Fünfzehn

Mantell,

Nord-Nekhebet

2566


»Sie haben geblufft«, sagte Sluka, doch im gleichen Augenblick kroch im Nordosten eine falsche Dämmerung über den Horizont und verwandelte die Bergrücken und Klippen in gezackte schwarze Scherenschnitte. Ein purpurgesäumter Lichtschein so grell wie brennendes Magnesium überlastete kurzzeitig weite Teile von Sylvestes Sichtfeld und ließ nur eine taube Leere zurück.

»Drei Mal dürfen Sie raten«, sagte er.

Sluka war nicht gleich zu einer Antwort fähig. Stumm starrte sie in den Feuerschein, wie gebannt von der Helligkeit und ihrer Schreckensbotschaft.

»Er hatte es vorhergesagt«, erinnerte Pascale. »Aber Sie wollten nicht auf ihn hören. Er kannte diese Leute und wusste, dass sie ihr Versprechen halten würden.«

»Ich konnte es nicht glauben.« Sluka sprach leise, wie zu sich selbst. Ungeachtet des grellen Lichts war der Abend völlig still, sogar die gewohnte akustische Untermalung der Resurgam-Winde war ausgeblieben. »Ich hielt die Drohung für so ungeheuerlich, dass ich sie nicht ernst nehmen konnte.«

»Für diese Menschen ist nichts zu ungeheuerlich.« Sylvestes Augen erholten sich langsam so weit, dass er die Gesichter der Frauen sehen konnte, die neben ihm auf der Mesa von Mantell standen. »Von jetzt an sollten Sie Volyovas Worte für bare Münze nehmen. Sie meint, was sie sagt. In vierundzwanzig Stunden wird sich der Schrecken wiederholen, es sei denn, Sie liefern mich aus.«

Sluka tat, als habe sie nichts gehört. »Vielleicht sollten wir gehen«, sagte sie nur.

Sylveste war einverstanden, doch bevor sie den Berg hinunterstiegen, stellten sie noch ungefähr die Richtung fest, aus der der Blitz gekommen war. »Wir kennen den Zeitpunkt«, sagte Sylveste. »Und wir kennen die Richtung. Wenn die Druckwelle kommt, wissen wir auch, wie weit die Explosion entfernt war. Die Ansiedlungen auf Resurgam sind noch dünn gesät, wir müssten die Einschlagstelle also finden können.«

»Sie hat den Namen des Ortes genannt«, sagte Pascale.

Sylveste nickte.

»Ich würde Volyova jede Drohung glauben, aber ich weiß auch, dass man ihr nicht vertrauen kann.«

»Dieses Phoenix ist mir völlig unbekannt«, sagte Sluka, als sie mit einem Lastenfahrstuhl hinunterfuhren. »Ich hatte geglaubt, die meisten neueren Siedlungen zu kennen. Allerdings saß ich in den letzten Jahren nicht gerade im Herzen der Regierung.«

»Sie hat sich für den Anfang sicher einen kleinen Ort ausgesucht«, sagte Sylveste. »Sonst hätte sie keinen Spielraum für Eskalationen. Wir können davon ausgehen, dass Phoenix ein weiches Ziel war; eine wissenschaftliche oder geologische Forschungsstation, nichts, wovon der Rest der Kolonie materiell abhängig gewesen wäre. Mit anderen Worten, nur Menschen.«

Sluka schüttelte den Kopf. »Menschen, von denen wir in der Vergangenheit reden, ohne sie in der Gegenwart jemals erwähnt zu haben. Als wäre der Tod ihre einzige Existenzberechtigung gewesen.«

Sylveste war übel, körperlich übel, als müsse er sich tatsächlich übergeben. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde dieses Gefühl durch ein äußeres Ereignis ausgelöst, an dem er nicht direkt beteiligt war. So hatte er nicht einmal empfunden, als Carine Lefevre starb. Diesmal war es nicht sein Fehler — seine Fehlentscheidung — gewesen. Doch obwohl er Sluka beteuert hatte, die Besatzung würde ausführen, was sie androhte, hatte er sich innerlich an die Hoffnung geklammert, sie würde es doch nicht tun; er hätte Unrecht, und Sluka und die anderen Menschenfreunde hätten Recht. Vielleicht hätte an Slukas Stelle auch er die Warnung ignoriert, ob er sich vor dem Angriff nun sicher gefühlt hätte oder nicht. Wenn man selbst spielt, sehen die Karten immer anders aus und die Möglichkeiten verändern sich kaum merklich.

