Mantell, Nord-Nekhebet, Resurgam,
Delta Pavonis-System
2551
Ein Schmirgelsturm war im Anzug.
Sylveste stand am Rand der Ausgrabungsstätte und wusste nicht, ob seine Arbeit die Nacht überstehen würde. Die Grabung bestand aus einer Reihe von tiefen, quadratischen Schächten, die durch glatte Erdwälle voneinander getrennt waren: ein klassisches Wheeler-Gitter. Die Schächte waren zwanzig bis dreißig Meter tief, durchsichtige Kästen aus Hyperdiamant, so genannte Caissons, schützten die Wände. Erdschichten, entstanden in einer Million Jahre geologischer Entwicklung, drückten von außen gegen die Caissons. Und ein einziger größerer Staubeinbruch — oder ein schwerer Schmirgelsturm — konnte die Schächte bis zum Rand füllen.
»Bestätigung, Sir.« Einer seiner Mitarbeiter stieg aus einem niedrigen Fahrzeug, dem ersten Schlepper. Die Atemmaske dämpfte seine Stimme. »Cuvier hat soeben eine dringende Sturmwarnung für die gesamte Landmasse von Nord-Nekhebet ausgegeben. Allen Teams, die an der Oberfläche arbeiten, wird empfohlen, den nächsten Stützpunkt aufzusuchen.«
»Soll das heißen, wir müssen zusammenpacken und nach Mantell zurückfahren?«
»Es wird ein schlimmer Sturm, Sir.« Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen und zog sich den Jackenkragen höher. »Soll ich den Befehl zur allgemeinen Evakuierung geben?«
Sylveste sah auf die Grabung hinab. Die Schachtwände glänzten im hellen Licht der ringsum aufgestellten Scheinwerfer. Pavonis stieg in diesen Breiten nie hoch genug, um ausreichend Licht zu spenden; jetzt stand sie, von dichten Staubwolken verhüllt, dicht über dem Horizont, ein matter, rostroter Fleck, auf den sich das Auge nur mit Mühe einstellen konnte. Bald würden die ersten Sandhosen wie wild gewordene Spielzeugkreisel über die Ptero-Steppe jagen, gefolgt von einem himmelhohen, schwarzen Amboss, der Hauptsäule des Sturms.
»Nein«, sagte er. »Wir brauchen nicht wegzugehen. Der Platz ist gut geschützt — die Felsen zeigen kaum Erosionsspuren, falls Sie das noch nicht bemerkt haben sollten. Sollte der Sturm zu heftig werden, können wir uns in die Schlepper flüchten.«
Der Mann warf einen Blick auf die Felsen und schüttelte den Kopf, als traue er seinen Ohren nicht. »Sir, eine solche Warnung gibt Cuvier nur alle ein bis zwei Jahre heraus — sie liegt eine volle Dringlichkeitsstufe höher als alles, was wir je erlebt haben.«
»Das ist Ihre Ansicht«, sagte Sylveste. Er hatte wohl bemerkt, wie der Mann ihm unwillkürlich in die Augen sah und den Blick verlegen wieder abwandte. »Und jetzt hören Sie mir genau zu. Wir können uns nicht leisten, die Grabung aufzugeben. Verstanden?«
Der Mann schaute zum Gitter zurück. »Wir könnten alles, was wir freigelegt haben, mit Planen schützen. Und Transponder versenken. Dann finden wir die Stätte hinterher wieder, auch wenn der Staub alle Schächte zugedeckt haben sollte, und können weitermachen.« Ängstlich flehten die Augen des Mannes hinter der Schutzbrille. »Nach unserer Rückkehr können wir über dem gesamten Gitter eine Kuppel errichten. Wäre das nicht besser, Sir, als hier zu bleiben und Menschenleben und Material aufs Spiel zu setzen?«
Sylveste trat einen Schritt auf den Mann zu und zwang ihn damit, zum nächsten Schacht zurückzuweichen. »Wir gehen folgendermaßen vor. Sie teilen allen Teams mit, dass die Arbeit bis auf weiteres fortgesetzt wird. Eine Rückkehr nach Mantell kommt nicht in Frage. Vorerst werden nur die empfindlichsten Instrumente in die Schlepper gebracht. Verstanden?«
»Und die Menschen, Sir?«
»Die Menschen werden tun, wozu sie hier sind. Sie werden weitergraben.«
Sylveste sah seinen Untergebenen so vorwurfsvoll an, als warte er förmlich darauf, dass der Einwände erhöbe, doch der Mann zögerte nur einen Moment, dann machte er auf dem Absatz kehrt und hastete, die Wälle routiniert überspringend, über das Gitter davon. Die empfindlichen Gravitationsscanner, die wie Kanonen mit abwärts gerichteten Rohren um das Gitter herum postiert waren, schwankten leicht im auffrischenden Wind.
Sylveste wartete, dann nahm er den gleichen Weg, bog aber nach einigen Schächten seitlich ab. Etwa in der Mitte der Grabung hatte man vier Felder des Gitters zu einem einzigen großen Schacht mit dreißig Metern Seitenlänge und etwa gleicher Tiefe verbunden. Die Wände waren gefliest. An einer Seite war eine Leiter angebracht, auf der Sylveste nun rasch in die Tiefe stieg. Er war diese Leiter in den letzten Wochen so oft auf und ab geklettert, dass er schon fast beunruhigt war, weil er keinerlei Höhenangst mehr verspürte. Hinter der Caisson-Wand zogen die geologischen Epochen an ihm vorbei. Seit dem Ereignis waren neunhunderttausend Jahre vergangen. Zumeist handelte es sich um Permafrost-Schichten — typisch für die subpolaren Breiten von Resurgam, wo der Boden niemals auftaute. Weiter unten — näher am Ereignis — hatten spätere Einschläge eine Schicht Regolith abgelagert. Das Ereignis selbst war als haarfeine schwarze Linie zu erkennen — die Asche der brennenden Wälder.
