Fünfundzwanzig

Cerberus/Hades,

an der Heliopause von Delta Pavonis

2566


»So Leid es mir tut«, sagte Sylveste. »Ich glaube nicht, dass der Mann zu heilen ist.«

Außer dem Captain selbst waren nur Volyova und die beiden anderen Mitglieder des Triumvirats anwesend.

Sajaki stand dem Captain am nächsten, er hatte die Arme verschränkt und den Kopf schief gelegt und betrachtete ihn wie ein provozierend abstraktes Gemälde. Hegazi hielt respektvoll Abstand und ging nicht näher als drei bis vier Meter an die Masse heran, die jetzt noch schneller wucherte als zuvor. So sehr er sich auch bemühte, den Gleichgültigen zu spielen, die wenigen sichtbaren Partien seines Gesichts waren von Angst gezeichnet wie von einer Tätowierung.

»Ist er tot?«, fragte Sajaki.

»Nein, nein«, beteuerte Sylveste hastig. »Keineswegs. Aber alle unsere Therapien haben versagt, und das Mittel, in das wir unsere größte Hoffnung setzten, hat letzten Endes mehr geschadet als genutzt.«

»Das Mittel, in das Sie Ihre größte Hoffnung setzten?«, wiederholte Hegazi. Seine Stimme hallte von den Wänden wider.

»Ilia Volyovas Retrovirus.« Sylveste wusste, dass er jetzt sehr vorsichtig sein musste; Sajaki durfte nicht merken, dass man ihm auf die Schliche gekommen war. »Aus welchem Grund auch immer, es hat nicht so gewirkt, wie sie dachte. Das ist nicht Volyovas Schuld — woher sollte sie wissen, wie die Gesamtmasse insgesamt reagieren würde, wenn sie nur mit kleinen Proben arbeiten konnte?«

»Das ist die Frage«, sagte Sajaki knapp, und plötzlich überfiel Sylveste ein tödlicher Hass auf diesen Mann. Zugleich war ihm klar, dass Sajaki jemand war, mit dem er zusammenarbeiten konnte, und dass nichts, was hier geschehen war, auch nicht sein Abscheu vor dem Triumvir, ihn vom Sturm auf Cerberus abhalten würde. So war es sogar sehr viel besser. Seit Sylveste Gewissheit hatte, dass Sajaki die Heilung des Captains gar nicht wünschte — ganz im Gegenteil —, konnte er dem bevorstehenden Angriff seine volle Aufmerksamkeit widmen. Vielleicht musste er Calvin noch so lange in seinem Kopf dulden, bis die Farce endgültig zu Ende gespielt war, aber das war kein zu hoher Preis, dem fühlte er sich gewachsen. Inzwischen war ihm Calvins Präsenz sogar willkommen. Wenn so viel geschah und verarbeitet werden musste, war ein zweites Bewusstsein, ein Schmarotzer, der seinem Denken Strukturen entnahm und daraus Schlüsse zog, nicht zu verachten.

»Er ist ein verlogener Dreckskerl«, flüsterte Calvin. »Ganz geheuer war er mir noch nie, aber jetzt weiß ich genau, woran ich mit ihm bin. Ich wünsche ihm, dass die Seuche das Schiff bis auf das letzte Atom auffrisst und ihn gleich mitnimmt. Er hat es nicht besser verdient.«

Sylveste wandte sich an Sajaki. »Das heißt nicht, dass wir die Hoffnung aufgegeben hätten. Wenn Sie gestatten, werden Cal und ich weiter versuchen…«

»Tun Sie, was Sie können«, sagte Sajaki.