Die Druckwelle kam drei Stunden später. Inzwischen war sie kaum stärker als eine Windbö, aber auch die gehörte nicht in diese stille Nacht. Dahinter folgten Turbulenzen und Gewitterfronten wie vor einem ausgewachsenen Schmirgelsturm. Aus der Geschwindigkeit der Welle ließ sich errechnen, dass das Angriffsziel etwas mehr als fünftausend Kilometer entfernt war (das bestätigten auch die seismischen Daten); der Augenschein hatte gezeigt, dass es fast genau im Nordosten lag. Die drei zogen sich unter Bewachung in Slukas Kabine zurück, hielten sich mit starkem Kaffee wach und riefen aus den Archiven von Mantell Übersichtskarten der Kolonie ab.

Sylveste nippte nervös an seinem Becher.

»Wie gesagt, es könnte eine jüngere Siedlung sein. Sind die Karten auf dem neuesten Stand?«

»So gut wie«, sagte Sluka. »Vor einem Jahr, bevor die Lage hier zu kritisch wurde, hat das kartografische Zentrum in Cuvier die letzten Änderungen übertragen.«

Sylveste betrachtete die projizierte Karte, die Slukas Tisch bedeckte wie ein geisterhaftes topografisches Tischtuch. Sie zeigte ein Gebiet von zweitausend Quadratkilometern, groß genug, um die zerstörte Kolonie zu enthalten, auch wenn sie die Richtung nur sehr grob hatten schätzen können.

Aber Phoenix war nicht zu finden.

»Wir brauchen neuere Karten«, sagte er. »Es könnte sein, dass der Ort erst im letzten Jahr gegründet wurde.«

»Die lassen sich nicht so einfach beschaffen.«

»Sehen Sie zu, dass Sie einen Weg finden. Sie müssen in den nächsten vierundzwanzig Stunden eine Entscheidung treffen. Vielleicht die wichtigste Ihres Lebens.«

»Überschätzen Sie sich nicht. Ich bin schon so gut wie entschlossen, Sie auszuliefern.«

Sylveste zuckte so gleichmütig die Achseln, als berühre ihn das kaum. »Trotzdem sollten Sie die Fakten kennen. Sie müssen mit Volyova verhandeln. Wenn Sie nicht sicher sind, dass sie ihre Drohungen auch wahr macht, könnten Sie in Versuchung geraten, es darauf ankommen zu lassen.«

Sie sah ihn lange und eindringlich an.

»Im Prinzip bestehen über die Reste des Satellitengürtels immer noch Datenverbindungen nach Cuvier. Aber seit der Sprengung der Kuppeln werden sie kaum noch benutzt. Es wäre riskant, sie jetzt zu öffnen — man könnte den Datenfluss zu uns zurückverfolgen.«

»Das sollte im Augenblick Ihre geringste Sorge sein.«

»Er hat Recht«, schaltete Pascale sich ein. »Wer in Cuvier wird sich in dieser Situation über eine kleine Sicherheitslücke aufregen? Ich finde, es könnte sich lohnen, sich auf diese Weise aktuelles Kartenmaterial zu beschaffen.«

»Wie lange wird das dauern?«

»Ein bis zwei Stunden. Warum, wollten Sie irgendwo hin?«

»Nein«, sagte Sylveste und sah sie todernst an. »Aber vielleicht habe ich darüber nicht selbst zu entscheiden.«


Während sie auf die Korrektur der Karten warteten, kehrten sie wieder an die Oberfläche zurück. Im Nordosten zeigte sich kein Stern über dem Horizont; dort hockte nur ein pechschwarzes Nichts wie ein zusammengekauerter Riese, wahrscheinlich eine gewaltige Staubwolke, die langsam auf sie zugetrieben wurde. »Sie wird monatelang über der ganzen Welt hängen«, sagte Sluka. »Wie nach einem schweren Vulkanausbruch.«

»Die Winde werden stärker«, sagte Sylveste.

