Orbitalkarussell New Brazilia,
Yellowstone, Epsilon Eridani
2546
Volyova blieb am Eingang zum Schieber und Weber stehen. »Ich bin an der Bar«, sagte sie in ihr Armband. Sie bedauerte schon, diesen Treffpunkt vorgeschlagen zu haben — sie fand das Lokal kaum weniger abstoßend als seine Gäste —, doch als sie das Treffen mit dem Kandidaten vereinbarte, war ihr keine Alternative eingefallen.
»Ist die Neue schon da?«, ließ sich Sajakis Stimme vernehmen.
»Dann wäre sie sehr früh gekommen. Wenn sie pünktlich ist und unser Treffen einen positiven Verlauf nimmt, müssten wir in einer Stunde wieder gehen.«
»Ich halte mich bereit.«
Sie nahm die Schultern zurück, trat rasch ein und stellte im Geiste sofort einen Sitzplan auf. Die Luft war immer noch von diesem widerlich süßen rosa Rauch erfüllt. Auch das Mädchen mit der Teeconax machte noch die gleichen hektischen Bewegungen. Quälend klare Töne entströmten ihrem Kortex, wurden vom Instrument verstärkt und per Fingerdruck auf dem komplexen, berührungsempfindlichen, in allen Spektralfarben schillernden Griffbrett moduliert. Die Ragamotive schraubten sich mühsam in die Höhe und zersprangen zu nervenzerreißend atonalen Passagen, als zöge ein ganzes Rudel Löwen die Krallen über rostige Eisenbleche. Volyova hatte gehört, dass man Teeconax-Musik nur schätzen könne, wenn man mit speziellen neuro-auralen Implantaten ausgestattet war.
Sie setzte sich auf einen Barhocker und bestellte einen einfachen Wodka. In ihrer Tasche steckte eine Injektionsspritze, die sie notfalls mit einem Schlag wieder nüchtern machen konnte. Sie war darauf gefasst, dass es den ganzen Abend dauern konnte, bis die Neue auftauchte. Normalerweise wäre sie ungeduldig gewesen, aber jetzt war sie trotz der Umgebung entspannt und dabei zugleich hellwach. Sie war selbst überrascht. Vielleicht hatte man psychotrope Substanzen in die Luft geblasen, jedenfalls fühlte sie sich besser als seit Monaten, und das, obwohl sie wusste, dass sie nach Resurgam weiterfliegen mussten. Es tat gut, wieder unter Menschen zu sein, auch wenn es nur die Typen in dieser Bar waren. Minutenlang tat sie nichts anderes, als die Gesichter der Gäste zu beobachten, deren angeregte Unterhaltung sie nicht hören konnte, und sich auszumalen, was für spektakuläre Reiseberichte sie wohl austauschen mochten. Ein Mädchen rauchte eine Wasserpfeife und stieß eine dicke Rauchwolke aus, bevor sie sich über einen Witz vor Lachen ausschüttete, den ihr Gesprächspartner erzählte. Ein kahlköpfiger Mann mit einer Drachentätowierung auf dem Schädel prahlte, wie er mit ausgefallenem Autopiloten durch die Atmosphäre eines Gasriesen geflogen sei und sein schieber-konfiguriertes Bewusstsein Flussgleichungen löste, als habe er von Geburt an nichts anderes getan. In einer gespenstisch blau erleuchteten Nische war eine Ultra-Gruppe in ein hitziges Kartenspiel vertieft. Ein Mann hatte offenbar soeben einen seiner Zöpfe verloren. Seine Freunde hielten ihn fest, während der Gewinner seinen Preis einforderte und den Zopf mit einem Taschenmesser absäbelte.
Wie sah diese Khouri eigentlich aus?
Volyova fischte eine Karte aus ihrer Jacke, barg sie unauffällig in der Hand und warf einen letzten Blick darauf. Der Name Ana Khouri stand unter dem Foto, dann folgten ein paar Zeilen mit biografischen Angaben. In einer normalen Bar wäre die Frau niemandem aufgefallen, doch hier hätte ein so alltägliches Aussehen genau die entgegengesetzte Wirkung. Dem Bild nach zu schließen passte sie womöglich noch weniger in diesen Rahmen als Volyova selbst.
Volyova konnte nicht klagen. Diese Khouri schien für die freie Stelle wie geschaffen zu sein. Volyova hatte sich in die Datennetze des Yellowstone-Systems hineingehackt — soweit sie die Seuche überstanden hatten — und eine Liste von in Frage kommenden Kandidaten aufgestellt. Khouri, ehemals Soldatin auf Sky’s Edge, war in die engere Wahl gekommen. Aber diese Khouri erwies sich als unauffindbar, und schließlich hatte Volyova aufgegeben und sich auf andere Anwärter konzentriert. Zwar entsprach von denen keiner genau ihren Anforderungen, aber sie hatte die Suche fortgesetzt. Als ein Kandidat nach dem anderen durch das Raster fiel, war sie zusehends verzagt. Sajaki hatte mehrfach vorgeschlagen, doch einfach jemanden zu entführen — schließlich wäre das auch nicht schlimmer, als ihn unter falschen Voraussetzungen anzuwerben. Aber eine Entführung war zu unsicher: sie garantierte nicht, dass sie am Ende jemanden hatte, mit dem sie auch zurecht kam.
Und dann hatte sich Khouri plötzlich von sich aus gemeldet. Sie wolle Yellowstone verlassen und habe gehört, dass auf Volyovas Schiff noch jemand gesucht werde. Ihre militärischen Erfahrungen hatte sie nicht erwähnt, aber darüber war Volyova ja bereits im Bild. Khouri war sicher nur vorsichtig. Sonderbar war lediglich, dass sie erst von sich hatte hören lassen, als Sajaki — wie es die Gepflogenheiten des interstellaren Handels verlangten — den neuen Zielhafen bekannt gegeben hatte.
»Captain Volyova? Sie sind es doch, nicht wahr?«
Khouri war klein und drahtig. Ihre Kleidung war schlicht und orientierte sich an keiner bekannten Ultra-Mode. Das schwarze Haar trug sie nur wenige Zentimeter länger als Volyova, kurz genug, um deutlich zu zeigen, dass sie weder klobige Input-Anschlüsse noch Neural-Schnittstellen im Schädel hatte. Das bedeutete zwar noch nicht, dass in ihrem Kopf nicht unzählige Maschinchen summten, aber sie ging jedenfalls nicht damit hausieren. In ihren Zügen mischten sich die wichtigsten Genotypen ihrer Heimatwelt Sky’s Edge; es war ein ebenmäßiges, aber nicht auffallend schönes Gesicht. Der kleine Mund mit den schmalen Lippen war nicht sehr ausdrucksvoll, aber das glichen die Augen wieder aus. Sie waren tief dunkel, fast schwarz und strahlten ein intuitives Wissen aus, das entwaffnend wirkte. Einen winzigen Moment lang fürchtete Volyova, Khouri hätte ihr schäbiges Lügengespinst bereits durchschaut.
»Ja«, sagte Volyova. »Und Sie müssen Ana Khouri sein.« Sie sprach leise. Nachdem sie Khouri jetzt gefunden hatte, wollte sie auf jeden Fall vermeiden, dass andere Stellungsuchende ihr Gespräch belauschten und versuchten, im letzten Augenblick an Bord zu kommen. »Sie haben Kontakt zu unserer Agentenpersönlichkeit aufgenommen und sich nach einer Beschäftigung auf unserem Schiff erkundigt.«
»Ich bin erst vor kurzem auf dem Karussell angekommen und wollte es zuerst bei Ihnen probieren, bevor ich zu den Besatzungen ging, die Stellen ausgeschrieben hatten.«
Volyova roch an ihrem Wodka. »Ungewöhnliche Strategie, wenn ich das sagen darf.«
»Wieso? Die anderen Crews bekommen so viele Bewerbungen, dass sie ihre Gespräche nur noch über Sims führen.« Sie trank mechanisch einen Schluck Wasser. »Ich verhandle lieber mit Menschen. Deshalb musste ich mir eine andere Besatzung suchen.«
»Oh«, sagte Volyova. »Die unsere ist anders, das können Sie mir glauben.«
»Aber Sie sind Händler, ja?«
Volyova nickte begeistert. »Wir haben unsere Geschäfte im Gebiet um Yellowstone fast abgeschlossen. Allzu einträglich waren sie leider nicht. Die Wirtschaft steckt in der Flaute. Wahrscheinlich kommen wir in ein- oder zweihundert Jahren wieder vorbei und sehen nach, ob sie sich erholt hat, aber ich persönlich hätte nichts dagegen, diese Welt nie wiederzusehen.«
»Wenn ich bei Ihnen anheuern wollte, müsste ich mich also schnell entscheiden?«
»Zuerst müssten wir uns natürlich für Sie entscheiden.«
Khouri sah sie scharf an. »Es gibt noch andere Kandidaten?«
»Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.«
»Ich könnte es mir schon denken. Sky’s Edge… sicher eine Welt, wo mancher gerne hin möchte, auch wenn er sich die Passage erarbeiten müsste.«
Sky’s Edge? Volyova bemühte sich, keine Miene zu verziehen, aber sie konnte ihr Glück kaum fassen. Khouri hatte sich also nur gemeldet, weil sie immer noch glaubte, die Sehnsucht nach Unendlichkeit flöge nach Sky’s Edge anstatt nach Resurgam. Aus irgendeinem Grund hatte sie nicht mitbekommen, dass Sajaki den Zielhafen geändert hatte.