»Sie lassen sie weitermachen?«, fragte Hegazi. »Nach allem, was sie ihm beinahe angetan hätten?«

»Haben Sie etwas dagegen?«, fragte Sylveste. Die Rollen waren festgelegt wie in einem Drama und ebenso fest stand auch der Ausgang. »Wer kein Risiko eingeht…«

»Sylveste hat Recht«, sagte Sajaki. »Selbst beim harmlosesten Eingriff kann niemand vorhersagen, wie der Captain darauf reagiert. Die Seuche ist wie ein lebendes Wesen — sie folgt nicht unbedingt den Gesetzen der Logik, folglich ist alles, was wir tun, mit gewissen Risiken behaftet. Selbst wenn wir das Seuchengewebe nur mit einem scheinbar harmlosen Magnetfeld berührten, könnte es das zum Anlass nehmen, eine neue Wachstumsphase einzuleiten, oder aber es könnte binnen weniger Sekunden zu Staub zerfallen. Der Captain würde wohl keines der beiden Szenarien überleben.«

»Wenn das so ist«, sagte Hegazi, »können wir auch gleich aufgeben.«

»Nein«, sagte Sajaki so ruhig, dass Sylveste schon für Hegazis Wohlergehen fürchtete. »Aufzugeben brauchen wir nicht. Wir brauchen nur ein neues Paradigma — wir müssen über einen chirurgischen Eingriff hinaus denken. Wir haben den besten Cybernetiker seit den Zeiten des Transrationalismus unter uns und niemand versteht mehr von Molekularwaffen als Ilia Volyova. Die medizinischen Einrichtungen an Bord dieses Schiffes gehören zum Modernsten, was es gibt. Und doch sind wir gescheitert; aus dem einfachen Grund, weil wir es mit einem stärkeren, schnelleren und anpassungsfähigeren Erreger zu tun haben, als wir uns vorstellen können. Was wir immer schon vermutet haben, trifft zu: die Schmelzseuche wurde von einer fremden Spezies entwickelt. Und deshalb wird sie uns immer schlagen. Allerdings nur, wenn wir sie weiterhin mit unseren anstatt mit ihren eigenen Mitteln bekämpfen.«

Und damit, dachte Sylveste, war das Drama wie von selbst bei seinem ungeschriebenen Epilog angekommen.

»An was für ein neues Paradigma hatten Sie denn gedacht?«

»Darauf gibt es logischerweise nur eine Antwort«, stellte Sajaki fest, als sei das eine Selbstverständlichkeit. »Die einzig wirksame Medizin gegen eine Alien-Krankheit wäre eine Alien-Medizin. Und nach einer solchen Medizin müssen wir suchen, ohne Rücksicht darauf, wie lange es dauert und wie weit wir reisen müssen.«

»Eine Alien-Medizin.« Hegazi ließ sich die Worte förmlich auf der Zunge zergehen. Vielleicht vermutete er, sie in Zukunft ziemlich oft hören zu müssen. »Und bei welchen Aliens wollten Sie danach suchen?«

»Wir versuchen es zuerst bei den Musterschiebern«, murmelte Sajaki so zerstreut, als teste er im Selbstgespräch verschiedene Möglichkeiten. »Wenn sie nicht helfen können, sehen wir weiter.« Unvermittelt nahm er Sylveste wieder ins Visier. »Der Captain und ich, wir haben sie nämlich auch einmal besucht. Sie sind nicht der Einzige, der vom Wasser ihres Ozeans gekostet hat.«

»Wir sollten keine Sekunde länger in der Gesellschaft dieses Irren verweilen als unbedingt nötig«, sagte Calvin, und Sylveste nickte stumm.


Volyova sah zum sechsten oder siebten Mal auf ihr Armband, aber die Anzeige hatte sich in der letzten Stunde kaum verändert. Sie sagte ihr nur, was sie bereits wusste: die schicksalhafte Vereinigung von Brückenkopf und Cerberus war nur noch knapp einen halben Tag entfernt, und es sah nicht danach aus, als wolle jemand Einwände erheben oder gar den Versuch unternehmen, die Hochzeit zu verhindern.

