Achtzehn

Im Orbit um Resurgam

2566


Sie hoben von Resurgam ab und schossen durch den Sturm nach oben. Als der Himmel klar wurde, entdeckte Sylveste ein Objekt über sich, das zunächst so klein wie ein Stückchen Kohle und nur deshalb zu sehen war, weil es gelegentlich die Sterne verdeckte. Aber es wuchs immer weiter und entpuppte sich schließlich als annähernd konisch. Was anfangs nur wie ein tiefschwarzer Fleck ausgesehen hatte, zeigte im schwachen Licht der Welt, um die es kreiste, gewisse Unregelmäßigkeiten in seiner Oberfläche. Das Lichtschiff schwoll so unwahrscheinlich an, bis es die Hälfte des Himmels füllte, und hörte auch dann nicht auf zu wachsen. Es hatte sich seit seinem letzten Besuch kaum verändert. Sylveste wusste — ohne davon sonderlich beeindruckt zu sein —, dass solche Schiffe sich ständig verwandelten, aber im Allgemeinen nahmen sie eher unauffällige Veränderungen im Innern vor als radikale Umgestaltungen der Außenhülle (wobei auch das alle paar hundert Jahre einmal vorkam). Vielleicht, dachte er flüchtig, hatte es gar nicht mehr die Möglichkeiten, die er sich von ihm erhoffte — doch dann fiel ihm wieder ein, was es Phoenix angetan hatte. Eigentlich konnte man das kaum vergessen, denn der Planet zeigte immer noch überdeutlich die Spuren des Angriffs; mitten auf Resurgams Antlitz prangte eine graue Lotosblüte der Verwüstung.

Im schwarzen Schiffsrumpf hatte sich eine Tür aufgetan. Sie wirkte zunächst viel zu klein, um auch nur einen der Anzüge aufzunehmen, geschweige denn alle fünf, doch aus der Nähe zeigte sich, dass sie mindestens zwanzig Meter breit war und leicht Platz für alle bot. Sylveste, seine Frau und die beiden Ultras — einer trug die verletzte Volyova — schwebten hinein und die Tür schloss sich hinter ihnen.

Sajaki brachte sie in einen Lagerraum, wo sie die Anzüge ablegen und wieder normal atmen konnten. Die Luft hatte einen Beigeschmack, der schlagartig die Erinnerung an seinen letzten Besuch wachrief. Er hatte vergessen, wie das Schiff roch.

»Sie warten hier«, sagte Sajaki, während sich die Anzüge selbsttätig aufrichteten und an eine Wand stellten. »Ich muss mich um meine Kollegin kümmern.«

Er kniete nieder und betastete Volyovas Panzerung. Sylveste wollte ihm schon raten, sich nicht allzu eifrig um Triumvir Volyova zu bemühen, doch dann entschied er sich dagegen. Womöglich hatte er Sajakis Geduld schon zu sehr strapaziert, als er das Cal-Sim zerdrückte. »Was ist da unten eigentlich passiert?«

»Ich weiß es nicht.« Das war typisch für Sajaki. Wie alle wirklich klugen Menschen, die Sylveste jemals kennen gelernt hatte, hätte er niemals vorgegeben, etwas zu begreifen, was ihm unbegreiflich war. »Ich weiß es nicht, und im Augenblick — im Augenblick! — spielt es auch keine Rolle.« Er kontrollierte eine Anzeige an Volyovas Anzug. »Ihre Verletzungen sind zwar schwer, aber offenbar nicht tödlich. Wenn man ihr genügend Zeit lässt, wird sie wieder gesund. Außerdem sind Sie jetzt an Bord. Alles andere ist zweitrangig.« Er wandte sich an die andere Frau, die eben aus ihrem Anzug geschlüpft war, und sah sie mit schief gelegtem Kopf an. »Etwas lässt mir trotzdem keine Ruhe, Khouri…«

»Was?«, fragte sie.

»Spielt keine Rolle… im Moment.« Sein Blick kehrte zu Sylveste zurück. »Übrigens, die Schau, die Sie mit dem Sim abgezogen haben — glauben Sie ja nicht, das hätte mich beeindruckt.«

»Das ist schade. Wie wollen Sie mich jetzt dazu bringen, den Captain zu heilen?«

»Mit Calvins Hilfe natürlich. Wissen Sie nicht mehr, dass ich eine Sicherheitskopie gezogen habe, als Sie damals mit Calvin an Bord waren? Sie mag ein wenig veraltet sein, aber die chirurgischen Fähigkeiten sind unverändert.«

Ein guter Bluff, dachte Sylveste, aber mehr auch nicht. Allerdings existierte tatsächlich so etwas wie eine Sicherheitskopie… sonst hätte er das Sim niemals zerstört.

