Dreizehn

Im Orbit um Resurgam

2566


»Sitz«, befahl Volyova, als sie die Brücke betrat.

Diensteifrig kam ein Sessel auf sie zu geschwenkt. Sie nahm Platz und schnallte sich fest. Dann steuerte sie ihn von den ansteigenden Sitzreihen weg und umkreiste die gewaltige holografische Projektionssphäre in der Mitte des Raumes.

Die Sphäre zeigte einen Blick auf Resurgam. Zwar glaubte man eher, den eingetrockneten Augapfel einer uralten Mumie in mehrhundertfacher Vergrößerung vor sich zu haben, aber Volyova wusste, dass es sich um mehr als nur ein genaues Abbild des Planeten handelte. Das Bild war nicht nur eine Simulation aus der Datenbank des Schiffes. Resurgam wurde in Echtzeit dargestellt; eingefangen von den Kameras am Schiffsrumpf, die in diesem Moment darauf gerichtet waren.

Niemand hätte die Welt als schön bezeichnet. Abgesehen von den schmutzig weißen Polarkappen war sie von einem einheitlichen Totenschädelgrau, das nur von einigen rostbraunen Schorfkrusten und kläglich wenigen blaugrauen Flecken nahe des Äquators unterbrochen wurde. Die größeren Ozeane lagen zum größten Teil noch immer unter einer dicken Eisschicht, und die winzigen freien Wasserflächen mussten höchstwahrscheinlich mit Thermalenergie oder durch fein abgestimmte biotechnische Verfahren künstlich erwärmt werden, um sie vor dem Zufrieren zu bewahren. Wolken gab es nur in Form von feinen Schleiern, nicht als ausgedehnte, vielfach geschichtete Formationen, wie sie bei planetaren Wettersystemen zu erwarten gewesen wären.

Hier und da verdichteten sie sich zwar zu undurchsichtigen weißen Ganglienknoten, aber nur in unmittelbarer Nähe der Siedlungen. Dort arbeiteten die Dampffabriken, die das Polareis zu Wasser, Sauerstoff und Wasserstoff sublimierten. Nur wenige Vegetationsflächen waren groß genug, um sie ohne Vergrößerung in einem Kilometerraster erkennen zu können, auch sonst gab es kaum Spuren menschlicher Gegenwart. Nur wenn der Planet den Kameras alle neunzig Minuten seine Nachtseite zudrehte, sah man vereinzelt und weit verstreut beleuchtete Siedlungen. Sie waren selbst mit dem Zoom kaum zu erfassen, da sie — mit Ausnahme der Hauptstadt — zum größten Teil unterirdisch angelegt waren. Oft gab es außer Antennen, Landefeldern und windschnittigen Treibhausdächern an der Oberfläche kaum etwas zu sehen. Von der Hauptstadt…

Das war das Beunruhigende.

»Wann öffnet sich das Fenster für das Gespräch mit Triumvir Sajaki?«, fragte sie mit einem schnellen Blick zu den anderen Besatzungsmitgliedern, die ihre Sitze in lockerer Runde unter dem aschgrauen Lichtkegel des Planetenabbilds postiert hatten.

»In fünf Minuten«, sagte Hegazi. »Fünf qualvolle Minuten müssen wir noch warten, dann wird uns Sajaki mit den jüngsten Erkenntnissen beglücken, die er über unsere neuen Kolonistenfreunde gewonnen hat. Können Sie die Spannung noch so lange ertragen?«

»Raten Sie doch mal, Svinoi.«

»Viel zu einfach«, sagte Hegazi grinsend. Zumindest gab er sich alle Mühe, so etwas wie ein Grinsen zustande zu bringen. Ein Kunststück angesichts der vielen chimärischen Prothesen, die seine Züge verdeckten. »Komisch, wenn ich Sie nicht besser kennen würde, hätte ich fast den Eindruck, Sie wären nicht übermäßig begeistert von dem ganzen Unternehmen.«

»Wenn er Sylveste nicht gefunden hat…«

Hegazi hob seine eiserne Hand. »Noch hat Sajaki seinen Bericht nicht abgeliefert. Also nichts überstürzen…«

»Sie sind also überzeugt, dass er ihn gefunden hat?«

»Das wollte ich damit nicht sagen.«

»Wenn ich etwas hasse«, sagte Volyova und sah ihren Kollegen eisig an, »dann ist es blinder Optimismus.«

»Kopf hoch! Es gibt Schlimmeres.«

Ja, das musste sie zugeben. Und gerade sie war mit ermüdender Regelmäßigkeit davon betroffen. Ihre jüngste Pechsträhne war nur insofern erstaunlich, als sie mit jedem neuen Missgeschick noch weiter eskaliert war. Inzwischen war Volyova schon so weit, dass sie die Probleme mit Nagorny als harmlose Bagatelle betrachtete und sich fast danach zurücksehnte; damals hatte ihr nur jemand nach dem Leben getrachtet. Womöglich erschien ihr irgendwann auch die derzeitige Phase in rosigem Licht — eine Überlegung, die sie nicht gerade in Entzücken versetzte.

Der Ärger mit Nagorny war natürlich nur der Anfang gewesen. Jetzt sah sie das ganz deutlich; damals hatte sie die Geschichte isoliert betrachtet, doch in Wirklichkeit war sie nur das erste Symptom weit schlimmerer Entwicklungen gewesen, ähnlich wie die Herzrhythmusstörungen vor einem Infarkt. Sie hatte Nagorny getötet — doch damit hatte sie sich jede Möglichkeit genommen, seine psychischen Probleme zu verstehen. Dann hatte sie Khouri angeworben und die Probleme waren wiedergekommen, nicht in der gleichen Form, sondern eher als Variationen eines größeren Themas, wie der zweite Satz einer tragischen Symphonie. Khouri war nicht offenkundig verrückt — noch nicht. Aber sie war zum Katalysator für einen noch verhängnisvolleren, weniger eng begrenzten Wahn geworden. In ihrem Kopf tobten Stürme von einer Stärke, wie Volyova sie noch nie erlebt hatte. Der Vorfall mit dem Weltraumgeschütz war lediglich das letzte Glied der Kette. Volyova war nur um Haaresbreite dem Tod entronnen, und nach ihr hätte das Ding vielleicht die ganze Besatzung und einen beachtlichen Teil der Bevölkerung von Resurgam getötet.

»Höchste Zeit, mir einige Fragen zu beantworten, Khouri«, hatte sie gesagt, bevor die anderen geweckt wurden.

»Welche Fragen, Triumvir?«

»Hören Sie auf, das Unschuldslamm zu spielen«, verlangte Volyova. »Dafür bin ich zu müde, und irgendwie bekomme ich die Wahrheit immer heraus, glauben Sie mir. Sie haben sich in der Krise mit dem Weltraumgeschütz verraten. Falls Sie gehofft haben, ich würde einiges davon vergessen, war das ein Fehler.«

»Zum Beispiel was?« Sie waren in eine der von Ratten verseuchten Schiffszonen hinabgestiegen; dort war man, dachte Volyova, vor Sajakis Abhöreinrichtungen sicherer als in jeder anderen Ecke des Schiffs mit Ausnahme des Spinnenraums.

Sie stieß Khouri so heftig gegen die Wand, dass ihr für einen Moment die Luft wegblieb. Sie wollte ihr zeigen, dass es nicht ratsam war, Volyovas Kraft zu unterschätzen und ihre Geduld übermäßig zu strapazieren. »Eines sollten Sie ganz klar sehen, Khouri. Ich habe Nagorny, Ihren Vorgänger, getötet, weil er mich verraten hat, und es ist mir gelungen, das vor der übrigen Crew geheim zu halten. Machen Sie sich keine Illusionen. Wenn Sie mir genügend Gründe liefern, verfahre ich mit Ihnen ganz genauso.«

Khouri stieß sich von der Wand ab. Sie hatte wieder etwas Farbe bekommen. »Was wollen Sie denn nun genau wissen?«

»Zunächst einmal, wer Sie sind. Gehen wir davon aus, dass ich Sie für einen Infiltrator halte.«

»Wie wäre das möglich? Sie haben mich doch angeworben.«

»Schon«, sagte Volyova. Auf diesen Einwand war sie vorbereitet. »So sollte es aussehen, natürlich… aber das war Betrug, nicht wahr? Wer immer hinter Ihnen steht, hat es geschafft, mich bei der Auswahl so zu manipulieren, dass ich glaubte, ich hätte mich für Sie entschieden… dabei hatte ich im Grunde gar nichts mitzureden.« Bei sich musste Volyova zugeben, dass sie dafür keine handfesten Beweise hatte, aber es war die einfachste Hypothese, und sie war mit allen Fakten zu vereinbaren. »Also, wollen Sie das bestreiten?«

»Wie kommen Sie darauf, mich für einen Infiltrator zu halten?«

Volyova zündete sich eine Zigarette aus dem Vorrat an, den sie in dem Orbitalkarussell um Yellowstone gekauft hatte, wo sie Khouri angeworben oder gefunden hatte. »Erstens kennen Sie sich im Leitstand schon viel zu gut aus. Sie wissen auch etwas über Sonnendieb… und das finde ich sehr verdächtig.«

»Sie hatten den Namen selbst erwähnt, kurz nachdem Sie mich an Bord geholt hatten, erinnern Sie sich nicht mehr?«

»Schon, aber Sie wissen mehr, als Sie von mir jemals erfahren haben könnten. Manchmal habe ich den Eindruck, als würden Sie die Situation besser überblicken als ich.« Sie hielt inne. »Das ist natürlich noch nicht alles. Diese Neuralaktivität in Ihrem Gehirn, während Sie im Kälteschlaf lagen… Ich hätte die Implantate, mit denen Sie an Bord kamen, sorgfältiger untersuchen sollen. Sie sind wohl nicht ganz so harmlos, wie sie aussehen. Möchten Sie vielleicht zu einem der Punkte eine Erklärung abgeben?«

»Na schön…« Khouri schlug einen anderen Ton an. Diesmal hatte sie offenbar die Hoffnung aufgegeben, sich herauszureden. »Aber hören Sie genau zu, Ilia. Auch Sie haben Ihre kleinen Geheimnisse — Dinge, von denen Sajaki und die anderen wirklich nichts erfahren sollen. Ich hatte bereits erraten, dass Sie Nagorny getötet hatten, aber da wäre auch noch die Sache mit dem Weltraumgeschütz. Ich weiß, dass Sie das nicht an die große Glocke hängen wollen, sonst würden Sie nicht alles tun, um es zu vertuschen.«

Volyova nickte. Leugnen wäre sinnlos gewesen. Vielleicht hatte Khouri sogar einen Verdacht, was ihre Beziehung zum Captain anging. »Worauf wollen Sie hinaus?«

»Ich finde, dass alles, was ich Ihnen jetzt erzähle, unter uns bleiben sollte. Ist das kein vernünftiger Vorschlag?«

»Ich sagte eben, ich könnte Sie töten, Khouri. Sie sind nicht gerade in einer starken Position.«

»Richtig, Sie könnten mich töten — oder es zumindest versuchen —, aber ich bezweifle, dass sich mein Tod so leicht vertuschen ließe wie der von Nagorny. Einen Waffenoffizier zu verlieren ist Pech. Bei zweien sieht es allmählich nach Schlamperei aus, nicht wahr?«

Eine Ratte huschte vorbei und bespritzte sie mit Wasser. Gereizt warf Volyova dem Tier ihre Zigarettenkippe hinterher, aber es war bereits durch eine Öffnung in der Wand verschwunden. »Soll das heißen, ich darf den anderen nicht einmal erzählen, dass ich Sie als Infiltrator enttarnt habe?«

Khouri zuckte die Achseln. »Tun Sie, was Sie wollen. Aber wie würde Sajaki das wohl aufnehmen? Wer wäre denn dafür verantwortlich, dass der Infiltrator überhaupt an Bord genommen wurde?«

Volyova ließ sich mit der Antwort Zeit. »Sie haben auf alles eine Antwort, wie?«

»Ich hatte damit gerechnet, dass Sie mir früher oder später gewisse Fragen stellen würden, Triumvir.«

»Dann fangen wir mit den naheliegendsten an. Wer sind Sie und für wen arbeiten Sie?«

Khouri ergab sich seufzend in ihr Schicksal. »Was Sie wissen, entspricht in großen Teilen der Wahrheit. Ich heiße Ana Khouri und war Soldat auf Sky’s Edge… allerdings etwa zwanzig Jahre früher, als Sie dachten. Das Übrige…« Sie hielt inne. »Ich könnte jetzt wirklich einen Kaffee vertragen.«

»Es gibt aber keinen, also finden Sie sich damit ab.«

»Schön. Ich habe für eine andere Crew gearbeitet. Die Namen kenne ich nicht — es kam nie zu einem direkten Kontakt —, aber diese Crew versucht schon seit längerem Ihre Weltraumgeschütze in die Hand zu bekommen.«

Volyova schüttelte den Kopf. »Unmöglich. Niemand weiß von den Geschützen.«

»Das hätten Sie wohl gerne. Aber Sie haben einzelne Waffen eingesetzt, richtig? Dabei muss es Überlebende, Zeugen gegeben haben, von denen Sie nichts wussten. Mit der Zeit hat sich herumgesprochen, dass Sie auf Ihrem Schiff wirklich harte Sachen mitführen. Vielleicht kannte niemand die ganze Geschichte, aber meine Gruppe wusste jedenfalls genug, um ein Stück von diesem Kuchen abhaben zu wollen.«

Volyova schwieg. Khouris Erklärung traf sie wie ein Schock — als hätte sie erfahren, dass alle Welt über ihre intimsten Gewohnheiten Bescheid wusste. Aber sie musste zugeben, dass sie nicht völlig von der Hand zu weisen war. Natürlich konnte etwas durchgesickert sein. Schließlich hatten etliche Besatzungsmitglieder — nicht in jedem Fall freiwillig — das Schiff verlassen. Von den Betreffenden hatte zwar eigentlich niemand Zugang zu vertraulichen Informationen — schon gar nicht über den Geschützpark — gehabt, dennoch ließ sich ein Versehen nie ganz ausschließen. Vielleicht hatte es beim Einsatz eines der Geschütze auch tatsächlich überlebende Zeugen gegeben, und die hatten die Information weitergetragen.