»Es gibt sicher schlechtere Welten«, sagte Volyova.
»Wie auch immer, ich wäre gern auf Platz eins der Kandidatenliste.« Eine Plexiglas-Wolke kam voll beladen mit Getränken und Drogen über die Deckenschiene gefahren. »Was für eine Position haben Sie eigentlich zu vergeben?«
»Das kann ich Ihnen alles viel einfacher an Bord erklären. Sie haben doch Ihre Reisetasche mitgebracht?«
»Selbstverständlich. Ich bin schließlich wirklich scharf auf den Posten.«
Volyova lächelte. »Freut mich zu hören.«
Cuvier, Resurgam
2563
Calvin Sylveste manifestierte mit seinem Thronsessel an einem Ende der Gefängniszelle. »Ich habe dir eine interessante Mitteilung zu machen«, sagte er und strich sich den Bart. »Aber du wirst vermutlich nicht sehr davon angetan sein.«
»Mach’s kurz; Pascale muss jeden Moment eintreffen.«
Calvins spöttische Miene vertiefte sich noch. »Eigentlich geht es gerade um Pascale. Du hast sie recht gern, nicht wahr?«
»Das geht dich gar nichts an.« Sylveste seufzte; mit solchen Schwierigkeiten hatte er gerechnet. Die Biografie näherte sich ihrer Vollendung, und er hatte die meisten Teile gesichtet. Trotz aller Präzision in technischen Dingen, trotz der unzähligen Sichtweisen, die geboten wurden, blieb das Werk das, was Girardieu immer geplant hatte: eine raffinierte, ungemein präzise Propagandawaffe. Der subtile Filter der Biografie verhinderte, dass man irgendeinen Teil seiner Vergangenheit in einer Art und Weise sah, die für ihn nicht abträglich gewesen wäre. Stets erschien er als egozentrischer Tyrann mit Scheuklappen: ein Mann von hoher Intelligenz, der aber die Menschen um sich herum skrupellos für seine Zwecke benutzte. Dabei war Pascale mit unbestreitbarem Geschick zu Werke gegangen. Hätte Sylveste die Fakten nicht besser gekannt, er hätte die Tendenz der Biografie unkritisch übernommen. Sie trug den Stempel der Wahrheit.
Schon das war schwer zu verkraften, unendlich viel härter traf ihn jedoch, wie viel von dieser negativen Darstellung durch Aussagen von Menschen geprägt war, die ihn gekannt hatten. Und an vorderster Front stand Calvin. Das schmerzte am meisten. Sylveste hatte Pascale nur zögernd Zugang zu seiner Beta-Simulation gewährt. Man hatte ihn unter Druck gesetzt, aber damals hatte es noch so ausgesehen, als würde er dafür entschädigt.
»Ich möchte, dass der Obelisk gesucht und ausgegraben wird«, sagte Sylveste. »Girardieu hat mir Einblick in die Forschungsdaten versprochen, wenn ich bei der Demontage meines Charakters behilflich wäre. Ich habe meine Seite des Abkommens getreulich erfüllt. Wie wäre es, wenn sich die Regierung jetzt erkenntlich zeigte?«
»Das ist nicht so einfach…«, hatte Pascale angesetzt.
»Nein; aber es verursacht den Flutern auch keine allzu großen Kosten.«
»Ich werde mit ihm reden«, versprach sie. Es klang wenig überzeugend. »Vorausgesetzt, ich darf mit Calvin sprechen, wann immer ich will.«
Es war ein vertracktes Abkommen, das hatte er von vornherein gewusst. Aber er hatte geglaubt, es würde sich lohnen. Auf jeden Fall wollte er den Obelisken Wiedersehen, den ganzen Obelisken, nicht nur den kleinen Teil, der noch vor dem Umsturz freigelegt worden war.
Nils Girardieu hatte erstaunlicherweise Wort gehalten. Zwar hatte es vier Monate gedauert, aber dann hatte ein Team die verlassene Grabung gefunden und den Obelisken gehoben. Sehr sorgfältig war man nicht damit umgegangen, aber das hatte Sylveste auch nicht erwartet. Es genügte, dass das Ding in einem Stück herausgekommen war. Jetzt konnte er eine holografische Repräsentation davon in seiner Zelle abrufen, wann immer er wollte, und jeden Abschnitt der Oberfläche in Vergrößerung genauer untersuchen. Der Text war verlockend; die Analyse schwierig. Die komplizierte Karte des Sonnensystems erschien ihm immer noch erschreckend exakt. Darunter — zu tief, als dass man sie früher hätte entdecken können — befand sich eine zweite, in sehr viel größerem Maßstab gehaltene Karte des ganzen Systems bis hinaus zum Kometenring. Pavonis war eigentlich ein Doppelsternsystem aus zwei Sonnen in einem Abstand von 10 Lichtstunden. Das war den Amarantin offenbar bekannt gewesen, denn sie hatten den Orbit der zweiten Sonne deutlich markiert. Sylveste überlegte kurz, warum er den anderen Stern bei Nacht noch nie gesehen hatte: selbst wenn er nur schwach leuchtete, müsste er immer noch sehr viel heller sein als alle anderen Sterne. Dann fiel ihm ein, dass der zweite Stern kein Licht mehr abgab. Es war ein Neutronenstern, eine ausgebrannte Sonnenleiche, die früher einmal heiß und blau gestrahlt haben musste. Jetzt war sie so dunkel, dass sie erst von der ersten interstellaren Sonde entdeckt worden war. Der Orbit des Neutronensterns war mit einer Gruppe unbekannter Schriftzeichen versehen.
Sylveste hatte keine Ahnung, was die Zeichen bedeuteten.
Damit nicht genug, fanden sich in der unteren Hälfte des Obelisken weitere Karten, die zumindest in seinen Augen andere Sonnensysteme darstellten, ohne dass er das hätte beweisen können. Wie mochten die Amarantin an die erforderlichen Informationen — über die anderen Planeten, den Neutronenstern, die anderen Sonnensysteme — gekommen sein, wenn sie keine Raumschiffe besaßen, die mit denen der Menschen zu vergleichen waren?
Die entscheidende Frage war vielleicht die nach dem Alter des Obelisken. Die Bestimmung der Kontextschicht ergab neunhundertneunzigtausend Jahre, damit wäre er etwa tausend Jahre vor dem Ereignis vergraben worden — aber zur Bestätigung seiner Theorie brauchte Sylveste sehr viel genauere Angaben. Bei ihrem letzten Besuch hatte er Pascale gebeten, den Fund mit dem Trapped Electron-Verfahren untersuchen zu lassen. Nun hoffte er, dass sie ihm das Ergebnis mitbrachte.
»Sie macht sich nützlich«, sagte er. Calvin streifte ihn nur mit höhnischem Blick. »Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.«
»Vielleicht hast du Recht. Trotzdem könnte ich dir sagen, was ich erfahren habe.«
Jeder Aufschub war zwecklos. »Nun?«
»Ihr Familienname ist nicht Dubois.« Calvin lächelte. Er kostete den Moment weidlich aus. »Sie heißt Girardieu. Sie ist seine Tochter. Und dich, mein lieber Junge, hat man hereingelegt.«
Sie verließen das Schieber und Weber und traten in die schwüle simulierte Planetennacht des Karussells hinaus. Herrenlose Kapuzineräffchen sprangen zu beiden Seiten der Promenade von den Bäumen, um mit geschickten Greifhänden ein paar Passantentaschen auszuräumen. Gleich hinter der nächsten Biegung dröhnten Burundi-Trommeln. Aus den dicken Wolken, die von der Decke hingen, zuckten schlangenförmige Neonblitze. Khouri hatte gehört, dass es manchmal sogar regnete, aber diese Seite meteorologischer Detailtreue war ihr bisher erspart geblieben.
»Wir haben im Zentrum ein Shuttle angedockt«, sagte Volyova. »Wir brauchen nur einen Speichenfahrstuhl zu nehmen und durch den Zoll zu gehen.«
Sie stiegen in eine ungeheizte, ratternde Fahrstuhlkabine, die nach Urin stank. Sie war leer bis auf einen behelmten Komuso-Mönch, der in Gedanken versunken auf einer Bank saß und seine Shakuhachi zwischen den Knien hielt. Khouri vermutete, dass andere Fahrgäste lieber auf die nächste Kabine in dem endlosen Paternoster zwischen dem Zentrum und dem Rand gewartet hatten, als zu ihm einzusteigen.
Neben dem Komuso stand die Mademoiselle und hatte würdevoll die Hände auf dem Rücken gefaltet. Sie trug ein bodenlanges, stahlblaues Kleid, das schwarze Haar war zu einem strengen Knoten zusammengenommen.