»Wenn wir schon beim Thema sind… geht es dem Captain wirklich so schlecht, dass er mich nicht persönlich empfangen kann?«

»Sie bekommen ihn schon noch zu sehen«, sagte Sajaki. »Alles zu seiner Zeit.«

Zusammen mit der anderen Frau ging er daran, die beschädigten Teile der Außenhülle von Volyovas Anzug zu entfernen. Es sah aus, als schälten sie eine Krabbe. Irgendwann flüsterte Sajaki der Frau etwas zu, und sie stellten die Arbeit ein. Offenbar war ihnen die Behandlung zu riskant geworden, um sie hier fortzusetzen. Gleich darauf glitten drei Servomaten in den Raum. Zwei der Maschinen hoben Volyova auf und trugen sie hinaus. Sajaki und die Frau begleiteten sie. Sylveste hatte die Frau bei seinem letzten Besuch nicht gesehen, aber sie nahm offenbar einen ziemlich hohen Rang in der Schiffshierarchie ein. Der dritte Servomat ließ sich vor Sylveste und Pascale nieder und bewachte sie mit einem trübe funkelnden Kameraauge.

»Er hat mich nicht einmal aufgefordert, Maske und Schutzbrille abzulegen«, sagte Sylveste. »Dabei müsste er sich doch freuen, mich endlich hier zu haben.«

Pascale nickte. Sie betastete ihre Kleidung, als suche sie nach klebrigen Rückständen des Luftgels. »Was da unten geschehen ist, muss alle seine Pläne über den Haufen geworfen haben. Vielleicht würde er mehr triumphieren, wenn alles nach Plan gegangen wäre.«

»Nicht Sajaki; er ist kein Mensch, der triumphiert. Aber ich hätte wenigstens erwartet, dass er sich ein paar Minuten Schadenfreude gönnt.«

»Vielleicht weil du das Sim zerstört hast…«

»Ja, das hat ihn erschüttert.« Er wusste genau, dass seine Worte höchstwahrscheinlich aufgezeichnet wurden. »Vielleicht ist die Kopie, die er von Cal angefertigt hat, trotz der Selbstzerstörungsprogramme noch in einigen Teilen funktionsfähig, aber das würde für eine Kanalisierung vermutlich nicht ausreichen, nicht einmal bei einer neuralen Eins-zu-eins-Kongruenz zwischen Sim und Empfänger.« Sylveste fand zwei Kisten, die als Sitzgelegenheiten dienen konnten, und zog sie heran. »Aber sie haben sicher längst versucht, das Sim im Körper irgendeines armen Teufels zu aktivieren.«

»Und der Versuch ist gescheitert.«

»Wahrscheinlich auf ziemlich unschöne Weise. Und jetzt hofft Sajaki wohl, dass ich mit der beschädigten Kopie auch ohne Kanalisierung arbeiten kann; nur mit meinen Erinnerungen an Cals Instinkte und Arbeitstechniken.«

Pascale nickte. Sie war klug genug, die naheliegendste Frage nicht zu stellen: welchen Plan Sajaki wohl hätte, wenn seine Kopie nicht einmal dafür mehr zu gebrauchen wäre. Stattdessen sagte sie: »Hast du eine Ahnung, was da unten passiert ist?«

»Nein — und ich glaube, Sajaki hat die Wahrheit gesagt, als er von sich das Gleiche behauptete. Was immer es war, es war nicht geplant. Vielleicht ein Machtkampf innerhalb der Besatzung, der auf dem Planeten ausgetragen wurde, weil die Beteiligten an Bord keine Chance dazu erhielten.« Der Gedanke klang halbwegs einleuchtend, aber er brachte ihn nicht weiter. Selbst innerhalb von Sajakis Bezugsrahmen war zu viel Zeit vergangen und Sylveste konnte seinem sonst so unfehlbaren Blick nicht mehr vertrauen.