Der Boden der Grube war nicht eben, sondern setzte sich in immer schmaler werdenden Stufen bis in eine Tiefe von vierzig Metern fort. Man hatte zusätzliche Scheinwerfer heruntergebracht, um das Dunkel zu erhellen. Hier ging es auf engstem Raum zu wie in einem Bienenstock. Dank der schützenden Wände war vom Wind hier nichts zu spüren. Gearbeitet wurde nahezu lautlos. Das Grabungsteam kniete auf Matten auf dem Boden und hantierte mit Präzisionsinstrumenten, die man in früheren Zeiten vielleicht für chirurgische Eingriffe verwendet hätte. Drei von den Leuten waren junge Studenten aus Cuvier — auf Resurgam geboren. Neben ihnen lauerte ein Servomat auf Befehle. In den Frühphasen einer Grabung setzte man durchaus Maschinen ein, doch die abschließenden Arbeiten konnte man ihnen nicht allein überlassen. Bei der Gruppe saß eine Frau mit einem Notepad auf dem Schoß, dessen Bildschirm eine kladistische Klassifizierung amarantinischer Schädel zeigte. Die Frau bemerkte Sylveste erst jetzt — er war sehr vorsichtig aufgetreten —, stand hastig auf und klappte das Notepad zu. Sie trug einen Wintermantel, das schwarze Haar hing ihr in die Stirn und bildete über den Brauen eine schnurgerade Linie.
»Sie hatten Recht«, sagte sie. »Was immer es auch sein mag, es ist riesig. Und es scheint erstaunlich gut erhalten zu sein.«
»Irgendwelche Theorien, Pascale?«
»Das ist doch wohl eher Ihr Gebiet? Ich verfasse nur die Kommentare.« Pascale Dubois war eine junge Journalistin aus Cuvier, die von Anfang an über die Ausgrabungen berichtet hatte. Sie wühlte oft Seite an Seite mit den echten Archäologen im Dreck und hatte auch ihr Fachchinesisch gelernt. »Die Leichen sind grausig, finden Sie nicht? Obwohl es Aliens sind, spürt man förmlich, wie sie gelitten haben müssen.«
An einer Seite des Schachts hatte man dicht neben den Stufen, die weiter in die Tiefe führten, zwei Grabkammern mit Steinwänden entdeckt. Diese Kammern waren fast unversehrt, obwohl sie — mindestens — neunhunderttausend Jahre lang verschüttet gewesen waren, und die Gebeine lagen immer noch so, dass die Anatomie in groben Zügen erkennbar war. Es waren typisch amarantinische Skelette, aber auf den ersten Blick hätte man sie — wenn man nicht gerade Anthropologe war — auch für menschliche Überreste halten können. Sie hatten vier Gliedmaßen, davon zwei Beine, waren etwa so groß wie Menschen und zeigten oberflächliche Ähnlichkeiten in der Knochenstruktur. Auch das Schädelvolumen war vergleichbar, und die Sinnes- und Atemorgane sowie die Sprechwerkzeuge befanden sich etwa an den gleichen Stellen wie beim Menschen. Doch die Schädel der beiden Amarantin waren langgestreckt und vogelartig, und zwischen den tiefen Augenhöhlen sprang ein Knochenwulst vor, der sich bis zur Spitze des schnabelähnlich ausgebildeten Oberkiefers hinunterzog. Da und dort spannten sich vertrocknete, bräunliche Gewebestränge über die Gebeine und hielten die Körper in einer Hockstellung, die qualvoll anmutete. Es handelte sich nicht um einen Fossilienfund im eigentlichen Sinne: es hatte keine Mineralisierung stattgefunden, und die Grabkammern waren bis auf die Knochen und eine Hand voll technomischer Artefakte, die man mit den Toten begraben hatte, leer.
Sylveste bückte sich und strich über einen der Schädel. »Vielleicht«, sagte er, »wollte man diesen Eindruck erwecken.«
»Nein«, widersprach Pascale. »Die Knochen wurden durch das trocknende Gewebe verdreht.«
»Es sei denn, sie wären so begraben worden.«
Während er den Schädel betastete — die Handschuhe übermittelten die taktilen Informationen an seine Fingerspitzen —, sah er sich plötzlich in einen gelben Raum hoch über Chasm City zurückversetzt. An den Wänden hingen Aquarelle von Methan-Eis-Landschaften. Livrierte Servomaten mit Naschwerk und Likören fuhren zwischen den Gästen hindurch; bunte Kreppbahnen hingen von der durchsichtigen Decke; kitschige entoptische Figuren im Stil der Zeit — Seraphim, Cherubim, Kolibris und Feen — schwirrten durch die Luft. Man hatte Gäste: zumeist Freunde der Familie, die er entweder kaum kannte oder verabscheute. Eigene Freunde hatte er nur wenige. Sein Vater kam wie üblich zu spät: die Party neigte sich bereits dem Ende entgegen, als Calvin endlich zu erscheinen geruhte. Das war nicht ungewöhnlich; Calvin steckte damals gerade tief in seinem letzten und größten Projekt, und schon dessen Verwirklichung war im Grunde nicht weniger als ein langsames Sterben gewesen. Der Selbstmord bei der Vollendung seines Lebenswerkes war nur die Krönung.
Sylveste erinnerte sich, wie ihm sein Vater eine Schachtel überreichte, deren Seiten mit verschlungenen Ribonuklein-Strängen verziert waren.
»Mach sie auf«, hatte Calvin gesagt.
Er hatte die Schachtel genommen. Sie war ganz leicht. Als er den Deckel herunterriss, kam ein Nest aus faserigem Packmaterial zum Vorschein. Darin lag ein braunfleckiges, rundes Ding von der gleichen Farbe wie die Schachtel. Der obere Teil eines Schädels, offensichtlich menschlicher Herkunft. Der Unterkiefer fehlte.
Im Raum war es still geworden.
»Ist das alles?«, hatte Sylveste gefragt, gerade so laut, dass alle Anwesenden es hören konnten. »Ein alter Knochen? Vielen Dank, Dad, ich bin tief beschämt.«
»Dazu hast du auch allen Grund«, versetzte Calvin.
