Dreiundzwanzig

Im Orbit um Cerberus/Hades,

an der Heliopause von Delta Pavonis

2566


Die Parallelen waren überdeutlich, dachte Sylveste. In wenigen Stunden sollten Volyovas Weltraumgeschütze den Kampf gegen die verborgenen Immunsysteme von Cerberus aufnehmen; Virus gegen Virus, Zahn gegen Zahn. Und am Vorabend dieses Angriffs traf Sylveste letzte Vorbereitungen für den Krieg gegen die Schmelzseuche, die Volyovas bedauernswerten Captain verzehrte oder — das war eine Frage des Standpunkts — grotesk vergrößerte. Die Parallelität schien Ausdruck einer grundlegenden Ordnung zu sein, die ihm nur zum Teil bekannt war. Die Unsicherheit war nicht angenehm; er kam sich vor, als beteilige er sich an einem Spiel, bei dem sich mittendrin herausstellte, dass die Regeln viel komplizierter waren als gedacht.

Damit Calvins Beta-Simulation durch ihn aktiv werden konnte, musste sich Dan in eine Art Dämmerzustand versetzen lassen, in dem er sich bewegte wie ein Schlafwandler. Calvin würde ihn zur Marionette machen, er würde alle Sinneseindrücke direkt durch Dans Augen und Ohren empfangen und Dans Bewegungen direkt über dessen Nervensystem steuern. Er würde sogar durch Dans Mund sprechen. Die Neuro-Inhibitoren hatten bereits eine Ganzkörperlähmung bewirkt, die von Übelkeit begleitet war. Die Prozedur war genauso unerfreulich wie beim letzten Mal.

Sylveste kam sich vor wie eine Maschine, in die gleich Calvins Geist einfahren sollte…

Seine Hände bewegten die medizinischen Analyseinstrumente über die Ausläufer der Wucherung. Er durfte dem Zentrum nicht zu nahe kommen; das Risiko, die Seuche auf seine eigenen Implantate zu übertragen, war groß. Irgendwann — bei dieser oder auch erst bei der nächsten Sitzung — mussten sie diese Schwelle zwar notgedrungen überschreiten, aber daran wollte Sylveste jetzt noch nicht denken. Zunächst verwendete Calvin noch einfache, ferngesteuerte Drohnen ohne Intelligenz, wenn sie dichter herangehen mussten, aber selbst diese Instrumente waren anfällig. Eine Drohne war dicht über dem Captain ausgefallen und verschwand bereits unter einem Netz aus feinsten Fasern. Obwohl die Maschine keinerlei molekulare Bauteile enthielt, schien die Seuche sie verarbeiten zu können; sie wurde von der Transformationsmatrix des Captains aufgenommen und nährte sein Fieber. Nun musste Calvin zu noch primitiveren Instrumenten greifen, aber das war nur eine Notlösung: irgendwann — und das schon bald — mussten sie mit dem einzigen Mittel gegen die Seuche vorgehen, das tatsächlich Aussicht auf Erfolg bot; mit einem Organismus, der ihr selbst sehr ähnlich war.

Sylveste spürte dumpf, wie unter seinen eigenen Gedanken Calvins Denkprozesse arbeiteten. Man konnte es nicht Bewusstsein nennen — die Simulation, die seinen Körper steuerte, war nur eine Kopie, aber irgendwo an der Schnittstelle zu seinem eigenen Nervensystem… war etwas Neues entstanden, das auf der Chaoszone schwamm. Die Theorien und seine eigenen Erfahrungen sprachen natürlich dagegen — aber wie wäre das Gefühl der Ichspaltung sonst zu erklären? Er wagte Calvin nicht zu fragen, ob er ähnliche Empfindungen hatte, und hätte auch seiner Antwort nicht unbedingt vertraut.

»Sohn«, sagte Calvin. »Ich wollte schon seit längerem etwas mit dir besprechen. Ich mache mir deshalb große Sorgen, aber ich wollte nicht vor unseren… hm… unseren Klienten davon anfangen.«

Sylveste wusste, dass die Stimme nur für ihn zu hören war. Damit er ihr im Geiste antworten konnte, musste Calvin seinem Wirt vorübergehend die Kontrolle über sein Sprachzentrum zurückgeben. »Jetzt ist auch nicht der richtige Moment. Wir befinden uns mitten in einer Operation, falls dir das entgangen sein sollte.«

»Genau um diese Operation geht es doch.«

»Dann mach schnell.«

»Ich glaube nicht, dass ein Erfolg vorgesehen ist.«

Sylveste stellte fest, dass seine — von Calvin gesteuerten — Hände in der Arbeit nicht innehielten. Er war sich auch bewusst, dass Volyova neben ihm stand und auf Anweisungen wartete. »Was, zum Teufel, willst du damit sagen?«, fragte er stumm.

