Nicht der ganze Philip Lascaille war zurückgekommen — nicht einmal der größte Teil von ihm. Körperlich war er unversehrt, im Gegensatz zu seinen Vorgängern, die im Grenzbereich von unbekannten Kräften zermalmt und in Stücke gerissen worden waren. Doch dafür war sein Geist unwiderruflich zerstört. Die wenigen Spuren seiner Persönlichkeit, die sich erhalten hatten, betonten die Verwüstungen nur noch mehr. Sein Gehirn konnte seine Lebensfunktionen ohne maschinelle Hilfe steuern und seine motorische Kontrolle schien keinerlei Beeinträchtigung erfahren zu haben. Aber es war keine Intelligenz mehr vorhanden; Lascaille nahm seine Umgebung nur noch in rudimentären Umrissen wahr; er schien nicht zu begreifen, was mit ihm geschehen war, er spürte offenbar nicht einmal, wie die Zeit verging; allem Anschein nach funktionierte weder sein Kurzzeitgedächtnis, noch waren Erlebnisse aus der Zeit vor seinem Flug zum Schleier abrufbar. Artikulieren konnte er sich noch, gelegentlich gab er sogar verständliche Worte oder Satzfragmente von sich, aber aus keiner seiner Äußerungen ließ sich auch nur der geringste Sinn entnehmen.
Lascaille — oder was von ihm noch übrig war — wurde ins Yellowstone-System und dann ins SISS-Habitat zurückgebracht. Dort versuchten medizinische Spezialisten verzweifelt, das Geschehene in eine Theorie zu fassen. Irgendwann — es war mehr ein Akt der Verzweiflung als eine logische Schlussfolgerung — entschieden sie, das fraktalisierte und neu zusammengesetzte Raum-Zeit-Gefüge im Umkreis des Schleiers sei mit der Informationsdichte seines Gehirns überfordert gewesen. Als er die Grenze überschritt, habe es daher sein Bewusstsein auf der Quantenebene randomisiert, ohne die molekularen Prozesse seines Körpers merklich zu verändern. Man könne ihn mit einem Text vergleichen, der durch ungenaue Übertragung in eine andere Sprache viel von seiner Bedeutung verloren habe und anschließend noch einmal rücktranskribiert worden sei.
Dennoch war Lascaille nicht der Letzte, der sich auf ein derart selbstmörderisches Unternehmen einließ. Um seine Person war ein Kult entstanden, der im Wesentlichen behauptete, der Mann zeige zwar alle Anzeichen von Schwachsinn, aber in Wirklichkeit habe ihn der Aufenthalt so dicht am Schleier sozusagen ins Nirwana entrückt. Alle paar Jahre fand sich in der Nähe eines bekannten Schleiers ein Nachahmer, der versuchte, Lascaille in den Grenzbereich zu folgen. Die Strafe war immer gleich schrecklich und kein einziger kam weiter als Lascaille. Wer Glück hatte, verlor nur die Hälfte seines Verstandes, die Pechvögel verschwanden auf Nimmerwiedersehen oder kehrten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt als lachsrosa Paste in ihren Schiffen zurück.
Während der Kult um Lascaille blühte, geriet der Mann selbst rasch in Vergessenheit. Der Anblick eines geifernden, faselnden Irren war vielleicht doch eine Spur zu unerfreulich.
Aber Sylveste vergaß ihn nicht. Mehr noch, er steigerte sich in den Wunsch hinein, dem Mann eine letzte und entscheidende Aussage zu entlocken. Dank seiner familiären Beziehungen konnte er Lascaille sehen, so oft er wollte — vorausgesetzt, er setzte sich über Calvins finstere Warnungen hinweg. Also besuchte er ihn regelmäßig und sah mit Engelsgeduld zu, wie Lascaille seine Zeichnungen auf den Boden kritzelte. Er wusste, irgendwann würde der Mann einen einzigen kurzen Hinweis fallen lassen, und darauf wartete er unermüdlich.
Letztlich bekam er sehr viel mehr.
Er wusste nicht mehr, wie lange er an dem Tag gewartet hatte, als sich seine Geduld endlich auszahlte. Er versuchte, sich nur auf Lascailles Tun zu konzentrieren, aber es fiel ihm zunehmend schwerer. Es war, als betrachte man mit voller Aufmerksamkeit eine lange Reihe von abstrakten Gemälden — irgendwann erlahmte man, so sehr man sich auch bemühte, das Interesse wach zu halten. Lascaille hatte bereits das sechste oder siebte hoffnungslos unverständliche Kreide-Mandala des Tages zur Hälfte beendet und führte immer noch jeden Strich mit leidenschaftlicher Hingabe aus.
Dann wandte er sich unvermittelt an Sylveste und sagte vollkommen vernünftig: »Den Schlüssel finden Sie bei den Schiebern, Doktor.«
Sylveste war zu schockiert, um ihn zu unterbrechen.
»Das hat man mir erklärt«, fuhr Lascaille munter fort. »Im Raum der Erkenntnis.«
Sylveste zwang sich zu nicken, als verstehe sich das von selbst. Ein Teil seines Bewusstseins war noch ruhig genug, um den Ausdruck zu erkennen. Soweit das aus seinen bisherigen Äußerungen abzuleiten war, meinte Lascaille damit das Grenzgebiet im Umkreis des Schleiers — den ›Raum‹, in dem er gewisse ›Erkenntnisse‹ gewonnen hatte, die aber zu kraus und verworren waren, um sie in Worte zu fassen.
Doch jetzt hatte ihm etwas die Zunge gelöst.
