Dreiunddreißig

Im Orbit um Cerberus/Hades

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Volyova zog den Nadler und näherte sich dem Captain.

Sie musste so schnell wie möglich den Hangar erreichen; jede Verzögerung verschaffte Sonnendieb mehr Zeit, um sich zu überlegen, wie er sie töten konnte. Aber vorher stand noch etwas anderes an. Es war weder logisch noch vernünftig — aber es musste sein. Sie stieg die Treppe zum Captainsdeck hinunter. Die Kälte war so durchdringend, dass ihr der Atem in der Kehle zu gefrieren schien. Ratten gab es hier unten nicht: zu kalt. Und Servomaten durften ihm nicht zu nahe kommen, wollten sie nicht riskieren, dass sie von der Seuche erfasst und zu einem Teil von ihm gemacht wurden.

»Können Sie mich hören, Dreckskerl?« Sie befahl ihrem Armband, ihn so weit zu erwärmen, dass bewusste Denkprozesse möglich wurden. »Wenn ja, dann geben Sie Acht. Jemand hat das Schiff übernommen.«

»Kreisen wir noch um Bloater?«

»Nein… nein, wir kreisen nicht mehr um Bloater. Das ist schon lange her.«

Augenblicke später fragte der Captain: »Übernommen, sagen Sie? Wer?«

»Ein Alien mit ziemlich unerfreulichen Zielsetzungen. Die meisten von uns sind bereits tot — Sajaki, Hegazi, auch die anderen Besatzungsmitglieder, die Sie noch kannten — und wer noch übrig ist, sieht zu, dass er das Schiff verlässt, so lange er noch kann. Ich rechne nicht damit, wieder an Bord zurückzukehren, und deshalb werde ich jetzt etwas tun, das Ihnen ziemlich drastisch vorkommen mag.«

Sie zielte mit dem Nadler auf den aufgeplatzten, verformten Kälteschlaftank, der den Captain nicht mehr hatte halten können.

»Ich werde Sie erwärmen, verstehen Sie? Jahrzehntelang konnten wir nicht mehr für Sie tun, als Sie möglichst kühl zu halten — aber das hat nicht funktioniert, vielleicht war es von vornherein falsch. Vielleicht können wir nur noch zusehen, wie Sie das verdammte Schiff übernehmen — auf Ihre Weise.«

»Ich glaube nicht…«

»Was Sie glauben, ist mir egal, Captain. Ich tue es trotzdem.«

Der Finger auf dem Auslöser spannte sich, während sie im Geiste berechnete, wie viel schneller er sich ausbreiten würde, wenn er sich erwärmte. Sie kam auf ziemlich unwahrscheinliche Ergebnisse… aber schließlich hatten sie diese Maßnahme auch noch nie erwogen.

»Ilia, bitte.«

»Hören Sie zu, Svinoi«, sagte sie barsch. »Vielleicht funktioniert es ja, vielleicht auch nicht. Aber wenn ich Ihnen jemals Loyalität bewiesen habe — wenn Sie sich überhaupt noch an mich erinnern —, dann verlange ich dafür nur eines: tun Sie für uns, was Sie können.«

Sie wollte schießen; wollte die Nadlergeschosse in den Tank jagen, doch sie zögerte noch.

»Eins muss ich Ihnen doch noch sagen. Ich glaube zu wissen, wer, zum Teufel, Sie sind, oder vielmehr, wer, zum Teufel, Sie geworden sind.«

Sie spürte deutlich, wie ihr der Mund trocken wurde. Sie wusste, dass sie kostbare Zeit verschwendete, aber etwas drängte sie fortzufahren.

»Was haben Sie mir zu sagen?«

»Sie sind mit Sajaki zu den Musterschiebern gereist, nicht wahr? Ich weiß es. Es wurde an Bord oft genug erwähnt — sogar von Sajaki selbst. Aber niemand hat je erzählt, was dort geschehen ist: was die Schieber mit Ihnen beiden angestellt haben. Oh, ich weiß, es gab Gerüchte — aber mehr auch nicht; sie waren von Sajaki lanciert, um mich von der Fährte abzubringen.«

»Nichts ist geschehen.«

»Nein; nur eines. Sie haben Sajaki schon damals getötet, vor all den Jahren.«

Seine Antwort klang belustigt, als habe er sie missverstanden. »Ich soll Sajaki getötet haben?«

»Die Schieber haben das für Sie erledigt; Sie haben sie beauftragt, seine Neuralstrukturen zu löschen und seinem Bewusstsein Ihre Strukturen aufzuprägen. Damit wurden Sie zu ihm.«

Sie war fast fertig, aber sie holte noch einmal tief Luft.