»Ich halte Sajaki für einen sehr gefährlichen Mann.«

»Großartig — mit dieser Ansicht stehst du nicht allein. Aber das hat dich bisher nicht davon abgehalten, mit ihm zu kooperieren.«

»Anfangs war ich ihm dankbar«, gestand Calvin. »Immerhin hatte er mich gerettet. Aber dann fragte ich mich, wie sich die Dinge wohl für ihn darstellten, und allmählich keimte in mir der Verdacht, er sei nicht mehr ganz bei Verstand. Jeder normale Mensch hätte den Captain schon vor Jahren für tot erklärt. Der Sajaki, den ich beim letzten Mal kennen lernte, war fanatisch in seiner Loyalität, aber damals hatte sein Kreuzzug immerhin noch einen gewissen Sinn. Damals bestand für den Captain immerhin eine gewisse Hoffnung auf Rettung.«

»Und jetzt nicht mehr?«

»Er ist mit einem Virus infiziert, das mit allen Mitteln des Yellowstone-Systems nicht zu bekämpfen war. Zugegeben, das System war selbst davon befallen, aber einzelne Enklaven überlebten noch monatelang — dort suchten Menschen mit ebenso fortgeschrittenen Verfahren, wie wir sie haben, verzweifelt nach einem Gegenmittel — doch ohne Erfolg. Und damit nicht genug. Wir wissen nicht einmal, wo sie Irrwegen folgten und welche Ansätze aussichtsreich gewesen wären, wenn sie mehr Zeit gehabt hätten.«

»Ich habe Sajaki gesagt, hier könne nur noch ein Wunder helfen. Wenn er mir nicht glaubt, ist das sein Problem.«

»Das Problem ist eher, dass er dir glaubt. Und deshalb sage ich, ein Erfolg war nicht vorgesehen.«

In diesem Moment fiel Sylvestes Blick, von Calvin mit Umsicht gesteuert, auf den Captain. Die direkte Konfrontation mit dem monströsen Gebilde bescherte ihm die Erleuchtung. Calvin hatte vollkommen Recht. Sie konnten die ersten rituellen Schritte zur Heilung des Captains einleiten — konnten feststellen, wie weit das Fleisch des Mannes zerstört war —, aber weiter konnten sie nicht gehen. Alle noch so intelligenten, noch so brillanten Therapieansätze waren zum Scheitern verurteilt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Diese Erkenntnis beunruhigte Sylveste am meisten, denn sie stammte nicht von ihm selbst. Calvin hatte etwas gesehen, was für Sylveste noch im Dunkeln lag. Jetzt war es plötzlich in grelles Licht getaucht.

»Du glaubst, er wird uns behindern?«

»Vermutlich hat er das bereits getan. Wir haben beide bemerkt, dass sich das Wachstum des Captains beschleunigt hat, seit wir an Bord kamen, aber wir haben nicht weiter darauf geachtet — es für Zufall oder Einbildung gehalten. Aber das stimmt nicht. Ich glaube, dass Sajaki ihn erwärmt hat.«

»Ja… darauf bin ich auch schon gekommen. Aber das ist nicht das Einzige, nicht wahr?«

»Die Biopsien — die Gewebeproben, die ich verlangt hatte.«

Sylveste wusste, worauf er hinaus wollte. Die Drohne, die sie ins Zentrum geschickt hatten, um die Zellproben zu entnehmen, war inzwischen von der Seuche halb zerstört. »Du glaubst nicht, dass sie von sich aus versagt hat? Du glaubst, Sajaki hatte die Hand im Spiel?«

»Sajaki oder einer seiner Kollegen.«

»Sie?«

Sylveste spürte, wie sein Blick auf die Frau gelenkt wurde. »Nein«, sagte Calvin. Aus Sylvestes Mund kam ein gänzlich überflüssiges Murmeln. »Sie nicht. Ich will nicht sagen, dass ich ihr vertraue, aber ich glaube nicht, dass sie Sajaki bedingungslos ergeben ist.«

»Worüber diskutieren Sie?«, fragte Volyova und trat näher.

»Halten Sie etwas Abstand«, mahnte Calvin durch Sylveste, der im Augenblick nicht einmal in Gedanken eigene Laute bilden konnte. »Unsere Untersuchungen könnten Seuchensporen freigesetzt haben — Sie sollten sie nicht einatmen.«

»Mir würden sie nicht schaden«, sagte Volyova. »Ich bin brezgati. Ich habe nichts in mir, was für die Seuche anfällig wäre.«

»Warum dann diese eisige Miene?«

»Weil es kalt ist, Svinoi.« Sie hielt inne. »Moment mal. Mit wem von beiden spreche ich eigentlich? Mit Calvin, nicht wahr? Dem schulde ich vermutlich ein Quäntchen mehr Respekt — immerhin erpresst er uns nicht.«

»Zu gütig«, hörte Sylveste sich sagen.