»Auch wenn du alle zwei Sekunden auf das Display schaust, es nützt alles nichts«, sagte Khouri, die mit Volyova und Pascale im Spinnenraum geblieben war. Sie hatten die letzten Stunden fast ausschließlich außerhalb des Rumpfs verbracht und waren nur ins Innere zurückgekehrt, um Sylveste zu den anderen Triumvirn zu bringen. Sajaki hatte nicht nach Volyova gefragt: wahrscheinlich glaubte er sie in ihrer Kabine damit beschäftigt, ihrer Angriffsstrategie den letzten Schliff zu geben. In ein bis zwei Stunden kam sie freilich nicht mehr umhin, sich sehen zu lassen, wenn sie keinen Verdacht erregen wollte. Bald danach musste sie beginnen, mit einzelnen Weltraumgeschützen den Punkt auf Cerberus zu beschießen, wo der Brückenkopf aufsetzen sollte. Als sie — diesmal unwillkürlich — wieder auf das Armband schaute, fragte Khouri: »Worauf wartest du eigentlich?«

»Darauf, dass die Waffe etwas Unerwartetes tut — am besten wäre ein Totalausfall.«

»Dann willst du in Wirklichkeit gar nicht, dass das Manöver glückt?«, fragte Pascale. »Vor ein paar Tagen hast du dich noch darauf gefreut wie auf die schönste Stunde deines Lebens. Was für eine Wende.«

»Damals wusste ich noch nicht, wer die Mademoiselle war. Hätte ich das früher geahnt…« Volyova fehlten die Worte. Jetzt war natürlich klar, dass der Einsatz der Waffe ein geradezu selbstmörderischer Akt war — aber was hätte es geändert, wenn sie früher Bescheid gewusst hätte? Hätte sie die Waffe womöglich trotzdem entwickelt, nur weil sie dazu imstande war; nur weil die Lösung so elegant war und sie ihren Mitmenschen zeigen wollte, was für legendäre Gebilde — wahre byzantinische Kriegsmaschinen — sie ersinnen konnte? Eine widerliche Vorstellung, die aber — auf ihre Weise — vollkommen einleuchtend war. Sie hätte den Brückenkopf geschaffen und gehofft, später verhindern zu können, dass er seine Aufgabe erfüllte. Kurzum, sie wäre in die gleiche Situation gekommen, in der sie jetzt war.

Der Brückenkopf. — die umgestaltete Lorean — befand sich im Anflug auf Cerberus und wurde dabei zusehends langsamer. Wenn er den Planeten erreichte, würde er nicht schneller fliegen als eine Gewehrkugel, aber eine Gewehrkugel mit einer Masse von Millionen von Tonnen. Träfe der Brückenkopf mit dieser Wucht auf die Oberfläche eines normalen Planeten, dann würde seine kinetische Energie sehr wirkungsvoll in Wärme umgewandelt: es gäbe eine gewaltige Explosion, die ihr Spielzeug mit einem Schlag zerstören würde. Aber Cerberus war kein normaler Planet. Sie ging — gestützt auf unzählige Simulationen — davon aus, dass schon die Masse der Waffe genügen müsste, um die dünne künstliche Kruste über dem Inneren der Welt zu durchschlagen. Was danach kam, wenn die Welt erst ein Loch hatte, konnte sie sich eigentlich nicht vorstellen.

Und deshalb war sie jetzt sprachlos vor Angst. Sylveste war aus intellektueller Eitelkeit so weit gegangen — vielleicht auch noch aus anderen Gründen —, aber sie war von dieser Schwäche nicht frei, sie war blind dem gleichen Trieb gefolgt. Jetzt wünschte sie, sie hätte das Projekt nicht so ernst genommen; hätte den Brückenkopf so konstruiert, dass sein Erfolg weniger wahrscheinlich war. Wenn sie sich vorstellte, was geschehen würde, wenn ihr Kind sie nicht enttäuschte, packte sie das blanke Entsetzen.