»Sie sind viel zu verkrampft«, sagte sie. »Volyova wird glauben, Sie hätten etwas zu verbergen.«
»Gehen Sie weg.«
Volyova sah zu ihr hinüber. »Sagten Sie etwas?«
»Nur, dass es hier kalt ist.«
Volyova brauchte verdächtig lange, um diese Aussage zu verarbeiten. »Ja. Das mag sein.«
»Sie brauchen nicht laut zu sprechen«, sagte die Mademoiselle. »Sie brauchen nicht einmal stumm zu artikulieren. Stellen Sie sich nur vor, Sie würden sagen, was ich hören soll. Das Implantat entdeckt die Spuren der Impulse, die in Ihrem Sprachzentrum generiert werden. Los. Versuchen Sie es.«
»Gehen Sie weg«, sagte Khouri noch einmal oder stellte sich vielmehr vor, sie würde es sagen. »Verschwinden Sie schleunigst aus meinem Kopf. Das stand nicht im Vertrag.«
»Meine Liebe«, sagte die Mademoiselle, »es gibt doch gar keinen Vertrag, nur eine — wie soll ich sagen? Eine Vereinbarung auf Treu und Glauben?« Sie sah Khouri fest an, als warte sie auf eine Reaktion. Khouri starrte nur hasserfüllt zurück. »Na schön«, sagte die Mademoiselle. »Aber Sie sehen mich bald wieder, das verspreche ich Ihnen.«
Damit verschwand sie.
»Ich kann es kaum erwarten«, murmelte Khouri.
»Wie bitte?«, fragte Volyova.
»Ich sagte, ich kann es kaum erwarten«, antwortete Khouri. »Diesen verdammten Fahrstuhl zu verlassen, meine ich.«
Wenig später hatten sie das Zentrum erreicht, passierten den Zoll und bestiegen das Shuttle, ein Schiff für Flüge außerhalb der Atmosphäre, bestehend aus einer Kugel mit vier am Äquator angebrachten Triebwerken. Das Shuttle hieß Abschiedsmelancholie — Ultras gaben ihren Schiffen mit Vorliebe ironische Namen. Das Innere erinnerte mit seinen rippenartigen Verstrebungen an den Bauch eines Wals. Volyova wies Khouri durch eine Reihe von Schotts und schlundähnlichen Kriechgängen den Weg zur Brücke. Dort gab es einige Schalensessel und eine von einem zarten entoptischen Gitter umgebene Instrumentenkonsole mit Unmengen von unverständlichen flugelektronischen Angaben. Volyova drückte auf eine der visuellen Anzeigen, und aus einer schwarzen Nische an der Seite der Konsole schob sich ein kleines Tablett mit einer altmodischen Tastatur. Als Volyova die Finger über die Tasten tanzen ließ, fegte eine Welle von Veränderungen über die Datenanzeigen hinweg.
Khouri überlief ein Schauer, als ihr klar wurde, dass die Frau keine Implantate hatte und tatsächlich mit den Fingern kommunizierte.
»Schnallen Sie sich an«, sagte Volyova. »Um Yellowstone fliegt so viel Schrott herum, dass wir wahrscheinlich ein paar g auffahren müssen, um rauszukommen.«
Khouri gehorchte. Die nächsten Minuten waren nicht angenehm, dennoch fand sie hier seit Tagen zum ersten Mal Gelegenheit, sich zu entspannen. Seit ihrer Reanimation hatten sich die Ereignisse überschlagen. Während sie in Chasm City schlief, hatte die Mademoiselle auf ein Schiff gewartet, das nach Resurgam weiterflog, und da Resurgam im unsteten Netz interstellarer Handelsbeziehungen nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte, hatte sie lange warten müssen. Ein Lichtschiff war schwer zu bekommen. Sie befanden sich alle seit Jahrhunderten in Privatbesitz. Auch die mächtigste Einzelperson konnte keines mehr erwerben. Die Synthetiker stellten keine Antriebe mehr her, und wer bereits ein Schiff besaß, dachte nicht daran, es zu verkaufen.
Khouri wusste, dass weder die Mademoiselle noch Volyova nur passiv gewartet hatten, ohne selbst tätig zu werden. Volyova hatte — laut der Mademoiselle — in Yellowstones Datennetze ein Suchprogramm eingespeist, einen so genannten Bluthund. Kein Mensch, nicht einmal ein computergesteuerter Monitor hätte seine raffinierte Schnüffelei entdecken können. Aber die Mademoiselle war offenbar weder das eine noch das andere, und so hatte sie den Hund gespürt wie ein Wasserläufer, der noch das leiseste Zittern unter seinen Füßen wahrnimmt.
Und sie hatte geschickt reagiert.
Sie pfiff dem Bluthund, bis er auf sie zugesprungen kam. Dann brach sie ihm ganz lässig den Hals, aber erst, nachdem sie ihn aufgeschnitten und die Informationen in seinen Eingeweiden überprüft hatte, um zu sehen, worauf er angesetzt war. Sie kam zu dem Ergebnis, dass der Hund angeblich geheime Informationen über Personen mit Stasiserfahrung finden sollte. Das war für eine Gruppe Ultras, die nach einem neuen Besatzungsmitglied suchte, um eine Lücke in ihren Reihen zu füllen, soweit normal. Doch da war noch etwas. Eine Besonderheit, die die Mademoiselle stutzig machte.
Warum suchten sie jemanden, der im Militärdienst gewesen war?
Vielleicht waren sie auf Disziplin versessen: professionelle Händler, die eine Stufe über dem normalen Spiel von Angebot und Nachfrage agierten, Spezialisten, die sich ohne Rücksicht auf Verluste mit fragwürdigen Methoden die Informationen beschafften, die sie brauchten. Leute, die sich auch von Reisen zu Provinzkolonien wie Resurgam nicht abschrecken ließen, wenn sie dort, wenn auch vielleicht erst in Jahrhunderten, satte Gewinne witterten. Wahrscheinlich herrschte bei ihnen eine eher militärisch straffe Organisation und keine Quasi-Anarchie wie auf den meisten Handelsschiffen. Wenn sie also Wert auf militärische Erfahrung legten, wollten sie wohl nur sicherstellen, dass der Kandidat auch zu ihnen passte.
Natürlich, das war des Rätsels Lösung.
Bislang war alles gut gegangen, auch wenn Volyova seltsamerweise geschwiegen hatte, als Khouri vorgab, über das neue Ziel des Schiffes nicht informiert zu sein. Khouri hatte natürlich die ganze Zeit gewusst, dass das Schiff Resurgam anfliegen wollte — aber wenn sie den Ultras gestanden hätte, dass die Provinzkolonie in Wirklichkeit auch ihr Ziel war, hätte sie das mit einer ihrer Tarngeschichten erklären müssen. Hätte Volyova sie verbessert, dann hätte sie sofort eine dieser Geschichten aus dem Ärmel gezogen — aber Volyova hatte kein Wort gesagt. Offenbar wollte sie ihr neues Besatzungsmitglied in dem Glauben belassen, die Reise ginge nach Sky’s Edge.
Das mochte tatsächlich sonderbar sein, ließ sich aber erklären, wenn man davon ausging, dass sie inzwischen verzweifelt genug waren, um jeden anzuheuern, der sich meldete. Ein Zeichen von Aufrichtigkeit war es gerade nicht, andererseits blieb Khouri auf diese Weise eine Lüge erspart. Sie beschloss, sich darüber nicht weiter den Kopf zu zerbrechen. Im Grunde wäre alles in bester Ordnung gewesen — bis auf das Implantat, das ihr die Mademoiselle in den Schädel gepflanzt hatte, während sie schlief. Es war winzig klein und so gebaut, dass es wie ein gewöhnlicher Entoptik-Verstärker aussah und auch so funktionierte. Die Ultras sollten keinen Verdacht schöpfen. Und falls sie zu neugierig wurden und das verdammte Ding entfernten, würden sich alle belastenden Teile selbsttätig löschen oder umstrukturieren. Darum ging es also nicht. Das Implantat störte Khouri nicht, weil es riskant oder überflüssig gewesen wäre, sondern weil die Mademoiselle die letzte Person war, die sie tagtäglich in ihrem Kopf haben wollte. Natürlich handelte es sich nur um eine Beta-Simulation, eine Persönlichkeitskopie. Das Implantat projizierte ein Bild der Mademoiselle in Khouris Blickfeld und stimulierte ihr Hörzentrum, so dass sie auch die Stimme des Geistes hören konnte. Für alle anderen waren die Erscheinungen unsichtbar, und die Verständigung ging lautlos vonstatten.
»Sagen wir, ich will alles wissen«, hatte der Geist erklärt. »Ihnen als ehemaligem Soldaten sollte dieser Wunsch nicht fremd sein.«
Khouri ergab sich in ihr Schicksal. »Ich kann ihn verstehen. Die Sache stinkt zum Himmel, aber ich nehme nicht an, dass Sie mir das verdammte Ding nur deshalb wieder herausnehmen werden, weil ich es nicht mag.«
Die Mademoiselle lächelte. »Ich möchte Sie im Moment nicht mit allzu viel Wissen belasten, um die Gefahr von unbedachten Äußerungen in Gegenwart der Ultras möglichst gering zu halten.«
»Moment mal«, sagte Khouri. »Ich weiß bereits, dass ich Sylveste töten soll. Was könnte es sonst noch für Geheimnisse geben?«
Wieder zeigte die Mademoiselle dieses aufreizende Lächeln. Wie viele Beta-Sims verfügte sie nur über eine beschränkte Auswahl an mimischen Variationen, so dass sie sich wie ein schlechter Schauspieler ständig wiederholte.