Calvin hatte leider Recht, Sylveste begriff es im nächsten Moment. Der Schädel war unglaublich wertvoll; zweihunderttausend Jahre alt — eine Frau aus Atapuerca, Spanien, wie er wenig später erfuhr. Der Zeitpunkt ihres Todes war schon aus dem Kontext des Fundorts offensichtlich, aber die Archäologen hatten die Schätzung mit den modernsten Verfahren ihrer Zeit noch verfeinert: Kalium-Argon-Bestimmung der Felsen ihrer Begräbnishöhle, Uran-System-Untersuchung der Travertin-Ablagerungen an den Wänden, Fission-Track-Analyse der Vulkanglaspartikel und Thermolumineszenz-Datierung von verbrannten Feuersteinfragmenten. Alles Techniken, die — mit einigen Verbesserungen, was die Genauigkeit und die Bedienerfreundlichkeit anging — auch von den Grabungsteams auf Resurgam noch eingesetzt wurden. Die Physik lieferte nur eine begrenzte Zahl von Methoden zur Altersbestimmung. Eigentlich hätte Sylveste sofort begreifen und den Schädel richtig einordnen müssen: er war das älteste Relikt der Menschheit auf Yellowstone, vor Jahrhunderten ins Epsilon-Eridani-System gebracht und beim Kolonialaufstand verloren gegangen. Dass Calvin ihn wiedergefunden hatte, war an sich schon ein kleines Wunder.
Sylveste wurde rot, allerdings weniger vor Scham über seine Undankbarkeit, als weil er seine Unwissenheit so offen kundgetan hatte, obwohl es doch so einfach gewesen wäre, sie zu kaschieren. Eine solche Schwäche sollte ihm niemals wieder unterlaufen, gelobte er sich. Jahre später hatte er den Schädel als dauerhafte Mahnung an diesen Vorsatz mit nach Resurgam genommen.
Er durfte jetzt nicht scheitern.
»Wenn Ihre Vermutung richtig ist«, sagte Pascale, »dann muss es für diese Art der Beisetzung einen Grund geben.«
»Vielleicht sollte es eine Warnung sein«, sagte Sylveste und stieg zu den drei Studenten hinunter.
»So etwas hatte ich schon befürchtet«, sagte Pascale und folgte ihm. »Und worauf sollte sich eine so schreckliche Warnung bezogen haben?«
Die Frage war wohl eher rhetorisch, dachte Sylveste. Sie kannte seine Ansichten über die Amarantin nur zu gut, und es bereitete ihr offenbar ein diebisches Vergnügen, ihn damit zu necken. Als wollte sie ihn so lange zwingen, seine Theorien zu wiederholen, bis irgendwann ein logischer Fehler auftauchte; ein Fehler, von dem sogar er selbst zugeben musste, dass er seine ganze Argumentation ins Wanken brachte.
»Auf das Ereignis«, sagte Sylveste und fuhr die feine schwarze Linie hinter dem nächsten Caisson nach.
»Das Ereignis ist über die Amarantin hereingebrochen«, wandte Pascale ein. »Sie hatten dabei nichts mitzureden. Und es ging sehr schnell. Sie hätten keine Zeit gehabt, mit der Beisetzung ihrer Leichen finstere Drohungen auszustoßen, immer vorausgesetzt, sie hätten überhaupt geahnt, was ihnen bevorstand.«
»Sie hatten die Götter erzürnt«, sagte Sylveste.
»Ja«, nickte Pascale. »Wir sind uns wohl alle insoweit einig, dass sie das Ereignis aus ihren rigiden Glaubensvorstellungen heraus als Zeichen göttlichen Missfallens gedeutet hätten — aber sie hätten keine Zeit gehabt, dieser Überzeugung vor ihrem Tod noch in irgendeiner Form dauerhaft Ausdruck zu verleihen oder gar bei der Beisetzung ihrer Toten Rücksicht auf künftige Archäologen einer anderen Spezies zu nehmen.« Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und band sie zu — feine Staubschleier kamen in die Grube herabgeschwebt, und die Luft war nicht mehr so unbewegt wie noch vor wenigen Minuten. »Aber Sie sind da anderer Ansicht?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lüftete sie ihre Stirnfransen und zog sich eine riesige Schutzbrille über die Augen. Dann schaute sie auf das Objekt hinab, das nun allmählich zum Vorschein kam.
Pascale sah durch ihre Schutzbrille die Daten der Gravitationsscanner, die um das Wheeler-Gitter herum postiert waren, und darunter im Normalmodus eine stereoskopische Ansicht vergrabener Massen. Sylveste brauchte nur seinen Augen einen entsprechenden Befehl zu geben, und der Boden, auf dem sie standen, wurde glasig und verlor an Substanz. In der trüben Matrix wurde ein riesiges Objekt sichtbar, ein Obelisk — ein behauener Felsblock von mehr als zwanzig Metern Höhe, der von mehreren Steinsarkophagen umgeben war. Bislang hatte man nur wenige Zentimeter der Oberseite freigelegt. An einer Seite war eine Inschrift in den üblichen Schriftzeichen der späten Amarantin-Phase zu erkennen. Aber die Auflösung der Gravitationsscanner reichte nicht aus, um den Text lesbar zu machen. Solange sie den Obelisken nicht vollends ausgegraben hatten, würden sie nicht mehr erfahren.
Sylveste schaltete seine Augen auf Normalbetrieb zurück. »Beeilt euch«, ermahnte er seine Studenten. »Kleinere Beschädigungen der Oberfläche kümmern mich nicht.
Aber ich möchte, dass bis heute Abend mindestens ein Meter von dem Ding zu sehen ist.«
Einer der jungen Leute drehte sich zu ihm um, ohne sich von den Knien zu erheben. »Sir, wir haben gehört, die Grabung müsse aufgegeben werden.«
»Warum, in aller Welt, sollte ich eine Grabung aufgeben?«
»Wegen des Sturms, Sir.«
»Zum Teufel mit dem Sturm.« Er wollte sich schon abwenden, doch Pascale packte mit etwas zu festem Griff seinen Arm.