»Hätte ich gewusst…«, sagte sie endlich. »Ich weiß nicht. Aber ich hatte keine Ahnung, also spielt es keine Rolle.«

»Warum hast du nicht auf mich gehört?«, sagte Khouri. »Ich hatte dich beschworen, diesem Wahnsinn ein Ende zu machen. Aber mein Wort genügte dir nicht, du musstest es auf die Spitze treiben.«

»Ich konnte Sajaki wohl kaum etwas von deiner Vision aus dem Leitstand erzählen. Er hätte uns beide getötet, davon bin ich überzeugt.« Allerdings ließ sich eine Auseinandersetzung mit Sajaki möglicherweise doch nicht mehr umgehen — vom Spinnenraum aus hatten sie nur begrenzte Möglichkeiten und die genügten vielleicht schon bald nicht mehr.

»Wenigstens hättest du mir vertrauen können«, sagte Khouri.

Unter anderen Umständen, dachte Volyova, hätte sie Khouri in diesem Moment geschlagen. Doch jetzt antwortete sie nur nachsichtig: »Wie kannst du mir mangelndes Vertrauen vorwerfen? Wer hat sich denn mit Lüge und Betrug auf mein Schiff geschlichen?«

»Was blieb mir denn anderes übrig? Die Mademoiselle hatte meinen Mann.«

»Wirklich?« Volyova beugte sich vor. »Bist du dir da auch ganz sicher, Khouri? Ich meine, hast du ihn je gesehen oder war das nur eins von den vielen kleinen Spielchen der Mademoiselle? Erinnerungen lassen sich so leicht einpflanzen!«

Khouris Stimme war so leise geworden, als sei nie ein zorniges Wort zwischen ihnen gefallen. »Was willst du damit sagen?«

»Es könnte doch sein, dass er es nicht geschafft hat, Khouri. Hast du daran schon einmal gedacht? Vielleicht hat er Yellowstone nie verlassen; vielleicht war es wirklich so, wie du immer dachtest?«

Pascale ging dazwischen. »Hört bitte auf zu streiten! Wenn uns hier wirklich eine Katastrophe ins Haus steht, sollten wir wenigstens untereinander einig sein. Und falls es eurer Aufmerksamkeit entgangen sein sollte, ich bin die einzige Person auf diesem Schiff, die gar nicht gefragt wurde, ob sie an Bord kommen wollte.«

»Pech für dich«, sagte Khouri.

Pascale funkelte sie an. »Vielleicht habe ich eben nicht die ganze Wahrheit gesagt. Etwas liegt mir nämlich schon am Herzen. Auch ich habe einen Mann, und ich will nicht, dass er sich — oder anderen — Schaden zufügt, nur weil er sich unbedingt etwas in den Kopf gesetzt hat. Und deshalb brauche ich euch — alle beide, denn ihr scheint hier die Einzigen zu sein, die so denken wie ich.«

»Und was denkst du?«, fragte Volyova.

»Dass das alles nicht zusammenpasst«, sagte sie. »Das denke ich, seit du diesen Namen erwähnt hast.«

Volyova brauchte nicht zu fragen, welchen Namen sie meinte. »Du hast reagiert, als würdest du ihn kennen.«

»Das stimmt — wir kennen ihn beide. Sonnendieb ist ein Amarantin-Wort, ein Name für einen Gott, eine Gestalt aus der Mythologie — vielleicht sogar für eine historische Persönlichkeit. Aber Dan war zu verbohrt — vielleicht auch zu erschrocken —, um es zuzugeben.«