Pascale nickte. »Könnte die Explosion das Wetter verändert haben — noch in dieser Entfernung? Und wenn sie nun eine Waffe verwendet hätten, die unsere Welt radioaktiv verseucht?«

»Das wäre nicht nötig gewesen«, gab Sylveste zu bedenken. »Ein Angriff mit kinetischen Energien hätte vollkommen ausgereicht, und wie ich Volyova kenne, hätte sie nicht mehr getan als unbedingt nötig. Aber deine Sorgen wegen der Strahlung sind berechtigt. Die Waffe hat wahrscheinlich ein Loch in die Lithosphäre gerissen. Was dabei aus der Kruste freigesetzt wurde, kann man nur vermuten.«

»Wir sollten uns nicht zu lange an der Oberfläche aufhalten.«

»Einverstanden — aber das gilt vermutlich für die gesamte Kolonie.«

Einer von Slukas Adjutanten erschien in der Tür.

»Sie haben die Karten?«, fragte sie.

»Geben Sie uns noch eine halbe Stunde«, bat er. »Die Daten sind da, aber die Verschlüsselung ist schwer zu knacken. Übrigens gibt es auch eine Nachricht aus Cuvier. Wir haben sie eben aufgefangen, sie lief auf allen Kanälen.«

»Weiter.«

»Das Schiff hat offenbar Bilder… von den Folgen gemacht und sie an die Hauptstadt gesendet. Jetzt werden sie auf dem ganzen Planeten ausgestrahlt.« Der Adjutant zog ein ziemlich ramponiertes Notepad aus der Tasche. Der Flachbildschirm warf einen lilafarbenen Schein auf seine Züge. »Ich habe sie hier.«

»Dann lassen Sie mal sehen.«

Der Adjutant stellte das Notepad auf den grobkörnigen, vom Wind abgeschliffenen Felsboden der Mesa. »Sie müssen mit Infrarot gearbeitet haben«, sagte er.

Die Bilder waren erschreckend eindrucksvoll. Flüssiges Gestein quoll aus dem Kraterinneren und aus dem Boden dahinter oder sprühte in hohen Fontänen aus Dutzenden von neu entstandenen kleinen Sekundärvulkanen. Von einer Siedlung war nichts mehr zu sehen, die ein bis zwei Kilometer breite Caldera hatte sie restlos verschlungen. In der Mitte schwammen große glasige Inseln, nachtschwarz wie geronnener Teer.

»Zunächst hatte ich noch gehofft, wir hätten uns täuschen lassen«, sagte Sluka. »Der Blitz, sogar die Druckwelle… ich dachte, sie könnten irgendwie gefälscht sein, eine Art Theaterdonner. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie man das fälschen sollte, ohne tatsächlich ein Loch in den Planeten zu sprengen.«

»Bald wissen wir mehr«, sagte der Adjutant. »Ich kann doch offen sprechen?«

»Sylveste ist der Betroffene«, sagte Sluka. »Also kann er auch hören, was vorgeht.«

»Cuvier hat ein Flugzeug zum Schauplatz des Angriffs geschickt. Es soll bestätigen, dass die Bilder keine Fälschung sind.«

Als sie hinunter kamen, waren die Karten fertig entschlüsselt und an Stelle der veralteten Kopien dem Archiv von Mantell hinzugefügt worden. Wieder zogen sie sich in Slukas Kabine zurück und riefen sie ab. Aus der Legende war zu ersehen, dass die Karte erst wenige Wochen zuvor aktualisiert worden war.

»Eine beachtliche Leistung«, lobte Sylveste. »Obwohl ringsum die Stadt in Trümmer fiel, wurden die kartografischen Arbeiten fortgesetzt. So viel Engagement kann man nur bewundern.«

»Die Motive spielen keine Rolle«, sagte Sluka. Wie um sich fester an den Planeten zu binden, der jetzt unwiderruflich ihrer Kontrolle entglitt, strich sie mit den Fingern über eine der Planetenkugeln, die auf ihren schlanken Sockeln an den Wänden aufgereiht waren. »So lange Phoenix — oder wie immer sie es nennen — verzeichnet ist, ist mir alles andere egal.«

»Da ist es«, sagte Pascale.

