Vierzehn

Mantell, Nord-Nekhebet,

Resurgam

2566


An dem Tag, an dem sich die Besucher endlich vorstellten, wurde Sylveste von einem Dolchstoß aus gnadenlos grell-weißem Licht geweckt. Er hob flehentlich die Arme, bis seine Augen die Initialisierungsprogramme durchlaufen hatten. Sluka sah offenbar ein, dass es praktisch sinnlos war, in dieser Situation mit ihm reden zu wollen. Seit seine Augen so viele ihrer ursprünglichen Funktionen eingebüßt hatten, brauchten sie länger denn je, um überhaupt in Gang zu kommen. Sylveste musste eine lange Liste von Fehlermeldungen und Warnungen und ein Feuerwerk von geisterhaften Nadelstichen über sich ergehen lassen, während die Augen Betriebsarten mit schweren Ausfallerscheinungen austesteten.

So nahm er nur undeutlich wahr, dass Pascale aufrecht neben ihm im Bett saß und sich die Decke vor die Brust hielt.

»Sie müssen aufstehen«, sagte Sluka. »Alle beide. Ich warte draußen, bis Sie sich angezogen haben.«

Hastig fuhren sie in ihre Kleider. Sluka stand geduldig mit zwei Wärtern vor dem Zimmer, die keine sichtbaren Waffen trugen. Sylveste und seine Frau wurden in den Gemeinschaftsraum von Mantell geführt, wo sich die Morgenschicht der Fluter des Wahren Weges um einen rechteckigen Wandschirm versammelt hatte. Thermosflaschen mit Kaffee und Frühstücksrationen standen unberührt auf dem Tisch. Was immer geschehen war, dachte Sylveste, hatte offenbar jedem normalen Menschen den Appetit verdorben. Der Schlüssel war wohl auf dem Schirm zu finden. Sylveste hörte eine Stimme, hart und künstlich verstärkt wie aus einem Lautsprecher. Doch die Gespräche im Raum waren so laut, dass er nur hin und wieder ein Wort verstand. Leider war dieses Wort fast immer sein eigener Name. Wer immer da vom Schirm herunter donnerte, gebrauchte ihn nur allzu häufig.

Als er sich nach vorn drängte, fiel ihm auf, dass ihm die Zuschauer mit mehr Respekt Platz machten, als er seit Jahrzehnten erfahren hatte. Oder war es vielleicht nur Mitleid für einen Todeskandidaten?

Pascale trat zu ihm. »Erkennst du diese Frau?«, fragte sie.

»Welche Frau?«

»Auf dem Schirm. Vor dem du gerade stehst.«

Sylveste sah nur ein pointillistisches Oval aus silbergrauen Pixels.

»Ich kann mit Videobildern nicht allzu viel anfangen«, erklärte er, ebenso an Sluka wie an Pascale gewandt. »Und hören kann ich schon gar nichts. Vielleicht sagt mir einfach jemand, was mir entgeht.«

Falkender hatte sich aus der Menge gelöst. »Ich kann einen Neuralanschluss herstellen, wenn Sie wollen«, sagte er. »Dauert nur einen Moment.« Er lotste Sylveste in eine Nische in einer Ecke des Gemeinschaftsraums, wo sie vor neugierigen Blicken geschützt waren. Pascale und Sluka folgten. Dort öffnete er seinen Instrumentenkoffer und holte mehrere blitzende Mikrowerkzeuge heraus.

»Jetzt werden Sie mir gleich schwören, dass es überhaupt nicht wehtut«, bemerkte Sylveste.

»Ich denke nicht daran«, gab Falkender zurück. »Schließlich sollte man doch bei der Wahrheit bleiben, nicht wahr?« Er wandte sich fingerschnippend an Pascale, vielleicht auch an einen seiner Helfer, Sylveste konnte es nicht sehen, sein Sichtfeld war jetzt zu sehr eingeschränkt. »Bringen Sie dem Mann einen Becher Kaffee, das lenkt ihn ab. Wenn er den Schirm klar erkennt, braucht er wahrscheinlich ohnehin etwas Stärkeres.«

»So schlimm?«

»Ich fürchte, Falkender macht keine Scherze«, sagte Sluka.

