Cerberus/Hades,
an der Heliopause von Delta Pavonis
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Sylveste hatte seine Frau seit Stunden nicht gesehen, und jetzt hatte es den Anschein, als wolle sie nicht einmal dabei sein, wenn er endlich am Ziel seiner Wünsche ankam. In nur zehn Stunden sollte Volyovas Waffe auf Cerberus aufschlagen, und in weniger als einer Stunde war die erste Welle ihres Sturmangriffs fällig. Schon das war ein Ereignis von großer Tragweite — und doch sollte er es offenbar ohne Pascale erleben.
Die Schiffskameras hatten die Waffe nie aus den Augen verloren und auch jetzt schwebte sie in der Projektionssphäre, als sei sie nur wenige Kilometer entfernt und nicht mehr als eine Million. Man sah sie von der Seite, denn sie flog vom Trojanischen Punkt an, während das Schiff neunzig Grad im Uhrzeigersinn zu ihrer Flugrichtung auf Warteposition entlang der Linie verharrte, die Hades und seinen geheimnisvollen Begleiter verband. Keine der beiden Maschinen befand sich in einer echten Umlaufbahn, aber dank Cerberus’ schwachem Gravitationsfeld konnten die künstlichen Bahnen mit einem Minimum an Korrekturschub aufrechterhalten werden.
Sajaki und Hegazi standen im rötlichen Schein des Displays neben ihm. Alles war jetzt rot; Hades war so nahe, dass er als scharlachroter Punkt zu erkennen war, und Delta Pavonis tauchte alles, was sich in seinem Orbit bewegte, in ein schwaches rötliches Licht. Und da die Projektionssphäre die einzige Lichtquelle im Raum war, sickerte etwas von dieser Röte bis auf die Brücke.
»Wo zum Teufel ist Volyova, diese brezgati Kuh?«, fragte Hegazi. »Ich dachte, sie wollte uns ihre Schreckenskammer in Aktion vorführen.«
Hatte die Frau tatsächlich das Unvorstellbare getan? dachte Sylveste. Hatte sie sich tatsächlich entschlossen, den Angriff zu boykottieren, obwohl sie die ganze Sache geplant hatte? Wenn ja, dann hatte er sich schwer in ihr getäuscht. Sie hatte ihm ihre Bedenken vorgetragen, die diese Khouri mit ihren Wahnvorstellungen genährt hatte, aber das konnte sie doch unmöglich alles ernst genommen haben? Gewiss hatte sie nur den Advocatus diaboli gespielt, um die Festigkeit seiner Überzeugungen zu prüfen.
»Hoffen wir, dass es so ist, Sohn«, sagte Calvin.
»Liest du jetzt schon meine Gedanken?«, fragte Sylveste laut. Er hatte vor den anwesenden Triumvirn nichts zu verbergen. »Ein toller Trick, Calvin.«
»Nennen wir es lieber progressive Annäherung an neurale Kongruenz«, sagte die Stimme. »Ein Phänomen, das allen Theorien zufolge zu erwarten war, wenn ich nur lange genug in deinem Kopf bleiben könnte. Eigentlich passiert nichts anderes, als dass ich ein zunehmend realistischeres Modell deiner neuralen Prozesse erstelle. Anfangs musste ich das, was ich ablas, immer mit deinen Reaktionen vergleichen. Inzwischen brauche ich die Reaktionen nicht mehr abzuwarten, ich kann sie schon im Voraus erraten.«
Dann lies das, dachte Sylveste. Und hau ab!
»Wenn du mich loswerden wolltest«, sagte Calvin, »hättest du das schon vor Stunden haben können. Aber mir scheint, allmählich hast du mich ganz gerne da, wo ich jetzt bin.«
»Im Moment schon«, sagte Sylveste. »Aber gewöhne dich lieber nicht daran, Calvin. Ich habe nämlich nicht vor, dich auf Dauer bei mir einziehen zu lassen.«
»Deine Frau macht mir Sorgen.«
Sylveste sah die Triumvirn an. Plötzlich wollte er nicht mehr, dass seine Hälfte des Gesprächs öffentlich bekannt wurde, also schaltete er um auf Gedankensprache.