»Ich fürchte«, sagte sie, »Sie kennen noch nicht einmal einen Bruchteil der Geschichte. Was Sie wissen, ist nicht mehr als ein winziger Splitter.«
Als Pascale kam, studierte Sylveste ganz bewusst ihre Gesichtszüge und verglich sie im Geiste mit denen von Nils Girardieu. Wie üblich setzte ihm sein Sehvermögen dabei enge Grenzen. Seine Augen hatten Schwierigkeiten, gewölbte Flächen zu erfassen, und neigten dazu, die sanften Rundungen eines menschlichen Gesichts scharfkantig abzustufen.
Calvins Behauptung war nicht so ohne weiteres zu widerlegen. Zwar hatte Pascale glattes Haar von biblischem Schwarz, Girardieu dagegen rote Locken. Aber der Knochenbau wies Übereinstimmungen auf, die über eine zufällige Ähnlichkeit hinausgingen. Ohne Calvins Hinweis wäre Sylveste vielleicht nie darauf gekommen… aber nun hatte er Verdacht geschöpft und dieser Verdacht erklärte nur allzu viel.
»Warum haben Sie mich belogen?«, fragte er.
Sie schien aufrichtig erschrocken. »Inwiefern?«
»In allem. Angefangen mit Ihrem Vater.«
»Mein Vater?« Sie war kleinlaut geworden. »Aha. Sie wissen also Bescheid.«
Er presste die Lippen zusammen und nickte. Dann: »Das war eines der Risiken einer Zusammenarbeit mit Calvin. Er ist sehr klug.«
»Er muss irgendwie eine Datenverbindung zu meinem Notepad aufgebaut und auf meine persönlichen Daten zugegriffen haben. Dieser Dreckskerl.«
»Jetzt wissen Sie, wie mir zumute ist. Warum haben Sie das getan, Pascale?«
»Anfangs hatte ich keine andere Wahl. Ich wollte Sie studieren, und ohne meinen wirklichen Namen zu verleugnen, hätte ich niemals Ihr Vertrauen gewonnen. Möglich war es: nur wenige Menschen wissen überhaupt von meiner Existenz und noch weniger kennen mein Aussehen.« Sie hielt inne. »Und es hat doch geklappt, nicht wahr? Sie haben mir vertraut. Und ich habe Ihr Vertrauen nicht missbraucht.«
»Ist das auch wirklich wahr? Haben Sie Nils nie etwas verraten, was ihm hätte nützen können?«
Sie sah ihn gekränkt an. »Man hatte Sie vor dem Umsturz gewarnt, wissen Sie nicht mehr? Wenn jemand betrogen wurde, dann war es mein Vater.«
Er suchte eher halbherzig nach Argumenten, um ihre Sicht der Dinge zu widerlegen. Vielleicht hatte sie ja Recht. »Und die Biografie?«
»Das war die Idee meines Vaters.«
»Ein Mittel, um mich in Verruf zu bringen?«
»Die Biografie enthält nur die reine Wahrheit — oder Sie wissen mehr als ich.« Sie hielt inne. »Inzwischen ist sie fast reif zur Veröffentlichung. Calvin war mir eine große Hilfe. Sind Sie sich im Klaren darüber, dass diese Biografie das erste größere literarische Werk ist, das auf Resurgam verfasst wurde? Natürlich nach den Amarantin.«
»Und sie ist tatsächlich ein Kunstwerk. Wollen Sie unter Ihrem richtigen Namen veröffentlichen?«
»So war es von vornherein geplant. Ich hatte natürlich gehofft, dass Sie mir nicht vorher auf die Schliche kommen würden.«
»Machen Sie sich keine Sorgen. Unsere gemeinsame Arbeit wird dadurch nicht beeinträchtigt, glauben Sie mir. Schließlich wusste ich immer, dass Nils als Autor im Hintergrund steht.«
»Das macht es Ihnen leichter, nicht wahr? Meiner Arbeit jegliche Bedeutung abzusprechen?«
»Haben Sie die Daten, die Sie mir versprochen hatten?«
»Ja.« Sie reichte ihm eine Karte. »Ich pflege Wort zu halten, Doktor. Aber ich fürchte sehr, dass ich jetzt auch noch den letzten Rest von Respekt vor Ihnen verliere.«
Sylveste nahm die Karte zwischen Daumen und Zeigefinger und bog sie hin und her. Die Ergebnisse der Electron-Messung scrollten über die Oberfläche. Das Bild, das hinter den Zahlen stand, fesselte ihn so sehr, dass er sich nur teilweise auf das Gespräch mit Pascale konzentrieren konnte. »Als Ihr Vater mir zum ersten Mal von der Biografie erzählte, sagte er, der Autor sei eine Verehrerin von mir, deren Illusionen nur darauf warteten, zerstört zu werden.«
Sie stand auf. »Wir verschieben das Ganze besser auf ein anderes Mal.«
»Nein, warten Sie.« Sylveste griff nach ihrer Hand. »Es tut mir Leid. Ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Verstehen Sie?«
Sie zuckte vor seiner Berührung zurück und entspannte sich nur langsam. Ihr Blick blieb wachsam. »Worüber?«
»Darüber.« Er klopfte mit dem Daumen auf die Analyse. »Es ist sehr interessant.«
Volyovas Shuttle befand sich im Anflug auf eine Werft unweit des Lagrange-Punkts zwischen Yellowstone und seinem Mond Marcos Auge. Etwa ein Dutzend Lichtschiffe parkten dort, mehr als Khouri in ihrem ganzen Leben auf einmal gesehen hatte. Im Zentrum der Werft befand sich ein größeres Karussell; am Rand des Rades hingen wie ein Wurf Ferkel viele kleinere Schiffe für den interplanetaren Verkehr. Einige Lichtschiffe hingen in Gitterkonstruktionen, um Ihre Eisschilde oder ihren Synthetiker-Antrieb generalüberholen zu lassen. Auch Synthetiker-Schiffe waren darunter; schnittig und schwarz, als wären sie aus dem gleichen Material gemacht wie das Weltall. Der Rest der Raumschiffe trieb im Grunde ziellos auf einer langsamen Umlaufbahn um das Schwerkraftzentrum des Lagrange-Punkts. Khouri vermutete, dass für den Parkbetrieb komplizierte Verkehrsregeln existierten. Wer wem ausweichen musste, um eine Kollision zu vermeiden, die jeder Computer schon Tage im Voraus hätte berechnen können, war sicher genauestens vorgeschrieben. Der Aufwand an Treibstoff, um ein Schiff vom Kollisionskurs abzubringen, war unbedeutend im Verhältnis zu den Gewinnspannen, mit denen ein normales Handelsschiff bei einem Zwischenstopp rechnete… aber ein Gesichtsverlust wäre schwerer zu verkraften. Um Sky’s Edge hatten nie so viele Schiffe geparkt, doch selbst dort hatte sie gehört, dass Besatzungen wegen der Parkhierarchie und der Handelsprivilegien in Streit gerieten. Viele Planetenhocker betrachteten die Ultras fälschlicherweise als in sich homogene Untergruppe der Menschheit. In Wahrheit gab es ebenso viele Splittergruppen, die einander nicht über den Weg trauten, wie in allen anderen Schichten der Menschheit.
Volyovas Schiff war jetzt ganz nahe.
Wie alle Lichtschiffe hatte es eine geradezu unglaubliche Stromlinienform. Im All herrschten nur bei langsamen Geschwindigkeiten annähernd Vakuumbedingungen. Nahe der Lichtgeschwindigkeit — und so flogen diese Schiffe die meiste Zeit — rasten sie wie durch einen pfeifenden Sturm. Deshalb waren sie gebaut wie ein Dolch: der konische Rumpf verjüngte sich zu einem nadelspitzen Bug, der das interstellare Medium durchstieß, zwei mit Tragholmen am Heck befestigte Synthetiker-Triebwerke bildeten den verschnörkelten Griff. Das Ganze war von einem Eispanzer umgeben, der wie ein Diamant glitzerte. Als das Shuttle nun auf Volyovas Schiff hinabstieß, bekam Khouri einen flüchtigen Eindruck von seiner ungeheuren Größe. Es war, als flöge man über eine Stadt. Dann öffnete sich eine Irisblende und legte eine erleuchtete Andockbucht frei. Volyova lenkte das Schiff mit wenigen, fachmännisch dosierten Schüben der Steuerdüsen darauf zu und setzte es auf einen Schlitten. Khouri hörte Verbindungskabel und Anschlüsse mit dumpfem Klicken einrasten.
Volyova schnallte sich als Erste ab. »Wollen wir an Bord gehen?«, fragte sie nicht ganz so zuvorkommend, wie Khouri erwartet hätte.
Sie stießen sich ab und schwebten durch das Shuttle und hinaus in den geräumigen Verbindungsgang. Noch waren sie im freien Fall, aber am Ende des Korridors sah Khouri eine komplizierte Vorrichtung zur Verbindung von stationären und rotierenden Schiffsteilen.
Ihr wurde ganz flau im Magen, aber das ging Volyova nun wirklich nichts an.