»Diese andere Besatzung — auch wenn Sie den Namen der Leute nicht kennen, wissen Sie denn wenigstens, wie das Schiff hieß?«

»…nein. So unvorsichtig waren sie nicht. Sonst hätten sie mir doch auch gleich direkt sagen können, wer sie sind, oder?«

»Was wussten Sie dann überhaupt? Wie wollte man uns die Geschütze denn abnehmen?«

»Da kommt Sonnendieb ins Spiel. Sonnendieb ist ein militärisches Virus, das man bei Ihrem letzten Aufenthalt im Yellowstone-System eingeschleust hat. Ein hochentwickeltes, ausnehmend anpassungsfähiges Infiltrationsprogramm, dessen Spezialität es ist, in gegnerische Systeme einzudringen, einen psychologischen Krieg gegen deren Besitzer zu führen und sie durch Manipulation des Unterbewusstseins in den Wahnsinn zu treiben.« Khouri legte eine Pause ein, um Volyova Zeit zu geben, das zu verarbeiten. »Aber Ihre Abwehr war zu gut. Sonnendieb wurde geschwächt, und so konnte die Strategie nicht richtig aufgehen. Also wartete man ab. Die nächste Chance bot sich erst, als Sie fast hundert Jahre später wieder ins Yellowstone-System kamen. Diesmal wählte man eine andere Strategie: ein menschlicher Infiltrator sollte an Bord. Ich.«

»Wie gelangte das erste Virus in unsere Systeme?«

»Über Sylveste. Die fremde Besatzung wusste, dass Sie ihn an Bord holen wollten, um Ihren Captain zu heilen. Sie unterschob ihm die Software, ohne dass er etwas davon ahnte, und als er bei der Behandlung des Captains mit Ihrem medizinischen Zentrum verbunden war, infizierte sie Ihre Systeme.«

Die Erklärung war einleuchtend, dachte Volyova, und gab damit Anlass zu tiefer Besorgnis. Andere Crews waren also ebenso raubgierig wie man selbst. Welch ungeheure Arroganz, einfach davon auszugehen, List und Tücke seien ein Privileg von Sajakis Triumvirat.

»Und was war Ihre Aufgabe?«

»Festzustellen, inwieweit Sonnendieb die Systeme im Leitstand unterwandert hatte. Wenn möglich, das Schiff unter meine Kontrolle zu bringen. Bei einer Machtübernahme hätte es außer vielleicht einigen Kolonisten keine Zeugen gegeben.« Khouri seufzte. »Aber glauben Sie mir, der Plan ist endgültig und für alle Zeiten vom Tisch. Das Sonnendieb-Programm hatte Fehler; es war zu gefährlich, zu anpassungsfähig. Es erregte zu viel Aufmerksamkeit, als es Nagorny in den Wahnsinn trieb — andererseits war er der Einzige, an den es herankam. Als es dann auch noch selbst im Geschützpark herumpfuschte…«

»Das Geschütz, das sich selbständig machte.«

»Ja. Das war auch mir nicht mehr geheuer.« Khouri fröstelte. »Von da an wusste ich, dass Sonnendieb zu mächtig geworden war. Ich konnte ihn nicht mehr kontrollieren.«

In den nächsten Tagen stellte Volyova weitere Fragen, um Khouris Geschichte von verschiedenen Seiten zu überprüfen und an den wenigen bekannten Fakten zu messen. Sonnendieb könnte tatsächlich ein Infiltrationsprogramm gewesen sein… auch wenn sie in ihrer jahrelangen Erfahrung noch keine Software von so heimtückischer Raffinesse kennen gelernt hatte. Aber konnte sie die Erklärung deshalb so ohne weiteres verwerfen? Nein; natürlich nicht. Immerhin wusste sie ja, dass das Ding existierte. Khouris Interpretation war die erste, die auch objektiv vernünftig klang. Sie erklärte, warum alle Versuche, Nagorny zu heilen, gescheitert waren. Nicht eine unvorhersehbare Kombination von Nebenwirkungen ihrer Leitstandsimplantate hatte ihn in den Wahnsinn getrieben, sondern schlicht und einfach eine Entität, die genau zu diesem Zweck geschaffen worden war. Kein Wunder, dass es ihr so schwer gefallen war, Nagornys Probleme zu verstehen. Ungelöst blieb natürlich die hartnäckige Frage, warum sich Nagornys Wahn so stark und gerade in dieser Form geäußert hatte — die hektisch hingekritzelten, beklemmenden Vogelgestalten, die Muster auf seinem Sarg —, aber wer wusste, ob Sonnendieb nicht einfach eine schon bestehende Psychose verstärkt hatte, weil es leichter war, Nagornys Unterbewusstsein mit seinen eigenen Bildern arbeiten zu lassen?

Auch die mysteriöse feindliche Besatzung ließ sich nicht so einfach aus der Welt schaffen. An Bord gab es Unterlagen, die bewiesen, dass ein zweites Lichtschiff — die Galatea — bei den beiden letzten Besuchen der Sehnsucht nach Unendlichkeit zur gleichen Zeit im Yellowstone-System gewesen war. Ob das die Crew war, die Khouri an Bord geschleust hatte?

Im Moment war diese Erklärung so gut wie jede andere. Und eins stand vollkommen fest. Khouri hatte Recht, der Rest des Triumvirats durfte von diesen Dingen nichts erfahren. Sajaki würde Volyova tatsächlich beschuldigen, die Sicherheit des Schiffes aufs Schwerste gefährdet zu haben. Bestrafen würde er natürlich Khouri — aber auch Volyova musste mit irgendeiner Form von Vergeltung rechnen. So angespannt, wie ihr Verhältnis in letzter Zeit war, mochte es durchaus sein, dass Sajaki sie zu töten versuchte. Vielleicht gelang es ihm sogar — er war mindestens so stark wie Volyova. Dass er damit seinen besten Waffenexperten und die einzige Person verlöre, die sich halbwegs mit dem Geschützpark auskannte, würde ihn nicht weiter stören. Seine Begründung wäre zweifellos, sie hätte ihre Unfähigkeit auf diesem Gebiet zur Genüge bewiesen. Aber da war noch ein dritter Punkt, den Volyova nicht gänzlich außer Acht lassen konnte. Was immer wirklich hinter dem Geschütz passiert sein mochte, Volyova konnte nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass Khouri ihr das Leben gerettet hatte.

So verhasst ihr die Vorstellung auch sein mochte, sie war dem Infiltrator verpflichtet.

Bei nüchterner Betrachtung der Situation gab es nur eine Möglichkeit: sie musste so tun, als wäre nichts geschehen. Khouris Auftrag hatte sich mit Sicherheit erledigt; sie würde nicht mehr den Versuch machen, das Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Die verborgenen Motive, aus denen sie an Bord gekommen war, gefährdeten nicht den Plan, Sylveste ein zweites Mal auf das Schiff zu holen, außerdem war Khouri als Besatzungsmitglied inzwischen fast unentbehrlich geworden. Nachdem Volyova jetzt die Wahrheit kannte und Khouri ihr ursprüngliches Ziel nicht weiter verfolgen konnte, würde sie sich sicher nach Kräften bemühen, die ihr zugewiesene Position auszufüllen. Ob die Loyalitätsbehandlung angeschlagen hatte, spielte kaum noch eine Rolle: Khouri musste in jedem Fall so tun als ob, und irgendwann wären Sein und Schein nicht mehr voneinander zu trennen. Womöglich wollte sie das Schiff dann gar nicht mehr bei erster Gelegenheit verlassen. Es gab immerhin schlechtere Alternativen. So könnte sie über Monate oder Jahre subjektiver Zeit wahrhaftig zu einem Teil der Besatzung werden und ihr anfängliches Doppelspiel bliebe ihr und Volyovas Geheimnis und geriete früher oder später sogar bei Volyova in Vergessenheit.

Irgendwann war Volyova überzeugt, die Infiltrationsfrage sei erledigt. Das Problem Sonnendieb blieb natürlich bestehen — aber mit Khouris Hilfe ließ es sich vor Sajaki geheim halten. Es war ja nicht das Einzige, wovon der Triumvir nichts zu erfahren brauchte. Volyova nahm sich vor, alle Beweise dafür zu vernichten, dass der Vorfall mit dem Weltraumgeschütz jemals stattgefunden hatte, und zwar, bevor Sajaki und die anderen geweckt wurden. Aber wie sich herausstellte, war das nicht so einfach. Als Erstes mussten die Schäden am Lichtschiff selbst repariert und die Stellen am Rumpf ausgebessert werden, die bei der Explosion des Geschützes getroffen worden waren. Das hieß vor allem, die Selbstreparaturprogramme zu Höchstleistungen anzuspornen, aber sie musste auch sicherstellen, dass alle bereits vorhandenen Narben, alle Einschlagskrater und alle schlecht ausgeführten Reparaturen der Vergangenheit exakt kopiert wurden. Danach musste sie auf den Selbstreparatur-Speicher zugreifen und alles löschen, was darauf hinwies, dass überhaupt Reparaturen stattgefunden hatten. Anschließend musste der Spinnenraum wieder instand gesetzt werden, auch wenn Sajaki und die anderen von seiner Existenz eigentlich gar nichts wissen sollten. Sicher war sicher; außerdem war diese Reparatur die einfachste von allen. Zum Schluss mussten alle Spuren für den Aufruf des Patey-Programms gelöscht werden; damit hatte sie mindestens eine Woche zu tun.

Der Verlust des Shuttles war viel schwerer zu verheimlichen. Eine Weile spielte sie mit dem Gedanken, im ganzen Schiff winzige Mengen an Rohstoffen zu sammeln, bis sie genügend beisammen hatte, um ein neues bauen zu lassen. Sie brauchte nicht mehr als ein Neunzigtausendstel der gesamten Schiffsmasse. Aber das Risiko war zu groß, und sie hatte Bedenken, ob es ihr gelingen würde, das neue Shuttle äußerlich ausreichend altern zu lassen. So wählte sie die einfachere Möglichkeit. Sie nahm entsprechende Veränderungen in der Datenbank des Schiffes vor, so dass es aussah, als hätten sie schon immer ein Shuttle weniger an Bord gehabt. Sajaki würde den Schwindel vielleicht bemerken — möglicherweise auch die anderen —, aber sie konnten ihr nichts beweisen. Zuletzt stellte sie natürlich eine Kopie des Weltraumgeschützes her. Es war nur eine Attrappe, die im Lagerraum stehen und einen bedrohlichen Eindruck machen sollte, wenn Sajaki ihrem Reich einen seiner seltenen Besuche abstattete. Sechs Tage lang hatte sie wie eine Wahnsinnige gearbeitet, um ihre Spuren zu verwischen. Am siebenten Tag hatte sie geruht, um sich so weit zu erholen, dass keiner von den anderen bemerkte, welche Strapazen sie hinter sich hatte. Am achten Tag war Sajaki erwacht und hatte gefragt, was sie in den Jahren getrieben habe, während er im Kälteschlaf lag.

»Ach«, hatte sie gesagt. »Nichts, worüber man nach Hause schreiben könnte.«

Seine Reaktion war schwer einzuschätzen — wie so oft in letzter Zeit. Selbst wenn es ihr diesmal gelungen sein sollte, ihn zu täuschen, einen weiteren Fehler durfte sie sich nicht leisten. Dabei spielten sich schon jetzt Dinge ab, die über ihren Horizont gingen — obwohl sie noch nicht einmal Kontakt zu den Kolonisten aufgenommen hatten. Sie brauchte nur an die Neutrinosignatur zu denken, die sie in der Nähe des Neutronensterns des Systems entdeckt hatte, und an das Unbehagen, das sie seither verfolgte. Die Quelle war immer noch da. Sie war sehr schwach, aber Volyova hatte sie jetzt so weit analysiert, um sagen zu können, dass sie nicht nur um den Neutronenstern kreiste, sondern auch um den mondgroßen Felsensatelliten, der den Stern begleitete. Bei der ersten Erkundung des Systems Jahrzehnte zuvor war die Quelle sicher noch nicht da gewesen, und das legte den Schluss nahe, dass sie irgendwie mit der Kolonie auf Resurgam zu tun hatte. Aber wie hätten die Kolonisten sie an Ort und Stelle bringen sollen? Sie führten ja nicht einmal Flüge in den Orbit durch, wie sollten sie da eine Sonde an den Rand ihres Systems schicken? Volyova vermisste sogar das Schiff, mit dem sie hier angekommen waren. Sie hätte erwartet, die Lorean im Orbit um Resurgam zu entdecken, aber sie fand nichts. Nun vermutete sie, obwohl alles dagegen sprach, die Kolonisten könnten ihnen noch ziemlich unangenehme Überraschungen bereiten. Ihr Sorgenberg wurde davon nur noch größer.