»Sie haben doch hoffentlich einen Plan, wie Sie hier vorgehen wollen? Triumvir Sajaki könnte sehr unangenehm werden, wenn er den Verdacht hätte, Sie würden Ihre Seite des Abkommens nicht einhalten.«

»Triumvir Sajaki«, erwiderte Calvin, »könnte ein Teil des Problems sein.«

Sie war jetzt doch näher gekommen, aber sie zitterte vor Kälte, denn anders als Sylveste trug sie keine Schutzkleidung. »Ich fürchte, das habe ich nicht verstanden.«

»Was meinen Sie, ist es wirklich sein Wunsch, dass wir den Captain heilen?«

Sie sah ihn an, als habe er sie ins Gesicht geschlagen. »Warum denn nicht?«

»Er hat jetzt schon sehr lange das Kommando, daran gewöhnt man sich. Ihr Triumvirat ist doch nur eine Farce — Sajaki ist der Captain, nur der Titel fehlt ihm, und Sie und Hegazi wissen das genau. Diesen Status wird er nicht kampflos aufgeben.«

Ihre Antwort kam zu hastig, um ganz überzeugend zu sein. »An Ihrer Stelle würde ich mich auf meine Arbeit konzentrieren, anstatt mir den Kopf über die Wünsche des Triumvirs zu zerbrechen. Immerhin hat er Sie an Bord geholt. Dazu ist er Lichtjahre weit gereist. Warum sollte er das tun, wenn er nicht wollte, dass sein Captain wiederhergestellt wird?«

»Er wird dafür sorgen, dass wir scheitern«, sagte Calvin. »Aber bevor das geschieht, wird er einen neuen Hoffnungsfunken entdecken, eine andere Therapie, einen anderen Arzt, der Heilung verspricht, er braucht ihn nur zu suchen. Und ehe Sie sich versehen, sind Sie wieder Jahrhunderte unterwegs.«

»Nehmen wir an, Sie hätten Recht«, sagte sie so langsam, als fürchte sie, in eine Falle zu tappen. »Warum hat Sajaki den Captain dann nicht schon längst getötet? Damit wäre seine Position gesichert.«

»Weil er sich dann überlegen müsste, was er mit Ihnen anfangen soll.«

»Mit mir?«

»Ja, überlegen Sie doch einmal.« Calvin ließ die Instrumente los und trat zurück wie ein Schauspieler, der zu seinem großen Monolog ansetzt. »Sie haben die Suche nach Heilung für Ihren Captain zu Ihrem Gott gemacht, dem einzigen, dem Sie noch dienen können. Früher mag sie noch Mittel zum Zweck gewesen sein, aber dieser Zweck wurde nie erreicht, und irgendwann spielte er auch keine Rolle mehr. Sie haben schwere Waffen auf diesem Schiff; ich weiß alles darüber, auch über die Geschütze, von denen Sie nicht gern sprechen. Bisher dienen sie Ihnen nur als Druckmittel, um jemanden wie mich zu erpressen — jemanden, der den Anschein erwecken kann, den Captain zu heilen, ohne tatsächlich etwas auszurichten.« Calvin verstummte für mehrere Sekunden, und Sylveste war froh darüber. Er war ganz außer Atem, und sein Mund war wie ausgedörrt. »Wenn Sajaki nun plötzlich Captain würde, was sollte er dann als Nächstes tun? Sie hätten zwar immer noch Ihre Waffen — aber gegen wen sollten Sie kämpfen? Sie müssten sich erst einen Feind erfinden. Und womöglich besäße der gar nichts, was Sie haben wollten — Sie haben doch Ihr Schiff, was brauchen Sie mehr? Ein Feind mit einer anderen Ideologie? Schwierig, denn das Einzige, was mir bei Ihnen noch nicht aufgefallen ist, sind irgendwelche ideologischen Bindungen, es sei denn, Sie hätten ihre eigene Unsterblichkeit zur Ideologie erhoben. Nein; ich glaube, in den Tiefen seiner Seele weiß Sajaki genau, was geschehen würde. Wenn er Captain würde, müssten Sie Ihre Waffen früher oder später gebrauchen, nur deshalb, weil sie existieren. Und ich spreche nicht von einer minimalistischen Intervention wie auf Resurgam. Sie müssten Ernst machen und jedes einzelne dieser Ungeheuer zum Einsatz bringen.«

Volyovas rasche Auffassungsgabe hatte Sylveste schon früher beeindruckt. »Dann sollten wir Triumvir Sajaki eigentlich dankbar sein, nicht wahr? Indem er darauf verzichtet, den Captain zu töten, bewahrt er uns vor dem Schlimmsten.« Es klang wie das Argument eines Advocatus diaboli. Sie sprach es nur laut aus, um die Ketzerei noch deutlicher sichtbar zu machen.