»Bevor wir weitergehen«, sagte die Ultra-Frau, »muss ich Ihnen jemanden vorstellen.«
Sie schaute über Khouris Schulter zu dem Shuttle zurück, das sie an Bord gebracht hatte. Khouri hörte ein leises Scharren: jemand zog sich Hand über Hand an den Geländern entlang, die um den Korridor herum angebracht waren. Das konnte nur bedeuten, dass eine dritte Person mit im Shuttle gewesen war.
Hier stimmte etwas nicht.
Volyova benahm sich nicht so, als wolle sie eine potenzielle neue Untergebene beeindrucken. Was Khouri dachte, schien ihr ziemlich gleichgültig zu sein, so als spiele es keine Rolle. Khouri sah sich um und erkannte den Komuso, der den Fahrstuhl mit ihnen geteilt hatte. Sein Gesicht war unter dem Weidenhelm der Mönchstracht nicht zu erkennen. Die Shakuhachi ruhte in seiner Armbeuge.
Khouri setzte zum Sprechen an, doch Volyova winkte ab. »Willkommenen Bord der Sehnsucht nach Unendlichkeit, Ana Khouri. Von diesem Augenblick an sind Sie unser neuer Waffenoffizier.« Dann nickte sie dem Komuso zu. »Tun Sie mir doch bitte einen Gefallen, Triumvir.«
»Sie wünschen?«
»Schlagen Sie sie nieder, bevor sie einen von uns zu töten versucht.«
Khouri sah den Bambusstab herabsausen wie einen goldenen Blitz, dann wurde es dunkel um sie.
Sylveste glaubte, Pascales Parfüm zu riechen, bevor er sie mit den Augen in der Menge vor dem Gefängnisgebäude entdeckte. Er wollte unwillkürlich auf sie zu eilen, aber die beiden stämmigen Milizsoldaten, die ihn aus seiner Zelle geholt hatten, hielten ihn zurück. Die Menge hinter der Absperrung empfing ihn mit Pfiffen und gedämpften Beschimpfungen, aber das nahm er nur am Rande wahr.
Pascale begrüßte ihn mit einem Kuss, schirmte aber die Berührung ihrer Lippen taktvoll mit ihrem Spitzenhandschuh ab.
»Keine Fragen«, flüsterte sie so leise, dass die Worte fast im Lärm der Menge untergingen. »Ich weiß ebenso wenig wie du, was du hier sollst.«
»Steckt Nils dahinter?«
»Wer sonst? Nur er hat die Macht, dich für mehr als einen Tag herauszuholen.«
»Schade, dass er nicht so scharf darauf ist, mich an der Rückkehr zu hindern.«
»Ach, wer weiß — aber er muss seine eigenen Leute und die Opposition beschwichtigen. Du solltest wirklich langsam aufhören, ihn als deinen ärgsten Feind zu betrachten.« Sie stiegen in den wartenden Wagen. Hier herrschte tiefe Stille. Der Wagen war ursprünglich eines der kleineren Erkundungsfahrzeuge gewesen. Vier Ballonreifen trugen den windschnittigen Rumpf, die Funkanlage war in einem mattschwarzen Höcker auf dem Dach untergebracht. Die Karosserie war im Violett der Fluter lackiert, und vorne flatterten zwei Wimpel mit Hokusai-Wellen.
»Wenn mein Vater nicht gewesen wäre«, fuhr Pascale fort, »hättest du den Umsturz nicht überlebt. Er hat dich vor deinen schlimmsten Gegnern beschützt.«
»Das macht ihn nicht gerade zu einem fähigen Revolutionär.«
»Und was besagt es über das Regime, das er stürzen konnte?«
Sylveste zuckte die Achseln. »Der Punkt geht wohl an dich.«
Ein Soldat kletterte auf den Vordersitz hinter der Panzerglaswand, der Wagen setzte sich in Bewegung und raste durch die Menge auf den Stadtrand zu. Sie durchquerten eine Baumschule und fuhren auf einer der Rampen am Kuppelrand in die Tiefe. Zwei weitere Regierungsfahrzeuge begleiteten sie, ebenfalls ehemalige Erkundungswagen, aber schwarz lackiert und mit maskierten Milizsoldaten mit geschulterten Gewehren auf den Beifahrersitzen. Nachdem der Konvoi etwa einen Kilometer weit durch einen unbeleuchteten Tunnel gefahren war, erreichte er eine Luftschleuse und hielt an. Die atembare Stadtluft wurde durch Resurgams Atmosphäre ersetzt. Die Soldaten zogen sich Atemmasken und Schutzbrillen über das Gesicht, ohne ihre Plätze zu verlassen. Dann fuhren die Wagen wieder an und kehrten an die Oberfläche zurück. Graues Tageslicht empfing sie. Sie waren von Betonmauern umgeben und fuhren über eine breite, von grünen und roten Lichtern begrenzte Bahn.
Auf dem Vorfeld erwartete sie ein Flugzeug mit ausgefahrenem Fahrgestell. Die Flügelunterseiten leuchteten unangenehm grell, sie hatten bereits begonnen, die angrenzenden Luftschichten zu ionisieren. Der Fahrer griff in ein Fach am Armaturenbrett, holte Atemmasken heraus, reichte sie durch das Schutzgitter nach hinten und bedeutete seinen Fahrgästen, sie über das Gesicht zu ziehen.
»Sie müssen nicht«, sagte er. »Der Sauerstoffgehalt ist um zweihundert Prozent gestiegen, seit Sie Resurgam City zum letzten Mal verlassen haben, Dr. Sylveste. Einige Leute haben bis zu einer halben Stunde ohne Maske geatmet, ohne dauernde Schäden davonzutragen.«
»Das müssen die Dissidenten sein, von denen ich ständig höre«, sagte Sylveste. »Die Renegaten, die von Girardieu während des Umsturzes verraten wurden und angeblich Kontakte zu den Anführern des Wahren Weges in Cuvier pflegen. Ich beneide sie nicht. Der Staub muss ihnen doch nicht nur die Lungen, sondern auch den Verstand verstopfen.«
Der Soldat blieb ungerührt. »Die Staubpartikel werden mit Enzymen ausgespült. Ein altes biotechnisches Verfahren vom Mars. Wie auch immer, die Staubdichte ist gesunken. Wir haben so viel Feuchtigkeit in die Atmosphäre gepumpt, dass die Staubteilchen zusammenkleben und vom Wind nicht mehr so leicht davongetragen werden können.«
»Ausgezeichnet«, lobte Sylveste. »Leider ist und bleibt Resurgam ein elendes Dreckloch.«
Er zog sich die Maske über und wartete, bis die Tür geöffnet wurde. Draußen wehte ein mäßig starker Wind, der nur leicht auf der Haut brannte.
Sie rannten über das Vorfeld.
Das geräumige Flugzeug war eine Oase der Stille. Der prunkvolle Innenraum war in Violett gehalten, der Farbe der Regierung. Die Insassen der anderen Fahrzeuge kamen durch eine zweite Tür an Bord. Sylveste sah, wie Nils Girardieu das Vorfeld überquerte. Er bewegte sich mit wiegenden Schritten, die gleich unter den Schultern ansetzten, als würde ein Stechzirkel Spitze für Spitze über ein Zeichenbrett geführt, und strahlte so viel geballte Kraft aus wie ein auf Menschengröße verpresster Gletscher. Dann war der Führer der Kolonie verschwunden, und wenige Minuten später entstand um den Rand des nächstgelegenen Flügels ein violetter Strahlenkranz aus angeregten Ionen. Das Flugzeug hob ab.
Sylveste schuf sich ein Fenster in der Flugzeugwand und beobachtete, wie Cuvier — oder Resurgam City, wie es inzwischen genannt wurde — unter ihm immer kleiner wurde. Zum ersten Mal seit dem Umsturz, bei dem man auch den französischen Naturalisten Cuvier von seinem Sockel gestürzt hatte, sah er die Stadt als Ganzes. Die alte koloniale Schlichtheit war dahin. Ein schmutziger Schaumrand aus menschlichen Wohnsiedlungen quoll über den Kuppelrand hinaus; luftdichte Gebäude, verbunden durch überdachte Straßen und Fußwege. In einiger Entfernung waren viele kleinere Kuppeln entstanden, unter denen smaragdgrüne Plantagen hervorleuchteten. Weit außerhalb lagen sogar unter freiem Himmel etliche scharf rechtwinklige Felder mit Versuchsorganismen, die nur darauf warteten, auf die Welt losgelassen zu werden.
Das Flugzeug drehte eine Runde über der Stadt, dann nahm es Kurs nach Norden. Ein Netz von Schluchten entrollte sich unter ihnen. Gelegentlich überflogen sie eine kleine Siedlung, normalerweise nur eine undurchsichtige Kuppel oder eine stromlinienförmige Baracke, die für einen Moment im Schein der Flügel aufleuchtete. Zumeist sahen sie nur eine endlose Wildnis ohne Straßen, Rohre oder Stromleitungen.
Sylveste nickte immer wieder ein, während unten tropische Wüsten, Eisfelder und importierte Tundraflächen vorbeizogen. Irgendwann stieg eine Siedlung über den Horizont, und das Flugzeug setzte in trägen Spiralen zur Landung an. Sylveste verschob sein Fenster, um besser sehen zu können.
»Die Gegend kenne ich. Dort haben wir den Obelisken gefunden.«
»Richtig«, sagte Pascale.
