Unterwegs nach Delta Pavonis
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»Ich nehme an, Sie haben die Geschichte des Captains ebenfalls gehört«, sagte Khouri, als sich die Mademoiselle mit diskretem Hüsteln hinter ihr bemerkbar machte. Bis auf die körperlose Erscheinung war sie in ihrer Kabine allein. Sie musste erst verarbeiten, was Volyova und Sajaki ihr über die Mission erzählt hatten.
Die Mademoiselle lächelte geduldig. »Das schafft ziemliche Komplikationen, nicht wahr? Zugegeben, ich habe nicht ausgeschlossen, dass gewisse Verbindungen zwischen der Besatzung und Sylveste bestehen könnten. Eine logische Schlussfolgerung angesichts der Tatsache, dass Resurgam das Ziel der Reise war. Aber dass die Geschichte so verwickelt ist, war nicht zu erschließen.«
»Man könnte es sicher auch anders beschreiben.«
»Die Beziehung ist…« Der Geist zögerte einen Moment, als suche er nach Worten, aber Khouri wusste, dass alles nur Schau war und ärgerte sich. »Interessant. Sie könnte unsere Möglichkeiten einschränken.«
»Sie verlangen also nach wie vor, dass ich ihn töte?«
»Unbedingt. Diese Geschichte setzt uns noch mehr unter Druck. Jetzt besteht obendrein die Gefahr, dass Sajaki versucht, Sylveste an Bord zu bringen.«
»Würde es dadurch nicht einfacher für mich, ihn zu erledigen?«
»Gewiss, aber damit wäre es in diesem Stadium nicht mehr getan. Sie müssten einen Weg finden, auch das Schiff zu zerstören. Ob Sie sich dabei retten könnten, bliebe allein Ihnen überlassen.«
Khouri runzelte die Stirn. Das klang alles ziemlich unsinnig, aber vielleicht lag das ja an ihr.
»Und wenn ich mich dafür verbürge, dass Sylveste tot ist…«
»Es wäre nicht damit getan«, wiederholte die Mademoiselle mit bislang unbekannter Offenheit. »Sein Tod an sich ist nur ein Teil der Aufgabe. Er hat außerdem auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu erfolgen.«
Khouri wartete.
»Er darf keinerlei Vorwarnung erhalten; nicht einmal, wenn es nur um Sekunden geht. Außerdem müssen Sie ganz allein mit ihm sein.«
»Das war immer so geplant.«
»Gut — aber ich meine das ganz wörtlich. Wenn Sie nicht garantieren können, dass absolut niemand in der Nähe ist, müssen Sie die Tat aufschieben. Keine Kompromisse, Khouri.«
Dies war das erste Mal, dass sie die Umstände des geplanten Anschlags genauer erörterten. Offenbar hielt die Mademoiselle Khouri inzwischen für reif genug, um sie etwas tiefer, wenn auch noch nicht vollständig einzuweihen.
»Was ist mit der Waffe?«
»Da lasse ich Ihnen freie Hand, unter der Bedingung, dass die Waffe keine cybernetischen Komponenten über einer bestimmten Komplexitätsstufe enthält. Genaueres erfahren Sie zu einem späteren Zeitpunkt.« Bevor Khouri Einwände erheben konnte, fügte sie hinzu: »Eine Strahlenwaffe wäre dann akzeptabel, wenn sie in keiner Phase in die Nähe des Zielobjekts gebracht zu werden brauchte. Auch Projektil- und Explosivwaffen wären denkbar.«
So wie es auf dem Lichtschiff zuging, dachte Khouri, sollten eigentlich genügend geeignete Waffen herumliegen. Und es müsste möglich sein, sich so frühzeitig ein halbwegs tödliches Schießeisen zu besorgen, dass sie auch noch Zeit hatte, sich damit vertraut zu machen, bevor sie gegen Sylveste vorging.