»Ja«, meinte Calvin zögernd. »So könnte man sagen.«

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, brauste Volyova auf. »Und wenn Sie einer von uns wären, würde ich solche Gedanken als Hochverrat bezeichnen.«

»Wie Sie meinen. Aber es gibt bereits Anhaltspunkte dafür, dass Sajaki die Operation sabotieren will.«

Ihre Augen blitzten neugierig auf, aber sie beherrschte sich eisern. »Ich lasse mich von Ihrer Paranoia nicht anstecken, Calvin — falls ich mit Ihnen spreche. Ich habe mich verpflichtet, Dan ins Innere von Cerberus zu bringen. Und ich habe mich verpflichtet, Ihnen bei der Heilung des Captains behilflich zu sein. Alle weitergehenden Diskussionen sind müßig.«

»Sie haben das Retrovirus also mitgebracht?«

Volyova griff in ihre Jacke und zog ein Fläschchen heraus. »Es wirkt bei den Proben, die ich entnommen und mit denen ich eine Kultur angelegt habe. Ob es hier wirkt, ist eine ganz andere Frage.«

Sie warf Sylveste das Behältnis zu, und seine Hände zuckten nach vorne, um es aufzufangen. Der gläserne Autoklav weckte eine flüchtige Erinnerung an das Fläschchen, das er mit zu seiner Hochzeit genommen hatte.

»Es ist ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten«, lobte Calvin.

Volyova gab Calvin oder Dan Sylveste — sie war nie ganz sicher, mit wem sie verhandelte — genaue Anweisungen zur Verabreichung des Gegenmittels, dann verließ sie die Krankenstation. Sie hatte sich verhalten wie ein Apotheker gegenüber einem Arzt, dachte sie: sie hatte ein Serum entwickelt, das im Labor wirkte, und sie konnte gezielte Hinweise zu seiner Anwendung geben, aber die letzten Schritte, die Entscheidung über Leben und Tod, lagen allein im Ermessen des Arztes. Damit wollte sie nichts zu tun haben. Wenn es so einfach gewesen wäre, das Retrovirus einzusetzen, hätte man Sylveste ja gar nicht gebraucht. Außerdem war es nur ein Element der Behandlung — wenn auch vielleicht das entscheidende.

Sie fuhr mit dem Fahrstuhl auf die Brücke zurück und gab sich alle Mühe, nicht an Calvins (es musste doch Calvin gewesen sein?) Bemerkungen über Sajaki zu denken. Aber das war schwierig; seine Ansichten hörten sich so logisch, so vernünftig an. Und was war von der Anschuldigung zu halten, Sajaki sabotiere die Heilung des Captains? Die Frage hatte ihr schon auf der Zunge gelegen, aber vielleicht hatte sie befürchtet, eine Antwort zu bekommen, die nicht zu widerlegen war. Was sie gesagt hatte, hatte schon seine Berechtigung: im Grunde war es Hochverrat, so etwas nur zu denken.

Aber sie hatte schon in so vieler Hinsicht Hochverrat begangen.

Sajaki begann an ihr zu zweifeln; das war nicht zu übersehen. Anderer Meinung zu sein, wenn es darum ging, ob Khouri dem Trawl unterzogen werden sollte, war eine Sache. Aber den Trawl zu manipulieren, damit er sie alarmierte, wenn Sajaki ihn in Betrieb nahm, hatte eine andere Qualität — so handelte man nicht aus oberflächlicher beruflicher Sorge um einen Schützling, so handelte man aus versteckter Paranoia, aus Angst und aus schwelendem Hass. Zum Glück war sie noch rechtzeitig gekommen. Der Trawl hatte keinen dauernden Schaden angerichtet, und ob Sajaki genügend Zeit gehabt hatte, so viele neurale Bereiche so gründlich zu erkunden, dass nicht nur verschwommene Eindrücke, sondern ausgewachsene belastende Erinnerungen zum Vorschein kamen, war eher zu bezweifeln. Jetzt, dachte sie, wäre er sicher vorsichtiger. Jetzt durften sie ihren Waffenoffizier nicht mehr verlieren. Aber wenn sich sein Verdacht nun auf Volyova selbst richtete? Auch sie konnte man dem Trawl unterziehen. Sajaki hätte gewiss wenig Skrupel, dagegen sprach nur, dass ein solches Vorgehen auch die letzte Illusion von Gleichheit zerstören würde. Jedenfalls hatte sie keine Implantate, die beschädigt werden könnten. Und seit die Arbeit an Bord der Lorean automatisch vonstatten ging, war sie nicht mehr so unentbehrlich wie zuvor.