Das felsige Gelände war kaum bewachsen. Am Horizont ragten mächtige Gewölberuinen und spektakuläre Felssäulen auf. Alles schien unmittelbar vor dem Zusammenbruch zu stehen. Es gab kaum ebene Stellen, das Gebiet war von tiefen Falten durchzogen wie ein ungemachtes steinernes Bett. Sie überflogen einen ausgehärteten Lavastrom und landeten auf einem sechseckigen Feld inmitten von Gebäuden aus Eisenbeton. Obwohl es erst Mittag war, dämpfte der Staub in der Luft das Sonnenlicht so stark, dass man den Landeplatz mit Scheinwerfern beleuchten musste. Milizsoldaten kamen ihnen entgegengelaufen. Sie hielten sich die Hände vor die Augen, um nicht vom grellen Schein an der Unterseite der Flügel geblendet zu werden.
Sylveste griff nach seiner Maske, sah sie verächtlich an und ließ sie auf dem Sitz liegen. Die paar Schritte bis zum Gebäude würde er auch ohne Hilfe schaffen, und wenn er Schwierigkeiten hatte, ging das niemanden etwas an.
Die Miliz geleitete sie in die Baracke. Sylveste war Girardieu seit Jahren nicht mehr so nahe gewesen. Erschrocken stellte er fest, wie klein ihm sein Gegner inzwischen erschien. Girardieu war so gedrungen wie Schürfbagger. Man traute ihm zu, sich durch massiven Basalt zu fressen. Sein rotes Haar war kurz und borstig und zeigte bereits weiße Fäden. Er schaute mit großen Augen so fragend in die Welt wie ein verschreckter Pekinesenwelpe.
»Was für ein ungewöhnliches Bündnis«, sagte er, nachdem einer der Soldaten die Tür hinter ihnen geschlossen hatte. »Wer hätte gedacht, dass wir beide einmal so viel gemeinsam haben könnten.«
»Es ist weniger, als Sie vielleicht denken«, wehrte Sylveste ab.
Girardieu führte die Gruppe durch einen Stollen mit vielen Verstrebungen. Zu beiden Seiten standen ausrangierte und bis zur Unkenntlichkeit verdreckte Maschinen. »Sie fragen sich sicher, was das alles soll.«
»Ich habe einen gewissen Verdacht.«
Die verwahrlosten Maschinen warfen Girardieus Lachen zurück. »Erinnern Sie sich an den Obelisken, den man hier ausgegraben hat? Natürlich — Sie hatten ja auf die phänomenologischen Schwierigkeiten bei der Trapped Electron-Datierung des Felsgesteins hingewiesen.«
»Ganz richtig«, sagte Sylveste bissig.
Die Messergebnisse waren überwältigend. Die Gitterstruktur natürlicher Kristalle war nie absolut vollkommen. Immer gab es Lücken, wo Atome fehlten, und dort sammelten sich im Lauf der Zeit die Elektronen, die an anderen Gitterstellen durch kosmische Strahlung und natürliche Radioaktivität herausgerissen worden waren. Da sich die Löcher auf diese Weise stetig mit Elektronen füllten, konnte man an Hand der Zahl eingefangener Elektronen auch anorganische Funde datieren. Natürlich hatte die Sache einen Haken: das Verfahren war nur sinnvoll, wenn die ›Elektronenfallen‹ irgendwann in der Vergangenheit einmal ›gebleicht‹ oder geleert worden waren. Zum Glück genügte es, den Kristall zu erhitzen oder dem Licht auszusetzen, um die äußersten Fallen auszubleichen. Eine Trapped Electron-Analyse des Obelisken hatte ergeben, dass alle ›Fallen‹ in den Außenschichten unter Berücksichtigung von Mess-ungenauigkeiten etwa zur gleichen Zeit geleert worden waren, nämlich vor neunhundertneunzigtausend Jahren. Nur eine Katastrophe von der Größe des Ereignisses hätte ein so großes Objekt wie den Obelisken so gründlich bleichen können.
Das war so weit nichts Neues; Tausende von Amarantin-Funden waren mit dem gleichen Verfahren datiert und auf das Ereignis zurückgeführt worden. Aber keines dieser Objekte war gezielt vergraben worden. Den Obelisken hatte man dagegen nach der Leerung der Elektronen ganz bewusst in einen Stein-Sarkophag gelegt.
Nach dem Ereignis.
Diese Erkenntnis war selbst für das neue Regime spektakulär genug, um die Aufmerksamkeit auf den Fund zu lenken. Im Lauf des vergangenen Jahres war auch das Interesse an den Inschriften wieder erwacht. Allein war Sylveste nur zu einer allenfalls vagen Deutung gelangt, doch jetzt kam ihm die übrige Archäologengemeinde zu Hilfe. In Cuvier hatte eine neue Freiheit Einzug gehalten; Girardieus Regierung hatte ihre ablehnende Haltung gegenüber der Amarantin-Forschung gelockert, obwohl der Wahre Weg zunehmend fanatischer dagegen opponierte.
Ein ungewöhnliches Bündnis, wie Girardieu sich ausdrückte.
»Sobald wir eine ungefähre Vorstellung hatten, was der Obelisk uns sagen wollte«, erklärte Girardieu, »haben wir das ganze Gebiet abgesperrt und Grabungen bis in sechzig oder siebzig Metern Tiefe durchgeführt. Wir haben noch Dutzende von weiteren Obelisken gefunden — bei allen waren die Elektronenfallen vor dem Vergraben geleert worden, alle trugen mehr oder weniger die gleichen Inschriften. Sie berichten nicht von einem Ereignis in dieser Gegend. Sie weisen darauf hin, dass hier etwas vergraben wurde.«
»Etwas Großes«, sagte Sylveste. »Etwas, das vor dem Ereignis geplant — vielleicht sogar noch vorher verscharrt worden war. Die Wegweiser wurden erst hinterher angebracht, als letzte kulturelle Großtat einer Gesellschaft am Rand der Vernichtung. Wie groß war es denn, Girardieu?«
»Sehr groß.« Und dann berichtete Girardieu, wie sie das Gebiet zunächst mit einer Reihe von Thumpern untersucht hatten: Geräten zur Erzeugung von seismischen Rayleigh-Wellen, die sich durch den Boden ausbreiteten und auf die Dichte von vergrabenen Objekten reagierten. Sie hätten die größten Thumper gebraucht, sagte Girardieu, das bedeute, dass das Objekt in einer Tiefe liege, die mit dem Verfahren gerade noch zu erreichen sei, also in mehreren hundert Metern. Später hätten sie die empfindlichsten Gravitationsscanner der Kolonie eingesetzt. Erst sie hätten ihnen eine Vorstellung davon vermittelt, wonach sie eigentlich suchten.
Nach einem Objekt von beachtlichen Dimensionen.
»Steht die Grabung mit dem Fluter-Programm in Verbindung?«
»Vollkommen unabhängig davon. Reine wissenschaftliche Forschung, um es anders auszudrücken. Überrascht Sie das? Ich hatte immer versprochen, dass wir das Studium der Amarantin nicht aufgeben würden. Wenn Sie mir schon vor vielen Jahren geglaubt hätten, könnten wir jetzt womöglich gemeinsam gegen den eigentlichen Feind kämpfen — den Wahren Weg.«
Sylveste widersprach. »Vor der Entdeckung des Obelisken zeigten Sie keinerlei Interesse an den Amarantin. Aber der Obelisk hat Sie aufgerüttelt, nicht wahr? Denn das war endlich ein handfester Beweis; nichts, was ich hätte fälschen oder manipulieren können. Diesmal mussten Sie zumindest die Möglichkeit einräumen, dass ich die ganze Zeit Recht gehabt haben könnte.«
Sie traten in einen geräumigen Fahrstuhl mit Plüschsitzen und Fluter-Aquarellen an den Wänden. Eine dicke Metalltür schloss sich mit leisem Summen. Einer von Girardieus Helfern öffnete eine Klappe und drückte auf einen Knopf. Der Fahrstuhl sackte so plötzlich in die Tiefe, dass sich ihnen der Magen umdrehte. Erst allmählich stellte sich der Körper auf die Bewegung ein.
»Wie weit müssen wir hinunter?«
»Nicht weit«, sagte Girardieu. »Nur zweitausend Meter.«
Als Khouri erwachte, hatten sie den Orbit um Yellowstone bereits verlassen. Durch das Bullauge in ihrer Kabine sah der Planet viel kleiner aus als zuvor. Die Region um Chasm City war so winzig wie eine Sommersprosse. Der Rostgürtel war nur ein bräunlicher Rauchring, viel zu weit entfernt, als dass die einzelnen Teile zu unterscheiden gewesen wären. Das Schiff war nicht mehr aufzuhalten: es würde mit 1 Ge stetig beschleunigen, bis es das Epsilon-Eridani-System hinter sich gelassen hatte, und den Antrieb erst um Haaresbreite vor Erreichen der Lichtgeschwindigkeit abschalten. Diese Schiffe wurden nicht zufällig Lichtschiffe genannt.
Man hatte sie hereingelegt.
»Eine Komplikation«, sagte die Mademoiselle nach langen Minuten des Schweigens. »Aber mehr auch nicht.«
Khouri rieb sich die schmerzhafte Beule am Hinterkopf, wo der Komuso — sie wusste inzwischen, dass er Sajaki hieß — sie mit seiner Shakuhachi getroffen hatte.
