Achtunddreißig

Im Inneren von Cerberus

2567


Sylveste taufte diesen innersten Raum den Saal der Wunder.

Der Name erschien ihm angemessen: er war seit einer knappen Stunde hier (eine Schätzung, denn er achtete längst nicht mehr auf die Zeit) und hatte seither nichts gesehen, was die Bezeichnung ›Wunder‹ nicht verdient hätte. Für vieles war sie sogar eher ungenügend. Ein ganzes Menschenleben würde nicht ausreichen, um auch nur einen Bruchteil dessen zu erfassen, was dieser Raum enthielt; was er war. Sylveste empfand nicht zum ersten Mal so, nicht zum ersten Mal wurde ihm ein kurzer Blick auf ein gewaltiges, aber noch unerschlossenes Wissenspotenzial gewährt, das weder codifiziert noch in eine Theorie gefasst war. Aber alle früheren Erlebnisse dieser Art waren nur blasse Vorläufer dessen gewesen, was er jetzt fühlte.

Er konnte nur wenige Stunden hier verweilen, wenn er nicht jede Hoffnung auf Rückkehr begraben wollte. Was ließ sich in wenigen Stunden erreichen? Nüchtern betrachtet nur sehr wenig, aber er hatte die Aufzeichnungsgeräte seines Anzugs, und er hatte seine Augen. Er musste es zumindest versuchen. Wenn er diese Gelegenheit ungenützt vorübergehen ließ, würde ihm die Geschichte niemals verzeihen. Wichtiger noch, er selbst würde sich niemals verzeihen.

Er steuerte den Raumanzug auf die beiden Objekte in der Mitte des Raumes zu, die ihn völlig in ihren Bann gezogen hatten: den Spalt mit dem Licht aus dem Jenseits und den Edelstein, der ihn umkreiste. Als er näher kam, gerieten die Wände in Bewegung. Es war, als würde er in den Rotationsbereich der Objekte hineingezogen; als würde der Raum selbst seine Festigkeit verlieren und sich zum Wirbel krümmen. Sein Anzug bestätigte dies zirpend mit genauen Analysen der Veränderungen des Substrats; Quantenzahlen tickten sich in neue, unerforschte Regionen vor. Ähnlich war es ihm auf dem Weg zu Lascailles Schleier ergangen. Wie damals hielt er es für ganz normal, dass sein ganzes Wesen transkribiert, in eine andere Sprache übersetzt wurde, je näher er dem Edelstein und seinem strahlenden Partner kam.

Er brauchte Stunden, um die beiden zu erreichen. Irgendwann kamen ihm Zweifel, ob er die Dimensionen des Raumes richtig eingeschätzt hatte. Doch dann fiel die scheinbare Rotationsgeschwindigkeit des Edelsteins unerbittlich auf Null, während sich die Wände in rasender Geschwindigkeit um ihn drehten. Er wusste, dass er dem Ziel nahe war, obwohl ihm der Edelstein nicht sehr viel größer vorkam als zu Anfang. Er befand sich noch immer in Bewegung und erzeugte ständig wechselnde, symmetrischbunte Lichtreflexe wie ein Kinderkaleidoskop, nur dass sich hier die Muster in drei (oder mehr) Dimensionen realisierten. Hin und wieder fuhr das Ding Türmchen oder Spitzen aus und drohte damit in seine Richtung. Dann zuckte er zwar zusammen, wich aber nicht zurück, sondern schwebte sogar noch näher heran, sobald eine Phase relativ geringer Transformationstätigkeit einsetzte. Er spürte, dass sein Leben nicht davon abhing, ob er die Anzeigen seines Anzugs genau im Blick behielt. Über solch elementare Dinge war er hinaus.

»Was glaubst du, was es ist?«, fragte Calvin so leise, dass seine Stimme nahezu mit Sylvestes Gedanken verschmolz, nahezu zu einem seiner Gedanken wurde.

»Ich hatte gehofft, du könntest mir den einen oder anderen Hinweis geben.«

»Bedauere; mir sind die umwerfenden Erkenntnisse ausgegangen. Es waren zu viele für ein einziges Menschenleben.«

Volyova trieb im All.