»Ihre Besorgnis ist berechtigt, Dan.« Sie sprach so leise, dass nur er sie verstehen konnte. »Ich habe die Warnung auch gehört. Wir sollten nach Mantell zurückfahren.«
»Dann geht hier alles verloren!«
»Wir kommen zurück.«
»Selbst wenn wir einen Transponder versenken, finden wir die Stelle womöglich nie wieder.« Er wusste, dass er im Recht war: die Grabung war nicht gesichert, und die Karten für diese Gegend waren nicht sonderlich genau; man hatte sie in aller Eile zusammengestellt, als die Lorean vor vierzig Jahren von Yellowstone kommend in die Umlaufbahn gegangen war. Seit bei der Meuterei zwanzig Jahre später — als sich die Hälfte der Kolonisten zusammenrottete, um das Schiff in ihre Gewalt zu bringen und damit nach Hause zu fliegen — der Satellitengürtel zerstört worden war, gab es keine Möglichkeit mehr, auf Resurgam exakte geografische Positionsbestimmungen vorzunehmen. Und in einem Schmirgelsturm hatte schon so mancher Transponder versagt.
»Trotz allem lohnt es sich nicht, für eine Ausgrabung Menschenleben aufs Spiel zu setzen«, sagte Pascale.
»Für diese Ausgrabung lohnt sich vielleicht noch viel mehr.« Er schnippte mit den Fingern. »Schneller«, rief er den Studenten zu. »Nehmt notfalls den Servomaten. Bis morgen früh will ich die Oberseite dieses Obelisken sehen.«
Sluka, seine dienstälteste Studentin, murmelte etwas vor sich hin.
»Wollten Sie noch etwas sagen?«, fragte Sylveste.
Sluka stand auf — wahrscheinlich zum ersten Mal seit mehreren Stunden. Die Anspannung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die kleine Spachtel, mit der sie gearbeitet hatte, fiel zu Boden und blieb neben ihren Füßen liegen, die in Eskimoschuhen, so genannten Mukluks steckten. Sie riss sich die Maske vom Gesicht und atmete für ein paar Sekunden Resurgam-Luft. »Wir müssen miteinander reden«, sagte sie.
»Worüber, Sluka?«
Sluka nahm ein paar Atemzüge durch die Maske, dann fuhr sie fort. »Sie wollen das Glück erzwingen, Dr. Sylveste.«
»Sie haben das Ihre soeben verspielt.«
Sie überhörte die Bemerkung. »Ihre Arbeit bedeutet uns viel, und das wissen Sie. Wir teilen Ihre Überzeugungen. Deshalb sind wir hier und rackern uns für Sie ab. Aber Sie sollten das nicht für selbstverständlich halten.« Sie streifte Pascale mit funkelndem Blick. »Im Moment brauchen Sie alle Verbündeten, die Sie nur finden können, Dr. Sylveste.«
»Soll das eine Drohung sein?«
»Nur eine Feststellung. Wenn Sie sich mehr darum kümmern würden, was in der Kolonie vorgeht, dann wüssten Sie, dass Girardieu es schon seit langem auf Sie abgesehen hat. Und wie man hört, will er sehr viel früher zuschlagen, als Sie denken.«
Er spürte ein Kribbeln im Nacken. »Wovon reden Sie da?«
»Von einem Umsturz, was sonst?« Sluka drängte sich an ihm vorbei zur Seitenwand und setzte den Fuß auf die unterste Sprosse der Leiter. Dann drehte sie sich noch einmal um und wandte sich an die beiden anderen Studenten, die sich tief über ihre Arbeit beugten und offenbar nichts anderes im Sinn hatten, als den Obelisken freizulegen. »Macht ruhig weiter, so lange ihr wollt, aber sagt hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt. Wenn ihr nicht wisst, was es heißt, in einen Schmirgelsturm zu geraten, dann braucht ihr euch nur Sylveste anzusehen.«
Einer der Studenten schaute auf und fragte schüchtern: »Wo gehst du hin, Sluka?«
»Ich will mit den anderen Teams reden. Vielleicht haben noch nicht alle die Sturmwarnung gehört. Ich glaube nicht, dass viele um jeden Preis hier bleiben wollen, wenn sie erst Bescheid wissen.«
Sie machte sich an den Aufstieg, aber Sylveste hielt sie an der Ferse eines Mukluk fest. Sluka schaute auf ihn nieder. Sie hatte die Maske wieder angelegt, aber Sylveste sah die Verachtung in ihrem Blick. »Sie sind erledigt, Sluka.«
»Nein«, sagte sie und kletterte weiter. »Ich fange gerade erst an. An Ihrer Stelle würde ich mir um mich selbst Sorgen machen.«
Sylveste horchte in sich hinein und stellte fest, dass er vollkommen ruhig war. Damit hatte er ganz und gar nicht gerechnet. Aber es war die Ruhe über den metallisch glänzenden Wasserstoffmeeren der Gasriesen in größerer Entfernung von Pavonis — eine Ruhe, die nur durch mörderischen Druck von oben und unten aufrechterhalten wurde.
»Nun?«, fragte Pascale.
»Ich muss mit jemandem reden«, sagte Sylveste.
Sylveste stieg die Rampe zu seinem Schlepper hinauf. Die andere Maschine war vollgepfropft mit Regalen und Probenbehältern. Dazwischen hingen in schmalen Nischen die Hängematten der Studenten. Sie mussten in den Fahrzeugen schlafen, weil die Grabung — wie einige andere im Bezirk — mehr als eine Tagereise weit von Mantell entfernt war. Sylvestes Schlepper war um einiges komfortabler ausgestattet. Sein Schlaf- und Wohnbereich nahm mehr als ein Drittel des Innenraums ein. Der Rest wurde als zusätzlicher Frachtraum genützt, außerdem waren zwei bescheidene Kabinen für höherrangige Mitarbeiter und für Gäste vorhanden. Hier schliefen sonst Sluka und Pascale. Im Augenblick hatte er jedoch den ganzen Raum für sich allein.