»Meine Güte, Sie amüsieren sich ja alle ganz prächtig.« Sylveste biss sich auf die Lippe, als Falkender mit seiner Sonde die erste Schmerzkaskade auslöste, allerdings wurde der Schmerz im Verlauf der kleinen Operation nicht schlimmer. »Wollen Sie mich etwa von meinem Leiden erlösen? Immerhin war Ihnen die Sache wichtig genug, um mich zu wecken.«

»Die Ultras haben sich gemeldet«, sagte Sluka.

»Das hatte ich auch schon mitbekommen. Und wie haben sie sich eingeführt? Haben sie mitten in Cuvier ein Shuttle abgesetzt?«

»Nichts so Spektakuläres. Bis jetzt. Vielleicht steht uns ja noch Schlimmeres bevor.«

Jemand schloss seine Hände um einen Becher Kaffee; Falkender unterbrach sein Werk so lange, bis Sylveste einen Schluck getrunken hatte. Der Kaffee war nur lauwarm und schmeckte bitter, aber er wurde davon ein klein wenig wacher. Er hörte Sluka sagen: »Über den Schirm läuft eine audiovisuelle Botschaft, die inzwischen seit etwa dreißig Minuten ständig wiederholt wird.«

»Vom Schiff gesendet?«

»Nein, sie haben es offenbar geschafft, direkt auf unsere Kommunikationssatelliten zuzugreifen und ihre Botschaft an unsere Routine-Übertragungen anzuhängen.«

Sylveste nickte und bereute die Bewegung sofort. »Das heißt, sie fürchten immer noch, geortet zu werden.« Oder, dachte er, sie wollen nur noch einmal kundtun, dass sie uns technisch haushoch überlegen sind und jederzeit in unsere bestehenden Datensysteme eindringen und sie manipulieren können. Das erschien ihm wahrscheinlicher: es roch nicht nur nach der Arroganz aller Ultras, sondern nach einer ganz bestimmten Crew. Warum sich auf gewöhnliche Weise zu erkennen geben, wenn man die Eingeborenen auch mit einem brennenden Dornbusch beeindrucken konnte? Aber er brauchte eigentlich keine Bestätigung mehr dafür, dass er die Leute kannte. Er wusste Bescheid, seit das Schiff ins System gekommen war.

»Nächste Frage«, sagte er. »An wen ist die Botschaft gerichtet? Glauben sie immer noch, wir hätten hier planetare Behörden, mit denen sie verhandeln könnten?«

»Nein«, sagte Sluka. »Die Botschaft richtet sich an alle Bürger von Resurgam, gleich welcher politischen oder kulturellen Gruppe sie sich zugehörig fühlen.«

»Sehr demokratisch«, bemerkte Pascale.

»Ich habe meine Zweifel«, versetzte Sylveste, »ob Demokratiebewusstsein hier irgendeine Rolle spielt. Ganz sicher nicht, wenn wir es mit den Leuten zu tun haben, die ich kenne.«

»Was das angeht«, erinnerte ihn Sluka, »so haben Sie mir nie zu meiner vollen Zufriedenheit erklärt, warum diese Leute…«

Sylveste unterbrach sie. »Dürfte ich mir die Botschaft vielleicht erst ansehen, bevor wir sie im Einzelnen analysieren? Immerhin scheine ich ja persönlich davon betroffen zu sein.«

»So.« Falkender trat zurück und klappte seinen Instrumentenkoffer mit Entschiedenheit zu. »Ich sagte Ihnen ja, es dauert nur einen Moment. Jetzt können Sie sich direkt an den Schirm anschließen.« Der Chirurg lächelte. »Aber tun Sie mir einen Gefallen. Bringen Sie nicht den Boten um, weil Ihnen die Botschaft nicht gefällt!«

»Darüber werde ich entscheiden«, gab Sylveste zurück, »wenn ich die Botschaft gesehen habe.«


Sie übertraf seine schlimmsten Befürchtungen.