»Vor langer Zeit reisten die Schleierweber zwischen den Sternen umher«, begann Lascaille. »Ähnlich wie wir heute — nur war ihre Gattung uralt und hatte schon seit vielen Millionen Jahren Raumfahrt betrieben. Sie waren uns wirklich sehr fremd.« Er hielt inne, um die rote Kreide gegen eine blaue auszuwechseln. Die steckte er sich zwischen die Zehen und setzte damit seine Arbeit am Mandala fort. Mit der frei gewordenen Hand begann er, daneben auf den Boden zu zeichnen. Ein Wesen entstand, vielgliedrig, mit Tentakeln, Panzerplatten und Stacheln, kaum noch symmetrisch. Man hätte es eher für ein Urtier gehalten, das über den Grund eines präkambrischen Meeres kroch, als für den Angehörigen einer raumfahrenden Alien-Kultur. Seine Hässlichkeit war nicht zu überbieten.
»Das ist ein Schleierweber?«, fragte Sylveste und erschauerte vor Glück. »Sie sind tatsächlich einem begegnet?«
»Nein; ich bin nie vollends in den Schleier eingedrungen«, sagte Lascaille. »Aber sie haben Verbindung zu mir aufgenommen. Sie haben sich mir offenbart und mir vieles über ihre Geschichte und ihre Natur mitgeteilt.«
Sylveste riss sich von dem grässlichen Ungeheuer los. »Und was haben die Schieber damit zu tun?«
»Die Musterschieber existieren schon sehr lange und sind auf vielen Welten zu finden. Jede raumfahrende Rasse in diesem Teil der Galaxis stößt früher oder später auf sie.«
Lascaille zeigte auf seine Zeichnung. »So war es auch bei den Schleierwebern, nur sehr viel früher. Verstehen Sie, was ich sage, Doktor?«
»Schon…« Jedenfalls glaubte er zu verstehen. »Aber ich weiß nicht, worauf es hinausläuft.«
Lascaille lächelte. »Wer — oder was — die Schieber aufsucht, wird in ihrem Gedächtnis bewahrt. Und zwar absolut, das heißt — bis zur letzten Zelle, zur letzten Synapsenverbindung. Denn die Schieber sind nichts anderes als ein unermessliches biologisches Archiv.«
Damit hatte er vollkommen Recht. Die Menschen hatten bisher kaum verwertbare Informationen über die Schieber, ihre Ziele oder ihre Herkunft gewonnen. Doch fast von Anfang an hatte sich gezeigt, dass die Schieber fähig waren, menschliche Persönlichkeiten in ihrer Ozean-Matrix zu speichern, so dass jeder, der im Schieber-Meer schwamm — und dabei aufgelöst und neu zusammengesetzt wurde — so etwas wie Unsterblichkeit erlangte. Die Muster konnten später wieder realisiert und vorübergehend dem Bewusstsein eines anderen Menschen aufgeprägt werden. Es war ein schwer durchschaubares biologisches Verfahren, bei dem sich die gespeicherten Muster mit Millionen von anderen Eindrücken vermischten und alle sich unmerklich untereinander beeinflussten. Schon in der Frühzeit der Schieber-Forschung hatte man entdeckt, dass im Ozean auch fremde Denkstrukturen gespeichert waren, Spuren von fremdem Bewusstsein, die in das Denken der Schwimmer eingesickert waren — aber die Eindrücke waren immer unscharf geblieben.
»Die Schleierweber waren also im Gedächtnis der Schieber bewahrt worden?«, fragte Sylveste. »Aber inwiefern hilft uns das weiter?«
»Mehr als Sie ahnen. Die Schleierweber mögen äußerlich fremd sein, aber der Bauplan ihres Bewusstseins weist doch gewisse Ähnlichkeiten mit unserem Denken auf. Vergessen Sie das Aussehen; denken Sie lieber daran, dass es sich um gesellschaftlich lebende Wesen handelt, die sich verbal äußerten und den gleichen Wahrnehmungshorizont hatten wie wir. Man könnte einen Menschen bis zu einem gewissen Grad dazu bringen, wie ein Schleierweber zu denken, ohne dass er seine Menschlichkeit dafür völlig aufgeben müsste.« Wieder sah er Sylveste an. »Für die Schieber wäre es nicht unmöglich, dem Neokortex eines Menschen das Neuraltransform eines Schleierwebers einzuimpfen.«
Eine unheimliche Vorstellung. Man nähme Kontakt mit einem Alien auf, aber nicht, indem man ihm begegnete, sondern indem man mit ihm verschmolz. Falls Lascaille das tatsächlich meinte. »Wie würde uns das helfen?«
»Es würde den Schleier davon abhalten, uns zu töten.«
»Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Sie müssen begreifen, dass der Schleier ein Schutzwall ist. Dahinter befinden sich… nicht nur die Schleierweber selbst, sondern verschiedene Techniken, die zu zerstörerisch sind, als dass sie in die falschen Hände geraten dürften. Die Schleierweber haben über Jahrmillionen die Galaxis nach Gefahren abgesucht, die von ausgestorbenen Rassen zurückgelassen wurden — Dinge, die ich Ihnen nicht einmal annähernd beschreiben kann. Sie mögen einst gute Dienste geleistet haben, aber sie wären auch als Waffen zu verwenden und könnten grauenhafte Verwüstungen anrichten. Es handelt sich um technische Geräte und um Verfahren, mit denen nur hochentwickelte Rassen umgehen können: Manipulationen der Raumzeit, Reisen mit Überlichtgeschwindigkeit… und noch vieles andere, Dinge, die Ihr Vorstellungsvermögen einfach übersteigen.«
Sylveste war davon nicht ganz überzeugt. »Dann sind die Schleier — was? Schatztruhen, zu denen nur die am höchsten entwickelten Arten den Schlüssel bekommen?«
»Mehr als das. Sie wehren auch jeden Eindringling ab. Das Grenzgebiet eines Schleiers ist fast wie ein Lebewesen. Es überprüft die Denkmuster jedes Einlass Suchenden. Haben die Muster keine Ähnlichkeit mit denen der Schleierweber… schlägt es zu. Es krümmt die Raumzeit an der betreffenden Stelle, so dass gefährliche Wirbel entstehen. Diese Krümmungen sind gleichbedeutend mit gravitationellen Spannungen, Doktor, die alles auseinander reißen. Aber das richtige Bewusstsein… wird vom Schleier eingelassen; er zieht es zu sich und umgibt es mit einer Gravitationsblase, in der es geschützt ist.«
Die Folgen waren nicht abzusehen, dachte Sylveste. Wer wie ein Schleierweber dachte, konnte durch den Schutzwall schlüpfen… und dann lagen die glänzenden Schätze offen vor ihm. Vielleicht waren die Menschen in den Augen der Schleierweber nicht hoch genug entwickelt, um diese Schätze sehen zu dürfen, aber was machte das schon? Wenn jemand klug genug war, die Truhe zu öffnen, durfte er dann nicht auch nehmen, was er fand? Wenn Lascaille Recht hatte, dann hatten sich die Schleierweber zum Hüter der Galaxis aufgeworfen, als sie diese gefährlichen Techniken in ihre Obhut nahmen… aber wer hatte sie darum gebeten? Eine neue Frage geisterte ihm durch den Sinn.