Obwohl sie den Spinnenraum nicht mehr rechtzeitig erreicht hatte, war sie bei der Explosion der Melancholie nicht ums Leben gekommen. Kurz bevor sich der Rumpf mit leisem Knistern auflöste wie ein Falterflügel, der in eine Kerzenflamme geriet, hatte sie nur ihren Helm aufgesetzt. Das Lichtschiff hatte sie nicht ins Visier genommen, als sie von den Wrackteilen weg schwebte, sondern es hatte sie ebenso ignoriert wie den Spinnenraum.

Sie konnte nicht so einfach sterben. Das war nun wirklich nicht ihr Stil. Obwohl sie wusste, dass ihre Überlebenschancen statistisch gesehen zu vernachlässigen waren und dass ihre Handlungsweise jeder Logik entbehrte, musste sie die Stunden, die ihr noch blieben, möglichst in die Länge ziehen. Sie überprüfte ihre Luft- und Energiereserven und sah, dass das Ergebnis alles andere als zufrieden stellend war. Sie hatte hastig nach dem erstbesten Anzug gegriffen, weil sie dachte, sie würde ihn nur brauchen, um durch den Hangar zum Shuttle zu kommen. Sie hatte nicht einmal so viel Geistesgegenwart besessen, ihn während des Fluges an eines der Lademodule im Shuttle anzuschließen. Damit hätte sie sich wenigstens einige Tage Frist erkauft, während ihr jetzt nicht einmal mehr ein ganzer Tag blieb. Doch sie weigerte sich hartnäckig, die Sache schnell zu Ende zu bringen. Die Reserven ließen sich strecken, wenn sie schlief, so oft sie ihr Bewusstsein nicht brauchte (immer vorausgesetzt, es war überhaupt noch einmal zu gebrauchen).

Sie programmierte den Anzug so, dass er antriebslos schwebte und sie nur weckte, wenn etwas Interessantes — oder, wahrscheinlicher, Bedrohliches — passierte. Und jetzt hatte er sie geweckt, also war wohl etwas geschehen.

Sie erkundigte sich.

Der Anzug sagte ihr, was los war.

»Scheiße!«, sagte Ilia Volyova.

Der Radarstrahl der Unendlichkeit war soeben über sie hinweggegangen; der gleiche Radarstrahl wie der, mit dem sie vor dem Einsatz der Gammastrahlenwaffe das Shuttle geortet hatte. Und die Intensität des Strahls ließ vermuten, dass sich das Schiff in unmittelbarer Nähe befand; nicht mehr als zwanzig- bis vierzigtausend Kilometer entfernt; ein Katzensprung, wenn es darum ging, ein Ziel zu treffen, das so groß, so wehrlos, so statisch und so auffällig war wie sie jetzt.

Sie konnte nur hoffen, dass das Schiff so anständig war, sie schnell zu erledigen. Immerhin war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es irgendein Waffensystem gegen sie einsetzte, das von ihr selbst entworfen war.

Nicht zum ersten Mal verfluchte sie ihre eigene Genialität.

Volyova aktivierte das Fernrohr-Overlay und suchte das Sternenfeld ab, aus dem der Radarstrahl gekommen war. Zuerst sah sie nur Dunkelheit und Sterne — dann entdeckte sie das Schiff, ein winziges Kohlestückchen nur, das aber mit jeder Sekunde näher kam.


»Er ist jedenfalls nicht amarantinisch, nicht wahr? So weit sind wir uns einig?«

»Du meinst den Edelstein?«

»Was immer es sein mag. Und ich glaube auch nicht, dass die Amarantin für das Licht verantwortlich sind.«

»Nein. Auch das trägt nicht ihre Handschrift.« Sylveste war zutiefst dankbar für Calvins Gegenwart, auch wenn sie nur Illusion war, eine Täuschung, nicht mehr. »Was immer diese beiden Dinge sind — in welcher Beziehung sie auch zueinander stehen — die Amarantin haben sie nur gefunden.«