Die feudale Einrichtung der Kabine täuschte darüber hinweg, dass man sich in einem Schlepper befand. Alles war mit rotem Samt ausgeschlagen, auf den Regalen standen Reproduktionen wissenschaftlicher Instrumente und archäologischer Funde. Große, kunstvoll beschriftete Mercator-Karten von Resurgam, auf denen alle größeren Amarantin-Fundstätten verzeichnet waren, zierten die Wände; andere Flächen waren mit Texten bedeckt, die sich langsam aktualisierten: hier entstanden wissenschaftliche Aufsätze. Mittlerweile erledigte Sylvestes Beta-Sim die meisten Routinearbeiten selbständig; er hatte die Simulation so ausgebildet, dass sie seinen persönlichen Stil zuverlässiger imitierte, als er selbst bei den momentanen Ablenkungen dazu imstande gewesen wäre. Sobald er Zeit dazu fand, musste er wohl oder übel Korrektur lesen, doch jetzt gönnte er den Texten nur einen flüchtigen Blick, dann trat er an seinen Schreibsekretär. Der pompöse Aufsatz aus Marmor und Malachit war mit japanischen Lackintarsien geschmückt, die Szenen aus der Frühzeit der Raumfahrt zeigten.
Sylveste zog eine Schublade auf und entnahm ihr eine Simulationskassette, eine unbeschriftete graue Tafel, die aussah wie eine Keramikfliese. In der Platte des Schreibpults befand sich ein Schlitz. Er brauchte die Kassette nur einzuführen, um Calvin erstehen zu lassen. Trotzdem zögerte er. Seit er Calvin zum letzten Mal von den Toten auferweckt hatte, war viel Zeit vergangen — auf jeden Fall mehrere Monate. Aber jene Begegnung hatte einen so katastrophalen Verlauf genommen, dass er sich geschworen hatte, Calvin nur noch in einer schweren Krise zu rufen. Jetzt galt es zu entscheiden, ob es tatsächlich eine Krise gab — und ob sie beunruhigend genug war, um Calvins Auferstehung zu rechtfertigen. Die Schwierigkeit war, dass seine Ratschläge nur etwa zur Hälfte seriös waren.
Sylveste drückte die Kassette in den Schlitz.
Feen erschienen in der Mitte des Raums und woben eine Lichtgestalt: Calvin in einem riesigen Thronsessel. Die Erscheinung war realistischer als jedes Hologramm — selbst feinste Schattierungen waren zu erkennen —, denn sie wurde durch direkte Einwirkung auf Sylvestes Sehzentrum erzeugt. Die Beta-Simulation stellte Calvin so dar, wie ihn die Öffentlichkeit am besten in Erinnerung hatte: mit knapp fünfzig Jahren zu seiner Glanzzeit auf Yellowstone. Seltsamerweise sah Calvins Abbild älter aus als Sylveste, obwohl es biologisch gesehen siebzig Jahre jünger war. Sylveste befand sich im achten Jahr seines dritten Lebensjahrhunderts, aber die Langlebigkeitsbehandlungen, die er auf Yellowstone erhalten hatte, waren deutlich besser gewesen als zu Calvins Zeit.
Ansonsten hatten sie die gleichen Gesichtszüge und den gleichen Körperbau. Beide zogen ständig ironisch die Mundwinkel nach unten. Sylveste bevorzugte auf Expeditionen eher schlichte Kleidung. Calvin trug das Haar kürzer und hatte sich in Schale geworfen, wie es in der Belle Epoque der Demarchie Mode war: ein weites Frackhemd und elegante Karohosen, die in Seeräuberstiefeln steckten. An seinen Händen blitzten Gold und Edelsteine. Der makellos gestutzte, rostrote Bart betonte dezent die Kieferlinie. Kleine entoptische Figuren umschwebten den Sitzenden, Symbole aus der Booleschen und der dreiwertigen Logik und lange Binärzahlenketten. Mit einer Hand betastete er die Bartstoppeln unter seinem Kinn, während die andere mit den verschnörkelten Schnitzereien am Ende der Armlehne spielte.
Eine Animationswelle glitt über die Projektion, und in die fahlen Augen trat ein wacher Glanz.
Calvin hob träge die Finger zum Gruß. »Aha…«, sagte er. »Die Scheiße hat sich also wieder einmal auf den Weg zum Ventilator gemacht.«
»Du unterstellst eine ganze Menge.«
»Das habe ich gar nicht nötig, mein lieber Junge. Ich bin nur eben ins Netz gegangen und habe mir die letzten paar tausend Nachrichten angesehen.« Er reckte den Kopf und sah sich um. »Nicht schlecht, die Bude«, lobte er. »Wie geht’s übrigens deinen Augen?«
»Wie zu erwarten. Sie funktionieren.«
Calvin nickte. »Die Auflösung ist nicht besonders, aber mehr war mit den Mitteln, die mir zur Verfügung standen, nicht zu erreichen. Wahrscheinlich konnte ich allenfalls vierzig Prozent deiner Sehnervkanäle anschließen, bessere Kameras einzusetzen wäre also zwecklos gewesen. Wenn auf diesem Planeten halbwegs anständige chirurgische Instrumente zu bekommen wären, ließe sich vielleicht einiges noch etwas verbessern. Aber man kann Michelangelo keine Zahnbürste in die Hand drücken und dann die Sixtinische Kapelle erwarten.«
»Nur immer schön Salz in die Wunden streuen.«
»Das fiele mir doch im Traum nicht ein!« Calvin spielte die gekränkte Unschuld. »Ich finde nur, wenn du Alicia schon die Lorean überlassen musstest, dann hättest du ihr doch wenigstens einen Teil der medizinischen Geräte abhandeln können!«
Sylvestes Frau hatte zwanzig Jahre zuvor die Meuterei gegen ihn angeführt, und das ließ ihn Calvin niemals vergessen.