Er musste sehr vorsichtig sein, bis er die dynamischen Prozesse in der derzeitigen Besatzung durchschaut hatte. Vorausgesetzt, man gönnte ihm den Luxus, sich so viel Zeit zu lassen…

Pascale kniete neben ihrem Mann nieder. Sie hatten beide die Masken abgelegt, aber nur Pascale hatte die Schutzbrille heruntergenommen. »Wir sind in großer Gefahr, nicht wahr? Wenn Sajaki zu dem Schluss kommt, dass er dich nicht gebrauchen kann…«

»Bringt er uns unversehrt auf den Planeten zurück.« Sylveste nahm Pascales Hände. Ringsum standen Reihen von leeren Raumanzügen wie Mumien in einem ägyptischen Grabmal. Die beiden kamen sich vor wie Plünderer. »Sajaki kann nicht ausschließen, dass ich ihm in Zukunft noch einmal nützlich werden könnte.«

»Hoffentlich hast du Recht… du bist ein großes Risiko eingegangen.« Sie sah ihn mit einem Ausdruck an, den er nur selten bei ihr gesehen hatte. Eine stille, gelassene Warnung. »Du spielst auch mit meinem Leben.«

»Sajaki ist nicht mein Herr, und daran musste ich ihn erinnern. Er muss wissen, dass ich ihm immer einen Schritt voraus bin, auch wenn er noch so klug wird.«

»Aber jetzt bist du in seiner Gewalt, begreifst du das nicht? Mag sein, dass er das Sim nicht hat, aber er hat dich. In meinen Augen ist er dir damit voraus.«

Sylveste lächelte und suchte nach einer Antwort, die zugleich wahr wäre und Sajakis Erwartungen voll und ganz erfüllte. »Aber nicht so weit, wie er glaubt.«

Sajaki und die andere Frau kamen knapp eine Stunde später mit einem hünenhaften Chimären zurück. Sylveste wusste von seinem letzten Besuch, dass das Triumvir Hegazi sein musste, aber er hätte ihn kaum wiedererkannt. Hegazi war immer ein extremes Beispiel seiner Art gewesen — sein Cyborg-Anteil war kaum geringer als der seines Captains —, aber in der Zwischenzeit hatte er seinen menschlichen Kern noch tiefer unter technischen Ergänzungen verborgen, verschiedene prothetische Teile durch neuere oder elegantere Versionen ersetzt und sich ein neues entoptisches Gefolge zugelegt. Die meisten der Figuren interagierten mit seinen Körperteilen, so dass bei jeder Bewegung ein Wasserfall von Geistergliedmaßen in allen Regenbogenfarben in der Luft hing, der erst nach einer Sekunde verblasste. Sajaki trug an Bord schlichte schmucklose Kleidung ohne Rangabzeichen, die seinen zierlichen Körperbau betonte. Aber Sylveste ließ sich nicht verleiten, den Mann zu unterschätzen, nur weil er schmächtig war und nicht mit sichtbaren Waffenprothesen prahlte. Unter seiner Haut summten ohne Zweifel genügend Maschinen, die ihm die Kraft und die Schnelligkeit eines Übermenschen verliehen. Sylveste wusste, dass er mindestens ebenso gefährlich war wie Hegazi und sehr viel schneller.

»Ich will nicht behaupten, es wäre mir ein Vergnügen«, wandte sich Sylveste an Hegazi. »Aber ich gestehe, dass mich ein leichter Schauer der Verwunderung überläuft, wenn ich sehe, dass Sie unter dem Gewicht Ihrer Prothesen noch immer nicht implodiert sind, Triumvir.«

»Ich empfehle Ihnen, das als Kompliment aufzufassen«, sagte Sajaki zu seinem Kollegen. »Mehr als das können sie von Sylveste nicht erwarten.«

Hegazi strich sich den Schnurrbart, den er trotz der ausufernden Schädelprothesen nach wie vor liebevoll pflegte.

»Mal sehen, ob er immer noch zum Scherzen aufgelegt ist, wenn Sie ihm erst den Captain gezeigt haben, Sajaki-san. Wetten, dass ihm der Anblick das Lächeln aus dem Gesicht wischt?«

»Ohne Zweifel«, erwiderte Sajaki. »Und da wir gerade von Gesichtern reden, Dan, könnten Sie uns nicht etwas mehr von dem Ihren zeigen?« Sajaki tastete nach dem Griff der Waffe, die er in einem Halfter an der Hüfte trug.