»Das sehe ich auch so.«

»Möglicherweise haben sie gar nicht begriffen, was sie da gefunden hatten — jedenfalls nicht richtig. Aber sie wollten es aus irgendeinem Grund einschließen, um es vor dem Rest des Universums zu verbergen.«

»Eifersucht?«

»Vielleicht. Aber das würde die Warnungen auf dem Weg hierher nicht erklären. Vielleicht wollten sie dem Rest der Schöpfung auch einen Gefallen tun und haben ihren Fund nur deshalb eingeschlossen, weil sie ihn weder zerstören noch an einen anderen Ort bringen konnten.«

Sylveste überlegte. »Wer immer die Objekte ursprünglich hier — im Umfeld eines Neutronensterns — deponierte, wollte damit Aufmerksamkeit erregen. Meinst du nicht auch?«

»Eine Art Köder?«

»Neutronensterne sind nicht selten, aber exotisch sind sie trotzdem; besonders für eine Kultur, die erst seit kurzem das Weltall bereisen konnte. Die Amarantin wären schon aus Neugier hergekommen, so viel ist sicher.«

»Aber sie waren nicht die Letzten?«

»Vermutlich nicht.« Sylveste holte tief Atem. »Meinst du, wir sollten umkehren, so lange es noch geht?«

»Vernünftig betrachtet ja. Genügt dir das als Antwort?«

Sie flogen weiter.

»Bring uns zuerst zum Licht«, sagte Calvin Minuten später. »Ich möchte es mir aus der Nähe ansehen. Es scheint… das hört sich albern an, aber es kommt mir noch seltsamer vor als das andere Objekt. Wenn es etwas gibt, das ich aus der Nähe sehen möchte, und koste es auch mein Leben, dann ist es dieses Licht.«

»Mir geht es genauso«, sagte Sylveste. Er setzte Calvins Vorschlag bereits in die Tat um, als sei es seine eigene Idee gewesen. Calvin hatte Recht; die Fremdartigkeit dieses Lichtes ging tatsächlich tiefer; sie wirkte intensiver, älter auf ihn. Er hatte das Gefühl nicht in Worte fassen können, hatte es nicht einmal richtig wahrgenommen, aber jetzt war es an die Oberfläche gestiegen, und die Entscheidung erschien ihm richtig. Das Licht war ihr erstes Ziel.

Es war wie Silber; ein diamantförmiger Spalt im Gewebe der Wirklichkeit, ruhig und zugleich voller Leben. Als sie sich näherten, schien der Edelstein (er war in diesem Bezugssystem stationär) kleiner zu werden. Ein weicher Perlmuttschimmer erfasste den Anzug. Eigentlich hätte das Licht in den Augen wehtun müssen, aber Sylveste spürte nur Wärme und langsam wachsende Erkenntnis. Allmählich verlor er den Rest des Raums und den Edelstein aus dem Blickfeld, bis er schließlich von einem silbrigweißen Schneesturm umgeben war. Er spürte keine Gefahr, keine Bedrohung — er fügte sich in sein Schicksal — ein tiefes Glücksgefühl, strotzend vor innerer Kraft. Langsam und wie durch Zauberei wurde der Anzug durchsichtig. Der Silberschein drang ein, bis er Sylvestes Haut erreichte, und sickerte immer weiter, immer tiefer durch das Fleisch bis auf die Knochen. Es war ganz anders, als er erwartet hatte.


Als er hinterher wieder zu Bewusstsein kam (oder ins Bewusstsein herabstieg, denn bis dahin war er irgendwo darüber geschwebt), war er von einer tiefen Einsicht erfüllt.

Er befand sich wieder im ›Saal der Wunden‹, in einiger Entfernung von dem weißen Licht und immer noch im Bezugssystem des rotierenden Edelsteins.

Und er wusste.