»Ich habe mich also sozusagen selbst geopfert.« Sylveste brachte die Projektion mit einer Armbewegung zum Schweigen. »Entschuldige, Cal, aber ich habe dich nicht gerufen, um wieder einmal gemütlich mit dir zu plaudern.«
»Kannst du nicht Vater zu mir sagen?« Sylveste stellte sich taub. »Weißt du, wo wir sind?«
»An einer Ausgrabung, nehme ich an.« Calvin schloss kurz die Augen und legte die Finger an die Schläfen, wie um seine Konzentration zu demonstrieren. »Hm. Mal sehen. Zwei Expeditions-Schlepper von Mantell, nicht weit von der Ptero-Steppe… ein Wheeler-Gitter… wie altmodisch! Aber für diesen Zweck vermutlich ausreichend. Und was ist das? Hochauflösende Gravitationsscanner… Seismogramme… du hast tatsächlich etwas gefunden, nicht wahr?«
In diesem Augenblick warf das Schreibpult eine Status-Fee aus, die einen Anruf aus Mantell meldete. Sylveste bat Calvin mit erhobener Hand um Schweigen und rang mit sich, ob er das Gespräch annehmen sollte. Der Anrufer war der Ornithologe Henry Janequin, einer seiner wenigen treuen Verbündeten. Janequin hatte den echten Calvin gekannt, aber Sylveste war ziemlich sicher, dass er das Beta-Sim nie gesehen hatte… schon gar nicht in einer Situation, in der es ganz offensichtlich von seinem Sohn um Rat gefragt wurde. Das Eingeständnis, dass er Cals Beistand brauchte — dass er auch nur daran gedacht hatte, das Sim zu Hilfe zu rufen —, konnte als kritisches Zeichen von Schwäche gedeutet werden.
»Worauf wartest du noch?«, fragte Cal. »Stell ihn durch.«
»Er weiß nichts von dir… von uns.«
Calvin schüttelte den Kopf, und plötzlich stand Janequin im Raum. Ein Schock! Sylveste rang um Fassung, aber er wusste nur zu gut, was geschehen war. Calvin hatte einen Weg gefunden, auf die abgesicherten Funktionen des Schreibpults zuzugreifen.
Er war schon immer ein Schuft gewesen, mit allen Wassern gewaschen. Doch letzten Endes, dachte Sylveste, war er ihm nur deshalb nach wie vor von Nutzen.
Janequins Vollprojektion war nicht ganz so scharf wie die von Calvin, denn sie wurde über das — gelinde gesagt lückenhafte — Satellitennetz von Mantell übertragen. Auch die Aufnahmekameras hatten wahrscheinlich schon bessere Tage gesehen, dachte Sylveste — wie so vieles auf Resurgam.
»Da bist du ja«, sagte Janequin. Er hatte zunächst nur Sylveste bemerkt. »Ich versuche dich schon seit einer Stunde zu erreichen. Kannst du dich in deiner Grube nicht anpiepsen lassen, wenn ein Anruf kommt?«
»Schon«, sagte Sylveste, »aber ich habe den Alarm abgeschaltet. Er war mir lästig.«
»Ach so«, sagte Janequin mit einem kaum hörbaren gereizten Unterton. »Sehr sinnvoll. Besonders für jemanden in deiner Lage. Du weißt natürlich, wovon ich spreche. Es gibt Ärger, Dan, mehr vielleicht, als du…« Jetzt hatte er offenbar auch Cal bemerkt. Er betrachtete die Gestalt im Lehnstuhl eine Weile, dann sagte er: »Du meine Güte. Sie sind es wirklich, nicht wahr?«
Cal nickte stumm.
»Es ist seine Beta-Simulation«, sagte Sylveste. Das musste geklärt werden, bevor das Gespräch fortgesetzt wurde; Alphas und Betas waren grundlegend verschieden, und bei den Stonern legte man großen Wert darauf, die beiden sauber zu trennen. Janequin in dem Glauben zu lassen, es handle sich um die längst verloren gegangene Alpha-Aufzeichnung, wäre ein schwerer Fauxpas gewesen.
»Ich wollte mich gerade mit ihm… beraten«, sagte Sylveste.
Calvin schnitt eine Grimasse.
»Worüber?«, fragte Janequin. Er war ein alter Mann — der älteste Mensch auf Resurgam — und sein Aussehen kam dem Idealbild eines Affen von Jahr zu Jahr näher. Ein rosiges Gesichtchen, umrahmt von weißem Haar, weißem Schnurrbart und weißem Bart wie bei einem der seltenen Krallenäffchen. Auf Yellowstone hatte es abgesehen von den Meistermischern keinen begnadeteren Genetiker gegeben, ja, in gewissen Kreisen schätzte man Janequin sogar höher als alle Angehörigen dieser Sekte, obwohl an seiner Genialität nichts Spektakuläres war. Er bestach nicht durch brillante Geistesblitze, sondern hatte sich sein Können in jahrelanger stiller, aber ausgezeichneter Arbeit erworben. Inzwischen stand er weit im vierten Lebensjahrhundert, und die Wirkung der Langlebigkeitsbehandlungen bröckelte sichtbar ab. Sylveste vermutete, dass der Genetiker schon bald als erster Mensch auf Resurgam an Altersschwäche sterben würde. Der Gedanke machte ihn traurig. Er war zwar in vielen Dingen anderer Meinung als Janequin, aber in wichtigen Fragen hatten sie immer den gleichen Standpunkt vertreten.
»Er hat etwas gefunden«, sagte Cal.