»Gerne«, sagte Sylveste, nahm sich die Schutzbrille ab und ließ sie klirrend zu Boden fallen. Dabei beobachtete er den Ausdruck — soweit vorhanden — auf den Gesichtern seiner Entführer, die jetzt zum ersten Mal sahen, was mit seinen Augen geschehen war. Auch wenn sie es bereits gewusst hatten, der Anblick von Calvins Werk war ein Schock, der nicht zu unterschätzen war. Sylvestes Augen waren keine elegante Weiterentwicklung der Originale, sondern brutalistische Ersatzorgane, die nur annähernd die Funktion des menschlichen Sehwerkzeugs erfüllten. Sie waren nicht sehr viel besser als ein Holzbein… in alten medizinischen Lehrbüchern fand man fortschrittlichere Beispiele. »Sie wussten natürlich, dass ich das Augenlicht verloren hatte?«, fragte er und musterte einen nach dem anderen mit seinem starren, leeren Blick. »Auf Resurgam ist das allgemein bekannt… man findet es kaum noch der Rede wert.«

»Was für eine Auflösung erreichen Sie mit diesen Dingern?«, fragte Hegazi. Sein Interesse schien aufrichtig. »Ich weiß, sie sind nicht ganz auf dem neuesten Stand, aber ich wette, Sie haben vollen EM-Empfang von Infrarot bis UV, richtig? Vielleicht sogar Akustikabbildung? Wie ist es mit einer Zoomfunktion?«

Sylveste sah den Chimären lange und durchdringend an. Dann antwortete er: »Eines sollten Sie wissen, Triumvir. Ich kann mit Mühe meine Frau erkennen, wenn das Licht günstig ist und sie nicht allzu weit von mir entfernt steht.«

»So gut…« Hegazi sah ihn immer noch fasziniert an.

Sie wurden tiefer ins Schiffsinnere geführt. Beim letzten Mal hatte man Sylveste geradewegs auf die Krankenstation gebracht. Damals war der Captain noch halbwegs mobil gewesen und hatte wenigstens kurze Strecken gehen können. Hier dagegen war Sylveste noch nie gewesen. Das musste allerdings nicht unbedingt heißen, dass die Krankenstation sehr weit entfernt war. Das Schiff war so groß und so verwinkelt wie eine kleine Stadt, und obwohl er damals fast einen ganzen Monat hier verbracht hatte, fand er sich nur schwer zurecht. Aber er spürte, dass er sich auf ganz neuem Terrain befand, dass er Bereiche — Sajaki und die Besatzung sprachen von Zonen — durchquerte, die man ihm noch nie gezeigt hatte. Wenn ihn sein Instinkt nicht trog, dann trug ihn der Fahrstuhl weg vom schlanken Bug des Schiffes, nach unten, wo der konische Rumpf seine größte Breite erreichte.

»Kleinere technische Mängel Ihrer Augen sind weiter kein Problem«, sagte Sajaki. »Die lassen sich leicht beheben.«

»Ohne eine funktionierende Calvin-Version? Das glaube ich nicht.«

»Dann reißen wir Ihnen diese Augen heraus und ersetzen sie durch bessere.«

»Das würde ich nicht tun. Außerdem… hätten Sie Calvin dann immer noch nicht, was würde es Ihnen also nützen?«

Sajaki zischte etwas, und der Fahrstuhl kam langsam zum Stehen. »Sie glauben mir also nicht, dass wir eine Sicherheitskopie besitzen? Nun, Sie haben natürlich Recht. Unsere Kopie hatte einige merkwürdige Fehler. Als wir etwas damit anfangen wollten, war sie längst unbrauchbar geworden.«

»Typisch Software.«

»Ja… vielleicht bringe ich Sie doch noch um.« Er zog mit einer fließenden Bewegung die Waffe so langsam aus dem Halfter, dass Sylveste genug Zeit hatte, die Bronzeschlange zu bewundern, die sich um den Lauf wand. Nach welchem Prinzip die Waffe funktionierte, war nicht erkennbar; es hätte eine Strahlen- oder eine Projektilpistole sein können, aber Sylveste zweifelte nicht daran, dass sie ihn auf diese Entfernung jederzeit töten konnte.

»Sie haben so lange nach mir gesucht, dass Sie mich jetzt bestimmt nicht erschießen werden.«

Sajakis Finger spannte sich um den Abzug. »Sie unterschätzen mich, ich neige dazu, meinen Launen nachzugeben, Dan. Ich könnte Sie allein deshalb töten, weil es eine Tat von geradezu kosmischer Sinnlosigkeit wäre.«

»Dann müssten Sie sich jemand anderen suchen, der Ihren Captain heilt.«

»Was hätte ich verloren?« Unter dem Schlangenmaul wechselte ein Statuslämpchen von Grün auf Rot. Sajakis Finger wurde weiß.