»Was meinen Sie mit ›Komplikation‹?«, schrie sie. »Man hat mich shanghait, blödes Weib!«
»Etwas leiser, liebes Kind. Man weiß hier nichts von meiner Existenz, und ich sehe keinen Anlass, daran etwas zu ändern.« Das entoptische Bild lächelte ruckartig. »Im Moment bin ich wahrscheinlich die beste Freundin, die Sie haben. Sie sollten alles tun, um unser gemeinsames Geheimnis zu bewahren.« Sie betrachtete ihre Fingernägel. »Und jetzt gehen wir mit Vernunft und Logik an die Sache heran. Was war unser Ziel?«
»Das wissen Sie nur zu gut.«
»Ja. Wir wollten Sie in die Besatzung einschleusen, um Sie so nach Resurgam zu bringen. Welchen Status haben Sie jetzt?«
»Diese verdammte Volyova nennt mich unentwegt ihre ›Neue‹.«
»Mit anderen Worten, die Infiltration war ein voller Erfolg.« Sie wanderte jetzt lässig durch den Raum. Eine Hand hatte sie in die Hüfte gestützt, mit dem Zeigefinger der anderen klopfte sie sich gegen die Unterlippe. »Und wohin ist das Schiff unterwegs?«
»Es spricht nichts dagegen, dass unser Ziel nach wie vor Resurgam heißt.«
»Damit ist nichts Wesentliches geschehen, was den Erfolg der Mission gefährden könnte.«
Khouri hätte die Frau am liebsten erwürgt, aber ebenso gut hätte sie versuchen können, eine Luftspiegelung zu erwürgen. »Haben Sie sich schon einmal überlegt, dass die Leute hier vielleicht eigene Pläne haben? Wissen Sie, was diese Volyova sagte, bevor ich niedergeschlagen wurde? Sie sagte, ich sei der neue Waffenoffizier. Was mag sie damit wohl gemeint haben?«
»Es erklärt immerhin, warum sie Wert auf militärische Erfahrungen legte.«
»Und wenn ich mich weigere, bei ihren Plänen mitzumachen?«
»Das würde sie wohl kaum stören.« Die Mademoiselle blieb stehen und wählte aus ihrem mimischen Sortiment eine sachlich-neutrale Miene. »Es sind nämlich Ultras. Ultras haben Zugang zu Techniken, die auf Kolonialwelten verboten sind.«
»Zum Beispiel?«
»Gewisse Verfahren zur Manipulation von Loyalität könnten dazu gehören.«
»Wie schön, dass ich diese wichtige Information so früh bekomme, vielen Dank.«
»Keine Sorge — diese Möglichkeit hatte ich immer berücksichtigt.« Die Mademoiselle hielt inne und fasste sich an den Kopf. »Ich habe entsprechende Vorkehrungen getroffen.«
»Darüber bin ich sehr erleichtert.«
»Das Implantat, das ich Ihnen eingesetzt habe, kann Antigene gegen neurale Nanomaschinen erzeugen. Außerdem strahlt es unterschwellige Verstärkungsbotschaften in Ihr Unterbewusstsein ab. Damit wird Volyovas Loyalitätstherapie vollständig neutralisiert.«
»Und warum haben Sie mir dann überhaupt davon erzählt?«
»Weil Sie, mein liebes Kind, Volyova überzeugen müssen, dass ihre Behandlung wirkt, wenn sie erst einmal damit angefangen hat.«
Die Fahrt dauerte nur wenige Minuten, Luftdruck und Temperatur wurden auf Oberflächenwerten gehalten. Der Schacht, in dem die Kabine fuhr, war zehn Meter breit und hatte Wände aus Diamant. Gelegentlich passierten sie Nischen, Fächer zur Aufbewahrung von Werkzeug, kleine Baubuden oder Ausweichstellen, wo zwei Kabinen aneinander vorbeifahren konnten, bevor sie ihren Weg fortsetzten. Der Diamant wurde von Servomaten bearbeitet, die aus ihren Spinndüsen Fäden von der Dicke eines Atoms pressten. Diese Fäden legten sich, geführt von proteingroßen Molekularmaschinen genau an den richtigen Platz. Wenn man durch die Glasdecke der Kabine schaute, schien der trübe Schacht kein Ende zu nehmen.
»Warum haben Sie mir nichts von dem Fund erzählt?«, fragte Sylveste. »Sie sind doch schon seit Monaten hier.«
»Sagen wir einfach, Ihr Beitrag war nicht unverzichtbar«, versetzte Girardieu und fügte dann hinzu: »Das heißt, bis jetzt.«
Am Grund des Schachts angelangt, verließen sie den Fahrstuhl und betraten wieder einen Gang. Der war mit Silber verkleidet und wirkte sauberer und kühler als der am oberen Ende. Durch Fenster an der Längsseite konnte man in eine Höhle von ungeheurer Größe sehen, die voll war mit geodätischen Gerüsten und Werksgebäuden. Sylvestes Augen konnten jedes Bild festhalten, aufbereiten und zehn Schritte später vergrößern. Im Geiste sagte er Calvin widerwillig Dank.
Was er sah, ließ sein Herz höher schlagen.
Jetzt passierten sie eine gepanzerte Doppeltür, die von entoptischen Figuren — züngelnden Schlangen, die die Gruppe drohend anzischten — bewacht wurde, und traten in einen Vorraum. Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine zweite, von Soldaten flankierte Tür. Girardieu winkte die Wachen beiseite, dann wandte er sich an Sylveste. Sein Pekinesengesicht mit den runden Augen erinnerte plötzlich an das Bild eines Feuer speienden japanischen Teufels.
»An diesem Punkt«, sagte Girardieu, »verlangen die Besucher entweder ihr Geld zurück oder sie verharren in andächtigem Schweigen.«
»Ich lasse mich gern beeindrucken«, scherzte Sylveste so lässig, wie er nur konnte. Aber sein Puls raste und innerlich fieberte er vor Aufregung.
Girardieu öffnete die rückwärtigen Türen. Sie betraten einen Raum, der etwa halb so groß war wie der Frachtaufzug. Er war leer, nur in die Wand war eine Reihe von einfachen Schreibpulten eingelassen. Auf einem lag ein Kopfhörer mit Rundum-Mikrofon neben einem Notepad, auf dessen Bildschirm fein gestrichelte technische Zeichnungen zu sehen waren. Die Wände waren nach außen geneigt, so dass die Deckenfläche größer war als der Fußboden. Dadurch und durch die riesigen Glasfenster auf drei Seiten kam sich Sylveste vor wie in der Gondel eines Luftschiffs, das unter einem Sternenlosen Nachthimmel über einem unbekannten Ozean schwebte.
Girardieu löschte das Licht, so dass sie sehen konnten, was hinter dem Glas lag.
An der Decke des Nebenraums waren Scheinwerfer mit langen, geschwungenen Armen befestigt. Sie beleuchteten ein Amarantin-Artefakt, das aus der nahezu glatten Höhlenwand hervortrat, eine tiefschwarze, von Montagetürmen und geodätischen Gerüsten umgebene Halbkugel. Noch hafteten raue Magmaklumpen an der Oberfläche, doch wo man sie bereits weggeschlagen hatte, war der Untergrund über weite Flächen so glatt und schwarz wie Obsidian. Die Grundform war eine Kugel von mindestens vierhundert Metern Durchmesser, die allerdings noch mehr als zur Hälfte im Boden steckte.
»Wissen Sie, wer das gemacht hat?«, flüsterte Girardieu endlich und fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Es ist älter als die menschliche Sprache, aber mein Ehering hat mehr Kratzer.«
Girardieu führte die Gruppe zum Fahrstuhl zurück, denn die Baustelle auf dem Boden der Höhle lag noch etwas tiefer. Die Fahrt dauerte höchstens dreißig Sekunden, aber für Sylveste verging sie so quälend langsam wie eine homerische Odyssee. Das Artefakt war sozusagen seine ganz persönliche Belohnung; so schwer verdient, als hätte er es eigenhändig mit blutigen Fingern aus der Erde gescharrt. Dann stand er endlich davor und über ihm ragte die felsverkrustete Wölbung frei in die Luft. Eine flache Vertiefung lief schräg um das ganze Artefakt. Von da, wo er stand, wirkte sie nur wie ein Haarriss, aber in Wirklichkeit war sie etwa einen Meter breit und wahrscheinlich ebenso tief.
Girardieu führte sie ins Innere des nächsten Keils: eine Betonkonstruktion mit eigenen Räumen und Arbeitsbereichen, die direkt an das Objekt angebaut war. Von dort fuhren sie mit einem weiteren Fahrstuhl in das Gerüstlabyrinth hinauf, das aus dem Gebäude hervorspross. Sylveste spürte ein Kribbeln im Magen, eine Mischung aus Klaustro- und Agoraphobie. Einerseits fürchtete er, von den Megatonnen von Gestein Hunderte von Metern über seinem Kopf erdrückt zu werden, andererseits schüttelte ihn auf dem himmelhohen Gerüst an der Seite des Objekts die Höhenangst.
