Neunundzwanzig

Cerberus/Hades,

an der Heliopause von Delta Pavonis

2566


»Wir wissen nur«, sagte Sylveste, »dass Volyovas Waffe in die äußere Haut des Planeten eingedrungen ist; vielleicht bis hinunter zu den Maschinen, die ich bei meiner ersten Erkundung gesehen habe.«

Seit der Verankerung des Brückenkopfes waren etwa fünfzehn Stunden vergangen. Volyova war die ganze Zeit untätig geblieben und hatte sich bis jetzt geweigert, den ersten ihrer mechanischen Spione loszuschicken.

»Diese Maschinen haben offenbar die Aufgabe, die Kruste zu warten, Reparaturen durchzuführen, wenn sie durchstoßen wird, die Illusion von Echtheit aufrechtzuerhalten und Rohmaterial zu sammeln, wenn ein geeignetes Objekt vorbeikommt. Außerdem bilden sie die vorderste Verteidigungslinie.«

»Aber was liegt darunter?«, fragte Pascale. »In der Nacht, als du angegriffen wurdest, war die Sicht schlecht. Ich glaube nicht, dass sie einfach auf dem Grundgestein stehen, dass sich unter der künstlichen Fassade ein echter Felsenplanet befindet.«

»Wir werden es bald erfahren«, sagte Volyova und presste die Lippen zusammen.

Ihre Spione waren von geradezu lächerlicher Einfachheit; primitiver noch als die Roboter, die Sylveste und Calvin zu Beginn ihrer Arbeit am Captain eingesetzt hatten. Auch das war Teil ihrer Philosophie, wonach Cerberus keine fortgeschrittenere Technik zu sehen bekommen sollte, als im jeweiligen Stadium unbedingt nötig war. Die Drohnen konnten in großer Zahl vom Brückenkopf produziert werden, die Masse sollte den Mangel an allgemeiner Intelligenz aufwiegen. Sie waren faustgroß und hatten nur so viele Gliedmaßen, um sich eigenständig fortbewegen zu können, und nur so viele Augen, um ihre Existenz zu rechtfertigen. Gehirne hatten sie nicht; nicht einmal einfache Netze mit ein paar tausend Neuronen; nicht einmal Systeme, neben denen durchschnittliche Insekten wie wahre Intelligenzbestien erschienen wären. Dafür hatten sie kleine Spinndüsen, die isolierte Optikfasern auspressten. Die Drohnen wurden von Volyovas Brückenkopf gesteuert; alle Befehle und alles, was sie sahen, wurde durch diese Kabel hin und her geschickt. Dadurch war ein gewisses Maß an Abhörsicherheit gewährleistet.

»Ich glaube, wir werden noch eine zweite Maschinenebene finden«, sagte Sylveste. »Vielleicht auch eine zweite Schicht mit Verteidigungsanlagen. Aber darunter muss irgendetwas liegen, was diesen Aufwand rechtfertigt.«

»Tatsächlich?«, fragte Khouri. Sie hielt ihr Plasmagewehr seit Beginn der Besprechung drohend auf ihn gerichtet. »Gehen Sie damit nicht vielleicht von unzulässigen Voraussetzungen aus? Sie tun so, als gäbe es da drin einen kostbaren Schatz, der vor unseren schmutzigen Fingern geschützt werden soll. Nur dazu sei die ganze Tarnung da: um uns Affen fern zu halten. Aber wenn es nun gar nicht so wäre? Wenn nun unter der Kruste ein Ungeheuer lauerte?«

»Sie könnte Recht haben«, sagte Pascale.

Sylveste betrachtete das Gewehr.

»Nur keine Selbstüberschätzung. Es gibt keine Möglichkeit, die ich nicht in Betracht gezogen hätte«, sagte er, ohne Rücksicht darauf, welche von den beiden Frauen die Bemerkung auf sich bezog.

»Das hätte ich auch niemals angenommen«, sagte Khouri.