»Ilia?«, fragte Hegazi. »Wir sind fast so weit. Gleich kommt von der Nachtseite her die Hauptstadt in Sicht.«

Sie nickte. Die Telekameras, die überall am Schiffsrumpf angebracht waren, würden ein ganz bestimmtes Gelände mehrere Kilometer jenseits der Stadtgrenzen anvisieren und sich auf eine Stelle konzentrieren, auf die man sich vor Sajakis Abreise geeinigt hatte. Wenn ihm kein Unglück zugestoßen war, müsste er jetzt genau dort im Freien auf einer Mesa stehen und in die aufgehende Sonne schauen. Die Zeitabstimmung war nicht ganz einfach, aber Volyova zweifelte nicht, dass Sajaki pünktlich zur Stelle sein würde.

»Ich habe ihn«, sagte Hegazi. »Die Bildstabilisatoren schalten sich zu…«

»Lassen Sie sehen.«

Nahe der Hauptstadt öffnete sich ein Fenster in der Kugel und wurde rasch größer. Zunächst war noch nicht viel zu erkennen, nur ein verschwommener Fleck, vielleicht tatsächlich ein Mann auf einem Felsen. Aber das Bild wurde rasch schärfer, und es zeigte unverwechselbar Sajaki. An Stelle des klobigen Schutzanzugs, in dem ihn Volyova zum letzten Mal gesehen hatte, trug er jetzt einen aschgrauen Mantel mit langen Schößen, die ihm um die Stiefel flatterten — ein Zeichen, dass ein leichter Wind über die Mesa strich. Den Kragen hatte er bis zu den Ohren hochgeschlagen, aber das Gesicht war frei.

Nur war es nicht sein eigenes Gesicht. Bevor Sajaki das Schiff verließ, hatte man seine Züge leicht verändert und sich dabei an einem Durchschnittsideal orientiert, das von den genetischen Profilen der ursprünglichen Resurgam-Kolonisten abgeleitet war, die wiederum die franko-chinesischen-Gene der Yellowstone-Siedler in sich trugen. Wenn Sajaki jetzt am hellen Tag durch die Straßen der Hauptstadt spazierte, erntete er höchstens neugierige Blicke. Als Fremder war er nicht zu erkennen, nicht einmal an seinem Akzent. Man hatte mit linguistischen Analyseprogrammen die zehn bis zwölf Stoner-Dialekte der Expeditionsmitglieder untersucht und sie mit Hilfe komplexer lexikostatistischer Modelle zu einem neuen, für ganz Resurgam brauchbaren Planetendialekt verschmolzen. Wenn Sajaki jetzt mit einem Kolonisten sprach, konnte er mit seinem Aussehen, seiner Geschichte und seiner Sprechweise jeden überzeugen, dass er nicht etwa ein Außenweltler war, sondern nur aus einer der abgelegeneren Siedlungen kam.

So war es zumindest geplant.

Sajaki hatte mit Ausnahme seiner subkutanen Implantate keinerlei technische Ausrüstung bei sich, die ihn verraten konnte. Ein konventionelles Kommunikationssystem für Gespräche in die Umlaufbahn wäre zu leicht zu entdecken und viel zu schwer zu erklären gewesen, falls man ihn aus irgendeinem Grund gefangen genommen hätte. Dennoch hörte man ihn jetzt sprechen. Er wiederholte jeden Satz mehrmals, und das Schiff maß mit seinen Infrarot-Sensoren die Durchblutung in seiner Mundregion und erstellte ein Modell der zugrunde liegenden Muskel- und Kieferbewegungen. Diese Bewegungen verglich es mit aufgezeichneten Gesprächen in seinen umfangreichen Archiven und erschloss daraus die Laute, die er erzeugte. Aus denen wurden nun in einem letzten Schritt mit Hilfe grammatikalischer, syntaktischer und semantischer Modelle die Worte gebildet, die Sajaki wahrscheinlich sprach. Das hörte sich kompliziert an — und war es auch —, aber Volyova konnte zwischen den Lippenbewegungen, die sie sah, und der unheimlich klaren und deutlichen Simulationsstimme, die sie hörte, keine Verzögerung feststellen.

»Ich gehe davon aus, dass Sie mich hören können«, sagte Sajaki. »Für das Protokoll: Dies ist mein erster Bericht von Resurgam nach meiner Landung. Sie werden verzeihen, wenn ich gelegentlich abschweife oder wenn meine Formulierungen eine gewisse Eleganz vermissen lassen. Ich habe den Bericht vorher nicht schriftlich ausformuliert; ich wollte nicht, dass er bei mir gefunden würde, falls man mich beim Verlassen der Hauptstadt aufgegriffen hätte. Also:

Die Situation stellt sich ganz anders dar, als wir erwartet hatten.«

Das kann man wohl sagen, dachte Volyova. Die Kolonisten — wenigstens eine Partei — wussten genau, dass ein Schiff vor Resurgam eingetroffen war. Sie hatten es heimlich mit einem Radarstrahl erfasst. Aber sie hatten keinen Versuch unternommen, mit der Unendlichkeit Verbindung aufzunehmen — und das Schiff hatte keine Anstalten gemacht, eine Bodenstation anzurufen. Sie fand dieses Verhalten nicht weniger Besorgnis erregend als die Neutrinoquelle. Es war paranoid und ließ — nicht nur auf ihrer Seite — auf verborgene Motive schließen. Aber sie zwang sich, darüber nicht weiter nachzudenken. Sajaki redete immer noch, und sie wollte kein Wort seines Berichtes verpassen.

»Ich habe viel über die Kolonie zu erzählen«, sagte er, »und das Fenster ist nur kurz. Also beginne ich mit der Nachricht, auf die Sie sicher schon ungeduldig warten. Wir haben Sylveste gefunden; jetzt geht es nur noch darum, ihn in die Hand zu bekommen.«


Sluka saß hinter einem ovalen, schwarzen Tisch und schüttete Kaffee in sich hinein. Resurgams Morgensonne schien durch die halb geschlossenen Jalousien ins Zimmer und zeichnete ihr feurige Streifen auf die Haut.

»Ich möchte Ihre Meinung zu einer bestimmten Frage hören.«

»Die Besucher?«

»Wie scharfsinnig.« Sie schenkte ihm eine Tasse ein und wies mit der Hand auf den Sessel vor dem Tisch. Sylveste setzte sich und sank immer tiefer, bis er kleiner war als sie. »Befriedigen Sie meine Neugier, Dr. Sylveste, und sagen Sie mir genau, was Sie gehört haben.«

»Ich habe nichts gehört.«

»Dann ist die Sache ja auch schnell erzählt.«

Er lächelte, obwohl er vor Müdigkeit noch ganz benommen war. Zum zweiten Mal an diesem Tag hatten ihn ihre Wärter aus dem Schlaf gerissen und halbwach und desorientiert aus seiner Zelle gezerrt. Pascales Duft umschwebte ihn, und er fragte sich, ob sie irgendwo am anderen Ende von Mantell wohl noch in ihrer Zelle schliefe. Seit er sich selbst davon überzeugt hatte, dass sie lebte und wohlauf war, konnte er die Einsamkeit besser ertragen. Zwar hatte man ihm das vorher mehrmals versichert, aber er hatte keinen Anlass gehabt, Slukas Leuten zu glauben. Was konnte Pascale den Anhängern des Wahren Weges schließlich nützen? Noch weniger als er — und Sluka hatte doch schon große Zweifel, ob es sinnvoll sei, ihn am Leben zu lassen.

Doch jetzt kamen die Dinge in Bewegung. Man hatte ihm ein Treffen mit Pascale ermöglicht, und es würde vermutlich nicht das letzte sein. Hatte sich in Slukas Seele ein Funken Menschlichkeit geregt, oder hatte diese Entwicklung etwas ganz anderes zu bedeuten — musste sie womöglich damit rechnen, schon bald auf einen von ihnen angewiesen zu sein, und wollte nun anfangen, sich lieb Kind zu machen?

Sylveste trank. Der Kaffee vertrieb die Müdigkeit rasch. »Ich habe nur gehört, wir würden vielleicht Besuch bekommen. Daraus habe ich meine Schlüsse gezogen.«

»Die Sie mir sicher mit großem Vergnügen mitteilen würden.«

»Könnten wir vorher kurz über Pascale sprechen?«

Sie sah ihn über den Tassenrand hinweg an, dann nickte sie kurz wie eine mechanische Puppe. »Sie bieten mir Informationen — wofür? Gewisse Zugeständnisse bei den Bedingungen Ihrer Gefangenschaft?«

»Ich fände das nicht übertrieben.«

»Es käme darauf an, wie wertvoll Ihre Spekulationen sind.«

»Spekulationen worüber?«

»Über die Identität der Besucher.« Sluka starrte mit schmalen Augen in die grellroten Streifen, die durch die Ritzen der Jalousie fielen. »Der Himmel weiß warum, aber ich möchte gern Ihre Sicht der Dinge hören.«

»Zuerst müssten Sie mir sagen, was Sie wissen.«

»Dazu kommen wir noch.« Sluka musste sich ein Lächeln verkneifen. »Zuerst sollte ich einräumen, dass ich Ihnen einen Schritt voraus bin.«

»In welcher Beziehung?«

»Wer sollen diese Leute schon sein, wenn nicht Remilliod und seine Besatzung?«

Damit gab sie praktisch zu, dass sie sein Gespräch mit Pascale — und damit auch alles andere, was zwischen ihnen vorgefallen war — hatte überwachen lassen. Er war weniger schockiert als erwartet. Offensichtlich hatte er den Verdacht schon die ganze Zeit gehegt, es aber vorgezogen, sich nicht damit zu beschäftigen.

»Gut gemacht, Sluka. Sie haben Falkender befohlen, die Besucher mir gegenüber zu erwähnen, nicht wahr? Ein geschickter Schachzug.«

»Falkender hat nur Anweisungen ausgeführt. Also, wer sind diese Leute? Remilliod hatte bereits Handelsbeziehungen mit Resurgam angeknüpft. Warum sollte er nicht zurückkommen, um sich einen zweiten Happen zu holen?«

»Dafür ist es viel zu früh. Er hätte kaum Zeit gehabt, irgendein anderes System zu erreichen, geschweige denn eines mit guten Geschäftsaussichten.« Sylveste entzog sich dem anschmiegsamen Sessel, trat ans Fenster und spähte durch die Ritzen der Eisenjalousien. Die Nordwände der Tafelberge in der Nähe leuchteten in kühlem Orange wie Bücherstapel, die gleich in Flammen aufgehen würden. Jetzt erst fiel ihm auf, dass der Himmel nicht mehr purpurrot war, sondern eher bläulich. Das musste daran liegen, dass man Megatonnen von Staub aus der Luft entfernt und durch Wasserdampf ersetzt hatte. Oder sein schlechter Farbensinn spielte ihm einen Streich.

Er berührte das Fensterglas und sagte: »Remilliod würde nie so schnell zurückkehren. Es gibt nur ganz wenige Händler, die geschäftstüchtiger sind als er.«

»Wer ist es dann?«

»Diese wenigen machen mir Sorgen.«

Sluka befahl einem ihrer Adjutanten, den Tisch abzuräumen, und forderte Sylveste auf, wieder Platz zu nehmen. Dann ließ sie vom Tisch ein Dokument ausdrucken und reichte es ihm.

»Die Information, die Sie hier sehen, erreichte uns vor drei Wochen von einem Kontaktmann in der Fackelwache Ost-Nekhebet.«

Sylveste nickte. Die Fackelwachen waren ihm ein Begriff, er hatte sogar selbst gedrängt, sie einzurichten; es handelte sich um kleine, auf ganz Resurgam verteilte Observatorien, die den Stern auf Spuren ungewöhnlicher Emissionen hin beobachteten.

Die Lektüre des Textes hatte große Ähnlichkeit mit der Entschlüsselung von Amarantin-Schriften: er musste Buchstabe für Buchstabe an jedem Wort entlang schleichen, bis ihm die Bedeutung ins Bewusstsein sprang. Cal hatte gewusst, dass Lesen zum großen Teil eine mechanische Tätigkeit war — das Problem war die Physiologie der Augenbewegung entlang einer Zeile. Er hatte dafür geeignete Routinen in Sylvestes Augen integriert, aber Falkender hatte sie nicht alle wiederherstellen können.

