Im Orbit um Cerberus/Hades
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»Du hast etwas erfahren«, sagte Pascale. »Sonnendieb hat dir etwas verraten. Und seitdem versuchst du verzweifelt, ihn aufzuhalten.«
Sie sprach zu Volyova, die sich nicht mehr ganz so verwundbar fühlte, seit das Shuttle den kritischen Punkt auf halbem Wege zwischen Cerberus und der Stelle überschritten hatte, wo sie mit dem Schub auf vier Ge gegangen war. Nun zeigten sie dem Verfolger nicht mehr den Feuerstoß aus dem Antrieb und boten ihm daher ein weniger auffälliges Ziel. Die Kehrseite der Medaille war natürlich, dass die Flamme jetzt von Cerberus aus zu sehen war und vom Planeten selbst als Zeichen von Feindseligkeit gedeutet werden konnte, falls man dort bislang noch nicht begriffen haben sollte, dass die menschlichen Besucher nicht unbedingt in bester Absicht kamen.
Aber daran war nichts zu ändern.
Das Lichtschiff beschleunigte jetzt mit lockeren sechs Ge; das reichte, um den Vorsprung stetig schrumpfen zu lassen und es innerhalb von fünf Stunden auf Schussweite an das Shuttle heranzubringen. Sonnendieb hätte schneller fliegen können, und das ließ vermuten, dass er immer noch behutsam die Grenzen des Antriebs auslotete. Er fürchtete wohl weniger um sein eigenes Leben, dachte Volyova, aber wenn das Lichtschiff zerstört wurde, konnte der Brückenkopf nicht mehr lange standhalten. Sylveste befand sich zwar bereits im Innern des Planeten, aber vielleicht wollte das Alien wissen, ob er das Ziel auch wirklich erreicht hatte, und damit ein Signal ins All geschickt werden konnte, musste die Bresche in der Kruste wahrscheinlich noch eine Weile offen bleiben. Dass auch Sylvestes Rückkehr in Sonnendiebs Plänen enthalten sein könnte, hielt Volyova dagegen für ausgeschlossen.
»Wollte mir die Mademoiselle das zeigen?«, fragte Khouri. Nach stundenlangem Flug bei erhöhter Schwerkraft klang ihre Stimme so heiser wie nach einer durchzechten Nacht. »Das, was ich nie so ganz begriffen habe — meinte sie das?«
»Ich glaube nicht, dass wir darüber jemals Gewissheit erhalten werden«, antwortete Volyova. »Ich weiß nur, was er mir gezeigt hat. Ich glaube, dass es die Wahrheit war — aber ich glaube nicht, dass wir uns jemals selbst davon überzeugen können.«
»Du könntest mir wenigstens sagen, was es war«, beklagte sich Pascale. »Immerhin bin ich die einzige von uns dreien, die gar nichts weiß. Über die Details könnt ihr dann untereinander streiten.«
Von der Konsole kam ein Klingelzeichen, das zweite oder dritte in den letzten Stunden. Es meldete, dass ein Radarstrahl vom Lichtschiff achtern über das Shuttle hinweggegangen war. Im Moment war das nicht weiter von Bedeutung, denn das Licht brauchte noch immer mehrere Sekunden für den Weg vom Schiff zum Shuttle, und das genügte, um das Shuttle mit einem kurzen Seitwärtsschub aus der markierten Position zu bringen. Aber die Signale strapazierten die Nerven, denn sie bestätigten, dass das Lichtschiff sie nicht einfach nur verfolgte, sondern auch versuchte, ihre Position so genau zu fixieren, dass es das Feuer eröffnen konnte. Bevor das möglich war, würden noch Stunden vergehen, aber die Maschine blieb ihnen mit unerbittlicher Entschlossenheit auf der Spur.