»Mir ebenfalls, aber das geht dich zufällig gar nichts an.«
»Ich habe gesehen, wie sie reagiert hat, als Volyova und Khouri versuchten, sie auf ihre Seite zu ziehen.«
Ja, dachte Sylveste — und wer könnte es ihr verdenken? Es hatte ihn schon schwer genug getroffen, als Volyova den Namen Sonnendieb in die Debatte warf wie eine Wasserbombe. Volyova hatte natürlich nicht wissen können, welche Bedeutung der Name für ihn hatte — und Sylveste hatte einen Moment lang gehofft, seine Frau hätte vergessen, dass und wo sie ihn schon einmal gehört hatte. Aber dafür war Pascale zu intelligent; nicht zuletzt dafür liebte er sie. »Das heißt noch lange nicht, dass es ihnen gelungen ist, Cal.«
»Freut mich, dass du so sicher bist.«
»Sie würde nie versuchen, mich aufzuhalten.«
»Das kommt darauf an«, meinte Calvin. »Wenn sie glaubte, du würdest dich in Gefahr begeben — und wenn sie dich so sehr liebt, wie ich glaube —, dann würde sie das sehr wohl versuchen, aus Liebe ebenso wie aus sachlichen Gründen. Aus Liebe sogar erst recht. Das heißt nicht, dass sie dich plötzlich hasste, es würde ihr auch keine Freude machen, dir deinen Wunsch zu verwehren. Ganz im Gegenteil, ich könnte mir sogar vorstellen, dass sie sehr darunter leiden würde.«
Sylveste sah wieder zum Display hinüber. Da schwebte Volyovas Brückenkopf, ein perfekter Konus.
»Wenn du meine Meinung hören willst«, fuhr Calvin nach einer Weile fort, »dann steckt hinter alledem sehr viel mehr, als man auf den ersten Blick erkennt. Wir sollten Vorsicht walten lassen.«
»Das tue ich doch ohnehin.«
»Ich weiß, und ich kann dich auch gut verstehen. Die Aussicht auf eine Gefahr hat an sich schon ihren Reiz; sie ist fast ein Ansporn, immer weiter zu gehen. Das ist es doch, was du empfindest? Jedes Gegenargument, das man vorbringen könnte, würde deine Entschlossenheit nur noch stärken. Denn Wissen macht hungrig, und dieser Hunger ist übermächtig, auch wenn man weiß, dass die Speise tödlich sein könnte.«
»Ich hätte es nicht besser beschreiben können«, sagte Sylveste. Er war für einen Augenblick unsicher geworden. Doch dann wandte er sich an Sajaki und sagte laut: »Wo, zum Teufel, bleibt nur dieses verdammte Weib? Weiß sie denn nicht, wie viel es zu tun gibt?«
»Hier bin ich«, sagte Volyova und betrat, gefolgt von Pascale, die Brücke. Wortlos rief sie zwei Sitze zu sich, die beiden Frauen erhoben sich damit in die Mitte des Raums und steuerten in die Nähe der anderen, wo man das Schauspiel im Innern der Projektionssphäre am besten verfolgen konnte.
»Die Schlacht kann beginnen«, sagte Sajaki.
Volyova nahm Verbindung mit dem Geschützpark auf; zum ersten Mal seit dem Zwischenfall mit dem außer Kontrolle geratenen Weltraumgeschütz sollte eine der Schreckenswaffen eingesetzt werden.
Die Befürchtung, dass eines der Systeme irgendwann genauso reagieren, sie gewaltsam aus der Kontrollschleife werfen und seine Aktionen selbst steuern könnte, war im Hintergrund immer präsent. Auszuschließen war es nicht, aber Volyova war bereit, das Risiko einzugehen. Wenn Khouri die Wahrheit sagte, dann war die Mademoiselle — die das wild gewordene Geschütz gesteuert hatte — inzwischen tot und von Sonnendieb gnadenlos absorbiert worden. Zumindest sie wäre also nicht mehr imstande, Volyova die Geschütze abspenstig zu machen.
Volyova wählte ein halbes Dutzend Geschütze aus, deren Zerstörungspotenzial (nach ihrer Einschätzung) am unteren Ende der Skala angesiedelt war, wo sie die Wirkung der schiffseigenen Bewaffnung ergänzten. Die sechs Geschütze erwachten zum Leben und meldeten — morbiderweise mit pulsierenden Totenkopfsymbolen — über das Armband ihre Einsatzbereitschaft. Dann bewegten sie sich langsam über das Schienennetz des Geschützparks, fuhren in die kleine Schleuse, die nach draußen führte, und bezogen außerhalb des Rumpfes Stellung. Nun waren sie im Grunde nichts anderes als unverhältnismäßig schwer bewaffnete Robotraumschiffe. Die sechs hatten außer der Grundkonstruktion, die bei allen Vernichtungswaffen der Höllenklasse gleich war, nur wenig gemeinsam. Zwei waren relativistische Großprojektilwerfer und zeigten deshalb gewisse Ähnlichkeiten, etwa wie verschiedene Prototypen, die von konkurrierenden Planungsteams nach allgemeinen Vorgaben gebaut worden waren. Mit ihren langen Rohren, den komplizierten Leitungssystemen und den krebsgeschwürähnlichen Zusatzgeräten erinnerten sie an antike Feldhaubitzen. Die anderen vier waren ein Gammastrahlen-Laser (um eine Größenordnung stärker als die schiffseigenen Exemplare), ein Supersymmetrie-Strahler, ein Projektor für beschleunigte Antimaterie-Impulse und ein Quark-Entfesselungs-Geschütz — wobei die Reihenfolge der Aufzählung nichts mit ihrer Vernichtungswirkung zu tun hatte. Es war kein Planetenzerstörer vom Kaliber jenes Geschützes darunter, das sich selbständig gemacht hatte, aber man hätte sich — oder den Planeten, auf dem man gerade stand — trotzdem nicht gern in ihrem Fadenkreuz gesehen. Man wollte Cerberus ja auch nicht unkontrolliert beschießen, erinnerte sich Volyova. Man wollte den Planeten nicht zerstören — man wollte nur eine Öffnung schaffen, und das konnte man auch mit subtileren Mitteln erreichen. O ja… Subtilität.