Wieder sah Volyova auf ihr Armband, aber die ersehnte Nachricht kam immer noch nicht. Dann hörte sie sich Pascales Geschichte an. Sylvestes Frau erzählte gut; sie verzichtete auf lange Vorreden und Beschreibungen und begnügte sich mit wenigen, sorgsam ausgewählten Fakten, die Volyova alles vermittelten, was nötig war. Die Ereignisse wurden nur mit sparsamen Strichen skizziert. Volyova begriff jetzt, warum gerade Pascale Sylvestes Biografie verfasst hatte. Pascale sprach von den Amarantin, der ausgestorbenen Vogelrasse, die auf Resurgam gelebt hatte. Die Crew hatte durch Sylveste inzwischen genug darüber erfahren, um die Geschichte in den richtigen Zusammenhang stellen zu können, dennoch war Volyova erschüttert, eine Verbindung zu diesen Amarantin zu entdecken. Es hatte sie schon hart genug getroffen, dass ihre Probleme irgendwie mit den Schleierwebern zu tun haben könnten. Dabei war dort der Zusammenhang von Ursache und Wirkung klar erkennbar. Aber wie passten die Amarantin hinein? Wie kam es zu dieser Verbindung zwischen zwei so radikal verschiedenen Spezies, die beide seit langem aus der Galaxis verschwunden waren? Selbst im Zeitrahmen gab es radikale Widersprüche: nach allem, was Lascaille Sylveste erzählt hatte, waren die Schleierweber — vielleicht weil sie sich in ihre umstrukturierte Raumzeit-Sphäre zurückgezogen hatten — Millionen Jahre vor dem Auftauchen der Amarantin verschwunden und hatten alle technischen Geräte und Verfahren mitgenommen, die weniger hoch entwickelten Arten nicht in die Hände fallen sollten. Gerade dieser Hort an verbotenem Wissen hatte Sylveste und Lefevre ja überhaupt in den Grenzbereich vor dem Schleier gelockt. Die Schleierweber waren vom Aussehen her die fremdartigsten Geschöpfe, die je ein Mensch gesehen hatte — gepanzerte Ungetüme mit vielen Gliedmaßen, wie aus einem Albtraum entsprungen. Die Amarantin mit ihren vogelartigen Vorfahren und ihren vier Gliedmaßen, davon zwei Beinen, hatten bei weitem nicht diese erschreckende Fremdartigkeit.

Sonnendieb war das Bindeglied zwischen den beiden. Das Schiff hatte Resurgam nie zuvor angeflogen; nie zuvor war jemand an Bord gewesen, von dem man wusste, dass er in irgendeiner Weise mit den Amarantin zu tun gehabt hätte — und doch war Sonnendieb seit vielen subjektiven Jahren und mehreren Jahrzehnten Planetenzeit ein fester Bestandteil von Volyovas Leben. Die Lösung des Rätsels war natürlich Sylveste — aber Volyova konnte nach wie vor keinen logischen Zusammenhang erkennen.

Während Pascale weitererzählte, eilte ihr Volyova in Gedanken voraus und versuchte, das Geschehen in irgendeine Ordnung zu bringen. Pascale sprach von der vergrabenen Stadt, einer riesigen Amarantin-Stätte, die während Sylvestes Gefangenschaft entdeckt worden war, und von ihrem Wahrzeichen, einem riesigen Turm. An der Spitze dieses Turms thronte ein Wesen, das kein richtiger Amarantin war, sondern eher der Vorstellung der Amarantin von einem Engel entsprach — nur dass der Schöpfer dieses Engels peinlich genau darauf geachtet hatte, die anatomischen Grenzen zu respektieren. Dieser Engel sah fast so aus, als könne er wirklich fliegen.

»Und das war Sonnendieb?«, fragte Khouri ehrfürchtig.

»Ich weiß es nicht«, sagte Pascale. »Der ursprüngliche Sonnendieb war nur ein gewöhnlicher Amarantin, der eine Schar von Abtrünnigen um sich sammelte — und mit ihnen einen eigenen Stamm gründete, wenn man so will. Wir halten diese Renegaten für Forscher, die das Wesen der Welt zu ergründen suchten und die Mythen in Frage stellten. Dan vertritt die Theorie, dass Sonnendieb sich für Optik interessierte und Spiegel und Linsen herstellte, um damit im wahrsten Sinne des Wortes die Sonne zu stehlen. Vielleicht hat er auch Flugversuche gemacht; mit einfachen Flugmaschinen und Gleitern. Was immer es war, es war Ketzerei.«

»Und was hat es mit der Statue auf sich?«

Pascale erzählte weiter, wie aus den Abtrünnigen die ›Verbannten‹ wurden, die Jahrtausende lang vollkommen von der Bildfläche der amarantinischen Geschichte verschwunden waren.