Sie deutete mit dem Finger auf das fragliche Gebiet und markierte einen winzigen Punkt im sonst unbewohnten nordöstlichen Bergland. »Es ist der einzige Ort so weit im Norden«, sagte sie. »Und die einzige Siedlung, die annähernd in der Richtung liegt. Und Phoenix heißt sie auch.«

»Was wissen wir sonst noch darüber?«

Slukas Adjutant — ein kleiner Mann mit dezent geöltem Schnurr- und Kinnbart — sprach leise in das Notepad, das er sich um den Arm geschnallt hatte, und befahl, die Siedlung auf der Karte zu vergrößern. Über dem Tisch erschien eine Reihe von demografischen Symbolen. »Nicht viel«, sagte er. »Nur ein paar Mehrfamilienbaracken an der Oberfläche, durch Röhren verbunden. Ein paar unterirdische Anlagen. Keine Straßenverbindungen, aber ein Landeplatz für Flugzeuge.«

»Bevölkerung?«

»Von Bevölkerung kann man wohl kaum sprechen«, sagte der Mann. »Nur etwa achtzehn Familien mit gut hundert Personen. Die meisten aus Cuvier, wie es aussieht.« Er zuckte die Achseln. »Wenn sie das für einen Schlag gegen die Kolonie hält, sind wir noch glimpflich davongekommen. An die hundert Menschen — na schön, es ist eine Tragödie. Aber es wundert mich, dass sie sich kein dichter bevölkertes Ziel ausgesucht hat. Nachdem keiner von uns den Ort überhaupt kannte — ging der Schlag doch eigentlich ins Leere, oder nicht?«

»Völlig ungenügend«, bestätigte Sylveste und nickte.

»Wie?«

»Die menschliche Fähigkeit zu trauern. Der Mensch ist einfach nicht mehr fähig, angemessene Gefühle zu entwickeln, wenn die Zahl der Toten mehr als ein paar Dutzend überschreitet. Die Trauer wird nicht einfach weniger — sie bricht ab, stellt sich auf Null zurück. Geben Sie es doch zu. Diese Menschen sind uns allen vollkommen egal.« Sylveste starrte auf die Karte. Was mochten die Bewohner wohl empfunden haben in den wenigen Sekunden zwischen Volyovas Ankündigung und ihrem Tod? Hatte überhaupt jemand sein Haus verlassen, um das Verhängnis unter freiem Himmel zu erwarten und die Qual um ein Geringes zu verkürzen? »Aber eines weiß ich. Wir haben jetzt alle Beweise, die wir brauchen. Diese Frau steht zu ihrem Wort. Und das heißt, Sie müssen mich gehen lassen.«

»Ich verliere Sie nur ungern«, sagte Sluka. »Aber viel habe ich dabei offenbar nicht mitzureden. Sie wollen vermutlich Verbindung mit dem Schiff aufnehmen.«

»Selbstverständlich«, sagte Sylveste. »Und Pascale wird mich natürlich begleiten. Aber zuvor hätte ich noch eine Bitte an Sie.«

»Eine Bitte?« Das klang amüsiert, als sei es das Letzte, was Sluka von ihm erwartet hätte. »Wir sind ja nun ganz dicke Freunde geworden. Also, was kann ich für Sie tun?«

Sylveste lächelte. »Die Bitte geht nicht so sehr an Sie als an Ihren Dr. Falkender. Es hat nämlich mit meinen Augen zu tun.«