Calvins Stimme zerriss so jäh und ungehörig wie ein Trompetenstoß die tiefe Stille. »Was für eine Reise!«

»Hast du… alles miterlebt?«

»Sagen wir so: es war das unheimlichste Erlebnis, das ich jemals hatte. Ist deine Frage damit beantwortet?«

Es genügte. Sylveste brauchte nicht weiter zu fragen, sich nicht weiter zu überzeugen. Calvin hatte nicht nur alle seine Gefühle geteilt, für einen Moment hatten sich ihre Gedanken — und nicht nur sie — verflüssigt und waren mit Billiarden von anderen untrennbar zu einem gewaltigen Strom verschmolzen. Und er verstand bis ins Letzte, was geschehen war, weil er in diesem Moment das Wissen, die Weisheit dieser großen Gemeinschaft geteilt und Antwort auf alle Fragen erhalten hatte.

»Wir wurden abgetastet, nicht wahr? Dieses Licht ist ein Scanner; eine Anlage zur Informationsgewinnung.« Bevor er die Worte ausgesprochen hatte, waren sie ihm noch ganz vernünftig erschienen, doch nun empfand er die Beschreibung als ungenügend und zu wenig subtil, sie erniedrigte das Objekt. Er hatte ungeheure Erkenntnisse gewonnen, aber sein Wortschatz war nicht in gleichem Maße mitgewachsen, und so konnte er sie nicht fassen. Auch drohte das Wissen bereits zu verblassen wie ein Traum mit all seiner Magie in den ersten Sekunden nach dem Erwachen. Aber er musste es aussprechen, um wenigstens zu kristallisieren, was er empfand; damit der Anzug es speicherte und für die Nachwelt bewahrte. »Ich glaube, wir wurden für kurze Zeit in Information umgewandelt und mit allen Informationen vernetzt, die jemals existierten; mit allen Gedanken, die jemals gedacht oder zumindest von diesem Licht eingefangen wurden.«

»Auch ich habe es so empfunden«, bestätigte Calvin.

Sylveste hätte gern gewusst, ob Calvin ebenfalls von dieser wachsenden Amnesie, dem langsamen Schwund des Wissens betroffen war.

»Wir waren im Innern von Hades, nicht wahr?« Sylvestes Gedanken waren in Aufruhr, drängten verzweifelt danach, Ausdruck zu finden, verbalisiert zu werden, bevor sie sich verflüchtigten. »Er ist gar kein Neutronenstern. Mag sein, dass er früher einer war, aber jetzt nicht mehr. Er wurde umgewandelt; man hat ihn zu einem…«

»Computer gemacht«, vollendete Calvin. »Genau das ist Hades. Ein Computer aus nuklearer Materie. Die Masse eines ganzen Sterns wird zur Verarbeitung und zur Speicherung von Informationen genutzt. Und dieses Licht ist ein Zugang; mit ihm kann man in die Matrix eindringen. Und wir waren einen Moment lang tatsächlich drin.«

Doch die Wirklichkeit war noch spektakulärer.

Ein Stern mit einer Masse vom Dreißig- bis Vierzigfachen der irdischen Sonne hatte — nach mehreren Millionen Jahren rücksichtsloser Energieverschwendung — das Ende seiner nuklearen Brenndauer erreicht und war zur Supernova explodiert. In seinem Kern war durch den gewaltigen Gravitationsdruck ein Materieklumpen innerhalb seines eigenen Schwarzschildradius so lange komprimiert worden, bis ein Schwarzes Loch entstand. Das Schwarze Loch hieß so, weil nichts, nicht einmal das Licht seinem kritischen Radius entfliehen konnte. Materie wie Licht konnten nur in das Schwarze Loch hineinstürzen und damit dessen Masse und Anziehungskraft noch vergrößern — ein Teufelskreis.

Irgendwann entwickelte sich eine Kultur, die für ein solches Objekt Verwendung hatte. Sie kannte ein Verfahren, mit dem sich ein Schwarzes Loch in ein weit exotischeres, in sich widersprüchlicheres Gebilde verwandeln ließ. Zuerst wartete man, bis das Universum um einiges älter war als zur Entstehungszeit des Schwarzen Lochs; bis die Sternenpopulation vorwiegend aus sehr alten roten Zwergen bestand, deren Masse kaum noch ausreichte, um die eigene Kernfusion in Gang zu halten. Dann scharten sie ein Dutzend dieser Sterne um das Schwarze Loch herum und bildeten eine Akkretionsscheibe, die langsam Sternenmaterie auf den lichtverschlingenden Ereignishorizont regnen ließ und so das Loch speiste.