»Gib mir etwas, womit auch ein Anfänger umgehen kann.« Khouri stand zögernd vor der Ausgabestelle der Waffenkammer. »Aber kein Spielzeug — man sollte einen Feind schon damit aufhalten können.«
»Strahlen- oder Projektilwaffe, Madame?«
»Sagen wir, ein schwacher Energiestrahler. Wir wollen nicht, dass Pascale Löcher in den Rumpf schießt.«
»Eine ausgezeichnete Wahl, Madame. Möchte sich Madame vielleicht setzen und ihre Beine entlasten, während ich etwas heraussuche, was den qualifizierten Ansprüchen von Madame entspricht?«
»Madame bleibt lieber stehen, wenn du nichts dagegen hast.«
Sie wurde von der Gamma-Persönlichkeit der Ausgabestelle bedient, einem trübselig lächelnden Hologramm-Kopf, der auf Brusthöhe über einer mit vielen Schlitzen versehenen Theke schwebte. Zuerst hatte sie nur unter den Waffen gewählt, die hinter Glas und mit kleinen Leuchtplaketten versehen, die Auskunft über ihre Bedienung, ihre Herkunftsepoche und die jeweiligen Einsätze gaben, an den Wänden aufgereiht waren. Dagegen war im Grunde nichts einzuwenden, und sie hatte auch bald zwei leichte Gewehre für sich und Volyova gefunden, elektromagnetische Nadler von ganz ähnlicher Bauart wie die Waffen, die bei den Schatten Verwendung fanden.
Volyova hatte mit Grabesstimme auch schwere Artillerie verlangt, und Khouri hatte sich danach umgesehen, war aber nur zum Teil bei den Ausstellungsstücken fündig geworden. Gefallen hatte ihr ein Plasma-Schnellfeuer-Gewehr, dreihundert Jahre alt, aber keineswegs überaltert, mit einem Zielsuchsystem mit Neuralkopplung, das besonders für den Nahkampf geeignet war. Auch diese Waffe war leicht und lag ihr so gut in der Hand, als sei sie schon seit einer Ewigkeit damit vertraut. Die Schutzhülle aus schwarzem Leder, marmoriert und blitzblank poliert, mit Aussparungen für Schaltelemente, Anzeigen und Anschlüsse, war von einer geradezu obszönen Anziehungskraft. Für sich hatte sie damit das Richtige gefunden, aber was war mit Volyova? Sie hatte die Regale abgesucht, so lange sie es wagte (es konnten höchstens fünf Minuten gewesen sein), doch so viele interessante, ja, verblüffende Stücke sie dabei auch entdeckte, es war nichts darunter gewesen, was ihren Vorstellungen genau entsprochen hätte.
Also hatte sie sich an die Datenbank der Waffenkammer gewandt. Sie wusste aus zuverlässiger Quelle, dass dort mehr als vier Millionen verschiedener Handfeuerwaffen gespeichert waren, Exemplare aus zwölfhundert Jahren Büchsenmacherkunst, von einfachen Donnerbüchsen mit Funkenzündung bis zu den grausamsten Todesmaschinen im Taschenformat, die man sich ausmalen konnte.
Doch selbst dieses Riesensortiment war verschwindend klein, verglichen mit dem Gesamtpotenzial. Die Waffenkammer konnte nämlich auch kreativ sein. Wenn sie genaue Vorgaben bekam, sichtete sie ihre Pläne und mischte die optimalen Eigenschaften bereits existierender Waffen so lange, bis sie eine neue und genau auf die jeweiligen Bedürfnisse zugeschnittene Lösung gefunden hatte. Die ließ sich dann in wenigen Minuten realisieren.