Triumvir Volyova schwebte auf ihrem Sitz am Ende des Teleskoparms hoch über dem Planeten und betrachtete ihr Werk. Die Projektionssphäre der Brücke zeigte alles gestochen klar und deutlich. Während der vergangenen zehn Stunden waren aus dem Zentrum der Katastrophe schwarze Zyklonfäden aufgestiegen und davongeschwebt, ein Zeichen, dass das Wetter in dieser Region — und damit auch anderswo auf dem Planeten — in neue, stürmischere Bahnen gedrängt worden war. Wie man an Ort und Stelle in Erfahrung gebracht hatte, bezeichneten die Kolonisten von Resurgam solche Erscheinungen wegen der gnadenlosen Reibungswirkung des fliegenden Staubs als Schmirgelstürme. Volyova beobachtete den Sturm so fasziniert, als seziere sie eine unbekannte Tiergattung. Obwohl sie mehr Planetenerfahrung hatte als fast alle anderen Besatzungsmitglieder, gab es immer noch Dinge, die sie überraschten und in Verwirrung stürzten. Zum Beispiel, dass es so verheerende Folgen hatte, ein Loch in die Kruste eines Planeten zu sprengen — Folgen nicht nur in unmittelbarer Umgebung der Explosion, sondern auf Tausende von Kilometern im Umkreis. Früher oder später würde es auf der ganzen Welt da unten keine Stelle mehr geben, die von ihrem Angriff nicht messbar betroffen wäre. Der Staub, den sie aufgewirbelt hatte, würde sich irgendwann wieder setzen; eine feine, schwarze, schwach radioaktive und ziemlich gleichmäßige Ablagerung auf dem gesamten Planeten. In den gemäßigten Zonen würde er dank der klimatischen Prozesse, die die Kolonisten eingeleitet hatten, bald weggewaschen werden, immer vorausgesetzt natürlich, dass diese Prozesse noch funktionierten. Aber in den arktischen Regionen, wo es niemals regnete, bliebe der feine Staub Jahrhunderte lang ungestört liegen. Mit der Zeit würde er von anderen Ablagerungen überdeckt und ginge ein in das unveränderliche geologische Gedächtnis des Planeten. Vielleicht, sann der Triumvir, kämen in einigen Millionen Jahren Wesen nach Resurgam, die ähnlich neugierig waren wie die Menschen. Sie würden Bodenproben nehmen, um etwas über die Geschichte des Planeten zu erfahren, und dabei weit in die Vergangenheit zurückgehen. Diese Staubschicht wäre sicher nicht das einzige Rätsel, das sie zu lösen hätten, aber sie würden dennoch eine Weile darüber nachdenken. Und die hypothetischen Forscher der Zukunft würden zweifellos völlig falsche Schlüsse ziehen, was die Entstehung der Schicht anging. Wie sollten sie auch jemals darauf kommen, dass sie die Folge einer bewussten Willensentscheidung…

Volyova hatte seit dreißig Stunden kaum geschlafen, aber sie war zurzeit von einer schier unerschöpflichen Energie erfüllt. Natürlich würde sie dafür früher oder später bezahlen müssen, aber im Augenblick fühlte sie sich wie aufgezogen, von einer Dynamik getragen, die nicht zu bremsen war. Trotzdem kehrte sie erst mit einiger Verspätung in die Gegenwart zurück, als Hegazi seinen Sitz an ihre Seite steuerte.

»Was ist?«

»Ich empfange eine Anfrage, die sich nach unserem Knaben anhört.«

»Sylveste?«

»Oder jemand, der sich für ihn ausgibt.« Hegazi sprach wie in Trance. Diese Zustände hatte er öfter, und Volyova wusste, dass er sich dann in besonders engem Kontakt mit dem Schiff befand. »Kann die Verbindung nicht zurückverfolgen. Der Anruf kommt von Cuvier, aber ich möchte wetten, dass Sylveste sich nicht physisch in der Stadt befindet.«

Sie hob die Stimme nicht, obwohl sie mit ihm allein auf der Brücke war.

»Was sagt er denn?«

»Er will nur mit uns sprechen. Das verlangt er immer und immer wieder.«


Khouri hörte jemanden durch den Zentimeter dicken Matsch schlurfen, der das gesamte Captainsdeck überschwemmte.

Sie konnte nicht rational erklären, was sie hier unten eigentlich wollte. Aber vielleicht war gerade das ganz typisch: seit sie Volyova — der einzigen Person, auf die sie wirklich gebaut hatte — nicht mehr vertraute und seit die Mademoiselle sich rar machte — sie hatte sich seit dem Angriff gegen das Waffensystem nicht mehr blicken lassen — neigte Khouri zu irrationalem Verhalten. Der einzige Mensch auf dem Schiff, von dem sie sich nicht irgendwie verraten fühlte oder der sich nicht ihren Hass zugezogen hatte, war auch der einzige, von dem sie nie eine Antwort erwarten konnte.

Sie wusste sofort, dass die Schritte nicht Volyova gehörten, aber sie klangen so zielstrebig, als wüsste der Betreffende genau, wohin er wollte, und hätte sich nicht nur zufällig in diese Schiffszone verirrt.