Er drängte sich wieder nach vorne. Die Menge war nicht mehr so dicht, die Zuschauer hatten sich allmählich verlaufen und gingen in anderen Teilen von Mantell ihrer Arbeit nach. Die Stimme aus dem Lautsprecher war jetzt besser zu verstehen. Er erkannte gewisse Eigenheiten im Tonfall der Frau wieder. Die Sätze, die er vor wenigen Minuten gehört hatte, wurden bereits wiederholt. Die Botschaft konnte also nicht sehr lang sein. Schon das war bedenklich. Wer flog schon viele Lichtjahre weit durch den interstellaren Raum, um dann eine Kolonie mit mehr als lakonischer Kürze von seiner Ankunft in Kenntnis zu setzen? Nur jemand, der keinerlei Interesse hatte, Freunde zu gewinnen, oder ganz genau wusste, was er wollte. Auch das passte gut zu seinen Erfahrungen mit dieser Besatzung, die seiner Meinung nach nur gekommen war, um ihn zu holen. Die Leute waren nie sehr gesprächig gewesen.

Zuerst hörte er nur die Stimme, die flüsternd über die Jahre zu ihm drang. Dann kam das Bild — als Falkender auch die letzte Neuralverbindung geschlossen hatte — und mit ihm die Erinnerung.

»Wer ist das?«, fragte Sluka.

»Bei unserer letzten Begegnung nannte sie sich Ilia Volyova.« Sylveste zuckte die Achseln. »Ob das ihr richtiger Name war, weiß ich nicht. Ich weiß nur eines: Wenn sie eine Drohung ausspricht, dann ist sie auch in der Lage, sie auszuführen.«

»Und was ist sie? Der Captain?«

»Nein«, sagte Sylveste zerstreut. »Nein, das bestimmt nicht.«

Das Gesicht der Frau war nicht weiter bemerkenswert. Ein fast monochromatisch fahler Teint, kurzes, schwarzes Haar, ein Gesichtsschnitt zwischen Kobold und Totenschädel und schmale, tief liegende, schräge Augen, die wenig Mitgefühl verrieten. Sie hatte sich kaum verändert. Aber dafür war sie eine Ultra. Für Sylveste mochten seit der letzten Begegnung Jahrzehnte subjektiver Zeit vergangen sein, für Volyova dagegen nur ein Zehntel oder ein Zwanzigstel davon, ein paar Jahre, nicht mehr. Für sie lag die letzte Begegnung noch nicht allzu lange zurück, während sie für Sylveste in die staubigen Annalen der Geschichte gehörte. Damit war er natürlich in der schwächeren Position. Volyova hatte seine Eigenheiten — die berechenbareren Aspekte seines Verhaltens — noch frisch in Erinnerung; sie hatte dem Gegner erst vor kurzem gegenübergestanden. Sylveste hatte Mühe gehabt, ihre Stimme zu erkennen, und als er sich zu erinnern suchte, ob er sie beim letzten Mal sympathisch gefunden hatte oder nicht, ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Natürlich würde mit der Zeit alles wiederkommen, aber der zeitliche Vorsprung wirkte sich zweifellos zu Volyovas Gunsten aus.

Eigentlich seltsam. Er war — vielleicht unüberlegt — davon ausgegangen, dass Sajaki diese Ankündigung machen würde. Natürlich nicht der Captain selbst, sonst wären sie nicht hier. Der Captain musste wieder krank geworden sein.

Wo war Sajaki?

Er schlug sich die Frage aus dem Kopf und konzentrierte sich auf Volyovas Worte.

Nach weiteren zwei oder drei Wiederholungen hatte er die ganze Ansprache im Kopf und war fast sicher, sie wortwörtlich wieder ausspucken zu können. Sie hätte kaum knapper ausfallen können. Diese Ultras wussten, was sie wollten. Und sie wussten, was nötig war, um es zu bekommen. »Ich bin Triumvir Volyova vom Lichtschiff Sehnsucht nach Unendlichkeit.« So hatte sie sich vorgestellt. Kein Hallo; nicht einmal der übliche Dank an das Schicksal, das sie wohlbehalten durch die Weiten des Alls nach Resurgam gebracht hatte.