So weit war Sylveste mitgekommen, jedenfalls wiegte er sich in dieser Illusion. Der nächste Teil — der Kern des Ganzen — glich einem Zen-Koan[2] und war sehr viel schwerer zu fassen. Sylveste begriff nur so viel, dass die Teilchen, wenn sie sich erst innerhalb des Ereignishorizonts befanden, weiter bestimmten Trajektorien folgten und auf bestimmten Bahnen um den unendlich dichten Kern, die Singularität im Herzen des Schwarzen Lochs getragen wurden. Entlang dieser Trajektorien verschmolzen Raum und Zeit allmählich miteinander, bis sie nicht mehr sauber zu trennen waren. Und — das war das Entscheidende — es gab eine Menge von Trajektorien, bei der die beiden vollends die Plätze tauschten und eine Bahn durch den Raum zu einer Bahn durch die Zeit wurde. Auf einer Teilmenge dieser Trajektorien-Schar konnte Materie sich tatsächlich in die Vergangenheit zurücktunneln, in eine frühere Phase der Geschichte des Schwarzen Lochs.

»Ich greife auf Texte aus dem zwanzigsten Jahrhundert zu«, murmelte Calvin. Er hatte Sylvestes Gedankengängen offenbar zu folgen vermocht. »Der Effekt war schon damals bekannt — oder wurde vorhergesagt. Man hielt ihn für eine logische Weiterentwicklung der mathematischen Beschreibung Schwarzer Löcher. Aber niemand wusste, wie ernst er zu nehmen war.«

»Wer immer Hades konstruierte, hatte diese Bedenken nicht.«

»So sieht es aus.«

Wenn nun Licht, Energie oder Teilchenströme auf diese speziellen Trajektorien gerieten, drangen sie mit jedem Umlauf um die Singularität tiefer in die Vergangenheit vor. Das Geschehen war durch die undurchdringliche Barriere des Ereignishorizonts vom Rest des Universums abgeschirmt, und da es von außen nicht ›erkennbar‹ war, verstieß es auch nicht direkt gegen die Gesetze der Kausalität. Den mathematischen Theorien zufolge, auf die Calvin zugegriffen hatte, wäre ein solcher Verstoß nicht möglich gewesen, da diese Trajektorien niemals ins externe Universum zurückführen konnten. Aber sie taten es doch. Die Mathematiker hatten nämlich einen Sonderfall übersehen: eine winzig kleine Untermenge einer Teilmenge von Trajektorien beförderte tatsächlich Quanten bis zum Zeitpunkt der Entstehung des Schwarzen Loches zurück, bis zum Kollaps bei der Supernova-Explosion seines Vatersterns.

In diesem Moment bewirkte der minimale Außendruck der aus der Zukunft eintreffenden Teilchen, dass sich der gravitationelle Einsturzprozess verzögerte.

Die Verzögerung war nicht einmal messbar; sie war kaum länger als das kleinste theoretische Zeit-Quantum, die Planck-Zeit. Aber sie existierte. Und trotz ihrer Geringfügigkeit löste sie kausale Stoßwellen aus, die in die Zukunft zurückschlugen.

Wenn diese kausalen Stoßwellen auf die eintreffenden Teilchen trafen, entstand ein kausales Interferenzgitter, eine stehende Welle, die symmetrisch in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein reichte.

Das kollabierte Objekt war in diesem Gitter gefangen und wusste nicht mehr, ob es wirklich zum Schwarzen Loch bestimmt war. Schon die Anfangsbedingungen waren grenzwertig gewesen, vielleicht ließen sich die Verwicklungen vermeiden, wenn es oberhalb des Schwarzschild-Radius verharrte; wenn es stattdessen zu einer stabilen Konfiguration aus Strange Quarks und entarteten Neutronen kollabierte.

Es oszillierte so lange unschlüssig zwischen den beiden Zuständen, bis die Unschlüssigkeit kristallisierte. Was zurückblieb, war einmalig im Universum — wenn man davon absah, dass anderswo an anderen Schwarzen Löchern ähnliche Transformationen ausgelöst wurden und ähnliche Kausalparadoxa entstanden.