»Wenn das, was sich innerhalb der Schleier befindet, um jeden Preis geschützt werden musste, warum hat man Sie dann eingeweiht?«
»Ich weiß nicht, ob das Absicht war. Die Barriere um den Schleier, der meinen Namen trägt, hat mich, wenn auch nur für einen Moment, wohl nicht als Fremden erkannt. Vielleicht war sie beschädigt, vielleicht war sie auch durch meinen… Geisteszustand… verwirrt. Jedenfalls drang ich in den Schleier ein, und sofort begannen Informationen zu fließen. So erfuhr ich alles, was ich weiß. Was der Schleier enthält und wie sich seine Verteidigungsanlagen umgehen lassen. Eine Maschine kann das nämlich nicht lernen.« Die letzte Bemerkung hing ohne jeden Zusammenhang einen Moment in der Luft, bevor Lascaille fortfuhr. »Aber dann hat der Schleier wohl Verdacht geschöpft, denn er stieß mich von sich und schleuderte mich ins All zurück.«
»Warum hat er Sie nicht einfach getötet?«
»Er war sich seiner Sache wohl nicht ganz sicher.« Lascaille hielt inne. »Ich spürte Zweifel im Raum der Erkenntnis. Ein Streit von gigantischen Ausmaßen tobte um mich herum, schneller als jeder Gedanke. Schließlich siegten wohl die Vertreter der Vorsicht.«
Noch eine Frage, die Sylveste auf der Zunge lag, seit Lascaille zu sprechen begonnen hatte.
»Warum haben Sie so lange gewartet, um uns das zu erzählen?«
»Ich möchte mich für meine Schweigsamkeit entschuldigen. Aber ich musste das Wissen, das mir die Schleierweber ins Bewusstsein gepflanzt hatten, erst verarbeiten. Es war nämlich mit ihren Begriffen formuliert — nicht mit den unseren.« Er zögerte, ein Kreidefleck, der die mathematische Reinheit des Mandala störte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Er benetzte sich den Finger und wischte ihn weg. »Das war der einfachere Teil. Doch dann musste ich erst wieder lernen, wie ein Mensch zu kommunizieren.« Lascaille sah Sylveste an. Seine Tieraugen glänzten unter der ungepflegten Neandertalermähne. »Sie sind nicht wie die anderen, Sie sind freundlich zu mir. Sie haben Geduld. Ich dachte, dies könnte Ihnen helfen.«
Sylveste ahnte, dass der Moment geistiger Klarheit bald vorüber sein würde. »Wie können wir die Schieber dazu bringen, uns Strukturen des Schleierweberbewusstseins aufzuprägen?«
»Das ist nicht schwer.« Er deutete mit einem Nicken zu der Kreidezeichnung hin. »Prägen Sie sich diese Figur ein und denken Sie daran, wenn Sie schwimmen.«
»Das ist alles?«
»Es wird genügen. Die Repräsentation dieser Figur in Ihrem Bewusstsein teilt den Schiebern mit, was Sie von ihnen wollen. Natürlich sollten Sie ihnen ein Geschenk mitbringen. Eine Leistung dieser Größenordnung erbringen sie nicht umsonst.«
»Ein Geschenk?«
Sylveste konnte sich nicht vorstellen, was man einem Wesen schenken sollte, das einer schwimmenden Insel aus Tang und Algen glich.
»Ihnen wird schon etwas einfallen. Was immer es ist, es sollte eine große Informationsdichte haben. Sonst langweilt es sie nur. Und das wäre nicht günstig für Sie.« Sylveste wollte noch weitere Fragen stellen, aber Lascaille hatte sich wieder seinen Kreidezeichnungen zugewandt. »Mehr habe ich nicht zu sagen«, erklärte er.
Und dabei blieb er.
Lascaille sprach nie wieder, weder mit Sylveste, noch mit irgendjemandem sonst. Einen Monat später fand man ihn tot im Fischteich. Er war ertrunken.
»Hallo?«, fragte Khouri. »Ist da jemand?«
Sie war aufgewacht, mehr wusste sie nicht. Und nicht nach einem Nickerchen, sondern aus einem sehr viel tieferen, längeren und kälteren Schlaf. Wahrscheinlich war es eine Kälteschlaf-Trance gewesen — sie war schon einmal so aufgewacht, damals um Yellowstone, und so etwas vergaß man nicht. Die physiologischen und neuralen Symptome passten genau. Von einem Kälteschlaftank war zwar nichts zu sehen — sie lag voll bekleidet auf einer Couch — man hatte sie wohl herausgeholt, bevor sie noch vollends bei Bewusstsein war. Aber wer war ›man‹? Und wo war sie jetzt? Es war, als hätte jemand eine Granate in ihr Gedächtnis geworfen und es in tausend Stücke zerrissen. Irgendetwas an ihrer Umgebung kam ihr dennoch quälend vertraut vor.