Neunzig Minuten nachdem die erste Spionagedrohne ihr Kabel abgespult und durch die Öffnung in den Raum unter der Kruste gefallen war, bekam Sylveste einen ersten Eindruck von dem, was ihn erwartete. Anfangs wusste er gar nicht, was er da sah. Die Drohnen wurden überragt von den Riesenschlangen, die — beschädigt oder vielleicht auch tot — wie die Arme und Beine gefallener Götter in riesigen Haufen wild durcheinander lagen. Wie viele Funktionen diese riesigen Maschinen tatsächlich ausübten, wusste niemand, aber die Integrität der Außenkruste hatte vermutlich oberste Priorität. Wahrscheinlich wurden in ihrem Innern auch die Molekularwaffen aktiviert, bevor sie auf Neuankömmlinge losgelassen wurden. Natürlich war auch die Kruste selbst eine Maschine, aber sie war in ihrer Wirkungsweise dadurch eingeschränkt, dass sie aussehen musste wie ein Planet. Die Schlangen waren von solchen Zwängen frei.

Es war nicht so dunkel, wie Sylveste erwartet hatte, obwohl die Wunde in der Kruste durch den Brückenkopf jetzt so abgedichtet war, dass von oben kein Licht mehr eindringen konnte. Dafür ging von den Schlangen selbst ein silbriges Leuchten aus, das an die biolumineszenten Bakterien in den Eingeweiden eines Tiefseebewohners erinnerte. Ob dieses Licht irgendeinem Zweck diente, war nicht zu erkennen. Vielleicht war es nur ein Nebenprodukt der amarantinischen Nanotechnik. Jedenfalls sah man dadurch kilometerweit — bis dahin, wo die Wölbung der Kruste und die Ebene mit den Schlangen sich berührten. Die gewölbte Decke wurde in unregelmäßigen Abständen von knorrigen, im Boden verwurzelten Gebilden gestützt, die wie Baumstämme aussahen. Man glaubte sich fast in einem tiefen, mondbeschienenen Wald. Der Himmel war nicht zu sehen, und der Boden verschwand unter dichtem Unterholz, denn die Wurzeln der ›Baumstämme‹ waren vielfach ineinander verwachsen und bedeckten den eigentlichen Untergrund mit einer graphitschwarzen Matrix.

»Was mag sich wohl darunter verbergen?«, überlegte Sylveste.

Volyova dachte an Kindsmord. Man kam nicht daran vorbei: wenn sie dem Brückenkopf die Informationen vorenthielt, die er brauchte, um immer neue Waffen gegen die von Cerberus eingesetzte Maschinerie zu entwickeln, verurteilte sie ihn zu einem langsamen Tod. Ohne die notwendigen Aktualisierungen vom Schiff konnten die Bauvorschriften der Molekularwaffen im Kern des Brückenkopfs den Erfordernissen nicht angepasst werden. Sie blieben statisch; konnten nur Sporen erzeugen, die seit mehr als zweihundert Jahren veraltet waren; hatten dem unaufhaltsamen, stumpfsinnigen Fortschrittsmarsch der fremden Verteidigungseinrichtungen nichts entgegenzusetzen. Ihr großartiges Ungeheuer würde bis zum letzten verwendbaren Atom verdaut, seine Überreste würden gleichmäßig durch die Krustenmatrix verteilt werden, um dort für unzählige Jahrmillionen völlig andere Funktionen zu erfüllen.

Aber es musste sein.

Khouri hatte Recht: nur wenn sie den Brückenkopf sabotierten, konnten sie das Geschehen jetzt noch beeinflussen. Sie konnten ihn nicht einmal zerstören, weil Sonnendieb die Kontrolle über den Geschützpark hatte und jeden Versuch in dieser Richtung im Ansatz verhindern würde. Sie mussten die Waffe langsam aushungern, indem sie ihr Informationen vorenthielten.

Was viel grausamer war.

Niemand von den anderen sah, dass auf ihrem Armband-Display immer neue Anfragen des Brückenkopfes nach zusätzlichen Daten aufblinkten. Vor einer Stunde hatte die Waffe das Ausbleiben des fälligen Updates bemerkt und sich zunächst nur mit einer technischen Anfrage überzeugt, dass die Verbindung noch aktiv war. Später waren die Anfragen drängender geworden und hatten bei aller Höflichkeit einen entschlossenen Unterton bekommen. Nun hatte sie auf Diplomatie völlig verzichtet und bewies, dass auch eine Maschine zu Wutanfällen fähig war.

Noch war sie nicht beschädigt, denn die Cerberus-Systeme hatten ihre eigene Gegenschlagkapazität noch nicht überschritten, aber sie war in heller Aufregung und teilte Volyova sogar mit, wie viele Minuten sie bei der derzeitigen Eskalationsgeschwindigkeit noch zu leben hatte. Viele waren es nicht. In knapp zwei Stunden wäre Cerberus gleich stark, und danach ginge es nur noch darum, welche Kräfte die Gegenseite aufbot. Cerberus würde in jedem Fall Sieger bleiben, das stand mit absoluter, mathematischer Sicherheit fest.