»Wahrscheinlich lässt sich etwas finden.«
»Ich bin noch nicht fertig. Sie dürfen sich ihm weder nähern, noch ihn töten, wenn irgendwelche cybernetischen Systeme in der Nähe sind — auch in diesem Punkt bekommen Sie später noch genauere Anweisungen. Je isolierter er ist, desto besser. Gelingt es Ihnen, ihn ganz allein, fernab aller Hilfe, auf Resurgam zu erwischen, dann haben Sie Ihre Aufgabe zu meiner vollen Zufriedenheit erfüllt.« Die Mademoiselle hielt inne. Für sie war das offenbar alles von ungeheurer Wichtigkeit, und Khouri gab sich große Mühe, nichts zu vergessen, aber es klang ungefähr so einleuchtend wie die Beschwörungen in einem mittelalterlichen Heilkundebuch. »Auf keinen Fall darf er Resurgam verlassen. Merken Sie sich das gut, denn sobald ein Lichtschiff — auch dieses hier — um Resurgam in den Orbit geht, wird Sylveste versuchen, irgendwie an Bord zu kommen. Das muss unter allen Umständen verhindert werden.«
»Ich habe verstanden«, sagte Khouri. »Ich soll ihn also unten töten. War das alles?«
»Nicht ganz.« Der Geist zeigte ein dämonisches Lächeln, das Khouri bisher noch nicht gesehen hatte. Vielleicht hatte die Mademoiselle ihr mimisches Reservoir doch noch nicht ganz ausgeschöpft, sondern hob sich den einen oder anderen Gesichtsausdruck für Augenblicke wie diesen auf. »Natürlich verlange ich Beweise für seinen Tod. Das Implantat wird alles aufzeichnen, aber wenn Sie nach Yellowstone zurückkehren, brauche ich etwas Handfestes, was die Aufzeichnung bestätigt. Ich spreche von sterblichen Überresten und damit meine ich nicht nur Asche. Konservieren Sie im Vakuum, so viel Sie können. Die Überreste müssen gut verschlossen und vom Rest des Schiffes isoliert aufbewahrt werden. Sie können sie meinetwegen in Fels eingießen, aber ich will sie sehen. Ich brauche Beweise.«
»Und dann?«
»Dann, Ana Khouri, bekommen Sie Ihren Mann zurück.«
Sylveste gönnte sich keine Atempause, bis er und Pascale die schwarze Mauer um die Amarantin-Stadt erreicht und passiert hatten und mehrere hundert Schritte in das Labyrinth in ihrem Innern vorgedrungen waren. Er wählte die Richtung so willkürlich wie nur möglich, ließ die Markierungen der Archäologen völlig außer Acht und vermied alles, was ihren Weg hätte nachvollziehbar machen können.
»Nicht so schnell«, bat Pascale. »Am Ende verirren wir uns noch.«
Sylveste legte ihr die Hand auf den Mund, obwohl er verstand, dass sie nur redete, um nicht über den Mord an ihrem Vater nachdenken zu müssen.
»Wir müssen leise sein. Der Wahre Weg hat sicher Posten im Innern der Mauer aufgestellt, um Flüchtlinge aufzuhalten. Wir wollen sie doch nicht auf uns aufmerksam machen.«
»Aber wir wissen nicht, wo wir sind«, flüsterte sie. »Dan, hier sind schon Menschen verhungert, weil sie den Weg nach draußen nicht mehr finden konnten.«
Sylveste schob Pascale in ein enges Loch. Unten war die Finsternis noch dichter. Die Wände waren sehr glatt; hier gab es keine rutschsicheren Bodenbeläge. »Wir werden uns nicht verirren«, sagte er mit einer Ruhe, die er nicht empfand, »das ist das Einzige, was ich dir versprechen kann.« Er klopfte gegen seine Augen, obwohl es bereits viel zu dunkel war, als dass Pascale die Geste hätte würdigen können. Es ging ihm wie einem Sehenden unter Blinden. Er vergaß immer wieder, dass große Teile seiner nonverbalen Kommunikation einfach ins Leere gingen. »Ich kann jeden unserer Schritte zurückverfolgen. Die Wände reflektieren die Infrarotstrahlung unserer Körper recht gut. Wir sind hier sicherer als in der Stadt.«
Sie keuchte hinter ihm her und sagte Minuten lang gar nichts. Schließlich murmelte sie: »Ich hoffe, dies ist nicht einer der seltenen Fälle, in denen du dich irrst. Das wäre kein glückverheißender Anfang für unsere Ehe, meinst du nicht auch?«
Ihm war nicht nach Lachen zumute; das Gemetzel in der Halle stand ihm noch zu deutlich vor Augen. Aber er lachte trotzdem und dadurch verlor das ganze Elend an Realität. Das war auch gut so, denn wenn er es nüchtern betrachtete, waren Pascales Zweifel nur allzu berechtigt. Selbst wenn er den Weg aus dem Labyrinth genau kannte, nützte ihm das womöglich gar nichts, wenn die Wände zu glitschig waren, um hinaufzuklettern, oder wenn die Gerüchte stimmten und sich das Labyrinth immer wieder neu konfigurierte. Dann würden sie trotz seiner magischen Augen verhungern wie all die anderen armen Teufel, die vom markierten Weg abgewichen waren.