War das ein Flur? Wo auch immer, er stand voll mit hässlichen Figuren. Entweder war sie erst vor wenigen Stunden daran vorbeigegangen, oder es waren Phantasiebilder aus den Tiefen ihrer Vergangenheit; Kindheitsgespenster. Krumm, gezackt, verbrannt ragten sie vor ihr auf und warfen dämonische Schatten. Noch halb benommen begriff sie, dass die Gebilde irgendwie zusammengehörten oder einmal zueinander gepasst hatten. Jetzt waren sie dafür zu verbogen, zu zerfetzt.
Unsichere Schritte tappten durch den Flur.
Sie drehte den Kopf, um zu sehen, wer da kam. Ihr Hals war steifer als ein Stück Holz. Nach jahrelanger Erfahrung wusste sie, dass der Rest ihres Körpers nach der Trance nicht beweglicher sein würde.
Ein Mann blieb wenige Schritte vor ihrem Lager stehen. Im schwachen mondscheinartigen Licht war sein Gesicht schwer zu erkennen, aber seine Rundungen und Schatten hatten etwas Vertrautes, das Erinnerungen weckte. Sie hatte diesen Mann gekannt, vor vielen Jahren.
»Ich bin es«, sagte er mit träger, klebriger Stimme. »Manoukhian. Die Mademoiselle dachte, Sie würden sich beim Aufwachen über ein bekanntes Gesicht freuen.«
Die Namen sagten ihr etwas, aber was es war, bekam sie nicht zu fassen. »Was ist geschehen?«
»Ganz einfach. Sie hat Ihnen ein Angebot gemacht, das Sie nicht ablehnen konnten.«
»Wie lange habe ich geschlafen?«
»Zweiundzwanzig Jahre«, sagte Manoukhian und reichte ihr die Hand. »Wollen wir jetzt die Mademoiselle besuchen?«
Sylveste erwachte vor einer schwarzen Wand, die den Himmel zur Hälfte verschluckte — ein Schwarz von so unendlicher Tiefe, dass es die Existenz aufzuheben schien. Er hatte es nie zuvor bemerkt, aber jetzt sah er — oder glaubte zu sehen — dass die gewöhnliche Dunkelheit zwischen den Sternen in Wirklichkeit einen eigenen, milchigweißen Schein abstrahlte. Lascailles Schleier war dagegen ein kreisrundes, Sternenloses Nichts; keine einzige Lichtquelle, kein Photon aus irgendeinem Teil des wahrnehmbaren elektromagnetischen Spektrums; keine wie auch immer gearteten Neutrinos, keine Elementarteilchen, weder exotische noch andere. Keine Gravitationswellen, keine elektrostatischen oder magnetischen Felder — nicht einmal das leise Flüstern der Hawking-Strahlung, die eigentlich aus dem Grenzgebiet sickern und die entropische Temperatur der Oberfläche widerspiegeln sollte, wenn die wenigen Theorien über Schleier-Mechanik Recht hatten.
Nichts von alledem. Ein Schleier tat — soweit das irgendjemand bisher hatte feststellen können — nichts weiter, als alle Strahlungsformen, die ihn zu durchdringen suchten, umfassend zu blockieren. Und er tat natürlich noch etwas: er zerriss jedes Objekt, das sich zu dicht an seine Grenzen heranwagte.
Man hatte ihn aus dem Kälteschlaf geweckt, und jetzt spürte er jene Schwindel erregende Desorientierung, die jede plötzliche Reanimation begleitete. Aber er war noch jung genug, um der Wirkung zu trotzen: biologisch war er erst dreiunddreißig Jahre alt, obwohl seit seiner Geburt mehr als sechzig Jahre vergangen waren.
»Alles… in Ordnung?« Mühsam rang er sich die Frage an die Reanimations-Ärzte ab, während er in das Nichts vor dem Fenster der Station hinausstarrte, das ihn fesselte wie ein schwarzer Schneesturm.
»Sie sind fast im grünen Bereich«, sagte der Arzt neben ihm. Er kontrollierte die Neuralanzeigen, die vor ihm durch die Luft scrollten, und klopfte sich dabei mit dem Eingabestift an die Unterlippe. »Aber Valdez haben wir verloren. Damit rückt Lefevre auf Platz eins vor. Können Sie auch mit ihr arbeiten?«
»Um Bedenken zu äußern, wäre es jetzt doch wohl etwas zu spät, nicht wahr?«
»Das sollte ein Scherz sein, Dan. Also, woran erinnern Sie sich? Reanimations-Amnesie ist das Einzige, worauf ich noch nicht untersucht habe.«
Zunächst fand er die Frage albern, doch dann erforschte er sein Gedächtnis und stellte fest, dass es so träge reagierte wie das Dokumentensuchsystem einer wenig effizienten Bürokratie.
»Erinnern Sie sich an Spindrift?«, fragte der Arzt leicht besorgt. »An Spindrift müssen Sie sich erinnern, das ist sehr wichtig…«
Er erinnerte sich, gewiss — aber im ersten Moment konnte er keine Beziehung zu anderen Erinnerungen herstellen. Woran er sich erinnerte — das Letzte, was nicht zusammenhanglos im Nichts schwebte — war Yellowstone. Sie hatten es zwölf Jahre nach den Achtzig verlassen; zwölf Jahre, nachdem Philip Lascaille mit Sylveste gesprochen hatte; zwölf Jahre, nachdem sich der Mann ertränkt hatte, weil seine Aufgabe offenbar erfüllt war.