»Ich fange mit dem an, was ich weiß«, sagte Volyova und gönnte sich einen tiefen Atemzug. »Die Galaxis war einstmals sehr viel dichter bevölkert als heute. Es gab Millionen von Zivilisationen, aber nur eine Hand voll spielten tatsächlich eine Rolle. Genau so, wie es nach allen Prognosemodellen in der Galaxis heute zugehen müsste, wobei sich die Prognosen auf die Häufigkeit von Sonnen vom G-Typ und von erdähnlichen Planeten stützen, die gerade so weit von den Sonnen entfernt sind, um flüssiges Wasser zu haben.« Sie schweifte ab, aber Pascale und Khouri beschlossen, sie reden zu lassen. »Auf dem Papier ist das Leben bei weitem nicht so selten wie in der Realität. Ein Widerspruch, der seit langem bekannt ist. Theorien über die Entwicklungszeiträume von intelligenten und Werkzeuge benutzenden Lebewesen tun sich mit der Quantifizierung schwerer, stoßen aber auf das gleiche Problem. Sie sagen zu viele Zivilisationen vorher.«
»Das Fermi-Paradoxon«, bemerkte Pascale.
»Das was?«, fragte Khouri.
»Der alte Gegensatz zwischen der Erkenntnis, dass speziell robotische Vertreter ohne größere Schwierigkeiten interstellare Weltraumflüge unternehmen könnten — und der Tatsache, dass nie ein solcher Abgesandter einer nichtmenschlichen Spezies aufgetaucht ist. Der einzig logische Schluss war, dass es in der ganzen Galaxis niemanden gab, der solche Vertreter entsenden konnte.«
»Aber die Galaxis ist doch so groß«, wandte Khouri ein. »Könnte es nicht irgendwo solche Zivilisationen geben, von denen wir bisher einfach nichts wissen?«
»Das Argument sticht nicht«, erklärte Volyova mit Nachdruck und Pascale nickte. »Die Galaxis ist zwar groß, aber so groß nun auch wieder nicht — und außerdem ist sie uralt. Wenn auch nur eine einzige Zivilisation Sonden ausschickte, würden alle anderen Galaxisbewohner schon innerhalb von wenigen Millionen Jahren davon erfahren. Und die Galaxis ist zufällig ein paar Tausend Mal älter. Zugegeben, mehrere Sternengenerationen mussten entstehen und sterben, bevor endlich genügend schwere Elemente vorhanden waren, um Leben zu ermöglichen, aber selbst wenn in jeder Jahrmillion nur eine Maschinen bauende Zivilisation entstanden wäre, hätte sie Tausende von Möglichkeiten gehabt, die gesamte Galaxis zu beherrschen.«
»Darauf gibt es seit jeher nur zwei Antworten«, sagte Pascale. »Erstens: Die Aliens sind unter uns, und wir haben sie nur nie bemerkt. Das mag vor Jahrhunderten noch denkbar gewesen sein, heute nimmt diese Theorie niemand mehr ernst, nicht mehr, seit jeder Quadratzentimeter jedes Asteroidengürtels in etwa hundert Systemen kartografisch erfasst wurde.«
»Dann haben sie vielleicht niemals existiert?«
Pascale nickte Khouri zu. »Diese Ansicht konnte man vertreten, so lange man nicht viel über die Galaxis wusste. Doch jetzt sieht es sogar so aus, als sei sie, wenigstens in ihren Grundzügen, besonders lebensfreundlich. Was Volyova eben erwähnte — die richtigen Sonnentypen und die richtigen Planeten an den richtigen Stellen. Und die biologischen Modelle verlangten immer noch eine größere Häufigkeit bis hinauf zu intelligenten Kulturen.«
»Dann waren eben die Modelle falsch«, sagte Khouri.
»Auch das trifft wahrscheinlich nicht zu.« Volyova schaltete sich wieder ein. »Sobald wir ins All gingen, sobald wir das Erste System verlassen hatten, stießen wir überall auf erloschene Kulturen. Keine hatte sich länger als bis vor etwa einer Million Jahre gehalten, und einige waren schon sehr viel früher untergegangen. Aber eines bewiesen sie alle. Die Galaxis ist früher einmal sehr viel fruchtbarer gewesen. Warum also heute nicht mehr? Warum waren wir plötzlich so einsam?«
»Der Krieg«, sagte Khouri und alle schwiegen. Erst nach einer Weile begann Volyova zu sprechen, leise und mit einer Scheu, als rühre sie an etwas Heiliges.