Immerhin wurde Folgendes klar:

Die Fackelwache in Ost-Nekhebet hatte einen Energieausstoß von bislang beispielloser Stärke aufgefangen. Für kurze Zeit befürchtete man eine Wiederholung der Sonnenfackel, mit der Delta Pavonis einst die Amarantin ausgelöscht hatte: jener gewaltigen koronaren Massenejektion, die man als das Ereignis kannte. Doch bei näherer Untersuchung zeigte sich, dass die Fackel nicht von der Sonne stammte, sondern mehrere Lichtstunden jenseits davon am Rand des Systems entstanden war.

Die Spektralanalyse des Gammastrahlenblitzes ergab eine geringe, aber messbare Dopplerverschiebung von wenigen Prozent Lichtgeschwindigkeit. Das ließ nur einen Schluss zu: der Blitz kam von einem Raumschiff, das sich nach einem Flug mit interstellaren Geschwindigkeiten in der letzten Dezelerationsphase befand.

»Da muss etwas passiert sein«, sagte Sylveste. Die Nachricht von der Zerstörung des Schiffes konnte ihn nicht aus der Ruhe bringen. »Irgendeine Störung im Antrieb.«

»Das hatten wir auch vermutet.« Sluka klopfte mit dem Finger auf das Papier. »Wenige Tage später zeigte sich allerdings, dass das nicht sein konnte. Das Schiff war immer noch da — ein schwaches, aber eindeutiges Signal.«

»Das Schiff hat die Explosion überstanden?«

»Was immer es gewesen sein mag. Inzwischen lässt sich bei der Antriebsflamme eine deutliche Blauverschiebung nachweisen. Das Bremsmanöver ging normal weiter, als hätte die Explosion nicht stattgefunden.«

»Sie haben dafür sicher eine Erklärung.«

»Eine halbe vielleicht. Wir gehen davon aus, dass die Detonation von einer Waffe stammte. Von welcher Art, wissen wir nicht. Aber nichts anderes hätte so viel Energie freisetzen können.«

»Eine Waffe?« Sylveste bemühte sich, möglichst keine Miene zu verziehen. Ein wenig verständliche Neugier ließ er anklingen, alle anderen Gefühle, zumeist Variationen zum Thema nackte Angst, wurden rigoros unterdrückt.

»Seltsam, finden Sie nicht?«

Sylveste überlief es eiskalt. Er beugte sich vor.

»Diese Besucher — wer immer sie sein mögen, sind doch vermutlich über die Situation hier auf dem Planeten informiert?«

»Über die politischen Verhältnisse, meinen Sie? Das halte ich für unwahrscheinlich.«

»Aber sie haben doch sicher versucht, mit Cuvier Kontakt aufzunehmen.«

»Das ist ja das Komische. Es kam nichts. Kein Piepser.«

»Wer weiß darüber Bescheid?«

Ein Flüstern, so leise, dass er es selbst kaum hörte, als drücke ihm jemand die Luftröhre zu.

»Etwa zwanzig Personen in der Kolonie. Leute mit Zugang zu den Observatorien, etwa ein Dutzend von uns hier; nur eine Hand voll in Resurgam City… Cuvier.«

»Das ist nicht Remilliod.«

Sluka schob das Blatt in die Tischplatte zurück, wo es samt seinem brisanten Inhalt vernichtet wurde.

»Demnach haben Sie eine Vorstellung, wer es sein könnte?«

Sylveste fürchtete, dass sein Gelächter hysterisch klang. »Wenn ich Recht habe — und ich irre mich selten —, dann ist das ein schwerer Schlag, aber nicht nur für mich, Sluka, sondern für uns alle.«

»Weiter.«

»Es ist eine lange Geschichte.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich habe keine dringenden Verabredungen. Und Sie auch nicht.«

»Im Moment nicht, das ist wahr.«

»Wie?«

»Nur so ein Verdacht.«

»Hören Sie auf mit den Spielchen, Sylveste.«

Er nickte. Es hatte wenig Sinn, mit der Wahrheit hinter dem Berg zu halten. Seine tiefsten Ängste hatte er bereits mit Pascale geteilt, nun brauchte ihn Sluka nur noch, um die Lücken zu füllen und das zu ergänzen, was sie als Horcher an der Wand nicht mitbekommen hatte. Wenn er sich weigerte, würde sie Mittel und Wege finden, ihn oder — schlimmer noch — Pascale zum Reden zu bringen.

»Es war vor langer Zeit«, begann er. »Kurz nachdem ich von den Schleierwebern nach Yellowstone zurückgekehrt war. Sie wissen doch, dass ich damals für einige Zeit verschwand?«

»Sie haben immer beteuert, das hätte nichts zu bedeuten gehabt.«

»Ich wurde von Ultras entführt«, sagte Sylveste. Er wartete ihre Reaktion nicht ab, sondern sprach gleich weiter. »Sie brachten mich an Bord eines Lichtschiffes, das sich im Orbit um Yellowstone befand. Ein Angehöriger der Besatzung war verletzt, und ich sollte ihn… ›reparieren‹, man kann es wohl nicht anders ausdrücken.«

»Reparieren?«

»Der Captain war ein extremer Chimäre.«

Sluka fröstelte. Ihre Erfahrungen mit den radikal modifizierten Randgruppen der Ultra-Gesellschaft beschränkten sich — wie bei den meisten Kolonialisten — zumeist auf schaurige Holo-Dramen.

»Es waren keine gewöhnlichen Ultras«, sagte Sylveste. Warum sollte er mit Slukas Ängsten nicht ein wenig spielen? »Sie waren zu lange draußen gewesen; hatten sich zu weit von einer normalen menschlichen Existenz entfernt, wie wir sie kennen. Sie hatten sich selbst für Ultra-Verhältnisse extrem isoliert; paranoide Militaristen…«

»Trotz alledem…«

»Ich weiß, was Sie sagen wollen — selbst wenn sie einer exotischen Subkultur angehörten, wie schlimm konnten sie schon sein?« Sylveste warf ihr ein herablassendes Lächeln zu und schüttelte den Kopf. »Ich dachte zunächst genauso. Bis ich mehr über sie erfuhr.«

»Nämlich?«

»Sie hatten von einer Waffe gesprochen? Nun, sie haben tatsächlich Waffen, mit denen sie ohne weiteres diesen Planeten zerlegen könnten, wenn sie nur wollten.«

»Aber die würden sie doch nicht ohne Grund einsetzen.«

Sylveste lächelte. »Das werden wir erfahren, wenn sie Resurgam erreichen.«

»Nun ja…« Sluka dehnte das Wort in die Länge. »Eigentlich sind sie schon hier. Die Explosion fand vor drei Wochen statt, aber — hm — ihre Bedeutung war nicht gleich ersichtlich. Seither haben sie weiter abgebremst und sind um Resurgam in den Orbit gegangen.«

Sylveste nahm sich Zeit, seine Atmung zu regulieren. Er fragte sich, ob Sluka ihm die Informationen wohl mit Absicht so häppchenweise servierte. Hatte sie wirklich nur vergessen, dieses Detail zu erwähnen — oder hatte sie es sich aufgespart, wollte sie ihm die Fakten gezielt so präsentieren, dass er in ständiger Verwirrung gehalten wurde?

Wenn ja, dann ging die Taktik wunderbar auf.

»Moment mal«, sagte Sylveste. »Eben sagten Sie noch, nur eine Hand voll Leute wüssten darüber Bescheid. Könnte man ein Lichtschiff im Orbit um einen Planeten denn so leicht übersehen?«

»Leichter, als Sie denken. Das Schiff ist das dunkelste Objekt im ganzen System. Natürlich strahlt es im Infrarotbereich — das muss es ja —, aber es kann seine Emissionen offenbar an die Frequenzen unseres Atmosphäredunstes angleichen, die nicht bis zur Oberfläche vordringen. Wenn wir in den letzten zwanzig Jahren nicht so viel Wasser in die Atmosphäre gepumpt hätten…« Sluka schüttelte bedauernd den Kopf. »Wie auch immer, es spielt keine Rolle. Im Moment besteht ohnehin nur wenig Interesse für den Himmel. Selbst wenn sie mit greller Neonbeleuchtung angekommen wären, hätte sie niemand bemerkt.«

»Stattdessen haben sie sich noch nicht einmal gemeldet.«

»Schlimmer. Sie haben ihr Möglichstes getan, um uns zu verheimlichen, dass sie hier sind. Wenn diese verdammte Explosion nicht gewesen wäre…« Sie brach ab und schaute zum Fenster, dann wandte sie sich unvermittelt wieder an Sylveste. »Wenn es sich um die Leute handelt, die Sie meinen, müssen Sie eine Vorstellung haben, was sie wollen.«

»Ich glaube, das ist ganz einfach. Sie wollen mich.«


Volyova verfolgte Sajakis Bericht aufmerksam bis zu Ende. »Auf Yellowstone hatte man nur sehr wenig von Resurgam gehört, und nach der ersten Meuterei war es noch weniger geworden. Wir wissen heute, dass Sylveste diese Meuterei überstand, aber später — etwa heute vor fünfzehn Jahren — bei einem Umsturz entmachtet wurde. Das neue Regime steckte ihn in ein — nebenbei bemerkt ziemlich luxuriöses — Gefängnis, um ihn für seine politischen Zwecke benutzen zu können. Diese Situation wäre uns sehr entgegengekommen, denn dort hätte sich Sylveste ohne Mühe finden lassen. Auch wären wir in der glücklichen Lage gewesen, mit Leuten verhandeln zu können, die ihn ohne große Skrupel ausgeliefert hätten. Seither sind die Bedingungen jedoch ungleich schwieriger geworden.«

An dieser Stelle hielt Sajaki inne. Volyova bemerkte, dass er sich leicht gedreht und damit eine neue Aussicht ins Blickfeld gebracht hatte. Das Schiff flog südwärts über ihn hinweg und dadurch veränderte sich der Blickwinkel der Kameras, aber Sajaki war darauf vorbereitet und postierte sich so, dass sie jederzeit sein Gesicht erfassen konnten. Ein zufälliger Beobachter auf einer der anderen Mesas hätte sich wohl sehr über diesen Wahnsinnigen gewundert, der unverwandt zum Horizont starrte, unverständliche Beschwörungen vor sich hin flüsterte und sich dabei langsam, aber so regelmäßig wie ein Uhrwerk auf den Fersen drehte. Aber er hätte niemals vermutet, dass die seltsame Gestalt ein einseitiges Gespräch mit einem in der Umlaufbahn befindlichen Raumschiff führte.

»Sobald wir die Hauptstadt Cuvier mit den Scannern erfassen konnten, stellten wir fest, dass sie durch eine Reihe schwerer Explosionen verwüstet worden war. Aus dem Stand der Wiederaufbauarbeiten war zu erkennen, dass die Katastrophe auf der kolonialen Zeitskala noch nicht lange zurücklag. Meine Ermittlungen hier ergaben, dass der zweite Umsturz — bei dem die Waffen eingesetzt wurden — vor knapp acht Monaten stattfand, jedoch nicht von uneingeschränktem Erfolg gekrönt war. Was von Cuvier noch übrig ist, steht nach wie vor unter der Kontrolle des alten Regimes, obwohl dessen Anführer — Girardieu — bei den Kämpfen ums Leben kam. Die Fluter des Wahren Weges — die für den Coup verantwortliche Gruppe — kontrollieren viele der abgelegenen Siedlungen, aber ihr innerer Zusammenhalt ist offenbar nicht stark genug, möglicherweise ist es bereits zur Bildung von Splitterparteien gekommen. In der Woche seit meiner Landung haben neun Angriffe gegen Cuvier stattgefunden, und man vermutet sogar Saboteure innerhalb der Stadt: Infiltratoren des Wahren Weges, die sich in den Trümmern versteckt halten.« An dieser Stelle legte Sajaki eine Pause ein, und Volyova überlegte, ob er am Ende gar so etwas wie Sympathie für die erwähnten Infiltratoren empfand. Seinem Gesicht war allerdings nichts davon anzumerken.

»Was mich betrifft, so erteilte ich natürlich als Erstes den Befehl zur Demontage des Anzugs. So verlockend es gewesen wäre, damit den Weg nach Cuvier zurückzulegen, ich konnte das Risiko nicht eingehen. Dennoch war die Reise weniger mühsam, als ich befürchtet hatte. Am Stadtrand nahm mich eine Gruppe von Pipeline-Technikern mit, die aus dem Norden zurückkehrten. Mit ihnen gelangte ich in die Stadt. Zunächst waren sie misstrauisch, aber mit etwas Wodka konnte ich sie rasch dazu bewegen, mich in ihr Fahrzeug einsteigen zu lassen. Ich sagte, er würde in Phoenix gebrannt, der Siedlung, aus der ich angeblich kam. Sie hatten zwar von dem Ort noch nie gehört, waren aber gern bereit, mit mir darauf zu trinken.«

Volyova nickte. Der Wodka war — zusammen mit einer Tasche voller Krimskrams — kurz vor Sajakis Abreise an Bord des Schiffes hergestellt worden.