Sylveste wusste, dass Floskeln dieser Art nicht Volyovas Sache waren. Er hatte sie immer für eine der Stillen im Lande gehalten; zu sehr damit beschäftigt, ihr Arsenal an Schreckenswaffen in Ordnung zu halten, um sich um normale gesellschaftliche Umgangsformen zu bemühen. Mehr als einmal hatten die übrigen Besatzungsmitglieder im Scherz bemerkt — und sie scherzten selten —, Volyova zöge die Gesellschaft der Schiffsratten der ihrer menschlichen Kollegen vor.

Vielleicht war es auch gar kein Scherz gewesen.

»Ich spreche aus dem Orbit«, fuhr sie fort. »Wir wissen, auf welchem technischen Stand Sie stehen und schließen daraus, dass Sie militärisch keine Bedrohung für uns darstellen.« Sie hielt inne und schlug nun den Tonfall einer gestrengen Lehrerin an, die ihre Schüler zum Gehorsam ermahnte und ihnen verbot, aus dem Fenster zu schauen oder auf ihren Notepads ein Chaos anzurichten. »Sollten Sie jedoch zu der Vermutung Anlass geben, Sie versuchten uns gezielt zu schaden, dann würden wir mit unerbittlicher Härte und ohne Rücksicht auf Verhältnismäßigkeit zurückschlagen.« Jetzt lächelte sie beinahe. »Also nicht nach dem Grundsatz Auge um Auge, sondern eher Stadt gegen Auge. Wir sind ohne weiteres imstande, eine Ihrer Siedlungen oder auch alle aus dem All zu vernichten.«

Volyova beugte sich vor, bis ihre grauen Löwenaugen den ganzen Schirm auszufüllen schienen. »Was noch wichtiger ist, wir sind im Notfall auch dazu entschlossen.« Wieder legte sie eine dieser theatralischen Pausen ein. Sie wusste natürlich, dass sie jetzt ihr Publikum vollends in ihren Bann geschlagen hatte. »Wenn ich wollte, wäre in wenigen Minuten alles vorbei. Und glauben Sie ja nicht, dass ich deshalb eine schlaflose Nacht verbringen würde.«

Jetzt sah Sylveste, worauf sie hinauswollte.

»Aber lassen wir es vorerst mit den Pöbeleien genug sein.« Jetzt lächelte sie wirklich, aber ein Kryo-Tank hätte nicht mehr Kälte verströmen können als dieses Lächeln. »Sie fragen sich zweifellos, warum wir hier sind.«

»Ich nicht«, sagte Sylveste so laut, dass Pascale es hörte.

»Unter Ihnen befindet sich ein Mann, nach dem wir suchen. Er ist für uns so ungeheuer wichtig, dass wir uns entschlossen haben, nicht über die üblichen…« — wieder dieses Lächeln, noch kälter, noch gespenstischer als zuvor — »diplomatischen Kanäle zu gehen. Der Mann heißt Sylveste; das sollte eigentlich alles erklären, wenn sein Ruf seit unserer letzten Begegnung nicht verblasst ist.«

»Vielleicht beschmutzt«, bemerkte Sluka. Dann wandte sie sich an Sylveste: »Sie müssen mir wirklich mehr über diese letzte Begegnung erzählen. Sie können sich damit kaum noch schaden.«

»Aber Ihnen wird es nichts nützen, auch wenn Sie die Fakten kennen«, gab Sylveste zurück, ohne sich vom Bildschirm ablenken zu lassen.

»Normalerweise«, sagte Volyova gerade, »würden wir uns mit den zuständigen Behörden in Verbindung setzen und über Sylvestes Auslieferung verhandeln. Ursprünglich hatten wir das auch vor. Aber ein Blick aus dem Orbit auf die größte Siedlung ihres Planeten — Cuvier — zeigte uns, dass ein solches Vorgehen zum Scheitern verurteilt wäre. Wir müssen davon ausgehen, dass es keine Regierung mehr gibt, mit der sinnvolle Verhandlungen möglich wären. Und um uns mit streitsüchtigen Parteiengruppen herumzuschlagen, fehlt uns leider die Geduld.«

Sylveste schüttelte den Kopf. »Sie lügt. Sie hatten nie die Absicht zu verhandeln, ganz gleich, was sie hier vorgefunden hätten. Ich kenne diese Leute; bösartiges Pack.«

»Das sagten Sie schon«, erinnerte ihn Sluka.