Sie schaute auf ihr Armband. Der kleine Splitter, den sie Khouri aus dem Körper gezogen hatte, verursachte ihr mehr Kopfzerbrechen, als sie je für möglich gehalten hätte. Zusammensetzung und Verformungsmuster standen inzwischen mehr oder weniger fest, nun hatte sie das Schiff gebeten, in seinen Speichern nach einer Entsprechung zu suchen. Der Verdacht, dass Manoukhian dahinter steckte, schien sich zu bestätigen. Das Bruchstück stammte eindeutig nicht von Sky’s Edge. Aber das Schiff war noch nicht fündig geworden und drang immer weiter in die Tiefen seiner Datenspeicher vor. Derzeit wühlte es sich durch technische Daten, die fast zweihundert Jahre alt waren. In grauer Vorzeit zu suchen war lächerlich… andererseits, warum jetzt aufhören? In wenigen Stunden hätte sich das Schiff bis zur Gründung der Kolonie und zu den wenigen Unterlagen vorgearbeitet, die noch aus der Amerikano-Ära erhalten waren. Dann konnte sie Khouri immerhin versichern, sie habe gründlich — wenn auch vergeblich — gesucht.

Als sie die Brücke betrat, war sie allein.

Der riesige Raum war dunkel bis auf den Schein der Projektionssphäre, die eine schematische Darstellung des gesamten Pavonis-Hades-Doppelsystems zeigte. Von den anderen Besatzungsmitgliedern (es waren ja nur noch wenige am Leben, dachte sie) war niemand anwesend, und man hatte auch keine Toten aus den Archiven geholt, um sich in Sprachen, die heute kaum noch jemand beherrschte, ihre Ansichten anzuhören. Volyova kam die Einsamkeit gerade recht. Sie hatte keine Lust, sich mit Sajaki auseinander zu setzen (mit ihm schon gar nicht), und Hegazis Gesellschaft schätzte sie ohnehin nicht besonders. Nicht einmal mit Khouri wollte sie jetzt reden. Wenn sie mit Khouri zusammen war, tauchten zu viele Fragen auf, und sie war gezwungen, sich mit Themen zu beschäftigen, mit denen sie nichts zu tun haben wollte. Jetzt war sie wenigstens für ein paar Minuten allein und in ihrem Element und konnte — so töricht das auch war — alles vergessen, was ein Chaos zu entfesseln drohte.

Sie konnte sich mit ihren schönen Waffen befassen.

Die umfunktionierte Lorean war in einen noch tieferen Orbit gegangen, ohne Cerberus zu einer Reaktion zu provozieren — jetzt befand sie sich nur noch zehntausend Kilometer über der Planetenoberfläche. Volyova hatte dem riesigen Konus den Namen ›Brückenkopf‹ gegeben, denn genau das war seine Funktion. Für alle anderen hieß er einfach ›Volyovas Waffe‹, wenn sie überhaupt davon sprachen. Das Ding war viertausend Meter lang; fast so lang also wie das Lichtschiff, aus dem es entstanden war. Es hatte kaum massive Bestandteile; selbst die Wände waren strukturiert wie Bienenwaben. In jeder Kammer lauerten aktive Stämme von angriffslustigen Cyberviren, in ihrem Aufbau ähnlich dem Gegenmittel, das die Krankheit des Captains bekämpfen sollte. In größeren Höhlungen waren Energie- und Projektilwaffen gelagert. Alles war mit einer meterdicken Hyperdiamanthülle umgeben, die beim Aufschlag abgerieben werden sollte. Wenn der Brückenkopf auf die Planetenoberfläche traf, würden die Stoßwellen über den ganzen Rumpf rasen, aber durch piezoelektrische Kristalle sollte aus diesen Stoßwellen Energie aufgenommen und in die Waffensysteme gelenkt werden. Die Geschwindigkeit beim Aufprall war ohnehin vergleichsweise gering — weniger als ein Kilometer pro Sekunde, denn kurz bevor der Brückenkopf die Kruste durchstieß, würde er kräftig abbremsen. Und vorher sollte die Kruste sturmreif geschossen werden; außer den Frontgeschützen des Brückenkopfes würde Volyova dafür so viele Weltraumgeschütze einsetzen, wie sie einzusetzen wagen konnte.

Sie nahm über das Armband Verbindung zu ihrer Waffe auf. Eine fesselnde Unterhaltung war es gerade nicht. Der Brückenkopf hatte nur eine rudimentäre Kontrollpersönlichkeit; mehr war von einem nur wenige Tage alten Gerät nicht zu erwarten. Einerseits war das ein Vorteil. Besser, das Ding hatte ein Spatzenhirn, als dass es größenwahnsinnig wurde. Außerdem hätte der Brückenkopf voraussichtlich nicht allzu viel Zeit, um sich seiner Empfindungsfähigkeit zu erfreuen.