Dem Tunnel folgend, der sich in sanften Windungen wie eine Made durch das Innere der Mauer bohrte, drangen sie tiefer in das Amarantin-Bauwerk vor. Panik war natürlich nicht weniger gefährlich als Orientierungslosigkeit. Aber es war nicht leicht, sich zur Ruhe zu zwingen.
»Was meinst du, wie lange müssen wir hier bleiben?«
»Einen Tag«, sagte Sylveste. »Wir warten, bis sie fort sind, dann gehen wir hinaus. Inzwischen ist sicher Verstärkung aus Cuvier eingetroffen.«
»Und für wen arbeitet die?«
Sylveste zwängte sich mit den Schultern durch eine Engstelle. Dahinter teilte sich der Tunnel in drei Gänge. Er warf im Geiste eine Münze und nahm den linken Ast. »Gute Frage«, sagte er so leise, dass seine Frau es nicht hören konnte.
Wenn das Attentat nun kein einzelner Terrorakt gewesen wäre, um die Öffentlichkeit aufzurütteln, sondern Teil eines Umsturzversuches, der sich gegen die ganze Kolonie richtete? Wenn Cuvier nicht mehr der Girardieu-Regierung gehorchte, sondern an den Wahren Weg gefallen wäre? Girardieu hatte eine gewaltige Parteimaschinerie hinterlassen, aber bei dieser Hochzeitsfeier waren viele Rädchen entfernt worden. Wenn die Revolutionäre die momentane Schwäche ausnützten, könnten sie mit einem Blitzkrieg eine Menge erreichen. Vielleicht war bereits alles vorbei, vielleicht waren Sylvestes frühere Feinde entthront und neue, fremde Gesichter hatten die Macht übernommen. In diesem Fall wäre es völlig sinnlos, im Labyrinth auszuharren. Würde ihn der Wahre Weg wohl als Feind betrachten? Oder hatte er ihm die noch sehr viel undurchsichtigere Rolle des Feindes seines Feindes zugewiesen?
Obwohl er und Girardieu am Ende gar keine Feinde mehr gewesen waren.
Endlich kamen sie an eine größere, ebene Fläche, auf der etliche Tunnel zusammentrafen. Hier war Platz genug zum Sitzen, und da die Wirkung der Pumpen bis hierher reichte, wehte ein frischer Luftzug. Sylveste beobachtete im Infrarotmodus, wie Pascale den spiegelglatten Boden nach Ratten, scharfen Steinen oder grinsenden Totenschädeln abtastete, bevor sie sich vorsichtig niederließ.
»Schon gut«, sagte er. »Hier sind wir in Sicherheit.« Als bräuchte er den Wunsch nur auszusprechen, um ihn Wahrheit werden zu lassen. »Falls jemand kommt, können wir zwischen mehreren Fluchtwegen wählen. Wir verhalten uns ganz still und warten ab.«
Damit war die Flucht zunächst beendet. Nun würde sie natürlich wieder an ihren Vater denken, aber das wollte er nicht; nicht jetzt.