»Darf ich an dieser Stelle eine Vermutung wagen?«, fragte Volyova. »Könnte es sein, dass sich diese Verbannten in eine stille Ecke des Planeten zurückzogen und eine neue Technologie erfanden?«

»Dan hielt das für wahrscheinlich. Er dachte, sie hätten nicht Halt gemacht, bis sie so weit waren, Resurgam ganz verlassen zu können. Als sie dann eines Tages — nicht lange vor dem Ereignis — endlich zurückkehrten, hatten sie die Zurückgebliebenen so weit überholt, dass sie ihnen wie Götter erschienen. Und das sollte die Statue sein — ein Monument zu Ehren der neuen Götter.«

»Und wie wurden die Götter zu Engeln?«, fragte Khouri.

»Durch Gentechnik«, erklärte Pascale im Brustton der Überzeugung. »Sie konnten niemals wirklich fliegen, auch nicht mit den Flügeln, die sie sich wachsen ließen, aber sie hatten die Schwerkraft auf andere Weise bereits überwunden; sie waren ins All aufgebrochen.«

»Was geschah dann?«

»Viel später — Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende danach — kehrte Sonnendiebs Volk nach Resurgam zurück. Das war kurz vor dem Ende. Wir können die archäologischen Funde zeitlich nicht differenzieren, die Spanne war zu kurz. Aber es ist fast, als hätten sie es mitgebracht.«

»Was?«, fragte Khouri.

»Das Ereignis. Was immer es war, es löschte alles Leben auf Resurgam aus.«


Als sie durch die Abwässer stapften, die knöcheltief im Korridor standen, fragte Khouri: »Gibt es eine Möglichkeit zu verhindern, dass deine Waffe Cerberus erreicht? Ich meine, du hast sie doch noch unter Kontrolle, nicht wahr?«

»Still!«, zischte Volyova. »Jedes Wort, das hier gesprochen wird…« Sie deutete stumm auf die Wände, in denen sie verborgene Abhöreinrichtungen aller Art vermutete; Teile des Überwachungsnetzes, das Sajaki kontrollierte.

»Könnte vom Rest des Triumvirats abgehört werden. — Na und?« Khouri sprach leise — wozu ein unnötiges Risiko eingehen? —, aber sie ließ sich den Mund nicht verbieten. »Wie die Dinge liegen, müssen wir früher oder später offen Widerstand leisten. Im Übrigen glaube ich nicht, dass Sajakis Überwachung so umfassend ist, wie du denkst — Sudjic hatte etwas dergleichen erwähnt. Und selbst wenn, ist er im Moment wohl ohnehin mit anderen Dingen beschäftigt.«

»Gefährlich, sehr gefährlich.« Aber vielleicht erkannte Volyova, dass Khouris Einstellung vernünftig war — dass aus den Heimlichkeiten schon sehr bald offene Rebellion werden mochte. Jedenfalls schob sie den Ärmel ihrer Jacke zurück und schaute auf das Armband mit den leuchtenden Schaltplänen und den sich langsam aktualisierenden Zahlenkolonnen. »Ich kann damit fast alles kontrollieren. Aber was nützt mir das? Wenn Sajaki Verdacht schöpft, dass ich die Operation zu sabotieren suche, wird er mich töten — und er weiß Bescheid, sobald die Waffe vom geplanten Kurs abweicht. Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass wir alle Sylvestes Geiseln sind — und wie er darauf reagieren würde, weiß ich nicht.«

»Nicht gut, fürchte ich — aber das ändert nichts.«

Pascale hatte sich zu Wort gemeldet. »Er wird seine Drohung nicht wahr machen. In seinen Augen ist nichts, er hat es mir gesagt. Aber Sajaki hatte keine Gewissheit — es war immerhin möglich — und deshalb war Dan überzeugt, dass sein Bluff funktionieren würde.«