Janequins Augen leuchteten auf, die Begeisterung des Wissenschaftlers nahm ihm die Last vieler Jahre von den Schultern. »Tatsächlich?«
»Ja, ich…« Wieder trat eine seltsame Veränderung ein. Der Raum verschwand. Die drei standen auf einem Balkon hoch über einer Stadt, die Sylveste sofort als Chasm City erkannte. Auch diesmal hatte Calvin die Hand im Spiel. Das Schreibpult war ihm gefolgt wie ein Hündchen. Wenn Cal auf seine abgesicherten Funktionen zugreifen konnte, dachte Sylveste, dann war er auch imstande, eine der Standardszenerien abzurufen. Die Simulation war ausgezeichnet: sogar der Wind blies Sylveste ins Gesicht, und er spürte den kaum wahrnehmbaren Geruch der Stadt, der schwer zu beschreiben war, aber bei billigeren Projektionen sofort vermisst wurde.
Es war die Stadt seiner Kindheit: auf dem Höhepunkt der Belle Epoque. In der Ferne zogen goldene Maschinen wie künstliche Wolken über den Himmel. Es herrschte lebhafter Flugverkehr. Darunter zog eine schwindelerregende Aussicht den Blick auf sich: Park- und Gartenterrassen, die kilometerweit in die Tiefe führten und in einem üppigen, hell erleuchteten Pflanzenmeer verschwanden.
»Ist es nicht schön, die alte Heimat wiederzusehen?«, fragte Cal. »Wenn man bedenkt, dass sie fast schon uns gehörte; unser Clan brauchte nur zuzugreifen… wer weiß, wie alles gekommen wäre, wenn wir die Zügel geführt hätten?«
Janequin hielt sich am Geländer fest. »Sehr hübsch, Calvin, aber ich bin nicht als Tourist gekommen. Dan, was wolltest du mir sagen, bevor wir so…«
»Rüde unterbrochen wurden?«, ergänzte Sylveste. »Ich wollte Cal bitten, die Daten der Gravitationsscanner aus dem Schreibpult abzurufen, nachdem er offenbar ohne weiteres auf meine privaten Dateien zugreifen kann.«
»Das ist für jemanden in meiner Position nun wirklich ein Kinderspiel«, sagte Cal. Es dauerte einen Moment, bis er die trüben Bilder des vergrabenen Artefakts gefunden hatte, doch dann schwebte der Obelisk in Lebensgröße vor dem Balkon.
»Oh, wie interessant«, rief Janequin. »Wirklich faszinierend.«
»Nicht schlecht«, lobte auch Cal.
»Nicht schlecht?«, wiederholte Sylveste. »Er ist weitaus größer und besser erhalten als alles, was wir bisher gefunden haben. Ein klarer Beweis, dass die Amarantin auf einer technisch fortgeschritteneren Zivilisationsstufe standen… womöglich kurz vor einer ausgewachsenen industriellen Revolution.«
»Es könnte tatsächlich ein bedeutsamer Fund sein«, gab Calvin widerstrebend zu. »Du… hm, du willst ihn vermutlich freilegen?«
»Das hatte ich bis vor kurzem noch vor.« Sylveste hielt inne. »Aber jetzt ist etwas dazwischengekommen. Ich habe soeben… Ich habe soeben ganz allein herausgefunden, dass Girardieu sehr viel früher gegen mich losschlagen will, als ich befürchtet hatte.«
»Ohne Mehrheit im Expeditionsrat kann er dir nichts anhaben«, sagte Cal.
»Nein, das könnte er nicht«, sagte Janequin, »wenn er so vorgehen wollte. Aber Dans Informationen sind richtig. Es sieht so aus, als plante Girardieu eine direkte Aktion.«
»Das heißt, so etwas wie einen… Umsturz, nehme ich an.«
»Das wäre wohl der Fachausdruck«, nickte Janequin.
»Sind Sie sicher?« Wieder fiel Calvin in die Konzentrationspose. Schwarze Falten gruben sich in seine Stirn. »Ja… sie könnten Recht haben. In den Medien wird seit gestern viel über Girardieus nächsten Zug spekuliert, und man wundert sich, dass Dan sich irgendeiner Ausgrabung widmet, während die Kolonie durch eine Führungskrise stolpert… außerdem ist eine deutliche Zunahme an verschlüsselten Kontakten unter den bekannten Girardieu-Anhängern festzustellen. Ich kann die Codes natürlich nicht knacken, aber ich kann Vermutungen über den Grund für die gestiegene Frequenz anstellen.«
»Dann ist tatsächlich etwas im Busch?«, fragte Dan.
Sluka hatte Recht, dachte er bei sich. Und das hieß, sie hatte ihm sogar einen Gefallen getan, als sie drohte, die Arbeit niederzulegen. Ohne ihre Warnung hätte er Cal nie gerufen.
»Es sieht ganz danach aus«, sagte Janequin. »Deshalb wollte ich dich ja so dringend erreichen. Was Cal über Girardieus Anhänger sagt, bestärkt mich nur in meinen Befürchtungen.« Seine Hand spannte sich fester um das Geländer. Die Ärmelmanschetten — die Jacke hing schlaff von seinen knochigen Schultern — waren mit Pfauenaugen bedruckt. »Es hat vermutlich keinen Sinn, wenn ich noch länger bleibe, Dan. Ich habe mich bemüht, meine Beziehung zu dir möglichst unverdächtig zu halten, aber ich muss davon ausgehen, dass dieses Gespräch abgehört wird. Mehr darf ich wirklich nicht sagen.« Er wandte sich von der Stadtansicht und dem schwebenden Obelisken ab und sah den Mann im Lehnstuhl an: »Calvin… Es hat mich sehr gefreut, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.«
Cal streckte eine Hand in Janequins Richtung. »Passen Sie gut auf sich auf«, sagte er. »Und viel Glück mit Ihren Pfauen.«
Janequin war sichtlich überrascht. »Sie wissen von meinem kleinen Projekt?«
Calvin lächelte nur. Was für eine überflüssige Frage, dachte Sylveste.
Der alte Mann schüttelte ihm die Hand — die Projektion schloss auch taktile Interaktionen ein — und verließ den Aufnahmebereich.
Die beiden blieben allein auf dem Balkon zurück.
»Nun?«, fragte Cal.