»Ja«, sagte sie. »Der Morgenkrieg — so wurde er doch genannt, oder?«
»Soweit ich mich erinnere.«
»Wann war das?«, fragte Pascale, und Volyova hatte plötzlich Mitleid mit ihr. Sie stand zwischen zwei Menschen, die einen kurzen Blick auf eine unglaubliche Erkenntnis geworfen hatten und nun weniger daran interessiert waren, das Ganze kurz zu umreißen, als sich gegenseitig auszuforschen und in ihren Zweifeln und Missverständnissen zu bestätigen. Während Pascale von alledem noch überhaupt keine Ahnung hatte.
»Es war vor einer Milliarde Jahre«, begann Khouri, und Volyova ließ sie zunächst weitersprechen, ohne sie zu unterbrechen. »Der Krieg hatte alle Kulturen verschlungen und sie auch wieder ausgespuckt, aber in ganz anderer Form als vorher. Wir können wohl nicht wirklich begreifen, worum der Kampf ging oder wer, beziehungsweise was, ihn überlebte — wir wissen nur, dass es sich eher um Maschinen als um Lebewesen handelte. Sie standen so hoch über allem, was wir uns vorstellen können, wie unsere Maschinen über den Werkzeugen der Steinzeit. Aber sie hatten einen Namen — oder man gab ihnen einen —, so genau weiß ich das nicht mehr. Ich erinnere mich nur an den Namen selbst.«
»Die Unterdrücker«, sagte Volyova.
Khouri nickte. »Sehr treffend.«
»Warum?«
»Es geht darum, was sie hinterher taten«, erklärte Khouri. »Nicht während des Krieges, sondern danach. Sie hatten sich sozusagen ein Glaubensbekenntnis gegeben, eine eiserne Regel. Intelligente, organische Lebewesen waren für den Morgenkrieg verantwortlich. Sie selbst waren anders, vielleicht post-intelligent. Jedenfalls wurde ihnen dadurch vieles erleichtert.«
»Nämlich?«
»Die Unterdrückung. Im wahrsten Sinne des Wortes. Sie unterdrückten den Aufstieg intelligenter Spezies in der Galaxis, um zu verhindern, dass sich etwas Ähnliches wie der Morgenkrieg jemals wiederholte.«
Wieder nahm Volyova den Faden auf. »Es ging nicht nur darum, alle bestehenden Zivilisationen auszulöschen, die den Krieg womöglich überlebt hatten. Sie nahmen sich auch vor, die Bedingungen zu beseitigen, unter denen neues intelligentes Leben entstehen konnte. Sie machten sich nicht an den Sonnen zu schaffen — das wäre ein zu gravierender Eingriff gewesen, der gegen ihre eigenen Grundsätze verstoßen hätte —, sie gaben sich mit weniger zufrieden. Sie brauchten die Entwicklung keines einzigen Sternes zu beeinflussen, außer in extremen Fällen — wenn sie zum Beispiel Kometenbahnen veränderten, um die Planeten dem Trümmerregen länger auszusetzen als gewöhnlich. Das Leben auf den betroffenen Welten hätte wahrscheinlich Nischen gefunden, in denen es überdauern konnte — tief unter der Erde oder im Umkreis von Thermalquellen —, aber es konnten sich unter den Bedingungen keine hochkomplexen Lebensformen herausbilden. Jedenfalls keine Formen, die für die Unterdrückung eine Bedrohung dargestellt hätten.«
»Du sagst, das war vor einer Milliarde Jahren«, wandte Pascale ein. »Und doch haben wir seither einen weiten Weg zurückgelegt — vom Einzeller bis zum Homo sapiens. Soll das heißen, wir sind durch die Maschen geschlüpft?«