Khouri erhob sich. Ihr Hosenboden war vollgesogen mit nassem, kaltem Matsch, aber auf dem dunklen Stoff war davon kaum etwas zu sehen.

»Ganz ruhig«, sagte die Verfolgerin und kam lässig mit schmatzenden Stiefeln um die Biegung geschlendert. Ihre frei schwingenden Metallarme blitzten im Licht, die darin eingearbeiteten holografischen Muster schillerten in allen Regenbogenfarben.

»Sudjic«, rief Khouri. »Wie, zum Teufel, hast du…?«

Sudjic schüttelte den Kopf und lächelte verkrampft. »Wie ich hierher gefunden habe? Ganz einfach, Khouri, ich bin dir gefolgt. Als ich sah, welche Richtung du eingeschlagen hattest, war mir auch klar, wohin du wolltest. Also bin ich dir nachgegangen. Ich finde nämlich, wir beide sollten uns mal unterhalten.«

»Unterhalten?«

»Über die Situation hier.« Sudjic machte eine weit ausholende Geste. »Auf dem Schiff. Genauer gesagt, über das verdammte Triumvirat. Es kann dir wohl kaum entgangen sein, dass ich mit einem von den dreien noch eine Rechnung offen habe.«

»Mit Volyova.«

»Richtig. Mit unserer gemeinsamen Freundin Ilja.« Sudjic spie den Namen wie ein unanständiges Schimpfwort aus. »Du weißt ja, dass sie meinen Geliebten getötet hat.«

»Ich habe gehört, dass es… Probleme gegeben hatte.«

»Probleme? — Ha! Das ist gut. Einen Menschen in eine Psychose zu treiben ist also für dich ein Problem, Khouri?« Sie hielt inne und trat ein wenig näher, hielt aber respektvoll Abstand von der verschmolzenen Kernmasse des Captains. »Vielleicht sollte ich dich ja Ana nennen, nachdem wir uns jetzt… äh… näher gekommen sind.«

»Nenn mich, wie du willst. Das ändert gar nichts. Mag sein, dass ich sie im Augenblick auf den Tod nicht ausstehen kann, aber deshalb werde ich sie nicht verraten. Eigentlich dürfte dieses Gespräch gar nicht stattfinden.«

Sudjic nickte verständnisvoll. »Sie hat dir wirklich eine ordentliche Portion Loyalitätstherapie verpasst, wie? Hör zu, Sajaki und die anderen sind längst nicht so allwissend, wie man glaubt. Du kannst mir alles sagen.«

»Es steckt noch sehr viel mehr dahinter.«

»Zum Beispiel?« Sudjic stemmte die Eisenfäuste elegant in die schmalen Hüften. Die Frau war ausgemergelt wie alle Weltraumgeborenen, aber auf ihre Weise eine Schönheit. Physisch mochte sie so zart sein wie ein Gespenst; ohne ihre chimärisch verstärkte Skelettmuskulatur hätte sie bei normaler Schwerkraft womöglich keinen Schritt gehen können. Doch mit den subkutanen Prothesen war sie ungleich stärker und schneller als jeder naturbelassene Mensch. Gerade weil sie so zerbrechlich aussah, war ihre Kraft doppelt wirksam. Sie war wie eine aus rasiermesserscharfem Papier gefaltete Origami-Figur.

»Das kann ich dir nicht sagen«, wehrte Khouri ab. »Aber Ilia und ich — wir haben gemeinsame Geheimnisse.« Sie hatte die arrogante Ultra von ihrem hohen Ross herunterholen wollen, aber nun bereute sie ihre Indiskretion. »Ich meine…«

»Hör zu, genauso sollst du empfinden, das ist es, was sie will. Aber frag dich doch mal selbst, Khouri. Wie viel von deinen Erinnerungen ist echt? Könnte es nicht sein, dass Volyova in deinem Gedächtnis herumgepfuscht hat? Bei Boris hat sie es versucht. Sie wollte seine Vergangenheit löschen, um ihn zu heilen, aber das hat nicht funktioniert. Die Stimmen verfolgten ihn weiter. Ist das auch bei dir so? Melden sich neue Stimmen in deinem Kopf?«