»Damit sind unsere Möglichkeiten ziemlich begrenzt«, fuhr Volyova fort. »Wir wollen Sylveste, und unsere Ermittlungen haben ergeben, dass er sich nicht… wie soll ich mich ausdrücken… auf freiem Fuß befindet?«

»Und das alles aus dem Orbit?«, fragte Pascale. »Ein fähiger Nachrichtendienst, das muss man ihnen lassen.«

»Zu fähig«, bestätigte Sylveste mit einem Nicken.

»Wir werden also«, fuhr Volyova fort, »folgendermaßen vorgehen. Binnen vierundzwanzig Stunden wird Sylveste über Funk mit uns Kontakt aufnehmen und uns seinen Aufenthaltsort mitteilen. Entweder kommt er dazu aus seinem Versteck, oder er wird freigelassen, falls man ihn gefangen hält. Sollte er nicht mehr am Leben sein, so sind stattdessen zweifelsfreie Beweise für seinen Tod zu erbringen. Wobei es natürlich in unserem Ermessen liegt, ob wir diese Beweise anerkennen.«

»Sie können froh sein, dass Sie mich nicht getötet haben. Ich glaube nicht, dass Sie Volyova davon überzeugen könnten.«

»Ist sie wirklich so unnachgiebig?«

»Nicht nur sie; die ganze Besatzung.«

Aber Volyova war noch nicht fertig. »Dann also bis in vierundzwanzig Stunden. Wir werden warten. Und sollten wir bis dahin nichts hören oder Verdacht schöpfen, dass Sie uns in irgendeiner Form zu täuschen suchen, haben Sie mit einer Strafe zu rechnen. Unser Schiff verfügt über ein gewisses militärisches Potenzial — fragen Sie Sylveste, wenn Sie uns nicht glauben. Wenn wir innerhalb des nächsten Tages nichts von Ihnen hören, werden wir dieses Potenzial gegen eine der kleineren Gemeinden auf Ihrem Planeten einsetzen. Das Ziel wurde bereits ausgewählt, und im Falle eines Angriffs werden wir sicherstellen, dass niemand überlebt. Ist das klar? Keine Überlebenden. Sollten wir nach weiteren vierundzwanzig Stunden noch immer nichts von Ihrem schwer zu fassenden Dr. Sylveste gehört haben, werden wir uns ein größeres Ziel vornehmen. Vierundzwanzig Stunden danach zerstören wir Cuvier.« An dieser Stelle zeigte Volyova abermals ein kurzes Lächeln. »Auch wenn Sie dort selbst schon recht ordentliche Arbeit leisten.«

Hier endete die Botschaft, nur um gleich darauf mit Volyovas barscher Begrüßung von vorne zu beginnen. Sylveste hörte sie sich noch zwei Mal vollständig an. Niemand wagte, ihn in seiner Konzentration zu stören.

»Das kann nicht sein«, sagte Sluka endlich. »Das würden sie nicht tun.«

»Es ist barbarisch«, fügte Pascale hinzu und erntete ein zustimmendes Nicken von Sluka. »Auch wenn sie noch so sehr hinter dir her sind — so etwas können sie nicht ernst meinen. Wer würde schon eine ganze Siedlung zerstören?«

»Da irrst du dich«, sagte Sylveste. »Es wäre nicht das erste Mal. Ich zweifle nicht daran, dass sie auch diesmal nicht zögern werden.«

Volyova war sich nie wirklich sicher gewesen, dass Sylveste am Leben war — andererseits hatte sie die Möglichkeit, er könne etwa nicht verfügbar sein, bisher immer verdrängt. Die Folgen wären zu unerfreulich gewesen. Es spielte keine Rolle, dass die Initiative mehr von Sajaki ausgegangen war als von ihr selbst. Wenn die Suche vergeblich war, würde er sie ebenso streng bestrafen, als hätte sie sich die ganze Sache allein ausgedacht; als wäre es Volyova gewesen, die sie alle auf diese deprimierende Welt gelockt hatte.