»Die Bewohner leben zumeist unter der Erde, in Katakomben, die vor fünfzig oder sechzig Jahren angelegt wurden. Natürlich ist die Luft halbwegs atembar, aber ich kann Ihnen versichern, dass das Atmen kein Vergnügen ist und man sich ständig am Rande des Sauerstoffmangels bewegt. Es hat mich beträchtliche Anstrengungen gekostet, auf diesen Felsen zu kommen.«

Volyova lächelte. Wenn Sajaki so etwas zugab, musste der Aufstieg zur Mesa die reine Folter gewesen sein.

»Angeblich verfügt der Wahre Weg zur Erleichterung der Atmung über biotechnische Verfahren vom Mars«, fuhr er fort, »aber Beweise dafür habe ich nicht gesehen. Meine Pipeline-Freunde halfen mir, ein Zimmer in einer Herberge zu finden, die von Bergleuten von außerhalb frequentiert wird, was natürlich genau zu meiner Geschichte passte. Ich würde die Unterkunft nicht als besonders hygienisch bezeichnen, aber für meine Zwecke war sie ausreichend, denn ich wollte natürlich Informationen sammeln. Die Ergebnisse meiner Nachforschungen«, fügte er hinzu, »waren allerdings oft widersprüchlich und bestenfalls vage.«

Sajaki hatte die halbe Drehung von Horizont zu Horizont fast abgeschlossen. Die Sonne stand jetzt hinter seiner rechten Schulter, und dadurch war sein Gesicht immer schwerer zu erkennen. Das Schiff brauchte freilich nur auf Infrarot zu schalten, um Sajakis Rede auch weiterhin an den Veränderungen seiner Gesichtsdurchblutung ablesen zu können.

»Augenzeugen berichten, dass Sylveste und seine Frau dem Attentat entgingen, bei dem Girardieu getötet wurde, aber seither nicht mehr gesehen wurden. Das war vor acht Monaten. Die Aussagen der Leute, mit denen ich gesprochen, und die geheimen Datenquellen, die ich angezapft habe, lassen nur einen Schluss zu. Sylveste wird wieder gefangen gehalten, aber diesmal außerhalb der Stadt und wahrscheinlich von einer Zelle des Wahren Weges.«

Jetzt war Volyova ganz Ohr. Alles führte auf einen ganz bestimmten Punkt zu; die Entwicklung war von vornherein unvermeidlich gewesen. Nur war die Unvermeidlichkeit in diesem Fall mehr in Sajaki und in dem begründet, was sie über ihn wusste, als in dem Mann, nach dem er suchte.

»Mit den offiziellen Stellen — wo immer die auch sein mögen — zu verhandeln, wäre sinnlos«, sagte Sajaki. »Ich bezweifle, dass sie uns Sylveste ausliefern könnten, selbst wenn sie wollten, wovon natürlich nicht auszugehen ist. Damit bleibt uns leider nur eine Möglichkeit.«

Volyova hob den Kopf. Jetzt kam es.

»Wir müssen erreichen, dass es im Interesse der ganzen Kolonie liegt, uns Sylveste zu überlassen.« Wieder lächelte Sajaki. Sein Gesicht lag im Schatten, aber die Zähne blitzten. »Es versteht sich von selbst, dass ich bereits begonnen habe, das Fundament für eine solche Lösung zu legen.« Jetzt wandte er sich direkt an sie, kein Zweifel. »Volyova; ich überlasse es Ihnen, wann Sie den offiziellen Stellen Ihre Vorschläge unterbreiten wollen.«

Normalerweise wäre es ihr eine Genugtuung gewesen, Sajakis Absichten so genau erraten zu haben. Aber jetzt beschlich sie nur ein leises Grauen, als sie erkannte, dass er nach all den Jahren noch einmal eine solche Zumutung an sie stellte. Am bedrückendsten war dabei die Einsicht, dass sie wahrscheinlich auch diesmal tun würde, was er von ihr verlangte.


»Nur zu«, sagte Volyova. »Er beißt nicht.«

»Ich kenne mich mit Raumanzügen aus, Triumvir.« Khouri trat zögernd einen Schritt in den weißen Raum. »Ich dachte nur nicht, dass ich noch einmal einen zu Gesicht bekäme. Und schon gar nicht, dass ich das Drecksding auch noch anziehen müsste.«

Die vier Anzüge lehnten an einer Wand des gnadenlos weißen Lagerraums sechshundert Decks unter der Brücke neben Saal zwei, wo das Training stattfinden sollte.

»Hört euch das an«, sagte eine der beiden anderen Frauen. »Sie braucht das verdammte Ding nur für ein paar Minuten anzuziehen, und dafür macht sie so ein Theater. Du gehst nicht mit uns runter, Khouri, also mach dir nicht ins Höschen.«

»Vielen Dank für den guten Rat, Sudjic — ich werde daran denken.«

Sudjic zuckte die Achseln — ein höhnisches Grinsen hätte ihre Gefühle wohl zu sehr strapaziert, dachte Khouri — und trat, gefolgt von ihrer Kollegin Sula Kjarval auf den für sie bestimmten Anzug zu. Die Anzüge sahen aus wie ausgeblutete, ausgeweidete und aufgeschnittene Frösche, die man mit ausgestreckten Gliedmaßen an einen senkrechten Tisch geheftet hatte. In ihrer derzeitigen Konfiguration waren sie noch am menschenähnlichsten. Arme und Beine waren deutlich ausgebildet. Die ›Hände‹ hatten keine Finger — es waren auch keine richtigen Hände, sondern nur stromlinienförmige Flossen —, allerdings konnten die Anzüge auf Wunsch Greifwerkzeuge und andere Manipulatoren ausfahren.

Khouri hatte tatsächlich Erfahrung mit Raumanzügen. Auf Sky’s Edge waren es Raritäten gewesen, Importware, von Ultra-Händlern gekauft, die auf der kriegsgeschüttelten Welt Zwischenstation machten. Niemand auf dem Planeten verfügte über das nötige Fachwissen, um sie zu kopieren, deshalb waren alle Exemplare, die ihre Seite besaß, von unschätzbarem Wert: mächtige Totems aus der Hand der Götter.

Der Anzug scannte sie und stellte ihre Körpermaße fest, um dann sein Inneres exakt auf ihre Formen abzustimmen. Nun ließ ihn Khouri vortreten. Als er sich um sie schloss, hatte sie einen leichten Anfall von Platzangst, den sie aber unterdrückte. Binnen weniger Sekunden dichtete sich der Anzug ab und füllte sich mit Luftgel. Damit waren Manöver möglich, die den Insassen sonst zermalmt hätten. Die Anzugpersönlichkeit erkundigte sich nach kleineren Veränderungswünschen und gestattete ihr, die Bewaffnung ihren Bedürfnissen anzupassen und ihre autonomen Programme entsprechend zu modifizieren. In Saal zwei kamen natürlich nur die leichtesten Waffen zum Einsatz; bei den Kampfszenarien, die hier aufgeführt wurden, gingen echter physischer Waffengebrauch und Simulationen nahtlos ineinander über. Was zählte, war das Ergebnis. Jeder Teil der Aufgabenstellung verlangte vollen Einsatz, und es galt auch die unzähligen Möglichkeiten zu berücksichtigen, die einem der Anzug bot, um Feinde zu vernichten, die das Unglück hatten, sich in seinen Einflussbereich zu verirren.

Außer Khouri waren drei Personen anwesend, aber sie war die einzige, die für den Einsatz auf dem Planeten nicht ernsthaft in Betracht kam. Volyova leitete das Training. Obwohl Khouri den Gesprächen mit ihr entnommen hatte, dass sie im Weltraum geboren war, hatte sie mehr als einmal Gelegenheit gehabt, Planeten zu besuchen, und besaß die erforderlichen Reflexe, fast schon Instinkte — nicht zuletzt einen gesunden Respekt vor dem Gesetz der Schwerkraft —, die bei einem Planetenausflug die Überlebenschancen verbesserten. Das galt auch für Sudjic: sie war in einem Habitat, vielleicht auch auf einem Lichtschiff geboren worden, hatte aber genügend Welten besucht, um die angemessenen Reaktionen zu erlernen. Von ihrer überschlanken Gestalt, die den Eindruck erweckte, als könne sie auf einem größeren Planeten keinen Schritt tun, ohne sich alle Knochen im Leibe zu brechen, ließ Khouri sich keine Sekunde lang täuschen; Sudjic war wie das Werk eines Meisterarchitekten, der genau wusste, welche Belastung jedes Gelenk, jede Verstrebung aushalten musste, und aus ästhetischen Gründen darauf bedacht war, keine zusätzlichen Toleranzen einzuplanen. Ganz anders Kjarval, die Frau, die Sudjic nicht von der Seite wich. Sie war im Gegensatz zu ihrer Freundin keine extreme Chimäre, sondern hatte noch ihre eigenen Gliedmaßen. Aber Khouri hatte einen Menschen wie sie noch nie gesehen. Ihr Gesicht war so glatt wie für das Leben in einer unspezifischen Wasserwelt. Die schräg geschnittenen Katzenaugen waren rote, gerasterte Kugeln ohne Pupillen. An Stelle von Nase und Ohren hatte sie Löcher mit geripptem Rand, der Mund war ein einfacher Schlitz, der so gut wie keinen mimischen Ausdruck zuließ. Beim Sprechen bewegte er sich kaum, aber die Mundwinkel waren ständig wie in sanfter Glückseligkeit nach oben gezogen. Kleider trug sie nicht, nicht einmal hier im Anzugdepot, wo es relativ kühl war, doch Khouri kam sie nicht wirklich nackt vor. Man hatte vielmehr den Eindruck, sie sei in ein unendlich flexibles, schnell trocknendes Polymer getaucht worden. Mit anderen Worten, eine wahre Ultra unbestimmbarer Herkunft, aber höchstwahrscheinlich kein Ergebnis darwinistischer Selektion. Khouri hatte von biotechnisch manipulierten menschlichen Untergattungen gehört, die aus Meeresbewohnern gezüchtet wurden für ein Leben in völlig gefluteten Raumschiffen oder auf Welten wie Europa unter dem Eis. Sula war sozusagen die leibhaftige Verkörperung solcher Mythen, ein groteskes Hybridwesen. Aber vielleicht war auch alles ganz anders. Vielleicht hatte sie sich den Transformationen nur aus einer Laune heraus unterzogen. Vielleicht waren sie völlig zweckfrei oder dienten nur dem tieferen Zweck, eine andere Identität vollkommen zu kaschieren. Wie auch immer, sie hatte sich schon auf Planeten aufgehalten und offenbar kam es nur darauf an.

Natürlich hatte auch Sajaki Planetenerfahrung vorzuweisen, aber er befand sich bereits auf Resurgam. Welche Rolle er eventuell bei Sylvestes Ergreifung spielen sollte, war allerdings nicht klar. Von Triumvir Hegazi wusste Khouri nur wenig, aber sie hatte aus zufällig aufgeschnappten Bemerkungen den Eindruck gewonnen, dass sein Fuß noch nie natürlichen Boden berührt hatte. Kein Wunder, dass Sajaki und Volyova dazu neigten, Triumvir Hegazi in den Verwaltungsbereich abzuschieben. Er sollte an der Exkursion nach Resurgam nicht teilnehmen, wenn es Ernst wurde — und wollte es auch nicht.

Damit blieb nur noch Khouri. Mangelnde Erfahrung konnte ihr niemand vorhalten; im Gegensatz zu allen anderen Besatzungsmitgliedern war sie nicht nur nachweislich auf einem Planeten geboren worden und aufgewachsen, sondern hatte auch — unter Einsatz ihres Lebens — auf einer Welt gekämpft. Wahrscheinlich — jedenfalls hatte sie bisher nichts gehört, was daran Zweifel aufkommen ließ — hatte der Krieg auf Sky’s Edge sie mit Gefahren konfrontiert, wie die Crew sie außerhalb des Schiffes noch nie erlebt hatte. Deren Erfahrungen beschränkten sich auf Einkaufsbummel, Geschäftsverhandlungen oder touristische Ausflüge; man besuchte eine Welt, um sich am engen Dasein der Kurzlebigen zu weiden. Khouri erinnerte sich an Situationen, in denen es bisweilen mehr als unwahrscheinlich gewesen war, dass sie überlebte. Dennoch — sie war immer ein fähiger Soldat gewesen und hatte auch Glück gehabt — war sie bisher noch immer mit halbwegs heiler Haut davongekommen.

Das wurde auch von niemandem auf dem Schiff bestritten.