»Warten Sie«, sagte Sylveste. »Sie brauchen mich nicht zu töten. Glauben Sie wirklich, ich hätte die einzige Kopie von Cal vernichtet, die noch existiert?«

Sajaki war sichtlich erleichtert. »Es gibt noch eine?«

»Ja.« Sylveste nickte seiner Frau zu. »Und sie weiß, wo sie zu finden ist. Nicht wahr, Pascale?«

Einige Stunden später sagte Cal: »Ich habe schon immer gewusst, dass du kaltschnäuzig und berechnend bist, Sohn, ein Dreckskerl, wie er im Buche steht.«

Sie waren dem Captain ganz nahe. Sajaki war mit Pascale weggegangen, aber jetzt war sie wieder da — zusammen mit allen anderen Besatzungsmitgliedern, die Sylveste bekannt waren, und der Erscheinung, die er niemals hatte Wiedersehen wollen. »Ein unerträglich heimtückisches… Nichts.« Die Erscheinung sprach so ruhig und ohne jegliche Emotion wie ein Schauspieler, der seinen Text nur durchgeht, um zu messen, wie lange er dafür braucht. »Eine hirnlose Ratte.«

»Vom Nichts zur Ratte?«, fragte Sylveste. »Aus einer bestimmten Sicht könnte man das fast als Fortschritt betrachten.«

»Glaube das ja nicht, Sohn«, höhnte Calvin und beugte sich auf seinem Lehnstuhl vor. »Du hältst dich für unglaublich schlau, nicht wahr? Aber jetzt habe ich dich an den Eiern, falls du überhaupt welche besitzt. Man hat mir erzählt, was du getan hast. Wie du mich, nur um ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen, einfach umgebracht hast.« Er hob den Blick zur Decke. »Was für eine klägliche Rechtfertigung für Vatermord! Ich hätte zumindest gehofft, du würdest mich aus einem halbwegs ehrenwerten Grund töten. Aber nein, das war wohl zu viel verlangt. Ich wäre fast enttäuscht von dir, wenn das nicht hieße, ich hätte einmal höhere Erwartungen in dich gesetzt.«

»Wenn ich dich tatsächlich getötet hätte«, sagte Sylveste, »würde uns dieses Gespräch vor gewisse ontologische Probleme stellen. Außerdem habe ich immer gewusst, dass noch eine Kopie von dir existierte.«

»Aber du hast eins von meinen Ichs ermordet!«

»Bedauere, das ist ein klassischer Kategorisierungsfehler. Du bist nur Software, Cal. Kopiert und gelöscht zu werden ist deine natürliche Existenzform.« Sylveste war auf weitere Proteste gefasst, aber Cal schwieg. »Im Übrigen stimmt es nicht, dass ich Sajaki einen Strich durch die Rechnung machen wollte. Ich brauche seine… Kooperation nicht weniger als er die meine.«

»Meine Kooperation?« Der Triumvir kniff die Augen zusammen.

»Wir kommen noch dazu. Ich will nur sagen, als ich die Kopie zerstörte, wusste ich, dass eine andere existierte und dass Sie mich bald zwingen würden, ihr Versteck zu verraten.«

»Also eine völlig sinnlose Tat?«

»Keineswegs. Ich durfte für eine Weile beobachten, wie Sie Ihre Felle davonschwimmen sahen, Yuuji-san. Ich habe einen Blick in Ihre Seele getan und dafür hat sich das Risiko gelohnt. Es war kein schöner Anblick, wenn ich das sagen darf.«

»Woher… wusstest du?«, fragte Cal. »Woher wusstest du, dass ich kopiert worden war?«

»Ich dachte, er wäre nicht zu kopieren«, sagte die Frau, die man ihm als Khouri vorgestellt hatte. Sie war klein und flink und möglicherweise war ihr ähnlich wie Sajaki nicht ganz zu trauen. »Ich dachte, die Sims hätten Spoiler… Kopierschutz… was es eben so gibt.«

»Das sind die Alpha-Simulationen, meine Liebe«, erklärte Calvin. »Und eine solche bin ich nicht — wie man dazu auch stehen mag. Nein, ich bin nur ein einfaches Beta-Sim, das allen Turing-Standards gerecht wird, aber — philosophisch betrachtet — kein Bewusstsein besitzt. Deshalb wirft es auch keine ethischen Probleme auf, wenn es mich mehr als einmal gibt. Allerdings…« — er holte tief Atem und füllte das Schweigen, das andere vielleicht gern zum Nachdenken genützt hätten — »glaube ich nicht mehr an diesen neuro-kognitiven Quatsch. Ich kann nicht für mein Alpha-Sim sprechen, das vor etwa zweihundert Jahren verschwunden ist, aber ich bin jetzt bei vollem Bewusstsein, wie das auch zugegangen sein mag. Vielleicht gilt das für alle Beta-Sims, vielleicht hat die Komplexität meiner Vernetzung irgendwann eine kritische Grenze überschritten.

Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich denke, und deshalb bin ich außer mir vor Zorn.«

Sylveste hörte das alles nicht zum ersten Mal. »Er ist ein Turing-kompatibles Beta-Sim. Deshalb muss er so reden. Wenn er nicht behaupten würde, bei Bewusstsein zu sein, fiele er automatisch hinter die Turing-Standards zurück. Aber das heißt nicht, dass das, was er sagt — die Geräusche, die er… die es… von sich gibt, irgendeine Berechtigung hätten.«

»Die gleiche Argumentation könnte ich auf dich anwenden, mein lieber Sohn«, sagte Calvin. »Und sie führt letztlich nur zu einer Schlussfolgerung: Da ich über das Alpha nichts weiß, muss ich davon ausgehen, dass es nur noch mich gibt. Auch wenn du es nicht einsehen willst, mein Wert beruht auf meiner Einmaligkeit, und deshalb muss ich mich aufs Schärfste dagegen verwahren, dass man Kopien von mir anfertigt. Jede Kopie mindert meinen Wert. Sie gibt mir den Status einer Ware, eines Produkts, das jedermann herstellen, vervielfältigen und wieder entsorgen kann, wie es seinen kleinlichen Bedürfnissen entspricht.« Er hielt inne. »Also — ich würde nicht sagen, dass ich nichts unternehmen würde, um meine Überlebenschancen zu erhöhen — aber ich hätte niemals eingewilligt, mich kopieren zu lassen.«

»Aber genau das hast du getan. Du hast Pascale erlaubt, dich für Abstieg in die Finsternis zu kopieren.« Sie war dabei so geschickt vorgegangen, dass er jahrelang nichts geahnt hatte. Er hatte erlaubt, dass Calvin ihr bei der Erstellung der Biografie behilflich war. Dafür hatte sie ihm seinen Herzenswunsch erfüllt und ihm ermöglicht, sich weiter mit den Amarantin zu beschäftigen, auf die Forschungsergebnisse zuzugreifen und Verbindung zu der ständig schwindenden Gruppe seiner Anhänger zu halten.

»Es war seine Idee«, sagte Pascale.

»Ja… das gebe ich zu.« Cal holte tief Luft und schien zu überlegen, obwohl die Calvin-Simulation sehr viel schneller ›denken‹ konnte als jeder naturbelassene Mensch. »Die Zeiten waren gefährlich — natürlich nicht schlimmer als jetzt, soweit ich seit meiner Erweckung feststellen konnte —, aber doch recht unsicher. Deshalb wollte ich vorsichtshalber dafür sorgen, dass ein Teil von mir die Zerstörung des Originals überlebte. Ich dachte dabei allerdings nicht an eine Kopie — eher an eine Skizze, ein Konterfei, das vielleicht nicht einmal vollständig Turing-kompatibel zu sein brauchte.«

»Und warum hast du deine Meinung geändert?«

»Pascale baute Teile von mir in einen bestimmten Zeitraum der Biografie ein — es ging um einige Monate. Sie wählte ein raffiniertes Codierungsverfahren. Aber als sie so viel vom Original kopiert hatte, dass die Teile in Interaktion treten konnten, waren sie — oder vielmehr ich — nicht mehr so angetan von der Vorstellung, cybernetischen Selbstmord zu begehen, nur um Recht zu behalten. Tatsächlich fühlte ich mich lebendiger — war ich mehr ich selbst — als je zuvor.« Er schenkte seinem Publikum ein Lächeln. »Natürlich wurde mir bald klar, woher das kam. Pascale hatte mich in ein leistungsfähigeres Computersystem kopiert, in das Rechenzentrum der Regierung in Cuvier, wo Abstieg zusammengestellt wurde. Das System war an mehr Archive und Netzwerke angeschlossen, als du selbst mir damals in Mantell je zugestanden hattest. Ich hatte zum ersten Mal etwas gefunden, mit dem sich mein überragender Verstand sinnvoll beschäftigen konnte.« Er sah allen tief in die Augen und fügte dann ganz leise hinzu: »Das war übrigens ein Scherz.«