»Genau das«, sagte Volyova. »Weil das Netz nämlich zerfiel.«
Khouri nickte. »Die Unterdrücker überzogen die Galaxis mit Maschinen, die Leben entdecken sollten, sobald es auftrat, um es dann zu unterdrücken. Lange Zeit schien alles nach Plan zu laufen — aus diesem Grund wimmelt die Galaxis heute eben nicht von Leben, obwohl die Bedingungen dafür günstig wären.« Sie schüttelte den Kopf. »Das klingt jetzt so, als wüsste ich tatsächlich Bescheid.«
»Vielleicht stimmt das ja auch«, sagte Pascale. »Jedenfalls möchte ich hören, was du zu sagen hast. Und zwar alles.«
»Schon gut, schon gut.« Khouri rutschte sicher aus dem gleichen Grund auf ihrer Beschleunigungsliege hin und her, aus dem Volyova das schon seit einer Stunde tat: sie suchte eine Stellung, in der ihre bereits entstandenen Blutergüsse keinem weiteren Druck ausgesetzt waren. »Die Maschinen funktionierten mehrere Hundert Millionen Jahre lang«, sagte sie. »Dann traten die ersten Pannen auf. Sie arbeiteten nicht mehr so zuverlässig, wie sie es hätten tun sollen. Intelligente Spezies, die früher schon im Ansatz unterdrückt worden wären, konnten sich entwickeln.«
Pascales Gesichtsausdruck bewies, dass sie soeben eine Verbindung hergestellt hatte. »Zum Beispiel die Amarantin…«
»Zum Beispiel die Amarantin«, bestätigte Volyova. »Sie waren nicht die einzige Kultur, die durch die Maschen schlüpfte, aber sie befanden sich zufällig nicht allzu weit von uns entfernt, und deshalb wurden wir von ihrem Schicksal so — stark berührt. Vielleicht wollten die Unterdrücker Resurgam mit irgendeinem Mechanismus genau beobachten, aber entweder hat dieser Mechanismus nie existiert, oder er stellte den Betrieb ein, bevor sich die Amarantin zur Intelligenz emporgearbeitet hatten. Sie errichteten also eine Zivilisation, von der sich sogar eine raumfahrende Subspezies abspalten konnte — und die Unterdrücker bemerkten es nicht.«
»Sonnendieb.«
»Richtig. Er führte die Verbannten ins Weltall — und veränderte sie biologisch und geistig-seelisch so weit, dass sie mit den zu Hause gebliebenen Amarantin bis auf Herkunft und Sprache kaum noch etwas gemeinsam hatten. Und natürlich erkundeten sie ihre Umgebung, zuerst ihr Sonnensystem und später auch seine Peripherie.«
»Und dort…« — Pascale nickte dem Bild von Hades und Cerberus zu — »…fanden sie dies. Das wolltest du doch sagen?«
Khouri nickte und übernahm den Rest der Geschichte. Es gab nicht mehr viel zu erzählen.
Sylveste stürzte immer weiter und registrierte nur am Rande, wie die Zeit verging. Endlich hatte er mehr als zweihundert Kilometer Schacht über sich; unter seinen Füßen lagen nur noch wenige Kilometer. Dort sah er blinkende Lichter, angeordnet wie Sternbilder, und stellte sich plötzlich vor, er sei viel tiefer gestürzt, als es eigentlich möglich war, die Lichter seien tatsächlich Sterne, und er stehe im Begriff, Cerberus auf der gegenüberliegenden Seite zu verlassen. Doch von dieser Illusion verabschiedete er sich gleich wieder. Die Anordnung der Lichter war ein klein wenig zu regelmäßig, zu gezielt, verriet allzu deutlich die Hand einer planenden Intelligenz.