»Janequin ist ein armer Tropf«, sagte er, in der Hoffnung, sie damit auf etwas andere Gedanken zu bringen. »Sie müssen ihn erpresst haben. Es ist doch immer wieder das Gleiche.«
»Was?«, würgte Pascale heraus. »Was ist deiner Meinung nach immer wieder das Gleiche?«
»Was rein war, wird beschmutzt.« Er war so heiser, dass er kaum flüstern konnte. Das Gas im Tempel war ihm zwar nicht in die Lungen gedrungen, aber sein Kehlkopf hatte einiges abbekommen. »Janequin hatte jahrelang an diesen Pfauen gearbeitet; seit er nach Mantell gekommen war. Angefangen hatte es ganz harmlos, mit lebenden Skulpturen.
Er meinte, zu einer Kolonie um einen Stern namens Pavonis gehörten einfach ein paar Pfauen. Und dann kam jemand, der für die Vögel eine bessere Verwendung fand.«
»Vielleicht waren sie alle vergiftet.« Pascale dehnte das f zu einem wütenden Zischen. »Lauter wandelnde kleine Zeitbomben.«
»Ich glaube, er hatte nur ein paar präpariert.« Vielleicht lag es an der Luft, jedenfalls fühlte Sylveste sich plötzlich so müde, dass er kaum die Augen offen halten konnte. Im Moment waren sie in Sicherheit. Wenn ihnen die Mörder — die möglicherweise gar nicht wussten, dass sie nicht unter den Toten waren — gefolgt wären, hätten sie diesen Teil des Labyrinths inzwischen längst erreicht.
»Ich hätte nie gedacht, dass er wirklich Feinde hatte«, sagte Pascale. Der Satz hing zusammenhanglos in dem engen Raum. Sylveste konnte sich vorstellen, wie sehr sie sich fürchtete: für jemanden, der blind war und sich nur auf seinen Zuspruch verlassen konnte, musste dieser Ort eine Stätte des Grauens sein. »Ich hätte nie für möglich gehalten, dass sie ihn um ihrer Ziele willen töten würden. Ich war sicher, dass es nichts gäbe, wofür sich das lohnte.«
Khouri sollte zusammen mit dem Rest der Besatzung für den größten Teil des Fluges nach Resurgam in Kälteschlaf versetzt werden. Doch zunächst brachte sie viele Stunden im Feuerleitstand zu und absolvierte unzählige Kampfsimulationen.
Nach einer Weile verfolgten die Übungen, die Volyova für sie zusammengestellt hatte, sie bis in ihre Träume, und der Ausdruck Langeweile wurde den endlosen Wiederholungen längst nicht mehr gerecht. Dennoch begrüßte sie es irgendwann, sich im Leitstand zu verlieren. Es lenkte sie vorübergehend von ihren Sorgen ab. Sobald sie sich im Kampfsitz niederließ, reduzierte sich das Sylveste-Problem auf eine kleine juckende Stelle. Sie vergaß nicht, dass sie sich in einer aussichtslosen Situation befand, aber es erschien ihr nicht mehr so entscheidend. Der Feuerleitstand nahm sie ganz gefangen und deshalb fürchtete sie ihn nicht mehr. Wenn die Trainingssitzungen vorüber waren, wurde sie wieder sie selbst, und nach einer Weile maß sie dem Leitstand so gut wie keine Bedeutung mehr bei. Sie dachte, er könnte den Erfolg ihrer Mission letztlich nicht beeinflussen.
Das änderte sich, als die Hunde nach Hause kamen.
Es waren die Bluthunde der Mademoiselle: cybernetische Agenten, die sie während einer von Khouris Trainingssitzungen auf den Leitstand losgelassen hatte. Die Hunde hatten die einzige — verzeihliche — Schwäche des Systems genützt und waren über die neurale Schnittstelle eingedrungen. Volyova hatte diese Schnittstelle zwar gegen Softwareangriffe geschützt, aber sie hatte sich offensichtlich nicht vorstellen können, dass der Angriff ausgerechnet aus dem Gehirn der Person kommen würde, die mit dem Feuerleitstand verbunden war. Die Hunde meldeten getreulich, sie hätten das Zentrum des Leitstandes erreicht, kehrten aber im Lauf der Sitzung, in der sie ausgeschickt wurden, nicht mehr zu Khouri zurück. Ein paar Stunden genügten nicht, um jede Ritze und jeden Winkel des byzantinisch verschnörkelten Datenraums auszuschnüffeln, also blieben sie mehr als einen Tag im System.