»Exemplare der Biografie waren überall erhältlich«, fuhr Pascale fort. »Sajaki hatte bereits eins erworben, ohne zu ahnen, dass es eine Version von Calvin enthielt. Aber wie hast du es eigentlich herausgefunden?« Jetzt sah sie Sylveste an. »Hat Cals kopierte Version es dir verraten?«

»Nein, und ich bin nicht einmal sicher, ob er das gewollt hätte, selbst wenn es möglich gewesen wäre. Ich bin selbst dahinter gekommen. Die Biografie war zu umfangreich für die darin enthaltene Menge an Simulationsdaten. Oh, ich weiß, du bist sehr umsichtig vorgegangen — du hast Cal mit möglichst niederwertigen Bits verschlüsselt und in die Dateien eingefügt — aber es war einfach zu viel von ihm da, das ließ sich nicht so einfach verstecken. Abstieg war fünfzehn Prozent zu lang. In den ersten Monaten dachte ich, du hättest eine ganze Schicht von geheimen Szenarien darin versteckt, Teile meines Lebens, die du eingefügt hattest, obwohl sie nicht zur Dokumentation freigegeben waren, damit jeder, der hartnäckig genug suchte, sie auch finden konnte. Aber dann fiel mir auf, dass die Überkapazitäten gerade groß genug waren für eine Kopie von Cal, und das passte ins Bild. Ganz sicher war ich natürlich nie…« Er sah die Projektion an. »Du würdest vermutlich behaupten, du seiest der echte Cal und ich hätte nur die Kopie gelöscht?«

Cal hob streitlustig die Hand. »Nein; das wäre viel zu stark vereinfacht. Immerhin war ich einmal diese Kopie. Aber was ich damals war — und was die Kopie auch blieb, bis du sie zerstört hast — war nur ein Schatten dessen, was ich jetzt bin. Sagen wir doch einfach, ich hätte eine Erleuchtung gehabt, und belassen wir es dabei.«

»Aha…« Sylveste trat vor und klopfte sich nachdenklich mit dem Finger an die Unterlippe. »In diesem Fall hätte ich dich aber nicht wirklich getötet?«

»Nein«, gestand Calvin mit falscher Freundlichkeit. »Du hast mich nicht getötet. Aber es hätte sein können, und nur darauf kommt es an. Aus dieser Sicht, mein lieber Junge, bist du leider immer noch ein ruchloser Vatermörder.«

»Ist das nicht rührend?«, fragte Hegazi. »Es geht doch nichts über ein schönes, altmodisches Familientreffen.«


Sie setzten den Weg zum Captain fort. Khouri war nicht zum ersten Mal hier unten und schon ein wenig mit der Umgebung vertraut, aber sie fühlte sich trotzdem unwohl; die infektiöse Masse, die ihren Kälteschlaf tank jederzeit sprengen konnte, drängte sich unaufhaltsam in ihr Bewusstsein.

»Allmählich sollte ich doch erfahren, was Sie eigentlich von mir wollen«, sagte Sylveste.

»Versteht sich das nicht von selbst?«, fragte Sajaki. »Oder glauben Sie, wir hätten Sie so unerbittlich verfolgt, um uns nach Ihrem Befinden zu erkundigen?«

»Zuzutrauen wäre es Ihnen«, sagte Sylveste. »Ihr Verhalten war schon damals unberechenbar, warum sollte es jetzt anders sein? Und außerdem, tun wir doch nicht so, als ob da unten wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen wäre.«

»Was soll das heißen?«, fragte Khouri.

»Nun sagen Sie bloß nicht, Sie sind noch immer nicht dahinter gekommen.«

»Wovon reden Sie?«

»Es ist nicht wirklich passiert.« Sylveste musterte sie mit seinen leeren Augen; sie kam sich vor wie unter dem prüfenden Blick eines automatischen Kontrollsystems. »Vielleicht auch nicht«, fuhr er fort. »Vielleicht sind Sie tatsächlich ahnungslos. Wer sind Sie überhaupt?«

»Sie werden noch genügend Zeit haben, um alle Fragen zu stellen, die Ihnen am Herzen liegen«, sagte Hegazi. Sie waren jetzt nur noch einen Steinwurf vom Captain entfernt und das machte den Chimären nervös.