Er fiel aus dem Schacht ins Leere wie schon einmal aus dem Brückenkopf. Wieder durchquerte er unermessliche Weiten, doch dieser Raum erschien ihm noch viel größer als der unmittelbar unter der Kruste. Hier wuchsen keine knorrigen Baumstämme aus dem Kristallboden, um die Decke über seinem Kopf zu stützen, und er bezweifelte, dass hinter dem Horizont solche Stämme zu sehen wären. Immerhin hatte er einen Boden unter sich, und die Decke brauchte wohl keine Stützen, sie umschloss eine Welt im Innern einer Welt und wurde groteskerweise nur vom Gegengewicht ihrer eigenen Schwerkraft oder von einer anderen Kraft gehalten, die Sylvestes Vorstellungsvermögen überstieg. Wie auch immer; zwanzig Kilometer unter ihm befand sich der sternenübersäte Boden und darauf fiel er zu.
Sajakis Anzug war nicht schwer zu finden. Nachdem Sylveste den einsamen Weg nach unten angetreten hatte, tat sein eigener noch funktionsfähiger Anzug alles, was nötig war. Er peilte die Signatur seines abgestürzten Gefährten an (von dem irgendetwas folglich doch überlebt haben musste), steuerte Sylveste darauf zu und landete nur wenige Meter davon entfernt. Der Triumvir war hart aufgeschlagen, das war nicht zu übersehen. Aber wie konnte es denn auch anders sein, wenn man aus zweihundert Kilometern Höhe ungebremst abstürzte? Er schien sich ein Stück weit in den Metallboden gebohrt zu haben, bevor er noch einmal abgeprallt und schließlich mit dem Gesicht nach unten liegen geblieben war.
Sylveste hatte nicht erwartet, Sajaki lebend anzutreffen, aber der Anblick des zerschmetterten Anzugs schockierte ihn doch; er erinnerte an eine Porzellanpuppe, die dem Trotzanfall eines ungezogenen Kindes zum Opfer gefallen war. Der Anzug war gezeichnet von Rissen, Schrammen und Verfärbungen, wahrscheinlich Spuren des Kampfes und des anschließenden Sturzes, in dessen Verlauf ihn der Coriolis-Effekt immer wieder gegen die Schachtwände geschleudert hatte.
Sylveste drehte Sajaki mit Hilfe seiner Anzugverstärker auf den Rücken. Was ihn erwartete, war sicher nicht angenehm, aber er musste sich damit konfrontieren. Er musste dieses Kapitel im Geist abschließen, um weitermachen zu können. Er hatte für den Triumvir von jeher nur Abneigung empfunden, die lediglich dadurch gemildert wurde, dass ihm die Intelligenz und der blinde Starrsinn, mit dem ihn der andere jahrzehntelang gesucht hatte, so etwas wie Respekt abnötigten. Mit Freundschaft hatte das nicht das Geringste zu tun; eher mit der Bewunderung des Fachmanns für ein Werkzeug, das seine Aufgabe überdurchschnittlich gut erfüllte. Genau das war Sajaki, dachte Sylveste, ein scharf geschliffenes Werkzeug; hervorragend geeignet für einen, aber eben auch nur für diesen einzigen Zweck.
Ein daumenbreiter Sprung teilte die Sichtscheibe des Raumanzugs. Sylveste fühlte sich wie magisch davon angezogen. Er kniete nieder und beugte sich über das Gesicht des Toten.
»Es tut mir Leid, dass es so enden musste«, sagte er. »Ich will nicht behaupten, dass wir jemals Freunde gewesen wären, Yuuji — aber am Ende war es mir wohl ebenso wichtig, Ihnen zu zeigen, was vor uns lag, wie ich es selbst sehen wollte. Ich denke, Sie hätten es zu würdigen gewusst.«
Erst jetzt sah er, dass der Anzug leer war. Er war nur einer leeren Hülle gefolgt.
Khouri hatte Folgendes beizutragen.
Jahrtausende, nachdem die Verbannten aus dem Hauptstrom der amarantinischen Kultur ausgebrochen waren, erreichten sie den Rand des Sonnensystems. Dass es so lange dauerte, lag in der Natur der Sache. Sie hatten nicht nur gegen die Grenzen der Technik anzukämpfen, sondern auch gegen die Zwänge, die ihre eigene Psychologie ihnen auferlegte, und diese Barrieren waren nicht leichter zu überwinden.