»Und du bist völlig sicher, dass er dich nicht belogen hat?«

»Was ist das für eine Frage?«

»Unter diesen Umständen eine völlig berechtigte. Ich fürchte Sajaki, aber bei ihm kann ich notfalls Gewalt anwenden. Bei deinem Mann ist das anders.«

»Es ist nie dazu gekommen«, sagte Pascale. »Ihr könnt mir vertrauen.«

»Was bleibt uns denn anderes übrig?«, fragte Khouri. Sie hatten einen Fahrstuhl erreicht; die Tür ging auf, aber die Kabine stand etwas zu hoch, sie mussten einen Schritt nach oben machen. Khouri schüttelte sich den Schiffsschleim von den Stiefeln, schlug mit der Faust gegen die Wand und sagte: »Ilia, du musst das Ding stoppen. Wenn es Cerberus trifft, sind wir alle tot. Die Mademoiselle hat das die ganze Zeit gewusst; deshalb wollte sie Sylveste außer Gefecht setzen. Sie muss irgendwie geahnt haben, dass er alles tun würde, um hierher zu kommen. Mir ist bei weitem nicht alles klar, aber eines steht fest. Die Mademoiselle wusste, dass es für uns alle eine Katastrophe wäre, wenn er sein Ziel jemals erreichte. Und wenn ich Katastrophe sage, dann meine ich das wörtlich.«

Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, obwohl Volyova noch kein Ziel angegeben hatte.

»Es ist, als triebe Sonnendieb ihn ständig an«, sagte Pascale. »Brächte ihn auf gefährliche Gedanken und lenkte sein Schicksal.«

»Von welchen Gedanken sprichst du?«, fragte Khouri.

»Was brachte ihn zum Beispiel darauf, hierher zu kommen — in dieses System?« Volyova hatte Feuer gefangen. »Khouri; erinnerst du dich an die Aufzeichnung von Sylvestes letztem Besuch, die wir aus dem Schiffsspeicher abriefen?« Khouri nickte. Sie wusste noch gut, wie sie dem Hologramm in die Augen gesehen und sich ausgemalt hatte, wie es sein würde, den echten Sylveste zu töten. »Weißt du noch, wie er andeutete, dass er die Resurgam-Expedition bereits plante? Und wie uns das störte, weil er eigentlich noch gar nichts von den Amarantin wissen konnte? Jetzt passt das alles genau zusammen. Pascale hat Recht. Sonnendieb befand sich schon damals in seinem Kopf und drängte ihn, hierher zu kommen. Wahrscheinlich wusste er selbst nicht, wie ihm geschah. Er wurde die ganze Zeit von Sonnendieb gesteuert.«

Khouri sagte: »Man hat fast den Eindruck, als führten Sonnendieb und die Mademoiselle mit unserer Hilfe einen Stellvertreterkrieg. Sonnendieb ist eine Software-Entität und die Mademoiselle sitzt auf Yellowstone in ihrem Palankin fest… deshalb führen sie uns wie Marionetten und hetzen uns aufeinander.«

»Ich glaube, du hast Recht«, sagte Volyova. »Sonnendieb beunruhigt mich. Sehr sogar. Wir haben seit der Explosion des Weltraumgeschützes nichts mehr von ihm gehört.«

Khouri schwieg. Sie wusste, dass Sonnendieb bei ihrem letzten Aufenthalt im Leitstand in ihren Kopf eingedrungen war. Später hatte ihr die Mademoiselle bei ihrem Besuch berichtet, Sonnendieb zehre sie auf und würde sie innerhalb von Stunden oder — allenfalls — Tagen unweigerlich überwältigen. Doch das war Wochen her. Ihrer eigenen Einschätzung nach müsste die Mademoiselle inzwischen längst tot und Sonnendieb Sieger sein. Aber nichts hatte sich geändert. In Khouris Kopf war es so ruhig wie noch nie, seit man sie im Orbit um Yellowstone reanimiert hatte. Keine Implantate der verdammten Schatten, die ihr die Nähe eines Opfers meldeten; keine mitternächtlichen Heimsuchungen durch die verdammte Mademoiselle. Fast als sei Sonnendieb im Augenblick seines Triumphes gestorben. Aber daran glaubte Khouri nicht, und deshalb fand sie diese völlige Funkstille umso belastender; sie steigerte nur die Spannung bis zu seinem nächsten Auftauchen — das nach ihrer festen Überzeugung unvermeidlich war. Zudem ahnte sie, dass er noch unangenehmer sein würde als ihre letzte Untermieterin.