Als Khouri sich nächstes Mal an das Interface anschloss, kehrten die Hunde zur Mademoiselle zurück. Die hob die Chiffrierung auf und entschlüsselte, was sie apportiert hatten.
Als die Mademoiselle nach der Sitzung mit Khouri allein war, sagte sie: »Sie hat einen blinden Passagier. Irgendetwas hat sich im Leitstandsystem versteckt, und ich möchte wetten, dass sie davon nichts ahnt.«
Damit war Khouris Gelassenheit gegenüber dem Feuerleitstand dahin. Sie spürte, wie ihre Körpertemperatur absackte. »Weiter«, sagte sie.
»Eine Daten-Entität: das ist die beste Beschreibung, die ich finden kann.«
»Und die Hunde sind darauf gestoßen?«
»Ja, aber…« Wieder schien die Mademoiselle nach Worten zu ringen. Manchmal war diese Ratlosigkeit vielleicht sogar echt, dachte Khouri, immer dann, wenn das Implantat mit einer Situation konfrontiert wurde, die Lichtjahre von den Erwartungen der echten Mademoiselle entfernt war. »Sie haben es nicht etwa gesehen, nicht einmal einen Teil davon. Dafür ist es zu schwer fassbar, sonst hätten ja auch Volyovas eigene Schutzsysteme Alarm geschlagen. Man könnte eher sagen, sie spürten eine Leere, wo es eben noch gewesen war, den Luftzug seiner Bewegung.«
»Tun Sie mir einen Gefallen«, bat Khouri. »Machen Sie, verdammt noch mal, keine Schauergeschichte daraus.«
»Es tut mir Leid«, antwortete die Mademoiselle. »Aber ich kann nicht leugnen, dass dieses Wesen Anlass zur Beunruhigung gibt.«
»Sie sind beunruhigt? Was glauben Sie, wie ich mich fühle?« Khouri schüttelte benommen den Kopf. Die Realität war manchmal von einer erschütternden Niederträchtigkeit. »Na schön; was ist es Ihrer Meinung nach? Ein Virus wie all die anderen, die an diesem Schiff fressen?«
»Dafür ist es zu hoch entwickelt. Das Schiff ist dank Volyovas eigener Schutzvorrichtungen trotz der anderen Virusentitäten funktionsfähig geblieben, sie konnte sogar die Schmelzseuche in Schach halten. Aber dies…« In den Augen der Mademoiselle stand eine Angst, die sehr überzeugend wirkte. »Es hat die Hunde erschreckt, Khouri. Es ist ihnen so geschickt ausgewichen, wie ich es kaum je erlebt habe. Aber es hat sie nicht angegriffen, und das beunruhigt mich noch mehr.«
»Ja?«
»Weil ich daraus schließen muss, dass es den rechten Moment abwartet.«
Sylveste wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatten. Vielleicht waren es nur Minuten gewesen, vollgepackt mit adrenalingeladenen Fieberträumen von einer chaotischen Flucht, vielleicht auch Stunden oder gar ein halber Tag. Es war nicht festzustellen. Jedenfalls waren sie nicht einfach vor Erschöpfung eingeschlafen. Als Sylveste hochfuhr, wurde ihm mit einem Schlag klar, dass sie Schlafgas eingeatmet hatten, das ins Tunnelsystem gepumpt worden war. Kein Wunder, dass ihnen die Luft so frisch und wohlriechend erschienen war.
Da, ein Rascheln wie von Ratten unter dem Dach.
Er rüttelte Pascale wach; sie kam mit einem kläglichen Wimmern zu sich und weigerte sich Minuten lang, ihre Umgebung und ihre Situation zur Kenntnis zu nehmen. Sylveste studierte die Wärmesignaturen ihres Gesichts und konnte beobachten, wie seine wächserne Starre von einer ausdrucksvollen Mischung aus Reue und Angst verdrängt wurde.