Zunächst bewahrten die Verbannten noch den Schwarminstinkt ihrer Artgenossen. Sie hatten sich zu einer Gesellschaft entwickelt, die sich stark auf visuelle Verständigungsformen stützte und streng geordnete, große Kollektive förderte, in denen das Individuum hinter dem Wohl des Ganzen zurückstehen musste. Wurde ein einzelner Amarantin aus seinem Schwarm ausgeschlossen, so verfiel er in eine Psychose, die gleichbedeutend war mit massiver sensorischer Deprivation. Selbst kleine Gruppen reichten nicht aus, um den Schrecken zu bannen, und daraus folgte, dass die amarantinische Kultur ausnehmend stabil war; ungemein widerstandsfähig gegen Intrigen und Verrat von innen. Aber daraus folgte weiterhin, dass die Verbannten allein durch ihre Isolation zu einer Form von Wahnsinn verdammt waren.
Das akzeptierten sie nicht nur, sie arbeiteten damit. Sie veränderten sich; kultivierten ihre Soziopathie. Schon nach wenigen hundert Generationen waren sie kein Schwarm mehr, sondern hatten sich in Dutzende von spezialisierten Nestgemeinschaften aufgespalten, von denen jede ihrer ganz besonderen Form des Wahnsinns frönte. Jedenfalls hätten es die daheim Gebliebenen als Wahnsinn betrachtet…
Die Fähigkeit, auch in kleineren Gruppen zu funktionieren, ermöglichte es den Verbannten, sich über die Region hinaus, in der eine Kommunikation per Sichtkontakt noch möglich war, von Resurgam zu entfernen. Die Individuen mit den fortgeschritteneren Psychosen schwärmten noch weiter aus und fanden schließlich Hades und den seltsamen Planeten in seiner Umlaufbahn. Inzwischen waren die Verbannten bereits durch die gleichen philosophischen Reifen gesprungen, die Volyova und Pascale soeben kurz angedeutet hatten. Auch sie waren zu dem Schluss gekommen, dass die Galaxis nach ihren Forschungen eigentlich dichter bevölkert sein müsste, als sie es tatsächlich war, und dass die Ergebnisse infolgedessen wohl nicht stimmten. Sie hatten das gesamte elektromagnetische, gravitationelle und Neutrino-Spektrum nach Stimmen fremder Kulturen oder Schicksalsgenossen abgesucht, aber nichts gefunden. Einige besonders Abenteuerlustige — oder Geistesgestörte, das war eine Frage des Standpunkts — hatten ihre Suche sogar außerhalb des Systems fortgesetzt, konnten aber nicht von größeren Entdeckungen berichten: sie fanden hier und dort ein paar rätselhafte Ruinen und auf einigen Wasserplaneten seltsame Schleimwesen, die erste Anzeichen differenzierterer Organisationsformen aufwiesen und den Eindruck vermittelten, als hätte jemand sie dort ausgesetzt.
Doch das verlor alles an Bedeutung, als sie den Hades-Satelliten fanden.
Es handelte sich ohne jeden Zweifel um einen künstlichen Himmelskörper, der vor unzähligen Jahrmillionen von einer anderen Zivilisation hierher gebracht worden war. Er schien aktiv dazu aufzufordern, seine Geheimnisse zu ergründen. Also begannen sie ihn zu erforschen.
Und damit begannen die Probleme.
