Siebzehn

Am Treffpunkt,

Resurgam

2566


Im Kopf hatte Sylveste das Treffen unzählige Male geprobt.

Er hatte sich redlich bemüht, alle denkbaren Zwischenfälle zu berücksichtigen; auch solche, die — nach seinem Verständnis der Situation — von geradezu phantastischer Unwahrscheinlichkeit waren. Was hier geschehen war, hatte er freilich nicht bedacht, und dafür gab es Gründe. Als rings um ihn die Hölle losbrach, hatte er nicht die leiseste Ahnung, was eigentlich gespielt wurde, und konnte sich überhaupt nicht erklären, wieso ganz plötzlich alle den Verstand verloren hatten.

»Vielleicht kann ich sie trösten«, sagte Sajaki. Seine Stimme wurde im Kopfteil des monströsen Anzugs verstärkt und übertönte sogar den Wind. »Auch ich bin nämlich ziemlich ratlos.«

»Das tröstet mich ganz ungemein«, versetzte Sylveste. Er sprach über Funk, auf derselben Frequenz wie bei den Verhandlungen mit der Besatzung, obwohl deren Vertreter — oder was davon noch übrig war — auf Rufweite von ihm entfernt standen. Im unerbittlichen Geheul des Schmirgelsturms kam man mit Schreien nicht sehr weit. »Vielleicht war ich naiv, aber ich hatte gehofft, Sie hätten, skrupellos tüchtig wie immer, die Sache inzwischen in die Hand genommen. Ich muss schon sagen, Sajaki, Sie lassen nach.«

»Ich bin darüber auch nicht glücklich«, gestand der Ultra. »Aber glauben Sie mir — auch in Ihrem eigenen Interesse — inzwischen ist tatsächlich alles unter Kontrolle. Ich muss mich jetzt um meine verletzte Kollegin kümmern und kann Ihnen nur empfehlen, nichts Unüberlegtes zu tun. Aber auf die Idee wären Sie ohnehin nie gekommen, nicht wahr, Dan?«

»Sie sollten mich besser kennen.«

»Das Problem ist, Dan, dass ich Sie nur zu gut kenne. Aber lassen wir die Vergangenheit ruhen.«

»Einverstanden.«

Sajaki ging zu der Verwundeten hinüber. Sylveste hatte gewusst, dass er Triumvir Yuuji Sajaki gegenüberstand, bevor der Mann ein Wort gesprochen hatte. Sobald sein Anzug aus dem Sturm auftauchte und die Sichtscheibe durchsichtig wurde, waren dahinter die altvertrauten Züge zum Vorschein gekommen. Sajaki hatte mit aufmerksamem Blick den Schaden begutachtet. Er schien sich, soweit man das sagen konnte, seit der letzten Begegnung kaum verändert zu haben. Für ihn waren schließlich nur wenige Jahre subjektiver Zeit vergangen, während Sylveste in die gleiche Spanne zwei oder gar drei Menschenleben alter Art gepresst hatte. Es war ein verwirrender Moment.

Die anderen Besatzungsmitglieder konnte Sylveste nicht identifizieren. Zunächst war da noch eine dritte Person gewesen… aber die würde er auch nicht mehr kennen lernen, dafür war es zu spät. Die beiden anderen waren zwar noch am Leben, aber eine davon war dem Tod gefährlich nahe — um sie bemühte sich Sajaki —, und die andere stand schweigend und offenbar unter Schock etwas abseits. Seltsamerweise zielte die unverletzte Person mit irgendeiner Anzugwaffe auf Sylveste, obwohl der unbewaffnet war und auch gar nicht die Absicht hatte, sich der Gefangennahme zu widersetzen.

»Sie wird überleben«, sagte Sajaki einen Augenblick später. Sein Anzug musste sich mit dem Anzug der verletzten Person verständigt haben. »Aber sie muss schleunigst aufs Schiff zurück. Dort können wir auch feststellen, was hier unten tatsächlich geschehen ist.«

»Es war Sudjic«, sagte eine Stimme. Sylveste kannte sie nicht. Eine Frauenstimme. »Sudjic hat versucht, Ilia zu töten.«

Dann war die Verwundete also das Miststück höchstpersönlich: Triumvir Ilia Volyova.

»Sudjic?«, fragte Sajaki. Das Wort hing in der Luft, als könne — oder wolle — Sajaki nicht glauben, was die Unbekannte sagte. Sekundenlang war nur das Heulen des Windes zu hören, dann wiederholte er den Namen mit fallender Intonation. Jetzt hatte er es akzeptiert. »Sudjic. Ja, darin steckt eine gewisse Logik.«

»Ich glaube, sie wollte…«

»Dazu kommen wir später, Khouri«, wehrte Sajaki ab. »Wir werden uns genügend Zeit nehmen — natürlich werden Sie mir auch zu meiner vollen Zufriedenheit erklären müssen, welche Rolle Sie bei der ganzen Sache gespielt haben. Aber jetzt haben andere Dinge Vorrang.« Er sah auf die verletzte Volyova nieder. »Der Anzug hält sie noch für einige Stunden am Leben, aber er ist nicht mehr imstande, sie zum Schiff zu bringen.«

»Ich nehme doch an«, sagte Sylveste, »dass Sie sich überlegt hatten, auf welchem Wege wir den Planeten verlassen sollten?«

»Ich gebe Ihnen einen guten Rat, Dan«, versetzte Sajaki. »Reizen Sie mich nicht zu sehr. Ich musste viele Hindernisse überwinden, bis ich Sie gefunden hatte. Aber das würde mich nicht abhalten, Sie zu töten, nur um mir eine gewisse Genugtuung zu verschaffen.«

Sylveste hatte nichts anderes erwartet — er hätte sich mehr Sorgen gemacht, wenn Sajaki anders reagiert und die Schwierigkeiten der Suche heruntergespielt hätte. Aber der Mann wäre ein Narr gewesen, hätte er selbst auch nur ein Wort seiner Drohung geglaubt. Er hatte mindestens die Reise von Yellowstone hierher und vielleicht noch mehr auf sich genommen, um Sylveste zu finden. Wie viele Menschenleben dabei geopfert worden waren, ließ sich gar nicht abschätzen, von den vielen Jahren ganz zu schweigen.

»Wie schön für Sie«, sagte Sylveste mit falscher Freundlichkeit. »Aber als Mann der Wissenschaft sollten Sie für meinen Forscherdrang Verständnis haben. Ich muss die Grenzen Ihrer Toleranz ausloten.« Plötzlich schnellte sein Arm unter dem Windschutzmantel hervor. Ein kleiner Gegenstand steckte zwischen zwei Fingern seiner behandschuhten Hand. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn die Frau ihre Anzugwaffe auf ihn abgefeuert hätte, weil sie glaubte, er wolle seinerseits schießen. Das Risiko war er eingegangen. Aber was er in der Hand hielt, war keine Waffe, sondern nur ein kleines gequanteltes Speicherelement.

»Sehen Sie das?«, fragte er. »Das ist Calvins Beta-Simulation. Sie hatten mich gebeten, sie mitzubringen. Sie brauchen sie, nicht wahr? Sie brauchen sie ganz dringend.«

Sajaki sah ihn wortlos an.

»Aber Sie können mich mal«, sagte Sylveste und zerdrückte die Simulation. Der Sturm wehte die Krümel davon.

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