»Sie hatten mit einer Existenz nicht genug — und vielleicht ahnten Sie schon damals, dass Ihr Körper nicht mehr lange durchhalten würde; zu viele Viren waren in ihm. Also bemächtigten Sie sich Ihres Adjutanten. Die Schieber taten, was Sie von ihnen verlangten, weil sie uns so fremd sind, dass sie mit dem Begriff Mord nichts anzufangen wussten. So war es doch, nicht wahr?«

»Nein…«

»Schweigen Sie. Deshalb wollte Sajaki nicht, dass Sie geheilt würden — er war ja bereits Sie und brauchte keine Heilung. Und deshalb konnte Sajaki auch mein Gegenmittel abschwächen — weil er über Ihre Fachkenntnisse verfügte. Schon dafür sollte ich Sie umbringen, Svinoi — aber leider sind Sie schon tot, denn was von Sajaki noch übrig ist, klebt an den Wänden der Krankenstation.«

»Sajaki — tot?« Er hatte offenbar nicht mitbekommen, was sie ihm über die Todesfälle erzählt hatte.

»Ausgleichende Gerechtigkeit, finden Sie nicht? Jetzt sind Sie allein. Ganz auf sich gestellt. Sie können nur noch eines tun, um Ihre Existenz gegen Sonnendieb zu behaupten: Sie können wachsen. Der Seuche ihren Lauf lassen.«

»Nein… bitte.«

»Haben Sie Sajaki getötet, Captain?«

»Das ist… so lange her…« Aber er leugnete nicht mehr so entschieden. Volyova jagte die Nadlergeschosse in den Tank und wartete, bis die wenigen Anzeigen auf der Außenhülle flackernd erloschen. Die Kälte ließ von Sekunde zu Sekunde nach, das Eis auf dem Tank begann feucht zu glänzen.

»Ich gehe jetzt«, sagte sie. »Ich wollte nur die Wahrheit wissen. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Captain.«

Dann rannte sie davon, um nicht sehen zu müssen, was hinter ihr geschah.


Sie schwebten in den Trichter und machten sich an den Abstieg. Sajakis Anzug blieb immer dicht vor Sylveste. Der Brückenkopf, ein umgedrehter Kegel, steckte zur Hälfte in der Kruste. Vor wenigen Minuten war er noch winzig klein gewesen, jetzt sah Sylveste nur noch ihn, die steilen, grauen Wände versperrten nach allen Seiten den Blick auf den Horizont. Gelegentlich erzitterten sie, dann wurde Sylveste wieder daran erinnert, dass der Brückenkopf immer noch gegen die Verteidigungsanlagen in der Kruste kämpfte und man sich besser nicht blind auf seinen Schutz verlassen sollte. Wenn er unterlag, würde er binnen weniger Stunden aufgezehrt; dann würde sich die Wunde in der Kruste schließen, und Sylveste wäre der Fluchtweg versperrt.

»Reaktionsmasse muss ergänzt werden«, verkündete der Anzug.

»Wie bitte?«

Sajaki meldete sich zum ersten Mal, seit sie das Schiff verlassen hatten. »Wir haben auf dem Weg hierher viel Masse verbraucht, Dan. Wir müssen nachtanken, bevor wir uns auf feindliches Territorium begeben.«

»Und wo?«

»Sehen Sie sich um. Hier gibt es jede Menge Reaktionsmasse, die nur auf uns gewartet hat.«

Natürlich. Nichts konnte sie hindern, dem Brückenkopf selbst neue Ressourcen zu entnehmen. Sylveste war einverstanden. Sajaki übernahm die Kontrolle über seinen Anzug. Eine der steilen, gekrümmten, mit verschnörkelten Auswüchsen und Trauben von Geräten übersäten Wände kam näher. Ihre Größe war überwältigend, wie eine Deichmauer, die so weit zum Kreis gebogen worden war, bis ihre Enden sich trafen. Irgendwo in dieser Mauer steckten die Leichen Alicias und der anderen Meuterer…

Es herrschte genügend Schwerkraft, um starke Höhenängste zu erzeugen, die noch dadurch verstärkt wurden, dass sich der Brückenkopf nach unten verjüngte und wie ein unendlich tiefer Schacht wirkte. Fast einen Kilometer unterhalb von Sylveste hatte Sajakis Anzug, ein sternförmiger Fleck, die gegenüberliegende Wand berührt. Augenblicke später erreichte auch Sylveste ein schmales Sims, das nicht mehr als einen Meter aus der Wand ragte, und landete weich auf den Füßen. Ein Schritt nach rückwärts — und er konnte jederzeit weiter ins Nichts stürzen.