»Wenn ja«, sagte Khouri, »dann haben sie nichts mit Volyova zu tun.«

»Du gibst es also zu.« Sudjic lächelte sparsam wie ein braves Schulmädchen, das sich nach einem sportlichen Sieg demonstrativ in Bescheidenheit übt. »Aber auch wenn du leugnest, es spielt ohnehin keine Rolle. Tatsache ist, dass sie dich enttäuscht hat. Sie und das ganze Triumvirat. Du kannst mir nicht erzählen, dass dir die letzte Aktion gefallen hat.«

»Ich bin nicht sicher, ob ich an dieser Aktion alles verstehe, Sudjic. Über einiges muss ich mir erst noch klar werden.« Khouri spürte die Kälte ihrer nassen Hosen am Gesäß. »Dazu bin ich übrigens hier herunter gekommen. Um Ruhe und Frieden zu finden. Und meine Gedanken zu ordnen.«

»Und um zu sehen, ob etwas von seiner Weisheit auf dich abfärbt?«

Sudjic nickte zum Captain hin.

»Er ist tot, Sudjic. Vielleicht bin ich die Einzige hier, die das begreift, aber deshalb ist es doch die Wahrheit.«

»Vielleicht kann Sylveste ihn heilen.«

»Selbst wenn er das könnte, würde Sajaki es zulassen?«

Sudjic nickte wissend. »Natürlich, natürlich. Ich verstehe vollkommen. Aber hör zu.« Sie senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, obwohl nur die überall umherschleichenden Ratten sie belauschen konnten. »Sie haben Sylveste gefunden — ich hörte es eben, bevor ich herunterkam.«

»Gefunden? Du meinst, er ist hier?«

»Nein, natürlich nicht. Sie haben eben erst Kontakt aufgenommen. Noch wissen sie nicht einmal, wo er ist, nur dass er noch lebt. Jetzt müssen sie den Dreckskerl erst mal an Bord bringen. Und da kommst du ins Spiel. Ich übrigens auch.«

»Wie meinst du das?«

»Ich will nicht behaupten, dass ich verstehe, was im Trainingssaal mit Kjarval passiert ist, Khouri. Vielleicht hat sie einfach durchgedreht, obwohl ich sie von allen auf dem Schiff am besten kannte und eigentlich nicht gedacht hätte, dass sie der Typ dafür wäre. Wie auch immer, Volyova hatte damit einen Vorwand, sie zu erledigen — wobei ich nicht gedacht hätte, dass das Miststück sie wirklich so sehr hasste…«

»Es war nicht Volyovas Schuld…«

»Wie auch immer.« Sudjic schüttelte den Kopf. »Das ist nicht so wichtig — im Moment. Aber es bedeutet, dass sie dich für die Mission braucht. Du und ich, Khouri — und vielleicht das verdammte Miststück selbst — wir werden hinuntergehen und ihn holen.«

»Das kannst du noch gar nicht wissen.«

Sudjic schüttelte den Kopf. »Offiziell nicht. Aber wenn du erst mal so lange auf diesem Schiff bist wie ich, dann weißt du auch, wie man die üblichen Kanäle umgeht.«

Dann schwiegen beide, und nur das Tropfen einer undichten Leitung irgendwo im überfluteten Korridor unterbrach die Stille.

»Sudjic, warum sagst du mir das? Ich dachte, du kannst mich nicht ausstehen?«

»Das war vielleicht so«, sagte die andere. »Früher. Aber jetzt brauchen wir dringend Verbündete. Und ich dachte, du wärst mir für die Warnung dankbar. Ich hoffe, du bist vernünftig und weißt, wem du vertrauen kannst.«


Volyova sprach in ihr Armband. »Unendlichkeit, du wirst gleich eine Stimme hören. Vergleiche sie mit deinen Aufzeichnungen über Sylveste. Wenn du keine Übereinstimmung feststellst, erbitte ich sofortige Meldung über eine sichere Leitung.«

Sylvestes Stimme unterbrach sie: »…ob Sie mich hören können. Wiederhole: ich muss wissen, ob Sie mich hören können. Nun antworten Sie schon, Miststück. Ich verlange, dass Sie mir antworten, verdammt noch mal!«