Das Objekt fand schließlich zu einer stabilen Konfiguration, in der seine paradoxe Natur für das restliche Universum nicht auf Anhieb erkennbar war. Äußerlich ähnelte es einem Neutronenstern — jedenfalls an der Krustenoberfläche. Doch schon wenige Zentimeter tiefer war die nukleare Masse durch katalytische Prozesse zu komplexen Strukturen geordnet worden, die blitzschnelle Berechnungen durchführen konnten. Diese Selbstorganisation war spontan aus der Auflösung der beiden gegensätzlichen Zustände emergiert. Die Kruste brodelte. Sie verarbeitete und speicherte Informationen in einer Dichte, wie sie theoretisch im ganzen Universum nicht überschritten werden konnte.

Und sie dachte.

Im unteren Teil ging die Kruste nahtlos über in einen oszillierenden Sturm von unaufgelösten Möglichkeiten. Das Innere des kollabierten Objekts tanzte zur Musik der Akausalität. Während die Kruste endlose Simulationen durchführte und endlose Berechnungen anstellte, bildete der Kern die Brücke zwischen Zukunft und Vergangenheit und ermöglichte einen mühelosen Austausch von Informationen. Im Grunde war die Kruste zu einem Teil eines gewaltigen Parallel-Prozessors geworden, wobei die anderen Elemente des Systems zukünftige und vergangene Versionen ihrer selbst waren.

Und sie wusste.

Sie wusste, dass sie trotz ihrer umfassenden, gewaltige Zeiträume überspannenden Rechnerkapazität nur Teil einer größeren Einheit war.

Und sie hatte einen Namen.


Sylveste musste sich für einen Augenblick Ruhe gönnen. Der Eindruck des Unfassbaren ließ allmählich nach, zurück blieb nur ein Nachklingen, das letzte Echo des Schlussakkords der größten Symphonie aller Zeiten. Nur noch wenige Augenblicke, und er würde das meiste vergessen haben. In seinem Kopf war einfach nicht genügend Raum. Seltsamerweise empfand er kein Bedauern. Für kurze Zeit war es wunderbar gewesen, von diesem übermenschlichen Wissen zu kosten, aber es war für einen einzigen Menschen ganz einfach zu viel. Er wollte lieber leben; wollte sich lieber mit der Erinnerung an eine Erinnerung begnügen, als die ungeheure Last des Wissens zu schultern.

Er war nicht dafür geschaffen, wie ein Gott zu denken.

Als er Minuten später auf die Uhr seines Raumanzugs sah, war er nicht allzu überrascht, dass ihm mehrere Stunden fehlten, wenn die letzte Zeitangabe richtig gewesen war. Noch war es möglich, von hier wegzukommen, dachte er; noch konnte er die Oberfläche erreichen, bevor sich der Brückenkopf schloss.

Er wandte sich dem Edelstein zu. Der hatte auch nach allem, was Sylveste erlebt hatte, nichts von seiner Rätselhaftigkeit verloren. Er befand sich immer noch ständig im Fluss und übte immer noch diese schier unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Sylveste glaubte jetzt, mehr darüber zu wissen, glaubte bei seinem Aufenthalt im Portal zur Hades-Matrix etwas gelernt zu haben — doch auf einmal waren die Erinnerungen so tief in die Erfahrungen eingebettet, die er dort gewonnen hatte, dass er sie nicht mehr herauslösen und gezielt untersuchen konnte.

Er hatte eine Vorahnung, ein Gefühl drohender Gefahr, das bisher nicht da gewesen war.

Dennoch schwebte er auf das Juwel zu.


Hades’ rot entzündetes Auge war merklich größer geworden, aber der Neutronenstern im Herzen dieses brennenden Punktes würde immer nur ein Fünkchen bleiben; er hatte nicht mehr als dreißig oder vierzig Kilometer im Durchmesser, und bis sie ihm so nahe kämen, dass sie ihn richtig sehen konnten, wären sie längst tot — zerrissen von den ungeheuer steilen Gravitationsgradienten.