Es war eine kleine, aber gut ausgerüstete Expeditionsmannschaft — die zum Teil aus Chimären bestehende Lichtschiff-Besatzung, Ultranauten, die mit der übrigen Menschheit nur wenig Umgang pflegten; zwanzig Wissenschaftler, zumeist aus den Reihen des SISS; und vier Kandidaten für den Fall, dass es zum Kontakt kam. Nur zwei von den vieren sollten tatsächlich bis zum Schleier reisen.
Lascailles Schleier war das Ziel, aber er war nicht die erste Station. Sylveste hatte sich Lascailles Rat zu Herzen genommen. Die Musterschieber waren von entscheidender Bedeutung für den Erfolg der Mission. Deshalb musste man zuerst ihre Welt anfliegen, die zwanzig bis dreißig Lichtjahre vom Schleier entfernt war. Sylveste hatte sich auch damals noch kaum vorstellen können, was ihn dort erwartete. Aber er hatte Lascaille mehr oder weniger blind vertraut. Der Mann hatte sein Schweigen gewiss nicht ohne Grund gebrochen.
Die Schieber galten seit über hundert Jahren als Kuriosität. Jede der Welten, auf denen sie lebten, wurde von einem einzigen, den ganzen Planeten bedeckenden Ozean beherrscht. Die Schieber selbst waren ein biochemisches Bewusstsein, das diese Ozeane durchsetzte, ein Zusammenschluss von Mikroorganismen, die zu inselgroßen Gebilden verklumpt waren. Alle Schieberwelten waren tektonisch aktiv und einigen Theorien zufolge bezogen die Schieber ihre Energie aus hydrothermalen Spalten auf dem Meeresboden. Die Wärme wurde in bioelektrische Energie umgewandelt und diese wiederum über organische Supraleiterfäden kilometerweit durch die schwarze Kälte an die Oberfläche geleitet. Wonach die Schieber strebten — wenn überhaupt — war vollkommen unbekannt. Es lag auf der Hand, dass sie die Biosphären der Welten beeinflussen konnten, auf denen sie sich ausgesät hatten, indem sie wie eine intelligente Phytoplankton-Masse agierten — aber ob das womöglich nur Mittel zu einem unbekannten höheren Zweck war, wusste niemand. Bekannt — aber ebenfalls ungenügend erforscht — war nur die Fähigkeit der Schieber, wie ein einziges weltumspannendes neurales Netz Informationen zu speichern und wieder abzurufen. Die Speicherung erfolgte in verschiedenen Medien, von losen Fadengeflechten, die an der Oberfläche trieben, bis zu frei schwebenden RNA-Strängen. Wo die Meere begannen und die Schieber aufhörten, war nicht festzustellen — ebenso wenig ließ sich entscheiden, ob eine Welt viele Schieber oder nur ein einziges, beliebig erweiterbares Individuum beherbergte, denn auch die Inseln waren über organische Brücken miteinander verbunden. Die Schieber waren also lebende Datenbanken von der Größe einer Welt; riesige Informationsschwämme. Fast alles, was in einen Schieber-Ozean eintauchte, wurde von mikroskopischen Fäden durchdrungen und teilweise aufgelöst. Dann wurden die physikalischen und chemischen Eigenschaften analysiert und die gewonnenen Informationen in den biochemischen Speicher des Ozeans integriert. Lascaille hatte unterstellt, dass die Schieber solche Muster nicht nur verschlüsseln, sondern auch übertragen konnten. Vermutlich hatten sie auch die geistigen Strukturen anderer Gattungen gespeichert, die mit ihnen in Berührung gekommen waren — zum Beispiel die der Schleierweber.
Menschliche Forschungsteams beschäftigten sich seit Jahrzehnten mit den Musterschiebern. Wenn ein Mensch in einem schieberdurchsetzten Meer schwamm, konnte er mit dem Organismus in psychischen Kontakt treten. Die Schieber führten Mikrofäden in den menschlichen Neokortex ein und stellten so quasi-synaptische Verbindungen zwischen dem Bewusstsein des Schwimmers und dem Rest des Ozeans her. Für den Menschen war es, als kommuniziere er mit empfindungsfähigen Algen. Geübte Schwimmer berichteten, ihr Bewusstsein hätte sich über den gesamten Ozean ausgebreitet, und sie hätten ein üppig wucherndes, bis in Urzeiten zurückreichendes Gedächtnis entwickelt. Die Grenzen ihrer Wahrnehmung seien fließend geworden, aber sie hätten in keiner Phase das Gefühl gehabt, als sei sich der Ozean seiner selbst bewusst. Er sei eher mit einem Spiegel zu vergleichen, der das menschliche Bewusstsein in allen Einzelheiten reflektiere: Solipsismus in letzter Konsequenz. Die Schwimmer gelangten zu überraschenden mathematischen Einsichten, so als habe der Ozean ihre Kreativität gesteigert. Einige meldeten sogar, diese Schübe hätten noch eine Weile nach dem Verlassen der Ozean-Matrix und der Rückkehr auf das Festland oder in den Orbit angehalten. Womöglich sei ihr Bewusstsein sogar physikalisch verändert worden?
So entstand der Begriff des Schieber-Transforms. Durch eine Zusatzausbildung lernten die Schwimmer, bestimmte Transformationen auszuwählen. Auf der Schieberwelt stationierte Neurologen versuchten, die von den Aliens bewirkten Gehirnveränderungen zu beschreiben, hatten aber nur Teilerfolge zu verzeichnen. Die Transformationen waren außergewöhnlich subtil, das Gehirn wurde nicht auseinandergerissen und neu zusammengesetzt, sondern eher umgestimmt wie eine Geige. Sie waren auch meist nicht von Dauer — nach Tagen, Wochen, selten auch erst nach Jahren verschwanden sie wieder.