»Was muss ich tun?«

»Nichts«, sagte Sajaki. »Ihr Anzug weiß, was nötig ist. Ich kann Ihnen nur raten, ihm allmählich etwas mehr Vertrauen entgegenzubringen: nur er erhält Sie schließlich am Leben.«

»Soll mir das Geborgenheit geben?«

»Halten Sie Geborgenheitsgefühle in dieser Situation für angemessen? Sie stehen im Begriff, in die fremdeste Welt einzudringen, die je ein Mensch betreten hat. Sich hier geborgen zu fühlen wäre wohl nicht ganz das Richtige.«

Sylveste sah, wie sich ein Schlauch aus der Brust seines Anzugs schob und an der Brückenkopfwand festsaugte. Sekunden später begann er zu pulsieren und sich wellenförmig auszubeulen.

»Pfui Teufel«, sagte Sylveste.

»Er entzieht dem Brückenkopf Schwerelemente«, erklärte Sajaki. »Der Brückenkopf erkennt den Anzug als freundlich gesinnt und gibt ihm bereitwillig von seiner Substanz ab.«

»Was ist, wenn uns im Innern von Cerberus die Energie ausgeht?«

»Bevor Energiemangel für Ihren Anzug zum Problem wird, sind Sie längst tot. Nur die Reaktionsmasse für die Triebwerke muss ergänzt werden. An Energie fehlt es nicht, aber Atome für die Beschleunigung sind unerlässlich.«

»Was Sie da über meinen Tod sagten, gefällt mir gar nicht.«

»Noch können Sie umkehren.«

Er stellt mich auf die Probe, dachte Sylveste. Einen Augenblick lang erwog er die Option, aber nicht länger. Er hatte Angst, ja — er konnte sich nicht erinnern, sich jemals so gefürchtet zu haben, nicht einmal auf dem Weg zu Lascailles Schleier. Und wie damals wusste er, dass er die Angst nur überwinden konnte, wenn er vorwärts drängte. Wenn er sich mit dem konfrontierte, was sie auslöste. Doch als das Auftanken beendet war, fand er kaum den Mut, vom Sims zu treten und den Sturz durch das leere Innere des Brückenkopfes fortzusetzen.

Sekundenlang sanken sie immer tiefer, dann bremsten sie mit kurzen Schubstößen ab. Sajaki übertrug Sylveste allmählich eine gewisse Kontrolle über seinen Anzug, indem er dessen autonome Dominanz stetig, aber kaum merklich verringerte, bis Sylveste die meisten Funktionen selbst steuerte. Sie sanken jetzt mit einer Geschwindigkeit von dreißig Metern pro Sekunde, aber je enger die Trichterwände zusammenrückten, desto mehr schien auch die Geschwindigkeit zuzunehmen. Sajaki war jetzt nur noch wenige hundert Meter entfernt, aber sein gesichtsloser Anzug vermittelte kein Gefühl menschlicher Nähe oder Kameradschaft. Sylveste fühlte sich immer noch entsetzlich allein. Und er hatte auch allen Grund dazu — durchaus möglich, dass seit dem letzten Besuch der Amarantin kein denkendes Wesen dem Planeten Cerberus mehr so nahe gekommen war. Welche Geister mochten in den letzten hunderttausend Jahren hier ihr Unwesen getrieben haben?

»Wir nähern uns der letzten Einschussröhre«, meldete Sajaki.

Die konischen Wände verengten sich auf einen Durchmesser von nur dreißig Metern. Danach ging es senkrecht in die Finsternis hinein, so weit das Auge reichte. Sylvestes Anzug steuerte ohne sein Zutun die Mitte des näher kommenden Loches an. Sajakis Anzug blieb etwas zurück.