Tanzende Zahlenkolonnen im Innern der Sphäre meldeten Kampfbereitschaft. Volyova musste sich auf die Zusammenfassung der Systeme verlassen, denn die Waffe war ihr in großen Teilen fremd. Sie hatte nur die Grundlagen vorgegeben, die eigentliche Arbeit hatten autonome Entwicklungsprogramme erledigt, und die hatten sich nicht bemüßigt gefühlt, sie über jedes technische Problem und die dazu gehörige Lösung zu informieren. So war ihr der Brückenkopf weitgehend unbekannt, aber schließlich konnte auch eine Mutter ein Kind entstehen lassen, ohne jede Arterie, jeden Nerv genau lokalisieren… oder die biochemischen Vorgänge seines Stoffwechsels erklären zu können. Die Waffe war dennoch ihre Schöpfung — ihr Kind.

Ein Kind, das sie zu einem frühen, schmachvollen — aber keineswegs sinnlosen — Tod verdammt hatte.

Das Armband zirpte. Sie sah auf das Display, erwartete einen Schwall technischer Daten vom Brückenkopf; eine Meldung über eine kurzfristige Konstruktionsänderung, die von den noch aktiven Replikationssystemen im Kern unterwegs vorgenommen worden war.

Aber es war etwas ganz anderes.

Die Nachricht kam vom Schiff. Es hatte ein Gegenstück zu ihrem Splitter gefunden. Zwar hatte es auf technische Dateien zurückgreifen müssen, die mehr als zweihundert Jahre alt waren, aber dort war es fündig geworden. Und abgesehen von den Verformungsmustern — die wohl erst nach der Herstellung aufgetreten sein mussten — bestand innerhalb der Messtoleranzen eine Übereinstimmung von hundert Prozent.

Volyova war immer noch allein auf der Brücke.

»Auf das Display«, befahl sie.

Der Splitter erschien zunächst in Vergrößerung als sichtbares Bild im Innern der Sphäre. Dann folgte eine Serie von Nahaufnahmen, beginnend mit einer Elektronenmikroskop-Ansicht in Grautönen, auf der die verzerrte Kristallstruktur zu sehen war, und endend mit einem grellbunten ATM-Bild mit einer Auflösung im Bereich der atomaren Längenskala, auf dem die Grenzen zwischen den Atomen verschwammen. Plots mit kristallografischen Röntgenbeugungsdaten und Massenspektrogramme erschienen in eigenen Fenstern und wetteiferten mit Unmengen von technischen Daten um ihre Aufmerksamkeit. Volyova schenkte diesen Werten keine Beachtung; sie waren ihr vollkommen vertraut, die meisten Messungen hatte sie selbst vorgenommen.

Stattdessen wartete sie, bis das ganze Display zur Seite rückte und gleich daneben ganz ähnliche Grafiken auftauchten. Sie gruppierten sich um einen Splitter aus ähnlichem Material, identisch bei atomarer Auflösung, aber ohne die Verformungsmuster. Zusammensetzung, Isotopenverteilung und Gittereigenschaften waren identisch: jede Menge Fullerene in verschiedenen Kristallstrukturen durchzogen eine verwirrend komplexe Matrix aus übereinander gelagerten Metallschichten und exotischen Legierungen. Yttrium- und Scandium-Signaturen und ein ganzer Schwung Transurane aus Stabilitätsinseln in Spurenelementen, die dem Splitter vermutlich eine unerhörte Elastizität verliehen. Dennoch wusste Volyova, dass es auf dem Schiff noch ausgefallenere Substanzen gab, einige hatte sie selbst synthetisiert. Der Splitter war ungewöhnlich, aber er war zweifelsfrei ein Produkt menschlicher Technik — die Buckytube-Filamente waren eine typische Demarchisten-Signatur und Transurane aus Stabilitätsinseln waren im vierundzwanzigsten und fünfundzwanzigsten Jahrhundert die große Mode gewesen.

Tatsächlich sah das Bruchstück genauso aus wie das Material, aus dem in jener Zeit ein Raumschiffrumpf bestanden haben könnte.

So dachte offenbar auch das Schiff. Aber warum hatte Khouri ein Stück Raumschiff im Fleisch gehabt? Was hatte Manoukhian damit sagen wollen? Vielleicht irrte sie sich auch, und Manoukhian hatte gar nichts damit zu tun — es war nur ein Unfall. Oder aber, es hatte sich um ein ganz bestimmtes Raumschiff gehandelt…

Offenbar. Die Technik war insgesamt typisch für diese Zeit, aber in den Details war das Stück einmalig — es war auf höhere Belastungen hin ausgelegt, als selbst für militärische Einsätze nötig gewesen wäre. Je länger Volyova sich die Ergebnisse ansah, desto deutlicher wurde, dass das Stück nur von einem Schiffstyp stammen konnte: von einem Kontaktschiff aus dem Besitz des Sylveste-Instituts für Schleierweber-Studien.