»Warum sollte er sich zeigen?«, fragte Pascale. »Er hat doch ohnehin fast gesiegt.«

»Fast.« Volyova nickte. »Aber was wir jetzt vorhaben, könnte ihn zum Eingreifen bewegen. Ich denke, darauf sollten wir vorbereitet sein — vor allem du, Khouri. Du weißt, dass er einen Weg in Boris Nagornys Gehirn gefunden hat, und eins kann ich dir sagen: ich hätte gern darauf verzichtet, die beiden kennen zu lernen.«

»Vielleicht solltest du mich einsperren, bevor es zu spät ist.« Es war eine eher spontane Bemerkung gewesen, aber Khouri war es todernst damit. »Ganz ehrlich, Ilia, das wäre mir lieber, als wenn du mich später erschießen müsstest.«

»Ich hätte wirklich nichts dagegen«, antwortete ihre Mentorin. »Aber unsere Überlegenheit ist im Moment eher bescheiden — wir drei gegen Sajaki und Hegazi —, und für welche Seite sich Sylveste im Ernstfall entscheidet, weiß Gott allein.«

Pascale sagte nichts.

Die Waffenkammer war immer Volyovas Ziel gewesen, aber das behielt sie für sich, bis sie dort waren. Khouri hatte diesen Teil des Schiffs noch nie betreten, aber man brauchte ihr nicht zu sagen, wo sie war. Sie hatte schon so viele Waffenkammern besucht, dass sie sie am Geruch erkannte.

»Ziemlich dickes Ding, auf das wir uns da einlassen«, fragte sie. »Richtig?«

In einem großen ovalen Raum waren die Waffengalerie und die Ausgabestelle untergebracht. In den Gestellen standen an die tausend Waffen griffbereit. Mehrere Zehntausend weitere konnten kurzfristig hergestellt werden. Sie wurden nach holografischen Plänen montiert, die überall in der Schiffsmasse verteilt waren.

»Richtig«, bestätigte Volyova. Es klang fast schon genießerisch. »Und dafür brauchen wir ein paar Schießeisen, die wirklich hässliche Löcher reißen können. Also, Khouri, bring deine ganze Erfahrung ins Spiel und rüste uns aus, wie du es für richtig hältst. Aber mach schnell — sonst sperrt uns Sajaki aus, bevor wir haben, was wir brauchen.«

»Dir macht die ganze Sache einen Heidenspaß, nicht wahr?«

»Ja. Und weißt du auch warum? Weil wir endlich etwas tun, auch wenn es selbstmörderisch ist. Vielleicht gehen wir dabei zugrunde — vielleicht erreichen wir nichts —, aber wenigstens treten wir kämpfend ab.«

Khouri nickte. Volyova hatte aus ihrer Sicht genau den Punkt getroffen. Es war das Vorrecht des Soldaten, den Dingen nicht einfach ihren Lauf zu lassen. Er durfte eingreifen, auch wenn es vergeblich war. Volyova führte sie rasch in die einfacheren Funktionen der Waffenkammer ein — die zum Glück kinderleicht zu bedienen war —, dann fasste sie Pascale am Arm und wandte sich zum Gehen.

»Wo wollt ihr hin?«

»Auf die Brücke. Sajaki will sicher, dass ich dabei bin, wenn wir Cerberus sturmreif schießen.«

Загрузка...