»Ich möchte Ihnen die Ehre des Vortritts nicht nehmen«, sagte der Triumvir. »Sie haben lange genug auf diesen Augenblick gewartet.«

Dann waren sie im Schacht. Die Wände spürten ihr Kommen, in den Nischen flammten rote Lichter auf. Sylveste hatte jetzt den Eindruck, rasend schnell in die Tiefe zu stürzen — ein unangenehmes Gefühl; als würde man durch eine Spritze gepresst. Er erinnerte sich plötzlich, wie ihm Calvin einmal gezeigt hatte, wie sich ein Endoskop, ein uraltes Chirurgeninstrument mit einem Kameraauge an einem Ende des einzuführenden Drahtes, in rasender Fahrt durch die Arterie eines Patienten bewegte. Auch der Nachtflug nach Cuvier nach seiner Verhaftung am Obelisken kam ihm in den Sinn, die wilde Jagd durch die Canyons auf dem Weg zu seinem politischen Gegner. War er in seinem Leben eigentlich jemals sicher gewesen, was ihn am Ende all dieser vorbeirasenden Wände erwartete?

Plötzlich war der Schacht verschwunden und sie stürzten ins Leere.


Bevor Volyova den Hangar erreichte, blieb sie an einem Fenster stehen und vergewisserte sich, dass ihr Armband keine von Sonnendieb manipulierten Daten zeigte, sondern dass die Fähren tatsächlich vorhanden waren. Die Transatmosphäreflieger mit den Plasmaflügeln steckten in ihren Haltebuchten wie die Pfeilspitzen in einer Pfeilschäfterwerkstatt. Sie könnte einen davon über das Armband starten, aber das wäre zu gefährlich. Wenn Sonnendieb aufmerksam wurde, wüsste er sofort, was sie vorhatte. Im Moment war sie noch einigermaßen in Sicherheit, denn sie hatte keinen Teil des Schiffes betreten, den Sonnendieb überwachen konnte. Hoffte sie jedenfalls.

Sie konnte auch nicht einfach auf ein Shuttle zuschlendern und an Bord gehen. Die normalen Zugangswege führten durch Teile des Schiffes, die sie nicht zu betreten wagte, weil dort Servomaten und Pförtnerratten frei umherstreiften, die in direkter biochemischer Verbindung mit Sonnendieb standen. Der Nadler war die einzige Waffe, die sie noch hatte. Das Projektilgewehr hatte sie Khouri überlassen. Obwohl sie an deren Fähigkeiten nicht zweifelte, ließ sich mit Können und Entschlossenheit allein nicht alles erreichen. Zudem hatte das Schiff inzwischen genügend Zeit gehabt, bewaffnete Drohnen zu fabrizieren.

Also begab sie sich zu einer Luftschleuse, die nicht ins All hinaus führte, sondern in den luftleeren Hangar. Der Schiffsschleim stand kniehoch im Raum, Beleuchtung und Heizung waren ausgefallen. Gut. Dann hatte Sonnendieb wenigstens keine Chance, sie von fern zu beobachten. Er konnte nicht einmal feststellen, wo sie war. Sie öffnete einen Spind und atmete auf. Der leichte Raumanzug war noch da, wo er hingehörte, und er war offenbar mit dem ätzenden Schiffsschleim nicht in Berührung gekommen. Er war nicht nur weniger sperrig als der Anzug, den Sylveste vermutlich genommen hatte, sondern auch weniger intelligent. Und er hatte keine Servosysteme und keinen integrierten Antrieb. Bevor sie ihn anlegte, sprach sie eine Reihe von — wohlüberlegten — Worten in ihr Armband, dann stellte sie es so um, dass es nicht mehr auf seine eigenen Akustiksensoren reagierte, sondern die Kommandos, die in ihren Kommunikator gesprochen wurden. Nun brauchte sie noch ein Rucksacktriebwerk. Sie nahm sich Zeit und sah sich die Schalter so gründlich an, als hoffe sie, ihrem Gedächtnis damit die Bedienungsanleitung entlocken zu können. Doch dann entschied sie, dass sie sich schon an die wichtigsten Handgriffe erinnern würde, wenn es so weit war. Sie verstaute den Nadler sorgfältig im Werkzeuggurt an der Außenseite des Anzugs, verließ in aller Ruhe die Schleuse und schwebte mit leichtem Schub, um nicht ans andere Ende getrieben zu werden, in den Hangar.