Stirb schnell, dachte Volyova.

Doch bevor sie die Bitte noch zu Ende gedacht hatte, geschah etwas Unglaubliches.


Der letzte Rest von Gelassenheit wich schlagartig aus Volyovas Zügen.

»Was ist?«, fragte Khouri. »Du siehst aus, als hättest du…«

»Stimmt«, sagte Volyova. »Ich habe ein Gespenst gesehen. Es heißt Sonnendieb.«

»Was ist passiert?«, fragte auch Sylveste.

Sie schaute mit offenem Mund auf. »Er hat soeben die Sendungen an den Brückenkopf wiederaufgenommen.« Ihr Blick huschte zum Armband zurück, als hoffe sie, nur einer Täuschung erlegen zu sein. Aber ihre Miene verriet, dass die unfassbare Schreckensmeldung noch immer da war.

»Was gab es denn wiederaufzunehmen?«, fragte Sylveste. »Ich möchte Klarheit haben.«

Khouri umfasste die warme Lederhülle des Plasmagewehrs fester. Hatte schon bisher eine unangenehme Spannung in der Luft gelegen, so stand jetzt das blanke Entsetzen im Raum.

»Die Waffe kann nicht erkennen, wann ihre Reaktionen veralten, dafür fehlen ihr die Routinen«, sagte sie. Ein Zittern überlief sie, als versuchte sie das Grauen abzuschütteln. »Nein… was ich sagen will… die Waffe darf gewisse Dinge nur dann erfahren, wenn sie sie auch wirklich braucht…« Sie hielt nervös inne und sah in die Runde, unsicher, ob man sie auch verstand. »Wie sich ihre Verteidigungsstrategien weiterentwickeln, darf sie erst in dem Moment wissen, in dem die Entwicklung vollzogen werden muss; der Zeitpunkt für die Nachrüstungen ist nicht leicht zu bestimmen…«

»Sie wollten sie aushungern«, konstatierte Sylveste. Hegazi, der neben ihm saß, äußerte sich nicht, bestätigte das Urteil aber mit einem knappen, despotischen Nicken.

»Nein, ich…«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen«, sagte Sylveste mit Nachdruck. »Wenn ich an Ihrer Stelle wäre — wenn ich die ganze Operation sabotieren wollte —, hätte ich sicher ähnlich gehandelt. Die Wahl des Zeitpunkts war bewundernswert — sie wollten sich die Genugtuung nicht entgehen lassen, die Waffe im Einsatz zu sehen; sie wollten wissen, dass Ihr Spielzeug funktionierte.«

»Sie sind ein Wichser«, zischte Khouri dazwischen. »Ein bornierter, egoistischer Wichser.«

»Gratuliere«, höhnte Sylveste. »Vielleicht versuchen Sie es als Nächstes mit sechssilbigen Wörtern. Aber müssen Sie mit diesem hässlichen Schießeisen eigentlich ständig auf mein Gesicht zielen?«

»Keineswegs«, gab sie zurück. »Es gibt einen Bereich Ihrer Anatomie, der mir noch viel besser gefällt.«

Hegazi wandte sich an die zweite Angehörige des Triumvirats. »Können Sie mir erklären, was hier vorgeht?«

»Sonnendieb muss die Kontrolle über die Kommunikationssysteme des Schiffs erlangt haben«, sagte Volyova. »Das ist die einzige Möglichkeit; nur so konnte mein Befehl, die Sendungen einzustellen, widerrufen werden.«

Doch bevor sie noch zu Ende gesprochen hatte, schüttelte sie den Kopf.

»Nein, das kann nicht sein. Wir wissen, dass er den Leitstand nicht verlassen kann. Und zwischen dem Leitstand und der Kommunikationszentrale gibt es keine physische Verbindung.«

»Jetzt vielleicht schon«, sagte Khouri.