»Das ist er tatsächlich«, sagte Volyova über die Stimme hinweg zu Hegazi. »Das Gequengel ist nicht zu verwechseln. Werfen Sie ihn lieber raus. Ich nehme an, wir haben ihn immer noch nicht geortet?«

»Tut mir Leid. Sie müssen zur ganzen Kolonie sprechen und davon ausgehen, dass er eine Möglichkeit hat, Sie zu empfangen.«

»Dafür hat er bestimmt gesorgt.« Volyova sah auf ihr Armband. Bislang konnte das Schiff nicht widerlegen, dass die Stimme Sylveste gehörte. Zwar gab es kleine Unterschiede, der Sylveste von damals war eine sehr viel jüngere Ausgabe des Mannes gewesen, nach dem sie jetzt suchten, deshalb war keine hundertprozentige Stimmengleichheit zu erwarten. Doch wenn man das berücksichtigte, wurde es immer wahrscheinlicher, dass nicht wieder irgendein armseliger Hochstapler versuchte, die Kolonie zu ›retten‹, sondern dass sie diesmal den Richtigen gefunden hatten. »Na schön, stellen Sie mich durch. Sylveste? Hier spricht Volyova. Können Sie mich hören?«

Seine Stimme wurde klarer. »Das wurde aber auch Zeit, verdammt noch mal.«

»Ich denke, wir lassen das als ›ja‹ gelten«, sagte Hegazi.

»Wir müssen uns darüber unterhalten, wo wir Sie abholen, und das wäre über eine sichere Verbindung sehr viel einfacher. Wenn Sie mir Ihren derzeitigen Standort nennen, können wir in der Region eine gründliche Sensorsuche durchführen und die Übertragung direkt am Ausgangspunkt abfangen, ohne den Umweg über Cuvier.«

»Wozu sollte das gut sein? Wollen Sie mir vielleicht etwas mitteilen, das nicht die ganze Kolonie erfahren soll?« Sylveste hielt inne, aber Volyova sah im Geiste sein höhnisches Lächeln. »Bisher hatten Sie doch auch keine Hemmungen, alle anderen mit hineinzuziehen.« Wieder eine Pause. »Nebenbei bemerkt finde ich es beunruhigend, dass Sie mit mir verhandeln und nicht Sajaki.«

»Er ist indisponiert«, sagte Volyova. »Geben Sie mir Ihre Position.«

»Bedauere, aber das ist nicht möglich.«

»Etwas mehr sollten Sie sich schon bemühen.«

»Wie käme ich denn dazu? Sie haben die großen Kanonen. Also denken Sie sich eine Lösung aus.«

Hegazi bedeutete Volyova mit einer Handbewegung, die Audio-Verbindung zu unterbrechen. »Vielleicht kann er seine Position nicht verraten.«

»Was soll das heißen?«

Hegazi klopfte sich mit seinem stählernen Zeigefinger an den stählernen Nasenschutz.

»Vielleicht wird es ihm von den Leuten verboten, die ihn gefangen halten. Vielleicht sind sie bereit, ihn gehen zu lassen, wollen aber ihren Aufenthaltsort nicht preisgeben.«

Volyova nickte. Hegazis Vermutung klang einleuchtend. Sie stellte die Verbindung wieder her. »Schön, Sylveste. Ich glaube zu verstehen, wo Ihre Probleme liegen. Unter der Voraussetzung, dass Sie sich frei bewegen können, schlage ich folgenden Kompromiss vor. Ihre… äh… Gastgeber haben doch sicher die Möglichkeit, kurzfristig einen Ortswechsel zu arrangieren?«

»Wir haben Transportmittel, wenn Sie das meinen.«

»In diesem Fall gestehen wir Ihnen noch einmal sechs Stunden zu. In dieser Zeit sollte es Ihnen möglich sein, sich so weit von Ihrem derzeitigen Standort zu entfernen, dass Sie Ihre Position durchgeben können, ohne ihn zu verraten. Hören wir aber in sechs Stunden nichts von Ihnen, dann greifen wir das nächste Ziel an. Ist das allen Betroffenen vollkommen klar?«

»O ja«, gab Sylveste giftig zurück. »Vollkommen.«

»Da wäre noch etwas.«

»Ja?«

»Bringen Sie Calvin mit.«

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