Aus gewissen Feinheiten im Isotopenanteil ließ sich erkennen, von welchem Schiff es genau stammte: von dem Kontaktschiff nämlich, das Sylveste an die Grenze von Lascailles Schleier gebracht hatte. Damit war Volyova zunächst zufrieden. Der Kreis hatte sich geschlossen: dies war die Bestätigung dafür, dass zwischen Khouris Mademoiselle und Sylveste tatsächlich ein Zusammenhang bestand. Aber das wusste Khouri ja bereits… und das bedeutete, dass der Splitter noch eine weitergehende Bedeutung hatte. Worin sie bestand, war Volyova natürlich sofort klar. Aber im ersten Moment war die Erkenntnis so ungeheuerlich, dass sie davor zurückschreckte. Das war doch wohl nicht möglich, oder? Sie konnte die Ereignisse vor Lascailles Schleier nicht überlebt haben. Andererseits hatte Manoukhian Khouri gegenüber behauptet, er habe seine Brotherrin im All gefunden. Und es war durchaus möglich, dass sie sich als Hermetikerin tarnte, weil sie grässlichere Verstümmelungen hatte, als selbst die Seuche sie anzurichten pflegte…

»Zeig mir Carine Lefevre«, sagte Volyova, nachdem sie den Namen der Frau abgerufen hatte, die angeblich vor dem Schleier ums Leben gekommen war.

Wie ein riesiges Götzenbild starrte das Gesicht auf sie herab. Eine junge Frau, die offenbar — unterhalb der Schultern war nicht viel zu erkennen — nach der Mode der Belle Epoque von Yellowstone gekleidet war, des glanzvollen Goldenen Zeitalters vor der Schmelzseuche. Das Gesicht war Volyova bekannt — nicht so weit, dass ihr die Luft wegblieb, aber immerhin hatte sie es schon gesehen. Es tauchte in Dutzenden von historischen Dokumentationen auf, und jedes dieser Werke unterstellte, dass sie längst tot war; ermordet von Aliens, deren Kräfte jedes menschliche Vorstellungsvermögen überstiegen.

Natürlich. Jetzt war auch klar, was die Verformungsmuster verursacht hatte. Die Gravitationswirbel vor Lascailles Schleier hatten die Materie zusammengepresst, bis das Blut herausspritzte.

Alle Welt glaubte, dass auch Carine Lefevre so gestorben sei.

»Svinoi«, sagte Triumvir Ilia Volyova, denn jetzt gab es keinen Zweifel mehr.

Schon als Kind hatte Khouri bemerkt, dass etwas Ungewöhnliches passierte, wenn sie Dinge anfasste, die zu heiß waren, den Lauf eines Gewehrs zum Beispiel, das eben erst die Patronenhülse ausgeworfen hatte. Dann durchzuckte sie eine Art Vorahnung, so kurz, dass man kaum von Schmerz sprechen konnte; eher eine Warnung vor dem wirklichen Schmerz. Auf diesen Vorläufer folgte ein Moment, in dem sie gar nichts empfand, und in diesem Moment riss sie, ganz gleich, was sie angefasst hatte, die Hand zurück. Aber da war es schon zu spät; der richtige Schmerz war bereits unterwegs, und sie konnte nichts mehr tun, als sich darauf einzustellen, wie eine Haushälterin, der man kurzfristig einen Gast angekündigt hatte. Natürlich war der Schmerz nie allzu schlimm, und da sie die Hand schon weggezogen hatte, gab es meist nicht einmal eine Narbe. Aber sie machte sich jedes Mal ihre Gedanken. Wenn die Vorahnung schon genügte, damit sie die Hand wegzog — und das war immer so —, welchen Sinn hatte dann die Schmerzwelle, die hinterher kam? Warum musste sie überhaupt kommen, wenn sie doch die Botschaft bereits erhalten und ihre Hand in Sicherheit gebracht hatte? Auch als sie später feststellte, dass es für die Verzögerung zwischen den beiden Warnungen handfeste physiologische Gründe gab, empfand sie den Schmerz noch als niederträchtig.

Jetzt ging es ihr genauso. Sie saß mit Volyova im Spinnenraum und hatte eben erfahren, wem vermutlich das Gesicht der Mademoiselle gehörte. Carine Lefevre, hatte Volyova gesagt. Und Khouri hatte wieder diese Vorahnung verspürt, diesen kurzen Schock, der sie wie ein Echo aus der Zukunft auf den eigentlichen Schlag vorbereitete. Ein sehr schwaches Echo, dann — einen Moment lang — gar nichts.