Da das Schiff nicht um Cerberus kreiste, sondern sich mit schwacher Triebwerksleistung an einer Stelle im All hielt, herrschte nirgendwo im Innern völlige Schwerelosigkeit.

Sei ging daran, sich ein Shuttle auszusuchen. Ihre Wahl fiel auf die kugelförmige Abschiedsmelancholie. An einer Seite des Hangars lösten sich zwei flaschengrüne Servomaten aus ihrer Verankerung und glitten auf sie zu. Es waren Freiflieger; Kugeln mit Krallen und Schneidewerkzeugen, spezialisiert auf Reparaturarbeiten an den Shuttles. Offenbar war sie beim Betreten des Hangars in Sonnendiebs Wahrnehmungsbereich geraten. Nun, das war nicht zu ändern, und sie hatte den Nadler nicht mitgebracht, um sich auf langwierige diplomatische Verhandlungen mit nicht empfindungsfähigen Maschinen einzulassen. Also schoss sie kurzerhand, wobei sie jedes Mal mehr als eine Salve brauchte, um ein kritisches System auszuschalten.

Die getroffenen Maschinen entschwebten qualmend durch den Hangar.

Sie drückte mit dem Daumen auf die Rucksackschalter und beschwor das Triebwerk, sie schneller vorwärts zu tragen. Die Melancholie wurde größer; sie konnte bereits die kleinen Warnschilder und technischen Hinweise auf dem Rumpf erkennen, die zumeist in ausgestorbenen Sprachen gehalten waren.

Eine weitere Drohne kam hinter dem Shuttle hervor, ein größeres, ockergelbes Ellipsoid mit eingeklappten Manipulatoren und Sensoren.

Sie zielte auf Volyova.

Alles erstrahlte in einem grellen Grün, das ihr die Augen zu verbrennen drohte. Das Ding bedrohte sie mit einem Laser. Sie fluchte — der Anzug hatte rechtzeitig abgedunkelt, aber jetzt war sie so gut wie blind.

Sie unterstellte einfach, dass er sie hören konnte. »Sonnendieb«, sagte sie. »Du machst einen schweren Fehler.«

»Das glaube ich nicht.«

»Du wirst immer besser«, lobte sie. »Bei unserem letzten Gespräch war deineAusdrucksweise noch etwas unbeholfen. Was ist geschehen? Hast du auf die Übersetzungsprogramme für natürliche Sprachen zugegriffen?«

»Je mehr Zeit ich mit euch verbringe, desto besser lerne ich euch kennen.«

Ihre Sichtscheibe wurde wieder durchsichtig. »Jedenfalls gehst du geschickter vor als bei Nagorny.«

»Ich wollte ihn nicht mit Albträumen quälen.« Sonnendiebs Stimme war immer noch ein Nichts; ein hauchendes Flüstern vor dem weißen Rauschen statischer Elektrizität.

»Das glaube ich dir sogar.« Sie schnalzte mit der Zunge. »Du willst auch mich nicht töten, richtig? Die anderen vielleicht — aber mich nicht; noch nicht. Nicht, so lange der Brückenkopf mich noch benötigen könnte.«

»Das ist vorbei«, sagte Sonnendieb. »Sylveste hat Cerberus betreten.«

Schlechte Nachrichten; sehr schlechte Nachrichten — auch wenn sie bei nüchterner Betrachtung seit einigen Stunden damit hatte rechnen müssen.

»Dann muss es einen anderen Grund geben«, sagte sie. »Einen anderen Grund, warum du den Brückenkopf offen halten willst. Es geht dir sicher nicht darum, Sylveste eine Möglichkeit zur Rückkehr zu sichern. Aber wenn der Brückenkopf zusammenbräche, würdest du vielleicht nicht mehr erfahren, wie weit er vorgedrungen ist. Und das willst du doch unbedingt wissen, nicht wahr? Du willst wissen, wie weit er kommt; ob er erreicht, was du immer von ihm wolltest.«

Sie entnahm Sonnendiebs Schweigen, dass sie nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Vielleicht wusste das Alien noch nicht, wie man sich aus der Affäre zog, vielleicht waren Ausflüchte eine typisch menschliche Strategie, die ihm unbekannt war.

»Überlass mir das Shuttle«, sagte sie.

»Ein Schiff dieser Konfiguration ist zu groß. Es kann nicht ins Innere von Cerberus vordringen, auch wenn du Sylveste damit verfolgen willst.«

Traute er ihr wirklich nicht zu, das selbst zu erkennen?