»Aber wenn dem so ist…« Jetzt war das Weiße in ihren Augen zu sehen; zwei leuchtende Halbmonde im Dämmerlicht der Brücke. »Zwischen der Kommunikationszentrale und dem Rest des Schiffes existiert keine logische Barriere. Wenn Sonnendieb wirklich so weit gekommen ist, kann er auf alles zugreifen.«

Lange sprach niemand ein Wort; alle — sogar Sylveste — brauchten offenbar eine gewisse Zeit, um sich den Ernst der Lage vor Augen zu führen. Khouri versuchte zu ergründen, was er dachte, aber er gab auch jetzt nicht preis, inwieweit er sich hatte überzeugen lassen. Vermutlich hielt er die ganze Sonnendieb-Geschichte noch immer für ein Zeichen von unterbewusstem Verfolgungswahn, ein Hirngespinst, mit dem sie zuerst Volyova und später auch Pascale angesteckt hatte.

Und an das ein Teil von ihm trotz aller Beweise noch immer nicht glauben wollte.

Wo waren denn die Beweise? Mit Ausnahme des wiederaufgenommenen Signals — mit allen seinen Konsequenzen — gab es kein Anzeichen dafür, dass Sonnendieb sich über den Leitstand hinaus ausgedehnt hatte. Wenn dem aber so war…

Volyova brach das Schweigen. »Sie«, sagte sie und richtete ihr Gewehr auf Hegazi. »Sie da, Svinoi. Das ist Ihr Werk, nicht wahr? Sajaki ist aus dem Rennen, und Sylveste hat nicht das nötige Wissen — folglich bleiben Sie als Einziger übrig.«

»Ich weiß nicht einmal, wovon Sie sprechen.«

»Sie haben Sonnendieb geholfen. Sie waren es, geben Sie es zu!«

»Nehmen Sie sich zusammen, Triumvir.«

Khouri wusste nicht mehr, auf wen sie das Plasmagewehr richten sollte. Sylveste schien ebenso erschüttert wie Hegazi; mit einem solchen Verhör hatte wohl keiner gerechnet.

»Hören Sie«, sagte Khouri. »Er mag Sajaki in den Arsch gekrochen sein, seit ich an Bord bin, aber deshalb muss er doch keine solchen Dummheiten machen.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Hegazi. »Glaube ich.«

»Sie sind noch nicht aus dem Schneider«, sagte Volyova. »Noch lange nicht. Khouri hat Recht; es wäre eine riesige Dummheit gewesen. Aber das heißt noch lange nicht, dass Sie dazu nicht fähig wären. Sie hatten die nötigen Fachkenntnisse. Und Sie sind ebenfalls ein Chimäre — vielleicht steckt Sonnendieb ja auch in Ihnen. Und deshalb ist es mir einfach zu gefährlich, Sie in meiner Nähe zu haben.«

Sie nickte Khouri zu. »Khouri; bring ihn in eine der Luftschleusen.«

»Sie wollen mich töten«, sagte Hegazi, als sie ihn mit dem Lauf des Plasmagewehrs durch den überschwemmten Korridor vor sich her trieb. Vor ihnen stoben die Pförtnerratten auseinander. »Das haben Sie doch vor, nicht wahr? Sie wollen mich ins All stoßen.«

»Volyova will Sie nur in sicherem Gewahrsam haben, damit Sie keinen Unfug anstellen können«, sagte Khouri. Sie hatte keine Lust zu einem ausgedehnten Gespräch mit ihrem Gefangenen.

»Was immer sie mir unterstellt, ich habe es nicht getan. So ungern ich es zugebe, aber dazu fehlen mir die nötigen Fachkenntnisse. Sind Sie jetzt zufrieden?«

Er ging ihr auf die Nerven, aber sie ahnte, dass er nicht lockerlassen würde, bis sie ihm antwortete.

»Ich bin nicht sicher, dass Sie es getan haben«, sagte sie. »Schließlich hätten Sie schon alles in die Wege leiten müssen, bevor Sie überhaupt wissen konnten, dass Volyova ihre Waffe sabotieren wollte. Seither hatten Sie keine Gelegenheit mehr; Sie waren die ganze Zeit auf der Brücke.«

Sie hatten die nächste Schleuse erreicht. Es war nur ein kleiner Raum, der gerade einen Menschen im Raumanzug aufnehmen konnte. Wie fast alles in diesem Bereich des Schiffes waren die Schalter an der Tür verschmutzt und rostig und mit Schimmelflecken übersät. Aber wie durch ein Wunder funktionierten sie noch.

»Wieso tun Sie das?«, fragte Hegazi, als die Tür sich summend öffnete und Khouri ihn in die enge, schwach erleuchtete Zelle stieß. »Wenn Sie nicht glauben, dass ich der Schuldige bin?«

»Weil ich Sie nicht leiden kann«, sagte sie und schloss die Tür von außen.

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