»Ich darf die Kontrolle über die Kolonie nicht verlieren.« Sylveste hatte auch nach Alicias Abzug formell die Leitung der gesamten Resurgam-Expedition behalten. An sich hätten alle, die auf dem Planeten geblieben waren, anstatt mit ihr nach Hause zu fliegen, seine Verbündeten sein und damit seine Position stärken müssen. Aber so war es nicht. Nicht jedem, der mit Alicia sympathisierte, war es gelungen, an Bord der Lorean zu kommen, bevor das Schiff den Orbit verließ. Und unter den Zurückgebliebenen fanden viele, die früher auf Sylvestes Seite gestanden hatten, er habe die Krise schlecht gemeistert oder gar kriminelle Methoden eingesetzt. Seine Feinde behaupteten, jetzt trete erst zutage, was die Musterschieber vor der Begegnung mit den Schleierwebern mit seinem Gehirn angestellt hätten. Er sei ein pathologischer Fall, an der Grenze zum Wahnsinn. Man hatte die Erforschung der Amarantin-Funde zwar fortgesetzt, aber die Begeisterung ließ langsam nach. Zugleich rissen politische Differenzen und Feindseligkeiten Abgründe auf, die nicht zu überbrücken waren. Alle, die sich noch einen Rest von Loyalität zu Alicia bewahrt hatten — an erster Stelle Girardieu — schlossen sich zu den ›Flutern‹ zusammen. Unter Sylvestes Archäologen wuchs die Verbitterung, eine Belagerungsmentalität machte sich breit. Auf beiden Seiten kam es zu tödlichen Unfällen, deren Hergang mehr als zweifelhaft war. Jetzt trieb alles auf eine Entscheidung zu, und Sylveste war nicht zur Stelle, um die neue Krise zu lösen. »Aber ich kann auch das nicht aufgeben«, sagte er und deutete auf den Obelisken. »Ich brauche deinen Rat, Cal. Und ich werde ihn bekommen, weil du vollkommen von mir abhängig bist. Du bist sehr zerbrechlich, vergiss das nicht.«
Calvin rutschte unruhig hin und her. »Das heißt, du setzt deinem Vater die Daumenschrauben an. Wie reizend von dir.«
»Nein«, knirschte Sylveste mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich sage nur, du könntest in falsche Hände geraten, wenn du mich nicht gut berätst. Für den Pöbel bist du nur einer von vielen Angehörigen unseres erlauchten Clans.«
»Wobei du dem nicht unbedingt zustimmen würdest, nicht wahr? In deinen Augen bin ich nur ein Programm, das du aufgerufen hast. Wann darf ich endlich wieder deinen Körper übernehmen?«
»Darauf kannst du lange warten.«
Calvin hob mahnend den Zeigefinger. »Nicht pampig werden, mein Sohn. Schließlich hast du mich gerufen, nicht umgekehrt. Du kannst den Geist jederzeit in die Flasche zurückschicken. Ich fühle mich dort ganz wohl.«
»Das werde ich auch tun. Aber erst, nachdem ich deinen Rat gehört habe.«
Calvin beugte sich vor. »Sag mir, was du mit meiner Alpha-Simulation angestellt hast, und ich überlege es mir.« Er grinste spitzbübisch. »Verdammt, vielleicht erzähle ich dir sogar ein paar Dinge über die Achtzig, die du noch nicht weißt.«
»Was gibt es da schon zu erzählen?«, fragte Sylveste. »Neunundsiebzig unschuldige Menschen mussten sterben. Das ist kein Geheimnis. Aber ich mache dich nicht dafür verantwortlich. Ebenso gut könnte man die Fotografie eines Tyrannen als Kriegsverbrecher bezeichnen.«
»Du verdankst mir dein Augenlicht, du undankbare kleine Rotznase.« Der Lehnstuhl drehte sich und zeigte Sylveste seine massive Rückseite. »Zugegeben, deine Augen sind nicht unbedingt auf dem neuesten Stand der Technik, aber was konntest du schon erwarten?« Der Lehnstuhl drehte sich wieder zurück. Jetzt trug Calvin die gleiche Kleidung und die gleiche Frisur wie Sylveste, und sein Gesicht war faltenlos. »Erzähl mir von den Schleierwebern«, verlangte er. »Verrate mir deine schmutzigen Geheimnisse, mein Sohn. Sag mir, was vor Lascailles Schleier wirklich geschehen ist, und speis mich nicht mit dem Lügengebäude ab, an dem du seit deiner Rückkehr arbeitest.«
Sylveste trat an das Schreibpult, um die Kassette auszuwerfen. »Warte«, sagte Calvin und hob rasch die Hände. »Du wolltest doch meinen Rat?«
»Jetzt kommen wir endlich zur Sache.«
»Du darfst Girardieu nicht gewinnen lassen. Wenn der Umsturz wirklich unmittelbar bevorsteht, musst du nach Cuvier zurück, um die letzten Anhänger zu mobilisieren, die dir noch geblieben sind.«
Sylveste schaute aus dem Fenster zum Gitter hinüber. Schatten wanderten über die Wälle — die Arbeiter verließen die Grabung und strebten lautlos dem zweiten Schlepper zu, um dort Schutz zu suchen. »Das könnte der wichtigste Fund seit unserer Landung sein.«
»Trotzdem musst du ihn vielleicht opfern. Wenn du Girardieu in Schach hältst, kannst du dir wenigstens den Luxus erlauben, zurückzukommen und die Suche wiederaufzunehmen. Wenn jedoch Girardieu siegt, sind alle deine Funde keinen Pfifferling mehr wert.«
»Ich weiß«, sagte Sylveste. Für einen Moment ruhte die Feindseligkeit zwischen ihnen. Calvins Schlussfolgerung war zwingend, und es wäre kleinlich gewesen, das zu bestreiten.
»Dann wirst du meinen Rat befolgen?«
Sylveste hob die Hand, um die Kassette auszuwerfen. »Ich werde darüber nachdenken.«