Sie hatte eigentlich nicht erwartet, dass sich schon in den ersten Stunden etwas bewegte. Das wäre zu optimistisch gewesen und hätte vorausgesetzt, dass Sylvestes Gefangenenwärter wach waren und ihre Warnung sofort mitbekamen. Realistisch betrachtet mochte es einen halben Tag dauern, bis die Nachricht durch die Befehlshierarchie an die richtige Stelle gelangte, und noch länger, bis man sich über ihre Echtheit vergewissert hatte. Doch als Stunde um Stunde verstrich und der Tag sich dem Ende zuneigte, konnte sie sich der Einsicht nicht mehr verschließen, dass sie ihre Drohung würde wahr machen müssen.

Natürlich hatten die Kolonisten nicht völliges Stillschweigen gewahrt. Zehn Stunden zuvor hatte sich eine anonyme Gruppe gemeldet, die behauptete, Sylvestes sterbliche Überreste abliefern zu wollen. Sie hatten sie auf einer Mesa deponiert und sich dann in Höhlen zurückgezogen, die für die Schiffssensoren nicht einsehbar waren. Volyova schickte eine Drohne hinunter, um das Material zu untersuchen, doch es war den Gewebeproben, die seit Sylvestes letztem Besuch auf dem Schiff aufbewahrt wurden, nur ähnlich, aber nicht damit identisch. Es war verlockend, die Kolonisten für den versuchten Betrug zu bestrafen, aber nach längerem Überlegen entschied sie sich dagegen: sie hatten nur aus Angst gehandelt, sie hatten außer ihrem Leben — und dem ihrer Landsleute — nichts dabei zu gewinnen, und sie wollte eventuelle andere Gruppen nicht so weit einschüchtern, dass sie nicht mehr vorzutreten wagten. So hatte sie sich auch zurückgehalten, als sich zwei Personen unabhängig voneinander als Sylveste ausgaben, denn es war offensichtlich, dass die Betreffenden nicht wirklich logen, sondern sich tatsächlich für den Gesuchten hielten.

Aber jetzt war die Zeit für weitere Täuschungsmanöver abgelaufen.

»Ich bin sehr überrascht«, sagte sie. »Ich war überzeugt, dass sie ihn innerhalb der Frist ausliefern würden. Aber offenbar wird der eine Geschäftspartner vom anderen schwer unterschätzt.«

»Sie können jetzt keinen Rückzieher machen«, mahnte Hegazi.

»Natürlich nicht«, sagte Volyova. Es klang so verwundert, als sei ihr der Gedanke an Gnade noch gar nicht gekommen.

»Nein, Sie müssen nachgeben«, sagte Khouri. »Sie können das nicht durchziehen.«

Sie hatte an diesem Tag noch kaum etwas gesagt. Vielleicht fiel es ihr schwer, damit zurechtzukommen, dass sie für ein Monster arbeitete, dass sich ihre bisher so faire Vorgesetzte unversehens in ein tyrannisches Ungeheuer verwandelt hatte. Volyova hatte sogar Verständnis dafür. Wenn sie ihr Gewissen erforschte, entdeckte sie tatsächlich monströse Züge, auch wenn das nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Sobald eine Drohung einmal ausgesprochen ist«, sagte Volyova, »liegt es im Interesse aller Beteiligten, sie auch wahr zu machen, wenn die Forderungen nicht erfüllt werden.«

»Und wenn sie die Forderungen gar nicht erfüllen können?«, fragte Khouri.

Volyova zuckte die Achseln. »Nicht mein Problem.«

Sie stellte die Verbindung zu Resurgam her und sagte ihren Text auf — sie wiederholte ihre Forderungen und zeigte sich tief enttäuscht darüber, dass Sylveste noch nicht zum Vorschein gekommen war. Während sie noch überlegte, ob sie überzeugend genug war — ob die Kolonisten ihre Worte auch wirklich ernst nahmen —, hatte sie plötzlich eine Eingebung. Sie nahm ihr Armband ab und gab ihm flüsternd Anweisung, in begrenztem Umfang Befehle von einer dritten Partei entgegenzunehmen, ohne diese zu verletzen.