»Es ist nicht so, dass wir Sie nicht dabei haben wollten«, hatte ihr Volyova nicht lange nach dem Vorfall mit dem Weltraumgeschütz erklärt. »Weit gefehlt. Ich bezweifle nicht, dass Sie mit einem Raumanzug ebenso gut zurechtkämen wie jeder von uns, und Sie würden auch nicht beim ersten Schuss vor Schreck erstarren.«

»Aber…«

»Aber ich kann es mir nicht leisten, schon wieder einen Waffenoffizier zu verlieren.« Die Diskussion fand im Spinnenraum statt, dennoch hatte Volyova die Stimme gesenkt. »Wir brauchen auf Resurgam nur drei Personen, und das heißt, wir müssen Sie nicht einsetzen. Außer mir sind Sudjic und Kjarval mit den Raumanzügen vertraut. Wir haben sogar schon mit dem Training begonnen.«

»Dann lassen Sie mich wenigstens daran teilnehmen.«

Volyova hatte schon abwehrend den Arm gehoben, doch im letzten Moment änderte sie ihre Meinung. »Schön, Khouri. Sie trainieren mit uns. Aber das hat nichts zu bedeuten, ist das klar?«

O ja, nur allzu klar. Das Verhältnis zwischen Khouri und Volyova hatte sich verändert — seit Khouri Volyova die Lüge von der feindlichen Crew aufgetischt hatte, für die sie angeblich als Infiltrator tätig war. Die Mademoiselle hatte ihren Schützling auf dieses kleine Gespräch lange vorbereitet, und offenbar hatte alles geklappt wie am Schnürchen, bis hinunter zu der Masche, die — natürlich völlig unschuldige — Galatea bewusst nicht zu erwähnen und Volyova die stille Genugtuung zu gönnen, selbst den logischen Schluss zu ziehen. Es war eine falsche Spur, aber wichtig war nur, dass Volyova darauf hereingefallen war. Volyova hatte auch die Geschichte über Sonnendieb als menschenprogrammierte Infiltrationssoftware geschluckt und vorerst schien ihre Neugier gestillt. Nun waren die beiden Frauen nahezu gleichrangig, und beide hatten sie vor der übrigen Mannschaft etwas zu verbergen, auch wenn das, was Volyova über Khouri zu wissen glaubte, nicht einmal annähernd die Wahrheit war.

»Ich verstehe«, sagte Khouri.

»Trotzdem ist es ein Jammer.« Volyova lächelte. »Ich habe den Eindruck, Sie wollten Sylveste schon immer gern kennen lernen. Aber die Gelegenheit dazu bekommen Sie natürlich, wenn wir ihn an Bord bringen…«

Khouri lächelte. »Und damit muss ich mich wohl zufrieden geben?«

Saal zwei war ein leerer Doppelgänger des Gewölbes mit den Weltraumgeschützen.

Anders als der Geschützpark war er allerdings belüftet und hatte Standarddruck. Das war kein reiner Luxus; Saal zwei enthielt die größte Menge atembarer Luft auf dem ganzen Lichtschiff und diente deshalb als Reservoir, aus dem man sonst luftleere Schiffsregionen versorgte, wenn sie von Menschen ohne Raumanzug betreten werden mussten.

Normalerweise hätte der Antrieb die Illusion von 1 Ge Schwerkraft geliefert, denn er wirkte entlang der Längsachse des Schiffs, und die ging auch durch den annähernd zylindrischen Raum. Aber jetzt war der Antrieb abgestellt — das Schiff kreiste um Resurgam —, und so wurde der Raum im Ganzen gedreht, um das Gefühl von Schwere zu erzeugen. Das hieß, dass die Schwerkraft in einem Winkel von neunzig Grad zur Längsachse wirkte und von der Mitte strahlenförmig nach außen drückte. Im Zentrum war kaum etwas davon zu spüren; hier schwebte ein Gegenstand Minuten lang, bis ihn der unvermeidliche kleine Anfangsschub langsam nach außen trug. Dann wurde der Winddruck der ebenfalls rotierenden Luft stärker und zog ihn immer schneller immer weiter nach unten. Aber nichts ›fiel‹ in diesem Raum in gerader Linie zu Boden, jedenfalls nicht aus dem Blickwinkel eines Beobachters, der an der rotierenden Wand stand.

Sie betraten den Zylinder an einem Ende durch eine gepanzerte Türklappe, die an der Innenseite zahlreiche Brandspuren und Projektileinschläge aufwies. Die übrigen sichtbaren Flächen waren in ganz ähnlichem Zustand; so weit Khouri sehen konnte (und dank der Sichtverstärkungsprogramme des Anzugs konnte sie so weit sehen, wie sie wollte), gab es keinen Quadratmeter Wand, der nicht von irgendeiner Waffe aufgerissen, verkratzt, durchlöchert, verschrammt, ausgebeult, geschmolzen oder korrodiert gewesen wäre. Ursprünglich mochten die Wände silbern gewesen sein; jetzt leuchtete das Metall so purpurrot wie ein gigantischer Bluterguss. Beleuchtet wurde der Saal nicht aus einer stationären Lichtquelle, sondern mit Dutzenden von frei schwebenden Drohnen, von denen jede einen Bereich der Wand in strahlend helles Scheinwerferlicht tauchte. Die Drohnen waren wie aufgescheuchte Glühwürmchen in ständiger Bewegung. Infolgedessen blieb kein Schatten länger als eine Sekunde lang an derselben Stelle, und man konnte nicht länger als eine Sekunde in eine Richtung schauen, bevor ein blendend heller Beleuchtungskörper ins Blickfeld schwebte und alles andere auslöschte.

»Kommst du damit auch wirklich klar?«, fragte Sudjic, als die Tür hinter ihnen zufiel. »Du solltest den Anzug nicht beschädigen. Was man zerbricht, hat man gekauft, verstehst du?«

»Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten«, gab Khouri zurück. Dann schaltete sie auf die Privatverbindung um, so dass nur Sudjic allein sie hören konnte. »Vielleicht bilde ich es mir ein, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass du mich nicht besonders leiden kannst.«

»Wie kommst du bloß auf die Idee?«

»Vielleicht hat es etwas mit Nagorny zu tun.« Khouri hielt inne. Ihr war eingefallen, dass die Privatverbindungen möglicherweise gar nicht so privat waren, andererseits wollte sie nichts sagen, was nicht jedem Lauscher und erst recht Volyova ohnehin längst bekannt gewesen wäre. »Ich weiß nicht genau, was ihm zugestoßen ist, ich weiß nur, dass ihr eng befreundet wart.«

»Befreundet ist nicht das richtige Wort, Khouri.«

»Dann eben ein Liebespaar. Ich wollte das nicht sagen, um dich nicht zu kränken.«

»Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, ob ich gekränkt bin, Mädchen. Dafür ist es zu spät.«

Volyovas Stimme unterbrach sie. »Alle drei zur Wand hin abstoßen.«

Gehorsam schalteten sie den Antrieb ihrer Anzüge etwas höher und sprangen von der Platte am Zylinderende. Seit sie den Raum betreten hatten, waren sie im freien Fall, doch als sie nun mit zunehmender Geschwindigkeit zur Wand/Boden hinab sanken, verstärkte sich das Gefühl der Schwere. Die Veränderung war nur gering und wurde vom Luftgel abgefedert, lieferte aber immerhin so viele kleine Hinweise, dass sie ein Gefühl für oben und unten entwickeln konnten.

»Ich kann verstehen, warum du mich ablehnst«, sagte Khouri.

»Und ob du das kannst.«

»Ich habe seinen Platz eingenommen. Bin in seine Rolle geschlüpft. Nach allem, was mit ihm passiert ist, musstest du plötzlich auch mich noch ertragen.« Khouri bemühte sich, möglichst sachlich zu sprechen, als nähme sie das alles nicht persönlich. »Wenn ich in deinen Schuhen steckte, würde ich vermutlich ebenso empfinden, da bin ich ganz sicher. Aber deshalb ist es noch lange nicht richtig. Ich bin nicht dein Feind, Sudjic.«

»Mach dir keine Illusionen.«

»Worüber?«

»Dass du auch nur zu einem Zehntel verstehst, worum es hier geht.« Sudjics Anzug schwebte jetzt dicht neben Khouri: der glatte weiße Panzer hob sich grell von der beschädigten Wand ab. Khouri hatte Bilder von geisterhaft weißen Walen gesehen, die in den Meeren der Erde lebten — oder gelebt hatten. Diese Belugas, wie sie hießen, kamen ihr jetzt in den Sinn. »Hör zu«, sagte Sudjic. »Hältst du mich wirklich für so einfältig, dass ich dich nur deshalb hasse, weil du Boris’ Stelle eingenommen hast? Beleidige mich nicht, Khouri.«

»Das hatte ich bestimmt nicht vor.«

»Wenn ich dich hasse, Khouri, dann habe ich auch einen triftigen Grund dafür. Ich hasse dich, weil du ihr gehörst.« Den letzten Satz zischte sie wie eine gereizte Schlange. »Volyova. Du bist ihr Spielzeug. Ich hasse sie, und deshalb hasse ich natürlich auch alles, was ihr gehört. Besonders jeden, den sie schätzt. Und wenn ich eine Möglichkeit sähe, eins von ihren Spielsachen kaputt zu machen — glaubst du, ich würde nur einen Moment zögern?«

»Ich gehöre niemandem«, sagte Khouri. »Auch Volyova nicht.« Sie verabscheute sich selbst dafür, dass sie so energisch protestierte, und diesen Abscheu übertrug sie auf Sudjic, die sie in die Defensive gedrängt hatte. »Aber das geht dich gar nichts an. Weißt du was, Sudjic?«

»Nein, aber ich brenne vor Neugier.«

»Soviel ich gehört habe, war Boris nicht gerade der geistig gesündeste Mensch, den man sich vorstellen kann. Nicht Volyova hat ihn in den Wahnsinn getrieben, sie hat vielmehr versucht, seinen Wahn in konstruktive Bahnen zu lenken.« Ihr Anzug bremste sanft ab und sie landete mit den Füßen voran auf der verbeulten Wand. »Das hat nicht hingehauen. Wie schrecklich! Vielleicht habt ihr beiden ja gut zusammengepasst.«

»Mag schon sein.«

»Wie bitte?«

»Was du eben gesagt hast, Khouri, begeistert mich nicht unbedingt. Und wenn wir zwei allein wären und nicht in diesen Anzügen steckten, könnte ich dir ganz schnell zeigen, wie leicht es ist, dir das Genick zu brechen. Wer weiß, vielleicht bietet sich ja noch eine Gelegenheit. Aber eins muss ich zugeben. Du lässt dir nichts gefallen. Die meisten von ihren Püppchen geben sich sofort geschlagen; wenn sie nicht schon vorher auf kleiner Flamme gebraten wurden.«

»Willst du damit sagen, du hättest mich falsch eingeschätzt? Nimm es mir bitte nicht übel, wenn sich meine Dankbarkeit in Grenzen hält.«

»Ich will nur sagen, dass du ihr vielleicht nicht in dem Maße gehörst, wie sie glaubt.« Sudjic lachte. »Das ist kein Kompliment, Mädchen — nur eine Beobachtung. Wenn sie es merkt, könnte es dir schlecht bekommen. Und es heißt nicht, dass ich dich von meiner schwarzen Liste gestrichen hätte.«

Khouri hätte gern etwas darauf erwidert, aber sie kam nicht dazu, denn Volyova meldete sich wieder auf der allgemeinen Frequenz. Sie stand hoch über den dreien, fast in der Mitte des Raums, und wandte sich an alle. »Diese Übung ist nicht strukturiert«, sagte sie. »Jedenfalls brauchen Sie die Struktur nicht zu kennen. Sie müssen das Szenarium lediglich überleben. Das ist alles. Die Übung beginnt in zehn Sekunden. So lange sie läuft, bin ich für Fragen nicht erreichbar.«

Khouri war nicht allzu sehr beunruhigt. Auf Sky’s Edge hatte sie oft unstrukturierte Übungen absolviert, und im Leitstand waren noch mehr dazugekommen. Unstrukturiert hieß nur, dass der tiefere Sinn des Szenariums verborgen war, oder dass es sich — im wahrsten Sinne des Wortes — um eine Desorientierungsübung handelte, die das Chaos nach einer gründlich schiefgegangenen Operation simulierte.

Sie fingen mit Aufwärmübungen an. Volyova sah von oben zu. Aus bisher unsichtbaren Klappen in den Wänden kamen verschiedene Drohnenziele. Sie waren, wenigstens zunächst, nicht sonderlich schwer zu treffen. Anfangs besaßen die Anzüge noch so viel Autonomie, dass sie die Drohnen entdeckten und anvisierten, bevor der Träger sie überhaupt bemerkte, so dass der Mensch nur die Genehmigung zum Abschuss zu geben brauchte. Aber bald wurde es schwieriger. Die Ziele waren nicht mehr passiv, sondern schossen zurück — normalerweise wahllos, aber mit ständig steigender Feuerkraft, so dass selbst krasse Fehlschüsse eine Bedrohung darstellten. Auch wurden die Ziele kleiner und schneller und brachen in immer kürzeren Abständen aus der Wand hervor. Und die Anzüge zeigten — im gleichen Maße, wie die Gefahr durch feindliche Angriffe wuchs — zunehmend Funktionsausfälle. In der sechsten oder siebenten Runde war ihre Autonomie großenteils abgebaut, und die Sensornetze, mit denen sie sich umgaben, lösten sich auf, so dass die Träger zunehmend selbst auf visuelle Reize reagieren mussten. Doch Khouri ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Die Übung mochte schwierig sein, aber sie hatte sich oft genug durch ähnliche Szenarien gekämpft. Man durfte nicht vergessen, wie viele Funktionen noch blieben: immerhin verfügte man noch über die Waffen, die Energieversorgung und die Flugfähigkeit.