Für einen Moment hatte sie fast Mitleid mit Sonnendieb. Er konnte einfach nicht begreifen, wie der menschliche Verstand funktionierte. Er kam nur so lange zurecht, wie er mit Angst oder mit Belohnungen arbeiten konnte; mit Ködern also, die auf Emotionen beruhten. Seine Schlussfolgerungen waren in sich durchaus logisch — er überschätzte wohl nur die Bedeutung von Emotionen bei menschlichen Entscheidungen. Er bildete sich doch tatsächlich ein, er brauche Volyova nur klar zu machen, dass ihre Mission im Grunde selbstmörderisch sei, und schon würde sie davon Abstand nehmen und bereitwillig zu ihm überlaufen. Armes, bedauernswertes Monstrum, dachte sie.

»Ich habe ein Wort für dich«, sagte sie und ging auf die Luftschleuse zu, ohne sich von der Drohne beirren zu lassen. Und dann sprach sie das Wort aus. Die Beschwörungen, mit denen es eingeleitet werden musste, um seine Wirkung zu tun, hatte sie bereits vorweggenommen. Sie hatte nicht erwartet, das Wort in diesem Kontext jemals gebrauchen zu müssen. Aber sie hatte es schon einmal verwendet, und auch damals hatte sie nicht damit gerechnet; noch überraschender war, dass sie sich überhaupt daran erinnerte. Doch die Zeit des Berechenbaren war für Volyova endgültig vorbei.

Das Wort hieß Palsy.

Die Reaktion des Servomaten war interessant. Er machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Ungehindert erreichte sie die Luftschleuse und ging an Bord der Melancholie. Der Servomat schwebte sekundenlang untätig im Raum, dann schoss er plötzlich auf eine Wand zu. Die Verbindung zum Schiff war abgerissen, nun musste er auf sein begrenztes Reservoir an eigenständigen Verhaltensweisen zurückgreifen. Schaden hatte er nicht genommen, denn der Palsy-Befehl wirkte nur auf Schiffssysteme. Doch von denen war wohl als erstes das radio-optische Befehlsnetz zusammengebrochen, über das alle Drohnen gesteuert wurden. Nur die autonomen Drohnen funktionierten nun noch ohne Einschränkungen — und die hatten noch nie unter Sonnendiebs Einfluss gestanden. Überall auf dem Schiff hasteten jetzt Tausende von überwachten Drohnen an die Terminals, um direkten Kontakt zum Kontrollsystem aufzunehmen. Sogar die Ratten waren verwirrt, denn die Aerosole zur Verteilung der biochemischen Anweisungen gehörten zu den betroffenen Systemen. Befreit von der unerbittlichen Kontrolle ihres Maschinen-Ichs würden die Nager allmählich in einen Zustand zurückfallen, in dem sie wieder mehr Ähnlichkeit mit ihren wilden Vorfahren hatten.

Volyova schloss die Luftschleuse und spürte mit Genugtuung, wie das Shuttle ihre Anwesenheit zur Kenntnis nahm und zum Leben erwachte. Während sie sich Hand über Hand in die Kabine zog, waren die leuchtenden Navigationsanzeigen schon dabei, sich nach ihren Wünschen zu konfigurieren: die Flüssigkristalle ordneten sich nach ihren Idealvorstellungen.

Jetzt brauchte sie nur noch das Raumschiff zu verlassen.


»Hast du das eben gespürt?«, fragte Khouri im Spinnenraum mit seinen Messingarmaturen und Plüschwänden. »Das ganze Schiff hat gezittert wie bei einem Erdbeben.«

»Glaubst du, das war Ilia?«

»Sie sagte, wir sollten ablegen, wenn wir ein Signal bekämen. Es würde verdammt auffällig sein. Das war ziemlich auffällig, oder?«

Wenn sie noch lange wartete, würde sie ihren eigenen Sinnen nicht mehr trauen; sie würde zu zweifeln anfangen, ob sie das Zittern wirklich gespürt hatte, und irgendwann wäre es zu spät. Volyova hatte eines ganz deutlich gemacht: wenn das Signal käme, müsse Khouri schnell handeln. Viel Zeit hätte sie nicht.

Also legte sie ab.