Dann reichte sie es Khouri.

»Wenn Sie Ihr Gewissen beruhigen wollen, bitte sehr.«

Khouri betrachtete das Armband so misstrauisch, als fürchte sie, es würde plötzlich die Zähne fletschen oder Gift verspritzen. Dann hielt sie es an den Mund, ohne es sich vorher überzustreifen.

»Nur zu«, sagte Volyova. »Ich meine es ernst. Sagen Sie, was Sie wollen — ich versichere Ihnen, Sie werden nichts ausrichten.«

»Ich soll zu den Kolonisten sprechen?«

»Gewiss doch — wenn Sie glauben, sie besser überzeugen zu können als ich.«

Khouri schwieg eine Weile. Dann gab sie sich einen Ruck. »Mein Name ist Khouri«, sagte sie schüchtern in das Armband. »Es nützt Ihnen nichts, aber ich möchte Ihnen trotzdem versichern, dass ich nicht auf der Seite dieser Leute stehe. Ich bin nicht einverstanden mit dem, was sie tun.« Khouri sah sich mit großen Augen ängstlich auf der Brücke um, als erwarte sie, jeden Augenblick dafür bestraft zu werden. Aber die anderen hörten ihr nur mit mäßigem Interesse zu.

»Ich ließ mich auf diesem Schiff anwerben«, fuhr sie fort, »ohne zu wissen, worauf ich mich einließ. Diese Leute wollen Sylveste. Und sie sagen die Wahrheit. Die Waffen befinden sich auf dem Schiff, ich habe sie gesehen, und ich glaube, sie werden sie auch einsetzen.«

Volyova machte ein unsäglich gelangweiltes Gesicht, als hätte sie genau das und nichts anderes erwartet. Immer dasselbe.

»Ich finde es sehr bedauerlich, dass niemand Sylveste an uns ausgeliefert hat. Volyova meint es ernst, wenn sie sagt, dass Sie dafür büßen müssen. Ich kann Ihnen nur raten, ihr zu glauben. Und es kann sich immer noch jemand mit ihm melden, noch wäre es nicht zu…«

»Genug.«

Volyova nahm das Armband wieder an sich. »Diesmal verlängere ich das Ultimatum nur um eine Stunde.«

Auch diese Stunde verging. Volyova zischte unverständliche Befehle in ihr Armband. Über Resurgams nördliche Breiten legte sich ein Zielerfassungsraster. Das rote Fadenkreuz glitt mit der unerschütterlichen Ruhe eines Hais über das Gebiet, hielt schließlich unweit der nördlichen Polkappe an und begann in noch blutigerem Rot zu pulsieren. Die grafische Statusanzeige zeigte Volyova, dass die Orbitalsuppressoren des Schiffes — so ziemlich das kümmerlichste Waffensystem, das es einsetzen konnte — aktiviert, scharf gemacht, ausgerichtet und feuerbereit waren.

Nun hielt sie eine weitere Ansprache an die Kolonisten.

»Bürger von Resurgam«, sagte sie. »Unsere Waffen sind jetzt auf die kleine Siedlung Phoenix gerichtet; vierundfünfzig Grad nördlich und zwanzig Grad westlich von Cuvier. In etwas weniger als dreißig Sekunden werden Phoenix und seine unmittelbare Umgebung aufhören zu existieren.«

Sie feuchtete sich mit der Zungenspitze die Lippen an, bevor sie fortfuhr: »Dies ist für die nächsten vierundzwanzig Stunden unsere letzte Verlautbarung. Bis dahin haben Sie Zeit, uns Sylveste zu bringen. Sonst nehmen wir uns ein größeres Ziel vor. Sie können von Glück reden, dass wir mit einer kleinen Siedlung wie Phoenix begonnen haben.«