Kleine Baracken und Werkzeugschuppen schwebten im geodätischen Tragwerk. Vor einer dieser Buden hielt der Fahrstuhl an. Sie stiegen aus und betraten Räume, die noch spüren ließen, welch reges Treiben bis vor kurzem hier geherrscht hatte. Alle Warnsignale und Notizen waren aufgeklebt oder aufgemalt, für Entoptik-Generatoren waren die Einrichtungen noch zu behelfsmäßig.
Sie überquerten eine schwankende Trägerbrücke, die sich durch einen Wirrwarr von Gerüsten der schwarzen Hülle des Amarantin-Artefakts entgegenstreckte. Jetzt befanden sie sich etwa in der Mitte, auf gleicher Höhe mit der Rinne. Die Kugelform des Objekts war aus dieser geringen Entfernung nicht mehr zu erkennen. Es erschien wie eine einzige schwarze Wand, die ihnen den Weg versperrte. Genau so riesig und ohne Tiefe war Sylveste auch Lascailles Schleier erschienen, nachdem er Spindrift verlassen hatte. Sie gingen auf der Brücke weiter und betraten die Rinne.
Der Weg bog sofort nach rechts ab. Auf drei Seiten — links, oben und unten — waren sie von den unheimlich glatten, schwarzen Wänden umgeben. Unter den Füßen hatten sie einen Gittersteg, der mit Saugfüßen am Boden befestigt war. Das fremde Material war so glatt, dass man darauf kaum Halt gefunden hätte. Rechts befand sich ein hüfthohes Schutzgeländer, und dahinter ging es mehrere hundert Meter weit ins Nichts. An der Innenwand waren in Abständen von fünf bis sechs Metern mit Epoxidpunkten Lampen befestigt und etwa alle zwanzig Meter tauchte eine Tafel mit rätselhaften Symbolen auf.
Nachdem sie drei bis vier Minuten lang die steile Rinne hinaufgestiegen waren, blieb Girardieu stehen. Vor ihnen befand sich ein Knotenpunkt, ein heilloses Gewirr aus Stromleitungen, Lampen und Kommunikationsschaltpulten. Die linke Wand der Vertiefung wich hier nach innen zurück.
»Wir haben Wochen gebraucht, um den Eingang zu finden«, erklärte Girardieu. »Ursprünglich war die ganze Rinne mit Basalt verschüttet. Erst nachdem wir alles herausgeschlagen hatten, stellten wir fest, dass dies die einzige Stelle war, wo sich der Basalt nach innen fortsetzte, als blockiere er dort einen Stichtunnel, der in die Rinne mündete.«
»Wie man sieht, waren Sie fleißig wie die Biber.«
»Das Graben war Schwerarbeit«, bestätigte Girardieu mit einem Nicken. »Die Rinne war vergleichsweise leicht freizulegen, aber hier hatten wir nur ein kleines Loch, durch das wir nicht nur bohren, sondern auch den Abraum wegschaffen mussten. Einige von uns wollten mit Boser-Brennern Nebengänge bohren, um sich die Arbeit zu erleichtern, aber so weit sind wir nie gegangen. Und mit unseren Mineralbohrern war dem Zeug nicht beizukommen.«
Sylvestes wissenschaftliches Interesse erwies sich als stärker als der Wunsch, sich über Girardieus rührende Versuche, ihn zu beeindrucken, lustig zu machen. »Wissen Sie, was für ein Material das ist?«
»Im Grunde nichts anderes als Kohlenstoff vermischt mit Eisen und Niobium und einigen seltenen Metallen in Spurenelementen. Aber die Struktur ist uns unbekannt. Es handelt sich nicht einfach um ein Diamant-Allotrop, das wir noch nicht entdeckt haben, auch nicht um Hyperdiamant. Die obersten Zehntelmillimeter haben vielleicht einige Ähnlichkeit mit Diamant, aber weiter unten durchläuft das Zeug eine komplexe Gittertransformation. Die endgültige Form — in viel größerer Tiefe, als wir bisher unsere Proben entnommen hatten — ist womöglich gar kein echter Kristall. Es könnte sein, dass das Gitter in Trillionen von Makromolekülen mit hohem Kohlenstoffanteil zerfällt, die zu einer koaktiven Masse zusammengeschlossen sind. Manchmal scheinen sich diese Moleküle an defekten Gitterstrukturen zur Oberfläche vorzuarbeiten und nur in diesem Fall bekommen wir sie überhaupt zu sehen.«
»Das klingt ja fast nach einer zielgerichteten Bewegung.«
»Könnte schon sein. Vielleicht sind die Moleküle so etwas wie kleine Enzyme, die dafür ausgerüstet sind, die Diamantkruste zu reparieren, wenn sie beschädigt wurde.« Er zuckte die Achseln. »Aber wir konnten noch keines dieser Makromoleküle isolieren, wenigstens nicht in stabiler Form. Sobald man sie aus dem Gitter entfernt, geht die Kohärenz verloren. Sie fallen auseinander, bevor wir ins Innere schauen können.«
»Was Sie da beschreiben«, sagte Sylveste, »klingt verdächtig nach einer Form von Molekulartechnik.«
Girardieu lächelte, wie um zu zeigen, dass er bereit war, das Versteckspiel mitzumachen.
»Aber wir wissen natürlich, dass die Amarantin dafür viel zu primitiv waren.«
»Natürlich.«
»Natürlich.« Wieder lächelte Girardieu, aber diesmal bezog er die ganze Gruppe mit ein. »Wollen wir den Vorstoß nach innen wagen?«
Das Tunnelsystem, das von der Rinne ins Innere führte, war unübersichtlicher, als Sylveste zunächst gedacht hatte. Er war davon ausgegangen, dass der Stichtunnel die Außenhülle durchstoßen und in einem Hohlraum im Zentrum enden würde. Aber das war ein Irrtum. Das ganze Artefakt war ein einziges Labyrinth. Etwa zehn Meter weit führte der Tunnel tatsächlich auf den Mittelpunkt zu, doch dann machte er eine Biegung nach links und zerfiel bald in unzählige Äste. Die einzelnen Wege waren mit farbigen Klebeetiketten gekennzeichnet, aber der Farbcode war so kompliziert, dass Sylveste nicht viel damit anfangen konnte. Schon nach fünf Minuten war er völlig verwirrt, obwohl er den Verdacht hatte, dass sie noch nicht sehr weit vorgedrungen waren. Das Tunnelsystem kam ihm vor wie das Werk einer Made, die so verrückt war, sich nur mit der Schicht des Apfels direkt unter der Schale zu begnügen. Doch dann durchquerten sie einen regelrechten Riss in der Struktur, und Girardieu erklärte, das Artefakt bestehe aus einer Reihe von konzentrischen Schalen. Während sie sich durch das nächste verwirrende Tunnelsystem kämpften, unterhielt er sie mit zweifelhaften Anekdoten über die ersten Erkundungsexpeditionen.
Bekannt war das Objekt seit zwei Jahren — seit Sylveste Pascale darauf aufmerksam gemacht hatte, dass der Obelisk seltsamerweise erst nach dem Ereignis vergraben worden war. Die Freilegung der Höhle hatte fast die ganze Zeit in Anspruch genommen, zu genaueren Untersuchungen des Labyrinths im Innern war man erst in den letzten Monaten gekommen. Ganz zu Anfang hatte es einige Todesfälle gegeben. Die Umstände waren, wie sich mit der Zeit herausstellte, nicht weiter mysteriös. Etliche Teams hatten sich in unmarkierten Bereichen des Tunnelsystems verirrt und waren da, wo noch keine Schutzgitter angebracht waren, in senkrechte Schächte gestürzt. Eine Arbeiterin war verhungert, als sie sich zu weit vorwagte, ohne eine Brotkrumenspur zu hinterlassen — zwei Monate nach ihrem Verschwinden wurde sie von Servomaten gefunden. Sie war, manchmal nur Minuten von den sicheren Zonen entfernt, im Kreis herumgelaufen.
Als sie die letzte der konzentrischen Schalen erreichten, gingen sie langsamer und registrierten alles genauer als vorher. Der Tunnel führte steil abwärts und lief schließlich horizontal aus. Am Ende dieses Abschnitts sahen sie milchig-trübes Licht schimmern.
Girardieu sprach in seinen Ärmel, und das Licht wurde schwächer.
Im Halbdunkel gingen sie weiter. Das Echo ihrer Atemzüge wurde allmählich schwächer — der enge Gang weitete sich. Jetzt war nur noch das mühsame Schnarren der Luftpumpen zu hören.
»Achtung«, sagte Girardieu. »Jetzt kommt es.«
Das Licht ging wieder an, und Sylveste wappnete sich gegen die unvermeidliche Desorientierung. Diesmal nahm er Girardieu seinen Hang zur Theatralik nicht übel, denn er erlaubte ihm, in der Vorstellung zu schwelgen, er würde den Fund noch einmal entdecken. Natürlich war das Ersatzbefriedigung, aber das wusste nur er. Er missgönnte den anderen ihren Triumph nicht. Das wäre kleinlich gewesen, denn schließlich würden sie nie erleben, wie wahre Entdeckerfreude sich anfühlte. Er wollte sie schon fast bedauern, doch in diesem Moment enthüllten die aufflammenden Lichter einen Anblick, der jeden normalen Gedanken auslöschte. Sie standen in einer Alien-Stadt.