Und schließlich die volle Wucht.

»Wie ist das möglich?«, fragte Khouri hinterher, als der Schock — nicht abgeklungen, aber zu einem normalen Bestandteil ihres emotionalen Dauergeräuschs geworden war. »Es kann nicht sein. Das ergibt keinen Sinn.«

»Ich denke, es ergibt eher zu viel Sinn«, widersprach Volyova. »Und es passt viel zu gut zu den Fakten, als dass wir es ignorieren könnten.«

»Aber jedermann weiß doch, dass sie tot ist! Das hat sich nicht nur auf Yellowstone, sondern in der Hälfte aller Weltraumkolonien herumgesprochen. Ilia, sie ist eines gewaltsamen Todes gestorben. Sie kann es nicht sein,«

»Ich denke doch. Manoukhian sagt, er hätte sie im All gefunden. Vielleicht stimmt das ja. Vielleicht trieb Carine Lefevre irgendwo vor Lascailles Schleier im Weltraum — vielleicht wollte er etwas aus den Trümmern des SISS-Raumschiffs bergen — und da hat er sie gerettet und nach Yellowstone zurückgebracht.« Volyova hielt inne, doch bevor Khouri auch nur daran denken konnte, etwas einzuwerfen, war sie schon wieder voll in Fahrt. »Das wäre doch logisch, oder? Zumindest hätten wir unsere Verbindung zu Sylveste — und vielleicht ein Motiv, warum sie ihm nach dem Leben trachtet.«

»Ilia, ich habe gelesen, was mit ihr passiert ist. Sie wurde von den gravitationellen Spannungen im Umkreis des Schleiers zerfetzt. Wie sollte da etwas übrig geblieben sein, was Manoukhian nach Hause hätte bringen können?«

»Nein… das kann natürlich nicht sein. Es sei denn, Sylveste hätte gelogen. Vergessen wir nicht, wir haben nur seine Aussage dafür, dass alles so abgelaufen ist, wie er sagte — keines von den Aufzeichnungssystemen hat die Begegnung überstanden.«

»Willst du damit sagen, sie ist gar nicht tot?«

Volyova hob die Hand, wie immer, wenn Khouri sie nicht restlos verstanden hatte.

»Nein… nicht unbedingt. Vielleicht ist sie tatsächlich gestorben — nur nicht so, wie Sylveste behauptete. Vielleicht ist sie nicht in dem Sinne tot, wie wir das Wort verstehen und vielleicht ist sie auch nicht wirklich lebendig — trotz allem, was du gesehen hast.«

»Ich habe nicht viel von ihr gesehen. Nur die Kiste, in der sie unterwegs war.«

»Du hast angenommen, sie sei Hermetikerin, weil sie den Palankin eines Hermetikers benutzte. Aber vielleicht wollte sie dich damit nur irreführen.«

»Sie wäre zerfetzt worden. Daran gibt es nichts zu rütteln.«

»Vielleicht hat der Schleier sie nicht getötet, Khouri. Vielleicht ist ihr etwas Schreckliches zugestoßen, aber hinterher hat etwas sie am Leben erhalten. Vielleicht hat dieses Etwas sich sogar aktiv um ihre Rettung bemüht.«

»Das müsste Sylveste wissen.«

»Aber vielleicht will er es nicht wahrhaben. Ich glaube, wir müssen mit ihm reden — und zwar hier, wo Sajaki uns nicht stören kann.« Volyova war kaum zu Ende, als ihr Armband zirpte und auf dem Display ein menschliches Gesicht erschien, das nur blanke Kugeln an Stelle von Augen hatte.

»Wenn man vom Teufel spricht«, murmelte Volyova. »Was ist, Calvin? Sie sind doch Calvin?«

»Im Moment ja«, sagte der Mann. »Aber ich fürchte, Sajaki wird mich bald mit Schmach und Schande aus seinen Diensten entlassen.«

»Wovon reden Sie?« Sie wartete keine Antwort ab, sondern fügte hastig hinzu: »Ich habe etwas mit Dan zu besprechen; es ist ziemlich dringend, wenn Sie also so freundlich wären…«

»Ich glaube, was ich zu sagen habe, ist noch dringender«, erklärte Calvin. »Es geht um Ihr Gegenmittel, Volyova. Das Retrovirus, das Sie entwickelt haben.«

»Was ist damit?«

»Es wirkt nicht ganz so wie beabsichtigt.« Er trat einen Schritt zurück. Hinter ihm sah Khouri einen Teil des Captains, silbrig glänzend und schleimig wie eine Statue, die über und über mit Schneckenspuren überzogen war. »Genauer gesagt, es bringt ihn noch schneller um.«

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