Khouri erkannte in allen bisherigen Äußerungen den Tonfall der Lehrerin, die ihren Schülern geduldig erklärte, warum die Strafe, die sie zu verhängen gedachte, nicht nur in deren eigenem Interesse, sondern auch eine logische Folge ihres Verhaltens sei. Sie sparte sich den Satz: »Ich werde mehr darunter leiden als Sie«, aber Khouri wäre nicht überrascht gewesen, auch das noch zu hören. Konnte Volyova überhaupt noch etwas tun, das sie irgendwie überraschte? Sie hatte ihre Vorgesetzte nicht so sehr falsch eingeschätzt, als sie einer vollkommen falschen Gattung zugeordnet. Und das galt nicht nur für Volyova, sondern für die gesamte Crew. Khouri schüttelte sich vor Abscheu, wenn sie daran dachte, dass sie sich bis vor kurzem noch eingebildet hatte, zu ihnen zu gehören. Es war, als hätten sie sich alle die Maske vom Gesicht gerissen, und dahinter sei ein Schlangennest zum Vorschein gekommen.

Volyova feuerte.

Einen Augenblick — einen endlos langen, bedeutungsschwangeren Augenblick lang — geschah gar nichts. Khouri wiegte sich schon in der Illusion, am Ende sei alles doch nur ein Bluff gewesen. Aber diese Hoffnung wurde rasch zunichte. Die Wände der Brücke erzitterten, als schramme das Schiff wie ein alter Ozeandampfer an einem Eisberg entlang. Khouri spürte nichts davon, denn der Teleskoparm, auf dem ihr Sitz angebracht war, dämpfte die Schwingungen. Aber sie hatte das Zittern genau gesehen und Sekunden später grollte es wie ferner Donner.

Die Rumpfwaffen hatten gezündet.

An der Resurgam-Projektion veränderten sich die Statusanzeigen, die neuen Werte beschrieben den Zustand der Bewaffnung nach dem Einsatz. Hegazi beugte sich über die Anzeige an seinem Sitz. Sein Okular klickte und schwirrte leise, als er die Information aufnahm.

»Suppressoren abgefeuert«, meldete er knapp und ohne allen Nachdruck. »Zielerfassung bestätigt korrekte Einschlagsposition.« Langsam und bedächtig hob er den Blick zur Kugel.

Khouri folgte seinem Beispiel.

Wo vorher nichts gewesen war, glitzerte jetzt nicht weit vom Rand von Resurgams nördlicher Polkappe ein schmaler glutroter Fleck wie ein giftiges Rattenauge auf der Kruste der Welt. Inzwischen wurde er dunkler wie eine Nadel, die man eben aus dem Feuer gezogen hatte. Aber er leuchtete immer noch schmerzhaft grell, und die Verdunklung kam weniger von der Abkühlung als von gigantischen Schleiern aus aufgewirbeltem Planetenschutt, die immer dichter wurden. Wenn sich im schwarzen Sturmgebrodel hin und wieder eine Lücke auftat, wurde die Landschaft auf Hunderte von Kilometern im Umkreis von aufzuckenden Blitzen erleuchtet. Von der Einschlagstelle raste eine fast kreisrunde Stoßwelle nach außen. Khouri konnte die Bewegung über eine leichte Veränderung im Brechungsindex der Luft verfolgen. Unterhalb davon schienen die Felsen für einen Moment selbst flüssig zu werden, als ginge im seichten Wasser eine Welle über sie hin.

»Erster Lagebericht trifft gerade ein«, sagte Hegazi. Er hörte sich immer noch an wie ein gelangweilter Messdiener, der einen besonders öden Bibeltext aufsagte. »Waffenfunktion innerhalb der Toleranzwerte. Ziel wurde mit einer Wahrscheinlichkeit von neunundneunzig Komma vier Prozent vollständig neutralisiert. Mit neunundsiebzig Prozent Wahrscheinlichkeit dürfte auf zweihundert Kilometer im Umkreis niemand überlebt haben, der nicht hinter einer kilometerdicken Panzerung saß.«

»Das genügt mir«, sagte Volyova. Sie sah sich die Wunde in Resurgams Oberfläche noch eine Weile an. Innerlich schwelgte sie offensichtlich in einer Zerstörungsorgie von planetaren Dimensionen.

Загрузка...