So weit war die Wissenschaft gekommen, als Sylvestes Expedition die Schieberwelt Spindrift erreichte. Jetzt fiel ihm natürlich alles wieder ein — die Ozeane, die Gezeiten, die Vulkanketten und der durchdringende Tanggeruch des Organismus. Dieser Geruch öffnete alle Türen. Die vier Kandidaten für eine Delegation zu den Schleierwebern hatten sich die Kreidezeichnung tief ins Bewusstsein eingeprägt. Nachdem sie monatelang mit guten Schwimmern trainiert hatten, stiegen sie in den Ozean und vergegenwärtigten sich die Form, die ihnen Lascaille gegeben hatte.
Dann drang der Schieberorganismus ein, löste Teile ihres Bewusstseins auf und strukturierte sie nach seinen eigenen integrierten Schablonen um.
Als die vier wieder auftauchten, hatte es zunächst den Anschein, als sei Lascaille doch verrückt gewesen.
Sie legten weder fremde oder erschreckende Verhaltensweisen an den Tag, noch hatten sie plötzlich alle Antworten auf die großen Rätsel des Universums gefunden. Auf Befragen versicherten sie, ihr Befinden sei mehr oder weniger unverändert und sie hätten auch keine neuen Erkenntnisse über die Identität oder das Wesen der Schleierweber gewonnen. Aber empfindliche neurologische Tests drangen weiter in die Tiefe vor als die menschliche Intuition. Das räumliche Denken und die kognitiven Fähigkeiten der vier hatten sich verändert, allerdings war die Art der Veränderung unglaublich schwer zu messen. In den folgenden Tagen berichteten die Versuchspersonen von widersprüchlichen Gemütszuständen, die ihnen zugleich vertraut und vollkommen fremd waren. Dass sich etwas verändert hatte, war offensichtlich, aber niemand wusste, ob diese seltsamen Anwandlungen in irgendeiner Weise mit den Schleierwebern zu tun hatten.
Dennoch tat Eile not.
Sobald die ersten Tests abgeschlossen waren, versetzte man die vier Kandidaten in Kälteschlaf. Die Kälte bewahrte die Schieber-Transforme, aber sie würden unweigerlich zerfallen, wenn die Versuchspersonen geweckt wurden, obwohl man dem Prozess mit einer ausgefeilten Therapie mit noch ungeprüften Neurostabilisatoren entgegenzuwirken suchte. Die Kandidaten verschliefen den Flug und auch die folgenden Wochen, in denen die Beobachtungsstation den nominellen Sicherheitsabstand von 3 AE, den sie bis dahin eingehalten hatte, vorsichtig verringerte. Sie wurden erst am Abend vor ihrem Aufbruch zum Schleier geweckt.
»Ich… erinnere mich«, sagte Sylveste. »An Spindrift.« Eine kleine Pause trat ein. Der Arzt klopfte sich weiterhin mit dem Stift gegen die Unterlippe, während er die riesigen Informationsmengen aus den medizinischen Analysesystemen aufnahm. Dann nickte er und gab ihn für die Mission frei.
»Die alte Stadt hat sich ziemlich verändert«, sagte Manoukhian.
Khouri sah es selbst. Was da unter ihr lag, war kaum noch als Chasm City zu erkennen. Das Moskitonetz war verschwunden. Die Stadt war den Elementen wieder schutzlos preisgegeben, die Gebäude, die einst unter einem Meer von Kuppeln Geborgenheit gefunden hatten, ragten nackt in Yellowstones Atmosphäre. Das schwarze Château der Mademoiselle gehörte nicht mehr zu den höchsten Bauten. Terrassenförmig ansteigend stießen riesige Ungeheuer, durchsiebt von Dutzenden winziger Fenster, geschmückt mit den riesigen Boole-Symbolen der Synthetiker, stromlinienförmig wie Haiflossen oder Spinifex-Gräser in den bräunlichen Gluthimmel. Wie die Segel einer Jacht ragten Gebäude auf schlanken Masten aus den Resten des Mulch, so dass sich der Wind an ihren Vorderkanten brach. Nur hier und dort waren noch einige der knorrig verkrümmten Bauwerke von damals zu sehen, vom Baldachin war nur ein kümmerlicher Rest geblieben. Den alten Stadtwald hatten die glänzenden Messertürme gnadenlos zerhackt — er war Geschichte.
»Man hat im Abgrund einen Organismus gezüchtet«, sagte Manoukhian. »Ganz unten in der Spalte. Man nennt ihn Lilly.« Ekel und Faszination sprachen aus seiner Stimme. »Augenzeugen beschreiben ihn als riesiges, atmendes Gekröse — wie ein Stück von Gottes Magen. Er haftet an den Wänden des Abgrunds. Die Gase, die aus den Tiefen aufsteigen, sind giftig, aber wenn sie Lilly passiert haben, sind sie mit knapper Not atembar.«
»Und das alles in zweiundzwanzig Jahren?«
»Ja«, antwortete eine Stimme. In den glänzend schwarzen Panzerjalousien spiegelte sich eine Bewegung. Khouri drehte sich rasch um und sah einen Palankin, der lautlos stehen blieb. Der Anblick weckte Erinnerungen an die Mademoiselle und an vieles andere. Es war, als sei seit ihrer letzten Begegnung nicht mehr als eine Minute vergangen.
»Ich danke dir, dass du sie hergebracht hast, Carlos.«
»War das alles?«
»Ich denke schon.« Die Stimme hallte nach. »Die Zeit drängt nämlich. Auch nach so vielen Jahren noch. Ich habe ein Schiff ausfindig gemacht, das jemanden wie Khouri sucht, aber es bleibt nur ein paar Tage, bevor es das System wieder verlässt. Khouri muss also informiert, auf ihre Rolle vorbereitet und der Besatzung vorgestellt werden, bevor uns die Chance durch die Lappen geht.«
»Und wenn ich nein sage?«, fragte Khouri.