Wenn das Werk vollendet war — wie jetzt die kleine Pistole, die sich Khouri für Pascale ausgedacht hatte —, öffnete sich mit leisem Schwirren ein Schlitz in der Theke und die fertige Waffe schob sich, ultrasteril glänzend und noch warm von der Herstellung, auf einer kleinen filzbezogenen Platte heraus.
Khouri nahm Pascales Pistole in die Hand, visierte am Lauf entlang, testete ihre Ausgewogenheit und probierte die Einstellungen für den Strahl durch, der über einen in den Griff eingelassenen Knopf zu regulieren war.
»Passt gut zu Ihnen, Madame«, sagte die Ausgabepersönlichkeit.
»Ist aber nicht für mich bestimmt«, sagte Khouri und steckte die Waffe in die Tasche.
Die sechs Weltraumgeschütze schalteten ihre Triebwerke ein, entfernten sich rasch vom Schiff und schlugen einen komplizierten Kurs ein, der sie auf Umwegen in Angriffsposition brachte. Währenddessen bremste der Brückenkopf weiterhin ab und kam der Oberfläche immer näher. Die Welt musste inzwischen bemerkt haben, dass ein künstliches Flugobjekt von beachtlicher Größe auf sie zukam, dachte Volyova, vielleicht erkannte sie in dem Objekt sogar die ehemalige Lorean. Irgendwo in den Tiefen der von Maschinen durchsetzten Kruste tobte jetzt wohl ein Streit. Einige Komponenten waren dafür, sofort anzugreifen; am besten zerstörte man das Ding, bevor es ernsthaft Schwierigkeiten machte. Andere Komponenten mahnten zur Vorsicht und wiesen darauf hin, dass das Objekt noch weit von Cerberus entfernt sei und ein Angriff sehr massiv ausfallen müsse, um es auch wirklich zu vernichten, bevor es zurückschlagen könne. Eine derart offene Machtdemonstration könnte anderswo unerwünschte Aufmerksamkeit erregen. Außerdem, so der Einwand der pazifistischen Systeme, habe das Objekt bisher keine feindlichen Absichten erkennen lassen. Vielleicht ahne es gar nicht, dass Cerberus eine künstliche Welt sei. Vielleicht wolle es nur daran schnuppern, um dann wieder abzuziehen.
Volyova wollte nicht, dass die Pazifisten siegten. Durchsetzen sollten sich vielmehr die Vertreter eines massiven Präventivschlags, und zwar sofort, noch in dieser Minute. Sie wollte sehen, wie Cerberus zuschlug und den Brückenkopf auslöschte. Damit wären alle Probleme gelöst und man wäre — nachdem Sylvestes Sonden bereits einem ähnlichen Schicksal zum Opfer gefallen waren — nicht schlechter dran als jetzt. Wenn man Cerberus lediglich zur Gegenwehr provozierte, war das vielleicht nicht die Art von Einmischung, vor der die Mademoiselle so eindringlich gewarnt hatte. Immerhin hätte niemand die Welt betreten. Danach konnte man sich geschlagen geben und nach Hause fliegen.
Doch das sollte nicht sein.
»Diese Weltraumgeschütze…« Sajaki wies mit dem Kinn aufs Display. »Hatten Sie vor, sie von hier aus scharf zu machen und abzufeuern, Ilia?«
»Ich wüsste nicht, was dagegen spräche.«
»Ich dachte, Khouri sollte sie vom Leitstand aus steuern. Dazu ist sie schließlich da.« Er wandte sich an Hegazi und flüsterte so laut, dass alle es hören konnten: »Allmählich fragt man sich, warum wir sie überhaupt angeworben haben — oder warum ich Volyova erlaubt habe, den Trawl zu unterbrechen.«
»Sie hat sicher ihre Qualitäten«, begütigte der Chimäre.
»Khouri ist natürlich im Leitstand«, log Volyova. »Vorsichtshalber. Aber ich möchte erst auf sie zurückgreifen, wenn es unbedingt nötig ist. Ich finde, das ist nur fair. Es sind schließlich auch meine Waffen — Sie können mir nicht verwehren, sie in einer so kontrollierten Situation auch selbst einzusetzen.«
Den Anzeigen auf ihrem Armband — die zum Teil auch auf dem Display in der Mitte der Brücke zu sehen waren — ließ sich entnehmen, dass die Geschütze in dreißig Minuten planmäßig ihre fast eine Viertelmillion Kilometer vom Schiff entfernten Positionen erreichen würden. Dann gäbe es keinen plausiblen Grund mehr, sie nicht auch abzufeuern.
»Gut«, sagte Sajaki. »Ich hatte schon an Ihrer bedingungslosen Hingabe an unsere gemeinsame Sache gezweifelt. Aber das hört sich doch verdächtig nach der alten Volyova an.«
»Wie ungemein erfreulich«, bemerkte Sylveste.