»Ich finde, du solltest es wissen«, sagte Pascale Sylveste. »Ich glaube nicht, dass es schnell gehen wird, was mit uns geschieht. Es sei denn, wir hätten sehr viel Glück.«

Khouri gab sich alle Mühe, auf den etwas blasierten Ton mit Gelassenheit zu reagieren. Wahrscheinlich, dachte sie, hatte Pascale durchaus das Recht, sich so aufzuspielen.

»Woher weißt du das alles? Du bist keine Astrophysikerin.«

»Nein, aber Dan hat mir erzählt, die Gezeitenkräfte würden verhindern, dass die Sonden, die er ausschicken wollte, dem Stern zu nahe kämen.«

»Du redest, als wäre er schon tot.«

»Aber ich denke nicht so«, sagte Pascale. »Ich halte es sogar für möglich, dass er überlebt. Im Gegensatz zu uns. So Leid es mir tut, aber letztlich läuft es auf das Gleiche hinaus.«

»Du liebst den Dreckskerl immer noch, wie?«

»Er hat mich auch geliebt, ob du es glaubst oder nicht. Ich las es aus seinem Verhalten — aus dem, was er tat — er stand so unter Druck, dass es für einen Außenstehenden wohl schwer zu erkennen war. Aber er hing an mir. Niemand wird je erfahren, wie sehr.«

»Vielleicht wird man ihn nicht so hart verurteilen, wenn bekannt wird, wie sehr er manipuliert wurde.«

»Wie sollte das denn bekannt werden? Wir sind die Einzigen, die es wissen, Khouri. Für den Rest des Universums war er nur ein Monomane. Niemand versteht, dass er die Menschen benutzte, weil er keine andere Wahl hatte. Weil er von etwas getrieben wurde, das größer war als wir alle.«

Khouri nickte. »Ich wollte ihn einmal töten — aber nur, weil ich eine Möglichkeit sah, dadurch Fazil zurückzubekommen. Gehasst habe ich ihn nie. Er war mir nicht einmal wirklich unsympathisch. Ich bewundere jeden, der seine Arroganz so vor sich her trägt, als sei das sein gutes Recht. Das gelingt den wenigsten Menschen. Aber er trug sie wie ein König. Das war schon keine Arroganz mehr — sondern etwas ganz anderes. Etwas, das man bewundern konnte.«

Pascale äußerte sich nicht dazu, aber Khouri sah ihr an, dass sie die Einschätzung nicht völlig ablehnte. Vielleicht war sie nur noch nicht bereit, laut auszusprechen, dass sie Sylveste geliebt hatte, weil er so ein aufgeblasener Dreckskerl war und daraus etwas Großartiges gemacht hatte. Weil er seinen Dünkel wie jemand, der hocherhobenen Hauptes in Sack und Asche ging, mit so viel Bravour zur Schau gestellt hatte, dass er zur Tugend wurde.

»Hör zu«, sagte Khouri nach einer Weile. »Ich habe eine Idee. Möchtest du bei vollem Bewusstsein sein, wenn die Gezeitenkräfte anfangen, nach uns zu schnappen, oder sollten wir lieber mit einer kleinen Stärkung an die Sache herangehen?«

»Was meinst du damit?«

»Ilia hat mir erzählt, man habe den Spinnenraum gebaut, um potenziellen Kunden das Schiff von außen zeigen zu können. Es ging dabei um Kunden, die man beeindrucken musste, um sie bei der Stange zu halten. Deshalb muss es hier irgendwo einen Barschrank geben. Wahrscheinlich gut sortiert, falls er im Lauf der letzten Jahrhunderte nicht irgendwann leer getrunken wurde. Aber es könnte sogar sein, dass er sich selbst wieder auffüllt. Verstehst du jetzt, was ich meine?«

Pascale schwieg. Hades und sein Schwerkraftloch krochen näher. Khouri dachte schon, ihre Begleiterin habe den Vorschlag bewusst überhört. Doch endlich befreite sich Pascale aus ihrem Sitz und strebte nach hinten in bislang unerforschte Plüsch- und Messinggefilde.

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