Während der ersten Übungen gab es keine Verständigung zwischen den drei Teilnehmern; sie waren vollauf damit beschäftigt, ihre Reaktionsfähigkeit aufzubauen. Irgendwann war es, als würden sie zum zweiten Mal aufgezogen; sie erreichten einen Zustand der Stabilität, der sie über die scheinbaren Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus trug. Sie versetzten sich sozusagen in Trance. Dafür gab es gewisse Tricks, um die Konzentration zu steigern, gewisse Mantras, die man ständig wiederholte, bis man den Übergang geschafft hatte. Es war nicht so, als brauchte man nur den Wunsch zu haben, und schon war man dort; schon eher wie eine steile Felswand, die man erklimmen musste, um an ein hoch gelegenes Sims zu kommen. Aber wenn man nicht aufgab — wenn man es immer wieder versuchte —, wurden die Bewegungen allmählich fließender, und das Sims erschien nicht mehr ganz so hoch und unzugänglich wie zuvor. Einfach und ohne geistige Anstrengung war es freilich nie zu erreichen.

Auf dem Weg in diesen Zustand glaubte Khouri einmal, die Mademoiselle gesehen zu haben.

Es war nicht einmal ein kurzer Blick, nur eine Bewegung im Augenwinkel, der Eindruck, da sei für einen Moment noch ein Körper im Raum, dessen Umrisse sie an die Mademoiselle erinnerten. Aber das Bild verschwand so schnell, wie es gekommen war.

Ob sie es tatsächlich gewesen sein konnte?

Seit dem Zwischenfall im Leitstand hatte Khouri die Mademoiselle nicht mehr gehört oder gesehen. Die letzte Botschaft kam, nachdem Khouri Volyova geholfen hatte, das Weltraumgeschütz zu zerstören, und sie klang ziemlich pikiert. Die Mademoiselle erklärte, Khouri sei zu lange im Leitstand geblieben, nun habe Sonnendieb Einlass gefunden. Tatsächlich — als Khouri den Waffenraum verlassen wollte, war etwas auf sie zugerast wie ein riesiger Schatten. Doch als der Schatten sie umfing, hatte sie nichts gespürt. Als habe sich ein Loch geöffnet und sie unversehrt durchgelassen. Aber vermutlich war es nicht wirklich so gewesen, und die Wahrheit war sehr viel unerfreulicher. Khouri setzte sich nur ungern mit der Möglichkeit auseinander, der Schatten könnte Sonnendieb gewesen sein, aber sie war nun einmal nicht von der Hand zu weisen. Und wenn sie das akzeptierte, musste sie auch davon ausgehen, dass Sonnendieb inzwischen weitere Teile von sich in ihr Gehirn eingeschleust hatte.

Dabei hatte sie schon das Wissen belastet, dass mit den Bluthunden der Mademoiselle Spuren der Entität eingedrungen waren. Doch die waren immerhin noch beherrschbar gewesen; die Mademoiselle war stark genug, um sie in Schach zu halten. Nun musste sich Khouri damit abfinden, dass ein wichtigerer Teil von Sonnendieb in ihr weilte. Und die Mademoiselle hatte sich seither auffallend rar gemacht — bis zu dieser zweifelhaften stummen Erscheinung, die womöglich nicht einmal eine Ausgeburt ihrer Phantasie gewesen war. Jeder normale Mensch hätte sie als Lichtreflex am Rand des Blickfeldes abgetan.

Wenn sie es aber doch gewesen wäre… was hatte das nach so langer Zeit zu bedeuten?

Endlich ging die erste Übungsphase zu Ende, und die Anzüge bekamen einen Teil ihrer Funktionen zurück. Nicht alle, nur so viele, dass die drei wussten, die Tafel war abgewischt, von jetzt an galten neue Regeln.

»Schön«, sagte Volyova. »Ich habe schon schlechtere Leistungen gesehen.«

»Ich würde das ja als Kompliment nehmen«, sagte Khouri in der Hoffnung, den Kameradschaftsgeist ihrer Leidensgenossen zu aktivieren. »Das Problem bei Ilia ist nur, dass sie es wörtlich meint.«

»Wenigstens eine von Ihnen, die das kapiert«, sagte Volyova. »Aber lassen Sie sich das nicht zu Kopf steigen, Khouri. Jetzt wird es nämlich erst richtig Ernst.«

Am anderen Ende des Saales schob sich eine weitere Klappe auf. Das ständig wechselnde Licht verwandelte die Bewegungen in eine Reihe starrer, lichtgesättigter Einzelbilder. Aus der Öffnung quollen ellipsenförmige Gebilde in immer größeren Mengen. Jedes einzelne war vielleicht einen halben Meter lang und silbrig weiß und hatte verschiedene Auswüchse, Waffenmündungen, Manipulatoren und Luken an der Oberfläche.

Wachdrohnen. Khouri kannte sie — in ähnlicher Ausführung — von Sky’s Edge. Dort hatte man sie ›Wolfshunde‹ genannt, weil sie so erbittert kämpften und immer in Rudeln auftraten. Militärisch wurden sie hauptsächlich zur Demoralisierung des Feindes eingesetzt, aber Khouri wusste, wozu sie fähig waren, und sie wusste auch, dass sie sich in ihrem Anzug nicht mehr völlig sicher fühlen konnte. Wolfshunde zeichneten sich weniger durch Intelligenz als durch ihre Bösartigkeit aus. Sie hatten nur relativ leichte, aber dafür viele Waffen, und was noch wichtiger war, sie koordinierten ihre Attacken. Wenn die gepoolten Prozessoren darin eine sinnvolle Strategie sahen, feuerte auch ein ganzes Rudel gleichzeitig auf ein einziges Individuum. Diese bedingungslose Zielstrebigkeit machte die Wolfshunde zu gefürchteten Gegnern.

Doch damit nicht genug. In die hervorbrechende Drohnenschar waren etliche größere Objekte eingebettet, die ebenfalls silbrig weiß waren, aber nicht sphärisch symmetrisch wie die Wolfshunde. In den unregelmäßig aufflammenden Scheinwerferstrahlen waren sie nur schwer zu erkennen, aber Khouri glaubte zu wissen, worum es sich handelte. Es waren andere Raumanzüge und sie waren wohl kaum in freundlicher Absicht hier.

Die Wolfshunde und die feindlichen Anzüge lösten sich jetzt von der Zentralachse und strebten auf die drei wartenden Trainingsteilnehmer zu. Vielleicht zwei Sekunden waren vergangen, seit sich die zweite Tür geöffnet hatte, aber Khouri kam es sehr viel länger vor. Ihr Verstand hatte mühelos auf Schnellgang geschaltet, das war im Kampfgeschehen unerlässlich. Viele der höheren autonomen Anzugfunktionen waren deaktiviert, aber die Zielerfassungsprogramme waren noch aktiv, und so befahl sie dem Anzug, die Wolfshunde anzuvisieren und jeden einzelnen im Fadenkreuz zu behalten, aber noch nicht zu schießen. Jetzt würde ihr Anzug mit den beiden anderen Kriegsrat halten, sie würden sich eine kurzfristige Strategie zurechtlegen und sich gegenseitig Ziele zuweisen. Die Träger würden von diesen Verhandlungen so gut wie nichts mitbekommen.

Wo, zum Teufel, war Volyova?

Konnte sie sich so schnell von einem Ende des Saales zum anderen katapultiert und unter das Rudel gemischt haben? Ja, wahrscheinlich — ein Anzug konnte sich, wenigstens auf so engem Raum, so rasch bewegen, dass er an einem Punkt zu verschwinden und einen Lidschlag später Hunderte von Metern entfernt wieder aufzutauchen schien. Aber die feindlichen Anzüge waren eindeutig durch die zweite Tür gekommen, das hieß, Volyova hätte den Saal verlassen und auf normalem Wege durch Schiffskorridore und Einstiegsluken auf die andere Seite gelangen müssen. Khouri bezweifelte, dass sich das in der kurzen Zeit schaffen ließ, ohne dass man sich unterwegs verflüssigte, selbst wenn man in einem Raumanzug steckte und der Weg vorher einprogrammiert worden war. Aber vielleicht kannte Volyova eine Abkürzung; einen freien Schacht, durch den sie viel schneller…

Scheiße.

Sie wurde beschossen.

Die Wolfshunde feuerten mit schwachen Lasern. Jeweils zwei parallele Strahlen zuckten aus den bösartigen, dicht beieinander stehenden Augen in der oberen Hälfte der Ellipsoide. Inzwischen hatten sie ihre Chamäleo-Tarnung an den Metallfußboden angepasst und sahen aus wie tanzende, purpurrote Hustenbonbons, die immer wieder verschwammen. Khouris Anzug hatte seine Oberfläche zu einem optisch perfekten Spiegel versilbert, der die Energie zum größten Teil reflektierte, dennoch hatten die ersten Schüsse echte Schäden angerichtet. Das kostete Punkte; sie hatte sich zu sehr mit Volyovas Verschwinden beschäftigt und den Angriff übersehen. Natürlich war das mit Sicherheit Volyovas Absicht gewesen. Sie schaute sich um und stellte fest, dass die Anzeigen ihres Raumanzugs die Wahrheit sagten: ihre beiden Kampfgefährten hatten überlebt. Sudjic und Kjarval schillerten zwar wie Quecksilbertropfen in Menschengestalt, aber sie waren unverletzt und erwiderten das Feuer.

Khouri stellte das Eskalationsprotokoll so ein, dass sie dem feindlichen Angriff immer einen Schritt voraus war, ohne die Gegner zu vernichten. Der Anzug fuhr auf beiden Schultern kleine Türmchen aus, auf denen drehbare schwache Laser angebracht waren. Die Strahlen konvergierten vor ihren Augen und jagten weiter. Jeder Schuss zog einen lila Kondensstreifen aus ionisierter Luft hinter sich her. Wenn die glänzend purpurroten, fliegenden Wolfshunde getroffen wurden, fielen sie wie Steine vom Himmel und hüpften über den Boden oder explodierten zu feurigen Blumen. Sich jetzt ohne Raumanzug im Saal aufzuhalten wäre nicht ratsam gewesen.

»Du warst zu langsam«, sagte Sudjic über die allgemeine Frequenz, obwohl der Angriff noch nicht beendet war. »Wenn das echt gewesen wäre, könnten wir dich jetzt mit dem Schlauch von der Wand spritzen.«

»Wie oft warst du schon im Nahkampf, Sudjic?«

Kjarval — die bisher noch kaum etwas gesagt hatte — schaltete sich ein. »Wir haben alle schon Einsätze absolviert, Khouri.«

»Ja? Wart ihr auch schon einmal so nahe daran, dass ihr den Feind um Gnade winseln hören konntet?«

»Ich meine damit… Scheiße.« Kjarval hatte einen Treffer abbekommen. Ein Zucken durchlief ihren Anzug, er wechselte durch eine Reihe von falschen Chamäleonfarben: Weltraumschwarz, Schneeweiß und schließlich buntes Tropenlaub. Kjarval sah aus wie eine Tür, die aus dem Saal mitten in eine weit entfernte Dschungelwelt führte.

Noch ein kurzes Flackern, dann war die reflektierende Spiegeloberfläche wieder da.

»Die anderen Anzüge beunruhigen mich.«

»Dazu sind sie da. Damit du unruhig wirst und Mist baust.«

»Seit wann brauchen wir dazu Hilfe? Das wäre ja ganz neu.«

»Schnauze, Khouri! Konzentriere dich lieber auf den verdammten Krieg!«

Sie gehorchte. Es fiel ihr nicht schwer.

Etwa ein Drittel der Wolfshunde war abgeschossen. Die Klappe am anderen Ende des Saales stand noch offen, entließ aber keine neuen Truppen mehr. Die fremden Raumanzüge — Khouri zählte drei — hatten bisher untätig in der Nähe der Öffnung geschwebt. Jetzt sanken sie langsam zu Boden, wobei sie den Flug mit nadelfeinen Schubstößen aus den Fersen steuerten. Zugleich passten sie ihre Farbe und ihre Struktur dem zerschossenen Untergrund an. Ob einer von ihnen besetzt war und welcher, war nicht zu erkennen.

»Aber die Anzüge gehören zum Szenarium. Sie… sie müssen doch irgendeine Bedeutung haben.«

»Ich sagte Schnauze, Khouri!«

Sie ließ sich nicht beirren. »Wir haben einen Auftrag, richtig? Davon müssen wir ausgehen. Wenn wir nicht irgendeine Struktur in das Ganze hineinbringen, wissen wir doch nicht einmal, wer eigentlich der Feind ist!«

»Gute Idee«, sagte Sudjic. »Wir halten eine Besprechung ab.«

Inzwischen schossen die Wolfshunde mit Teilchenstrahlen, und die Anzüge der drei zahlten mit gleicher Münze zurück. Die Laser mochten echt gewesen sein — das lag noch knapp innerhalb der Grenzen des Möglichen —, aber jede nennenswert stärkere Waffe musste eine Simulation sein. Schließlich wäre es nicht günstig, wenn das Training damit endete, dass einer von ihnen ein Loch in die Saalwand sprengte und die gesamte Luft ins All entweichen ließe.