Sie drehte zwei gleich aussehende Messingschalter bis zum Anschlag; nicht weil sie es bei Volyova so gesehen hätte, sondern einfach, weil sie hoffte, dass eine so drastische und zugleich willkürliche und womöglich sinnlose Aktion zwangsläufig Folgen haben müsste, die man normalerweise zu vermeiden wünschte. Zum Beispiel, dass sich der Spinnenraum vom Rumpf löste. Und genau das wollte sie im Moment erreichen.

Der Spinnenraum löste sich vom Rumpf.

Sie waren so plötzlich im freien Fall, dass sich Khouri der Magen umdrehte. »Die nächsten Sekunden«, sagte sie, »entscheiden über Leben und Tod. Wenn das Ilias Signal war, können wir den Rumpf unbehelligt verlassen. Wenn nicht, nehmen uns die schiffseigenen Geschütze ins Visier.«

Khouri sah, wie sich das Schiff entfernte und immer kleiner wurde. Bald musste sie die Augen zusammenkneifen, weil sie vom grellen Schein der Synthetiker-Triebwerke geblendet wurde, die selbst im Leerlauf strahlten wie eine Sonne. Irgendwo gab es im Spinnenraum zwar eine Vorrichtung, um die Jalousien an den Fenstern zu schließen, aber über solche Details wusste Khouri nicht Bescheid.

»Warum feuern sie nicht sofort?«

»Weil die Gefahr zu groß wäre, dass sie das Schiff beschädigen. Ilia sagte, die Grenzwerte seien fest eingestellt — Sonnendieb muss damit leben, denn ändern kann er sie nicht. Meiner Schätzung nach nähern wir uns jetzt der kritischen Distanz.«

»Was mag das wohl für ein Signal gewesen sein?« Pascale wollte das Gespräch offensichtlich fortsetzen.

»Ein Programm«, antwortete Khouri. »Ganz tief in den Speichern vergraben, wo Sonnendieb es niemals finden kann, aber mit Tausenden von Unterbrecherschaltkreisen auf dem ganzen Schiff verbunden. Wenn — falls — sie es ausgelöst hat, wurden Tausende von Systemen gleichzeitig abgeschaltet. Ein Rundumschlag. Das muss die Erschütterung gewesen sein.«

»Und damit werden auch die Waffen deaktiviert?«

»Nein… nicht unbedingt, wenn ich mich recht erinnere. Einige der Sensoren und vielleicht ein Teil der Zielsuchsysteme, der Leitstand ist jedenfalls nicht betroffen; so viel weiß ich noch. Aber im übrigen Schiff herrscht wahrscheinlich ein solches Durcheinander, dass Sonnendieb einige Zeit braucht, um sich davon zu erholen, sich zu koordinieren und neu zu orientieren. Erst dann kann er zu schießen anfangen.«

»Aber die Waffen könnten schneller so weit sein?«

»Deshalb müssen wir uns beeilen.«

»Wir reden immer noch miteinander. Heißt das…?«

»Ich denke schon.« Khouri grinste verzerrt. »Ich habe das Signal wohl doch richtig interpretiert, und wir sind — wenigstens bis auf Weiteres — in Sicherheit.«

Pascale seufzte tief auf. »Was jetzt?«

»Jetzt müssen wir Ilia finden.«

»Das sollte uns nicht schwer fallen. Sie sagte, wir brauchten nichts zu tun, als auf dieses Signal zu warten. Dann würde sie…« Khouri verstummte und schaute zum Lichtschiff zurück. Es hing über ihnen wie ein schwebender Kirchturm, aber irgendetwas stimmte nicht damit.

Etwas störte die Symmetrie.

Etwas brach daraus hervor.

Zuerst war da nur eine winzige Öffnung; als wolle sich ein Küken mit der Schnabelspitze durch die Eierschale bohren. Dann ein weißer Blitz, eine Reihe von Explosionen. Teile der Hülle flogen davon, die Hand der Schwerkraft fing sie auf und riss den Schleier der Zerstörung beiseite. Der Schaden wurde sichtbar. Ein winziges Loch im Rumpf. Jedenfalls erschien es winzig, aber bei der Größe des Schiffes hatte es in Wirklichkeit sicher einen Durchmesser von fast hundert Metern.

Aus diesem Loch brach nun Volyovas Shuttle. Es verharrte kurz vor dem mächtigen Schiffsrumpf, drehte dann eine Pirouette und stürzte auf den Spinnenraum zu.

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