»Aber Sie werden nicht nein sagen, nicht wahr? Nicht mehr, seit Sie wissen, was ich Ihnen zu bieten habe. Oder haben Sie das vergessen?«
»So etwas vergisst man nicht so leicht.« Sie erinnerte sich jetzt ganz deutlich, was ihr die Mademoiselle gezeigt hatte: der zweite Kälteschlaftank war besetzt. Fazil lag darin, ihr Mann. Allem, was man ihr erzählt hatte, zum Trotz, war sie nie von ihm getrennt gewesen. Sie hatten Sky’s Edge gemeinsam verlassen, die Verwechslung war harmloser gewesen, als sie dachte. Aber man hatte sie getäuscht. Die Handschrift der Mademoiselle war von Anfang an zu erkennen. Es war schon ein wenig zu einfach gewesen, als Killer bei den Schatten unterzukommen; im Rückblick war klar, dass man dabei nur ihre, Khouris, Eignung für die bevorstehende Aufgabe hatte prüfen wollen. Sie gefügig zu machen war danach ein Kinderspiel. Die Mademoiselle hatte Fazil. Wenn Khouri es ablehnte zu tun, was man von ihr verlangte, würde sie ihren Mann nie Wiedersehen.
»Ich wusste, dass Sie vernünftig sein würden«, sagte die Mademoiselle. »Was ich von Ihnen will, ist wirklich nicht so schwierig, Khouri.«
»Was sind das für Leute, für die ich arbeiten soll?«
»Es sind Händler«, beschwichtigte Manoukhian. »Das war ich früher auch einmal. Deshalb konnte ich zu Hilfe kommen, als…«
»Genug, Carlos.«
»Verzeihung.« Er sah sich nach dem Palankin um. »Ich will nur sagen, sie können so schrecklich nicht sein.«
Ob es Zufall war oder ob eine unbewusste Absicht dahinter steckte, war nie vollkommen klar, jedenfalls ähnelte das Kontaktmodul der SISS dem Unendlichkeitszeichen: zwei Kapseln vollgepackt mit Geräten zur Lebenserhaltung, Sensoren und Kommunikationstechnik bildeten die beiden Halbschleifen, dazwischen befand sich ein mit Korrekturtriebwerken und weiteren Sensorfeldern besetzter Kragen. Jede Hälfte bot Platz für zwei Personen, und sollte es bei einem der Abgeordneten während der Mission zu einem Neuralversagen kommen, so konnten eine oder auch beide Kapseln abgesprengt werden.
Das Kontaktmodul baute Schub auf und stürzte auf den Schleier zu, während sich die Station in Richtung auf das Lichtschiff hinter die Sicherheitszone zurückzog. Pascales Schilderung zeigte, wie das Modul immer kleiner wurde. Bald waren nur noch das grelle Blau aus den Triebwerken und die roten und grünen Blinklichter der Positionsbeleuchtung zu sehen. Endlich verblassten auch sie und wurden von der Schwärze verschluckt wie von einem sich ausbreitenden Tintenfleck.
Niemand wusste genau, was dann geschah. Die meisten der Informationen, die Sylveste und Lefevre beim Anflug gesammelt hatten, gingen in den folgenden Ereignissen verloren, auch die Daten, die zur Station und zum Lichtschiff übertragen wurden. Weder der zeitliche Rahmen noch die chronologische Abfolge der Ereignisse konnten eindeutig festgelegt werden. Bekannt war nur, woran Sylveste selbst sich erinnerte — und da sein Bewusstsein in der Nähe des Schleiers nach eigenem Eingeständnis zeitweilig anders oder nur eingeschränkt funktionierte, konnte man seine Berichte nicht ganz wörtlich nehmen.
Bekannt war Folgendes. Sylveste und Lefevre flogen näher an den Schleier heran als je ein Mensch zuvor — Lascaille eingeschlossen. Wenn Lascaille die Wahrheit gesagt hatte, konnten ihre Schieber-Transforme die Verteidigungseinrichtungen des Schleiers täuschen und sie zwingen, die Einlass Suchenden mit einer Blase aus abgeflachter Raumzeit zu schützen, während im übrigen Grenzgebiet heimtückische Gravitationswirbel brodelten. Wie das zugehen sollte, war nach wie vor unbegreiflich. Niemand behauptete zu verstehen, wie die Mechanismen im Innern des Schleiers die Raumzeit so aberwitzig stark krümmen konnten, wenn schon für eine unendlich viel weniger scharfe Falte mehr Energie erforderlich gewesen wäre, als in der gesamten Restmasse der Galaxis enthalten war. Ebenso wenig konnte man sich vorstellen, wie es möglich war, dass Bewusstsein in die Raumzeit im Umkreis des Schleiers einsickerte und dem Schleier verriet, was für ein Wesen sich Zugang zu verschaffen suchte, während er gleichzeitig die Gedanken und Erinnerungen ebendieser Wesen veränderte. Offenbar gab es eine geheime Verbindung, ja eine gegenseitige Beeinflussung zwischen dem Denken und den Prozessen, auf denen die Raumzeit aufbaute. Sylveste hatte Hinweise auf eine seit Jahrhunderten überholte Theorie gefunden, wonach angeblich über die Vereinheitlichung eines so genannten Weyl-Tensors eine Verbindung zwischen den Quantenprozessen des Bewusstseins und den Mechanismen der Quantengravitation bestand, auf denen die Struktur der Raumzeit beruhte… aber beim Verständnis des Bewusstseins war man seit damals nicht weiter gekommen, und die Theorie war so spekulativ wie eh und je. Aber vielleicht wurde im Umfeld des Schleiers auch ein noch so schwaches Band zwischen Bewusstsein und Raumzeit massiv verstärkt. Sylveste und Lefevre dachten sich durch den Sturm und beruhigten mit ihrem veränderten Bewusstsein die ringsum nur wenige Meter von ihrem Schiff entfernt tobenden Gravitationskräfte. Sie bewegten sich wie zwei Schlangenbeschwörer, die sich mit ihrer Musik einen kleinen Schutzraum schufen, durch eine Grube voller Kobras. Wobei sie nur so lange in Sicherheit waren, bis die Musik zu spielen aufhörte — oder misstönend wurde — und die Schlangen aus ihrer hypnotischen Lethargie aufschreckten. Wie nahe Sylveste und Lefevre dem Schleier kamen, bevor die Musik umschlug und die Gravitationskobras sich regten, wusste hinterher niemand genau zu sagen.