»Wir müssen weiter«, sagte er. »Sie sind hinter uns her — sie haben die Tunnel vergast.«
Das Rascheln kam mit jeder Sekunde näher. Pascale schwebte immer noch irgendwo zwischen Traum und Wachen, aber sie öffnete den Mund und fragte mit einer Stimme, als spräche sie durch Watte: »Wohin?«
»Hier hinein«, sagte Sylveste, packte sie und schob sie auf die nächste ventilähnliche Tunnelöffnung zu. Als sie auf dem glatten Boden ausrutschte, half er ihr beim Aufstehen, dann drängte er sich an ihr vorbei und nahm ihre Hand. Im Tunnel war es so dunkel, dass er auch mit seinen Augen nur wenige Meter weit sehen konnte. Im Grunde war er kaum weniger blind als seine Frau.
Immerhin besser als gar nichts.
»Warte«, sagte Pascale. »Hinter uns ist Licht, Dan!«
Jetzt hörte er auch Stimmen. Hektisches, unverständliches Geschnatter. Steriles Metallklirren. Wahrscheinlich hatten schon Batterien von Chemosensoren ihre Spur aufgenommen, untersuchten Pheromonschnüffler die Luft auf die Ausdünstungen panisch verängstigter Menschen und übermittelten ihre Daten direkt an die Sensorien der Jäger.
»Schneller«, drängte Pascale. Sylveste warf einen Blick zurück, doch die neue Helligkeit war zu viel für seine Augen. Er sah nur einen zuckenden bläulichen Schein am Tunneleingang, als halte jemand eine Fackel in der Hand. Er wollte das Tempo steigern, aber der Tunnel führte steil nach oben, und sie hatten Mühe, an den glasglatten Wänden Halt zu finden; es war, als wollten sie einen Eiskanal hinaufklettern.
Keuchende Atemzüge, Metall, das gegen die Wände kratzte, bellende Kommandos.
Der Anstieg wurde zu steil. Sie hatten ständig zu kämpfen, um nur das Gleichgewicht zu halten und nicht zurückzurutschen. »Bleib hinter mir«, sagte er und wandte sich zu dem blauen Licht um.
Pascale schob sich hastig an ihm vorbei.
»Was jetzt?«
Das Licht schwankte und wurde unmerklich stärker. »Wir haben keine Wahl«, sagte Sylveste. »Wir können ihnen nicht entkommen, Pascale. Wir müssen stehen bleiben und uns stellen.«
»Das ist Selbstmord.«
»Vielleicht verschonen sie uns, wenn sie uns ins Gesicht sehen müssen.«
Eine Hoffnung, dachte er bei sich, die durch viertausend Jahre menschlicher Zivilisation als vergeblich entlarvt sein dürfte, aber was zählte das, wenn es keinen Ausweg mehr gab? Seine Frau legte ihm von hinten die Arme um den Oberkörper, drückte ihre Wange an die seine und schaute in die gleiche Richtung. Sylveste hörte ihre keuchenden Atemzüge und war überzeugt, dass sein Atem nicht viel anders klang.
Der Feind konnte ihre Angst wahrscheinlich riechen — im wahrsten Sinne des Wortes.
»Pascale«, begann Sylveste. »Ich muss dir etwas sagen.«
»Jetzt?«
»Ja, jetzt.« Er konnte seine Atemzüge nicht mehr von den ihren unterscheiden, spürte jedes Ausatmen wie einen Schlag auf der Haut. »Ich habe es schon zu lange geheim gehalten. Vielleicht bekomme ich keine Chance mehr, es noch jemand anderem zu erzählen.«
»Du meinst, wir müssen sterben?«
Er vermied eine direkte Antwort. Mit einem Teil seines Bewusstseins suchte er abzuschätzen, wie viele Sekunden ihnen noch blieben. Vielleicht reichte die Zeit nicht einmal mehr für das, was er zu sagen hatte. »Ich habe gelogen«, begann er. »Damals vor Lascailles Schleier war alles ganz anders.«
Sie setzte zum Sprechen an.