»Verdammt«, überlegte Khouri. »Wir müssen davon ausgehen, dass wir wissen, wer wir sind und warum wir hier sind — wo immer das auch sein mag. Die nächste Frage ist, ob wir auch die Dreckskerle in den drei anderen Anzügen kennen.«

»Das wird mir zu philosophisch«, sagte Kjarval und sprang zur Seite, um das Feuer auf sich zu ziehen.

»Wenn wir überhaupt eine Besprechung abhalten müssen«, fuhr Khouri hartnäckig fort, ohne Sudjics Zwischenrufe zu beachten, »ist anzunehmen, dass wir nicht wissen, wer sie sind. Damit sind es Feinde. Und das heißt, wir sollten das Pack erschießen, bevor sie Zeit haben, das zu tun, was immer sie tun wollen.«

»Das könnte ein Riesenfehler sein, Khouri!«

»Ja, aber wie du freundlicherweise bemerkt hast, bin ich diejenige, die sowieso nicht mit hinuntergeht.«

»Dazu sage ich Amen.«

»Äh… Leute…« Das war Kjarval. Sie hatte etwas bemerkt, was Khouri und Sudjic erst einen Moment später auffiel. »Das gefällt mir nicht.«

Die Handgelenke der drei fremden Raumanzüge veränderten sich, und aus jedem schob sich eine bislang noch formlose Waffe. Es ging so schnell wie das Aufblasen eines Luftballons auf einer Party.

»Schießt die Arschlöcher ab«, sagte Khouri mit einer Ruhe, die sie selbst erschreckte. »Feuer auf den Anzug links außen konzentrieren. Betriebsart beschleunigte Antimaterie, kleinste Impulsstärke, konische Streuung mit Quereinschlag.«

»Seit wann gibst du hier die…«

»Verdammt, Sudjic, tu einfach, was ich sage!«

Sie schoss bereits und Kjarval ebenfalls. Die drei standen jeweils zehn Meter voneinander entfernt, und ihre Anzüge nahmen den Feind unter Feuer. Die beschleunigten Antimaterie-Impulse waren simuliert… natürlich. Sonst wäre vom Saal nicht mehr genug übrig gewesen, um darauf zu stehen.

Ein greller Blitz fuhr Khouri wie mit Klauenfingern in die Augen. Zu intensiv für eine gute Simulation… die Erschütterung war zu stark. Der Knall war vergleichsweise sanft, aber die Wucht des Aufpralls war so groß, dass sie rückwärts gegen die fleckige Mauer geschleudert wurde. Sie fiel wie auf eine Matratze in einem teuren Hotelzimmer. Der Anzug war kurzzeitig tot; auch als sie wieder klar sehen konnte, waren die Anzeigen entweder erloschen oder spuckten unleserlichen Zeichensalat aus. Der Zustand hielt einige qualvolle Sekunden lang an, dann sprang endlich das Ersatzgehirn stolpernd ein und stellte wieder her, was es konnte. Ein einfacheres, aber zumindest verständliches Display leuchtete auf und zeigte an, was zerstört und was noch vorhanden war. Die meisten stärkeren Waffen waren futsch. Die Anzugautonomie war auf fünfzig Prozent gesunken, die Anzugpersönlichkeit auf dem Weg in den Maschinenautismus. An drei Gelenken waren die Servomechanismen schwer beschädigt. Die Flugfähigkeit war eingeschränkt, jedenfalls so lange, bis die Reparaturprogramme ihre Arbeit aufnahmen, und die brauchten minimal zwei Stunden, um die erforderlichen Überbrückungen auszurechnen.

Ach ja — und wenn die biomedizinische Anzeige stimmte, dann fehlte ihr ein Arm vom Ellbogen abwärts.

Sie kämpfte sich zum Sitzen hoch und warf einen Blick auf das abgeschossene Glied, obwohl alle ihre Instinkte sie beschworen, sich um ihre Sicherheit zu kümmern und die Lage zu peilen. Ihr rechter Arm endete genau da, wo die Med-Anzeige sagte — in einer schrumpligen Masse aus verkohlten Knochen und Fleisch, mit Metallsplittern gespickt. Weiter oben hatte sich wohl das Luftgel schockverfestigt, um Druck- und Blutverluste zu verhindern, aber solche Details musste sie einfach voraussetzen. Schmerzen spürte sie natürlich nicht — auch darin war die Simulation vollkommen realitätsgetreu, denn der Anzug hätte ihrem Schmerzzentrum in jedem Fall befohlen, sich abzuschalten.

Lage peilen… Lage peilen…

Sie hatte vollkommen die Orientierung verloren. Umsehen konnte sie sich nicht, denn das Halsgelenk des Anzugs hatte sich verklemmt. Plötzlich war alles voll Rauch, dichte Schwaden schwebten mit der Luft aus dem Saal. Die unregelmäßigen Scheinwerferkegel der fliegenden Drohnen waren nur noch als kurze Blitze zu erkennen. Da drüben standen zwei Anzugwracks mit katastrophalen Schäden — vermutlich waren sie mehrfach von Antimaterie-Impulsen getroffen worden. Aber sie waren so ramponiert, dass Khouri nicht sehen konnte, ob es Insassen gab — oder je gegeben hatte. Ein dritter Anzug — weniger stark beschädigt, vielleicht nur betäubt wie ihr eigener — lehnte zehn oder fünfzehn Meter entfernt an der langen, gewölbten Saalwand. Die Wolfshunde waren verschwunden, vielleicht zerstört, sie wusste es nicht.

»Sudjic? Kjarval?«

Stille. Sie konnte nicht einmal ihre eigene Stimme richtig hören und schon gar nichts, was als Antwort zu werten wäre. Jetzt sah sie, dass die Funkverbindung zwischen den Anzügen gestört war — ein Punkt im Schadensbericht, den sie bisher übersehen hatte. Schlimm, Khouri. Sehr schlimm.

Sie hatte keine Vorstellung davon, wer der Feind war.

Der beschädigte Arm des Anzugs reparierte sich in Sekundenschnelle. Die verbrannten Teile sanken zu Boden, die Außenhülle schob sich nach vorne und umschloss den Stumpf. Khouri fand den Anblick abscheulich, obwohl sie dergleichen in Simulations-Szenarien auf Sky’s Edge oft genug gesehen hatte. Wirklich übel wurde ihr allerdings bei dem Gedanken, dass eine solche Schnellreparatur für ihre eigenen Verletzungen nicht möglich war; sie musste warten, bis die Verwundeten aus der Kampfzone evakuiert wurden.

Jetzt bewegte sich der Anzug mit den weniger schweren Schäden und kam ebenfalls auf die Beine. Er hatte noch alle Gliedmaßen und viele seiner Waffen waren ausgefahren und hingen aus verschiedenen Öffnungen. Die richteten sich nun auf Khouri wie ein Dutzend stoßbereite Vipern.

»Wer bist du?«, fragte sie, doch dann fiel ihr wieder ein, dass die Funkverbindung vermutlich auf Dauer unterbrochen war. Aus dem Augenwinkel sah sie von der Seite zwei weitere Anzüge aus den trägen, pechschwarzen Rauchwolken auftauchen. Wer mochte das sein? Reste der drei Fremdanzüge, die mit den Wolfshunden gekommen waren, oder ihre Kampfgefährtinnen?

Der Anzug mit den Waffen näherte sich so langsam, als sei sie eine Bombe, die jeden Moment losgehen konnte. Dann blieb er reglos stehen. Seine Außenhaut versuchte mit mäßigem Erfolg, sich den Farben der Wand im Hintergrund und der Rauchwolken anzupassen. Wie mochte ihr eigener Anzug aussehen, dachte Khouri. War die Sichtscheibe durchsichtig oder nicht? Von innen war es nicht zu erkennen und die auf ein Minimum reduzierten Anzeigen gaben darüber keine Auskunft. Wenn der Anzug mit den Waffen ein menschliches Gesicht entdeckte, würde er dann schießen oder das Feuer einstellen? Khouri hatte alles darauf gerichtet, was von ihren Waffen noch zu gebrauchen war, aber sie wusste noch immer nicht, ob sie den Feind oder einen stummen Kameraden bedrohte.

Sie wollte den unverletzten Arm heben und auf ihr Gesicht deuten, eine Aufforderung an ihr Gegenüber, seine Sichtscheibe transparent zu machen.

Der Anzug schoss.

Khouri wurde abermals wie von einer unsichtbaren Ramme zurückgeschleudert und krachte gegen die Wand. Ihr Anzug begann zu schreien, sinnloses Gefasel rollte durch ihr Blickfeld. Bevor sie mit der Wand kollidierte, hörte sie einen ohrenbetäubenden Schlag, der komprimierte Schall der hektischen Schüsse aus ihren eigenen noch einsatzfähigen Waffen.

Scheiße, dachte Khouri. Das tat weh, und man spürte aus dem Bauch heraus, dass das keine Simulation mehr sein konnte.

Wieder kämpfte sie sich hoch. Im gleichen Augenblick raste eine zweite Salve des Angreifers an ihr vorbei und eine dritte traf ihren Oberschenkel. Sie taumelte nach hinten und sah sich selbst aus dem Augenwinkel mit den Armen rudern. Mit ihren Armen stimmte etwas nicht; genauer gesagt, etwas war in Ordnung, was nicht in Ordnung sein durfte. Sie waren vollkommen unversehrt; nichts deutete darauf hin, dass ihr der eine soeben abgeschossen worden war.

»Scheiße«, sagte sie. »Verdammt, was ist hier eigentlich los?«

Der andere Anzug ließ nicht locker, jeder Schuss traf und trieb sie weiter zurück.

»Hier Volyova«, ertönte eine Stimme, die alles andere als ruhig und gelassen klang. »Alles herhören! Das Szenarium läuft nicht so, wie es soll! Jeder stellt sofort das Feuer ein…«

Khouri war wieder auf das Deck gestürzt, diesmal mit solcher Wucht, dass sie den Aufprall trotz des Luftgel-Kissens im Rücken spürte. Ihr Schenkel fühlte sich an, als sei er verletzt, und der Anzug tat nichts, um den Schmerz zu lindern.

Wir sind in die Wirklichkeit übergewechselt, dachte sie.

Der Beschuss war jetzt echt; jedenfalls von dem Anzug, der sie angriff.

»Kjarval«, sagte Volyova. »Kjarval! Hören Sie auf zu schießen! Sie bringen Khouri noch um!«

Aber Kjarval — Khouri erriet, dass sie der Angreifer war — hörte nicht, vielleicht konnte sie auch nicht hören oder, noch schlimmer, sie konnte das Feuer nicht mehr einstellen.

»Kjarval«, mahnte der Triumvir. »Wenn Sie nicht aufhören, muss ich Sie entwaffnen!«

Aber Kjarval war nicht zu halten. Sie schoss immer weiter. Khouri spürte jeden Treffer wie einen Peitschenschlag. Sie krümmte sich zusammen und versuchte mit letzter Kraft, aus der Hölle dieses Metallsaals zu kriechen und sich in Sicherheit zu bringen.

Und dann kam Volyova von oben herab. Sie hatte sich offenbar die ganze Zeit unsichtbar im Zentrum aufgehalten. Noch im Sinkflug eröffnete sie das Feuer auf Kjarval, zuerst mit den leichten Waffen, dann mit immer schwereren Geschützen. Kjarval wehrte sich und richtete einen Teil ihrer Schüsse nach oben. Volyova wurde getroffen, ihr Schutzpanzer bekam schwarze Schrammen, aus der flexiblen Hülle wurden Splitter gerissen und die Waffen, die ihr Anzug ausfahren und einsetzen wollte, wurden einfach weggefegt. Aber sie ließ nicht locker. Kjarvals Anzug sank in sich zusammen und wurde undicht. Die Waffen schossen wild durcheinander, verfehlten das Ziel und feuerten schließlich blindlings durch den Raum.

Irgendwann — wahrscheinlich war nicht mehr als eine Minute vergangen, seit sie das Feuer auf Khouri eröffnet hatte — fiel Kjarval zu Boden. Wo ihr Anzug nicht von Treffern geschwärzt war, erinnerte er an ein Schlachtfeld aus sich bekämpfenden psychedelischen Farben und rasant wechselnden, hypergeometrischen Strukturen. Halb realisierte Waffen und Instrumente sprießten aus allen Öffnungen. Die Gliedmaßen schlugen wie wild um sich. Aus ihren Enden schossen unaufhörlich die verschiedensten Manipulatoren und primitive, babygroße, menschenhandähnliche Gebilde, die ihrerseits Knospen trieben.

Khouri stand auf und musste einen Aufschrei unterdrücken. Ihr Schenkel hatte die Bewegung sehr übel genommen. Der Anzug hing steif an ihr, ein totes Gewicht, aber sie schaffte es irgendwie, sich bis zu der Stelle zu schleppen, wo Kjarval lag.

Volyova und ein zweiter Anzug — es musste Sudjic sein — waren bereits bei ihr, beugten sich über den zerstörten Anzug und versuchten, die medizinischen Diagnoseanzeigen zu lesen.

»Sie ist tot«, sagte Volyova.

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