»Sie hatten eine Anlage der Unterdrücker gefunden«, sagte Pascale. »Das willst du doch damit sagen?«
»Die Anlage hatte schon seit Jahrmillionen dort gewartet«, sagte Khouri. »In dieser Zeit hatten sich die Amarantin aus einer Spezies, die wir als Dinosaurier oder Vögel bezeichnen würden, Schritt für Schritt zu intelligenten Lebewesen entwickelt; sie hatten gelernt, Werkzeuge zu gebrauchen; sie hatten das Feuer entdeckt…«
»Und die Anlage wartet«, wiederholte Volyova. Hinter ihr pulsierte das taktische Display schon seit einigen Minuten in grellem Rot. Das Shuttle befand sich jetzt innerhalb der nominellen Maximalreichweite der Strahlenwaffen des Lichtschiffes. Ein Treffer auf diese Distanz wäre schwierig, aber nicht unmöglich, und es wäre kein schneller Tod. »Sie wartet also darauf«, fuhr sie fort, »dass etwas in ihre Nähe kommt, das Intelligenz erkennen lässt — wobei sie in diesem Fall nicht blind zuschlägt und die Besucher auch nicht zerstört. Denn damit wäre das Ziel verfehlt. Sie fordert sie vielmehr auf, den Planeten zu betreten, und nützt die Gelegenheit, um möglichst viel über sie in Erfahrung zu bringen. Sie möchte wissen, woher sie kommen. Auf welchem technischen Stand sie sind, wie sie denken, wie sie kooperieren und kommunizieren.«
»Sie sammelt also Informationen.«
»Richtig.« Volyovas Stimme klagte wie eine Kirchenglocke. »Sie ist sehr geduldig. Aber früher oder später kommt der Moment, da ist sie mit ihrer Ausbeute zufrieden. Und dann — erst dann — handelt sie.«
Jetzt wussten alle drei, wo sie standen. »Deshalb starben die Amarantin aus«, staunte Pascale. »Die Anlage hat sich an ihrer Sonne zu schaffen gemacht und so etwas wie einen koronalen Materieausstoß ausgelöst; gerade so massiv, dass alles Leben auf Resurgam vernichtet und der Planet über Hunderttausende von Jahren mit Kometeneinschlägen bombardiert wurde.«
»Im Allgemeinen griffen die Unterdrücker nicht zu so drastischen Mitteln«, ergänzte Volyova. »Aber in diesem Fall war es für alles andere viel zu spät. Und natürlich genügte auch diese Katastrophe nicht; die Verbannten hatten bereits den Sprung ins All gewagt. Nun hieß es, sie notfalls auf eine Entfernung von zehn oder zwanzig Lichtjahren zu verfolgen und zur Strecke zu bringen.«
Wieder meldeten die Rumpfsensoren die Erfassung durch einen Radarstrahl. Ein zweites Signal ließ nicht lange auf sich warten; der Verfolger schoss sich allmählich ein.
»Zu diesem Zweck alarmierte die Anlage um Hades vermutlich weitere im All verteilte Unterdrücker-Anlagen«, erklärte Khouri und bemühte sich, die automatischen Warnungen vor einer drohenden Katastrophe zu überhören. »Sie übermittelte ihnen alle gesammelten Informationen und bat sie, nach den Verbannten Ausschau zu halten.«
»Und das bedeutete bestimmt nicht nur, herumzusitzen und zu warten, bis sie auftauchten«, sagte Volyova. »Die bis dahin passiven Maschinen müssen irgendwelche Aktivitäten entwickelt haben — vielleicht wurden Jagdmaschinen repliziert, die auf die Verbannten programmiert waren. Wohin die Gejagten sich auch wandten, das Licht war schneller, die Unterdrücker-Systeme waren ihnen immer einen Schritt voraus und erwarteten sie bereits.«
»Sie hatten keine Chance.«
»Aber sie wurden auch nicht auf einen Schlag ausgerottet«, ergänzte Pascale. »Den Verbannten blieb noch Zeit, nach Resurgam zurückzukehren und so viel wie möglich von der alten Kultur zu bewahren. Obwohl sie wahrscheinlich wussten, dass sie gejagt wurden und dass die Sonne im Begriff war, ihre Heimatwelt zu zerstören.«
»Vielleicht dauerte es zehn, vielleicht auch hundert Jahre.« Für Volyova machte das anscheinend keinen großen Unterschied. »Wir wissen nur, dass einige weiter kamen als andere.«
»Aber keiner hat überlebt«, sagte Pascale. »Oder doch?«
»Einige schon«, versetzte Khouri. »Jedenfalls irgendwie.«
Hinter Volyova begann das taktische Display durchdringend zu schrillen.