»Nein, warte«, sagte Sylveste. »Lass mich ausreden. Ich muss es dir sagen. Ich muss es loswerden.«
Ihre Stimme war nur ein Flüstern. »Dann sprich.«
»Die einzelnen Ereignisse haben tatsächlich stattgefunden.« Ihre Augen waren riesengroß geworden; ovale Löcher in der thermografischen Karte ihres Gesichts. »Es war nur genau umgekehrt. Nicht Carine Lefevres Transform begann zu zerfallen, als wir in die Nähe des Schleiers kamen.«
»Was soll das heißen?«
»Es war mein Transform. Ich war es, der uns beinahe alle beide in den Tod gerissen hätte.« Er hielt inne und wartete. Auf eine Äußerung von ihr oder dass die Verfolger aus dem blauen Schein hervorbrächen, der langsam immer näher kroch. Als nichts geschah, fuhr er, ganz im Banne seines Geständnisses, fort: »Mein Schieber-Transform löste sich allmählich auf. Die Schwerkraftfelder um den Schleier gingen zum Angriff über. Carine war dem Tod geweiht, wenn ich meine Hälfte des Kontaktmoduls nicht absprengte.«
Er sah förmlich vor sich, wie sie sich bemühte, diese Aussage mit der Schablone zur Deckung zu bringen, die sie im Kopf hatte, mit der allgemein verbreiteten Geschichte, mit der sie aufgewachsen war. Was er da sagte, konnte, durfte nicht wahr sein. Es war doch alles ganz einfach gewesen. Lefevres Transform war zerfallen; Lefevre hatte das große Opfer gebracht und ihre Hälfte des Kontaktmoduls abgesprengt, um Sylveste die Chance zu geben, den brutalen Zusammenstoß mit dem absolut Fremden zu überstehen. Es konnte nicht anders sein. Sie wusste es zu genau.
Aber was sie wusste, stimmte nicht.
»Genau das hätte ich tun sollen. Im Nachhinein sagt sich das leicht. Aber damals brachte ich es nicht über mich.« Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, und er wusste nicht, ob ihm dieser Umstand in dem Moment eine Hilfe war oder nicht. »Ich konnte die Sprengladungen nicht zünden.«
»Warum nicht?«
Jetzt möchte sie hören, dass es physisch unmöglich war, dachte er. Dass der ruhige Raumabschnitt zu eng geworden war, dass er sich nicht mehr hatte bewegen können; dass ihn die Gravitationswirbel lähmten, während sie ihm zugleich das Fleisch von den Knochen rissen. Aber das wäre eine Lüge gewesen, und über die Lügen war er jetzt hinaus.
»Ich hatte Angst«, sagte Sylveste. »Ich hatte so viel Angst wie noch nie in meinem Leben. Ich wollte nicht da draußen in der Fremde sterben. Ich hatte Angst um meine Seele. Was würde aus ihr werden an diesem Ort? Im ›Raum der Erkenntnis‹, wie Lascaille sich ausdrückte.« Er räusperte sich. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr. »Völlig irrational, aber so empfand ich nun einmal. Auf die Angst hatten uns die Simulationen nicht vorbereitet.«
»Aber du hast es geschafft.«
»Das Schiff wurde durch Gravitationswirbel auseinandergerissen; sie übernahmen die Aufgabe der Sprengladungen. Ich blieb am Leben… und das ist mir unbegreiflich. Eigentlich müsste ich tot sein.«
»Und Carine?«
Bevor er antworten konnte — Wenn er eine Antwort gehabt hätte! —, stieg ihnen ein widerlich süßer Geruch in die Nase. Wieder Schlafgas, aber diesmal konzentrierter. Es drang in seine Lungen und reizte ihn zum Niesen. Er vergaß Lascailles Schleier, vergaß Carine, vergaß, dass er an ihrem Schicksal schuld war. Plötzlich gab es im ganzen Universum nichts Wichtigeres als diesen Niesreiz.
Und den Drang, sich die Haut vom Leibe zu reißen.
Ein Mann zeichnete sich vor dem Blau ab. Sein Gesicht war unter der Maske nicht zu erkennen, aber seine Haltung drückte nur gelangweilte Gleichgültigkeit aus. Lässig hob er den linken Arm. Zuerst schien es, als hielte er ein Megafon, aber dafür verriet die Bewegung zu viel Entschlossenheit. Er zielte in aller Ruhe, bis die trichterförmige Waffe genau auf Sylvestes Augen gerichtet war.
Dann zog er den Abzug durch — kein Laut war zu hören —, und ein glühender Schmerzpfeil bohrte sich in Sylvestes Gehirn.