Sylveste behauptete, sie seien nie im eigentlichen Grenzgebiet gewesen — er habe mit eigenen Augen noch mehr als die Hälfte des Himmels voller Sterne gesehen. Doch nach den wenigen Daten, die aus dem Forschungsschiff gerettet wurden, war das Kontaktmodul zu diesem Zeitpunkt schon tief ins Innere des Fraktalschaums um den Schleier — in die unendlich verschwommene Grenzzone um das Objekt, in den von Lascaille so genannten ›Raum der Erkenntnis‹ — eingedrungen.
Lefevre spürte es, als es anfing. Tief erschüttert, aber mit eisiger Ruhe teilte sie Sylveste mit, ihr Schleierweber-Transform sei im Begriff zu zerfallen, die fremde Bewusstseinsschicht würde immer dünner und lege das menschliche Denken frei. Genau das hatten sie die ganze Zeit befürchtet, zugleich aber gehofft, dass es ihnen erspart bleiben möge.
Rasch informierten sie die Beobachtungsstation und überprüften mit einigen Psychotests die Diagnose. Die Wahrheit zeigte sich bestürzend deutlich. Ihr Transform brach zusammen. In wenigen Minuten würde die Schleierweber-Komponente aus ihrem Bewusstsein verschwunden sein. Sie stand kurz davor, die Musik zu vergessen, mit der sich die Schlangen beruhigen ließen.
Obwohl sie inständig gehofft hatten, dass es nicht so weit kommen würde, hatten sie Vorkehrungen getroffen. Lefevre zog sich in die zweite Hälfte des Moduls zurück, zündete die Trennladungen und sprengte ihren Teil des Schiffes ab. Inzwischen war von ihrem Transform fast nichts mehr übrig. Über die audiovisuelle Verbindung zwischen den beiden Kapseln berichtete sie Sylveste, sie könne spüren, wie sich die Gravitationskräfte aufbauten und heimtückisch und unberechenbar an ihrem Körper zerrten.
Die Triebwerke arbeiteten mit aller Kraft, um die Kapsel aus den wilden Strudeln um den Schleier herauszubringen, aber das Objekt war einfach zu groß, und sie war zu klein. Minuten später wurde der dünne Schiffsrumpf von gravitationellen Spannungen geschüttelt. Lefevre kauerte sich wie ein Embryo in die immer kleiner werdende Raumblase um ihr Gehirn und blieb am Leben. Sylveste verlor den Kontakt mit ihr, als die Kapsel zerplatzte. Die Luft entwich rasch, aber die Dekompression erfolgte nicht schnell genug. Er konnte ihre Schreie noch hören.
Lefevre war tot. Sylveste wusste es. Aber sein Transform hielt die Schlangen noch in Schach. Tapfer setzte er den Flug in das Grenzgebiet des Schleiers fort. Er war der einsamste Mensch aller Zeiten.
Einige Zeit später erwachte Sylveste. In seiner Kapsel war alles still. Er wusste nicht, wo er war. Er nahm an, dass man auf der Beobachtungsstation auf seine Rückkehr wartete, und versuchte, Kontakt aufzunehmen. Doch er erhielt keine Antwort. Die Beobachtungsstation und das Lichtschiff trieben leblos und weitgehend zerstört im All. Der Gravitationsschub, der an ihm vorbeigezogen war, hatte sie auseinandergerissen und ebenso gründlich ausgeschlachtet wie Lefevres Kapsel. Die Besatzung und die Ersatzkandidaten waren sofort tot gewesen, die Ultras ebenfalls. Er war der einzige Überlebende.
Aber was nützte ihm das? Sollte er nur langsamer sterben?
Sylveste steuerte das Modul zu den Überresten der Station und des Lichtschiffs zurück. An die Schleierweber dachte er vorerst nicht mehr, er hatte genug damit zu tun, am Leben zu bleiben.
Während der folgenden Wochen lebte Sylveste ganz allein in der engen Kapsel und bemühte sich, die beschädigten Reparatursysteme des Lichtschiffs notzustarten. Bei dem Gravitationsschub, den der Schleier ausgelöst hatte, waren Tausende von Tonnen der Lichtschiffmasse in Stücke gerissen oder verdampft worden, andererseits brauchte das Schiff jetzt nur noch einen Mann nach Hause zu bringen. Als die Umwandlungsprozesse eingeleitet waren, fand er endlich wieder Schlaf — obwohl er an eine Rettung noch immer nicht zu glauben wagte. Erst seine Träume offenbarten ihm allmählich die ungeheuerliche, alle Kräfte lähmende Wahrheit. Während seiner Bewusstlosigkeit nach Carine Lefevres Tod war etwas geschehen. Etwas war in seinen Geist eingedrungen und hatte zu ihm gesprochen. Aber die Botschaft war so brutal fremd, dass Sylveste nicht fähig war, sie in menschliche Begriffe zu übersetzen. Er war in den Raum der Erkenntnis eingetreten.