»Nein«, sagte Khouri. »Ich will es jetzt wissen. Was meinen Sie mit ›Es ist nicht wirklich passiert‹?«

»Ich spreche von der Siedlung«, sagte Sylveste langsam und ruhig, »die Volyova so einfach ausradiert hat.«

Khouri überholte die Prozession und versperrte ihr den Weg. »Das müssen Sie mir erklären.«

»Das hat Zeit«, sagte Sajaki und trat vor, um sie beiseite zu schieben. »Jedenfalls so lange, bis Sie mir Ihre Rolle in dem Spiel zu meiner vollen Zufriedenheit erklärt haben, Khouri.« Der Triumvir beäugte sie schon seit längerem mit tiefem Misstrauen. Zwei Todesfälle in ihrem Beisein konnte in seinen Augen kein Zufall mehr sein. Volyova war außer Gefecht gesetzt — und die Mademoiselle schwieg. Damit war niemand mehr da, der sie beschützt hätte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis Sajakis Misstrauen die Oberhand gewann und er drastische Maßnahmen ergriff.

Aber Sylveste widersprach: »Nein. Warum nicht gleich? Ich finde, jeder hier sollte wissen, was gespielt wird. Sajaki; Sie waren nicht nur auf Resurgam, um sich ein Exemplar der Biografie zu besorgen, nicht wahr? Wozu denn auch? Bevor ich es Ihnen sagte, wussten Sie ja gar nicht, dass Abstieg eine Kopie von Cal enthielt. Sie dachten nur, die Biografie könnte sich bei den Verhandlungen mit mir als nützlich erweisen. Aber sie war nicht der Grund für Ihren Aufenthalt auf dem Planeten. Sie hatten ganz andere Absichten.«

»Ich wollte auch Informationen sammeln«, sagte Sajaki vorsichtig.

»Mehr als das. Gewiss, Sie waren auf der Suche nach Informationen. Aber Sie wollten auch Informationen einschleusen.«

»Über Phoenix?«, fragte Khouri.

»Nicht nur über den Ort selbst. Den hat es nie gegeben.« Sylveste legte eine dramatische Pause ein, dann fuhr er fort. »Phoenix war eine Geisterstadt, eine Erfindung von Sajaki. Es war nicht einmal auf den alten Karten in Mantell verzeichnet, es tauchte erst auf, als wir sie nach den Originalen in Cuvier aktualisierten. Daraufhin gingen wir einfach davon aus, dass es sich um eine neue Siedlung handelte, die auf den früheren Karten noch nicht eingetragen war. Das war natürlich dumm — ich hätte das Manöver gleich durchschauen müssen. Aber wir konnten uns nicht vorstellen, dass jemand die Originale manipuliert hatte.«

»Das war die nächste Dummheit«, sagte Sajaki. »Außerdem mussten Sie sich doch fragen, wo ich war.«

»Wenn ich etwas länger darüber nachgedacht hätte…«

»Aber das haben Sie leider nicht getan«, versetzte Sajaki. »Sonst fände dieses Gespräch womöglich gar nicht statt. Allerdings hätten wir dann andere Mittel eingesetzt, um Sie in unsere Gewalt zu bringen.«

Sylveste nickte. »Ihr nächster Schritt wäre folgerichtig die Zerstörung eines größeren fiktiven Ziels gewesen. Aber ich bin mir nicht sicher, ob der gleiche Trick zwei Mal funktioniert hätte. Ich vermute stark, dass Sie am Ende um einen echten Angriff nicht herumgekommen wären.«


Die Kälte war wie Stahl, wie tausend Stacheldrahtspitzen, die über die Haut kratzten und sich bei jeder Bewegung ins Fleisch zu bohren drohten. Aber davon bemerkte man nichts mehr, sobald man sich endgültig im Einflussbereich des Captains befand, denn die Kälte, die ihn umfangen hielt, war noch viel intensiver.

»Er ist krank«, sagte Sajaki. »Eine Abart der Schmelzseuche. Sie wissen darüber sicher Bescheid.«

Sylveste nickte. »Wir haben Berichte von Yellowstone erhalten«, erklärte er. »Wobei ich nicht sagen kann, dass sie besonders ausführlich gewesen wären.« Er hatte es die ganze Zeit vermieden, den Captain direkt anzusehen.

»Wir können sie nicht eindämmen«, erklärte Hegazi. »Jedenfalls nicht wirksam. Durch extreme Kälte lässt sich die Ausbreitung etwas bremsen, aber das ist auch alles. Die Seuche — oder der Captain — dehnt sich langsam immer weiter aus, greift auf die Schiffsmaterie über und verwandelt sie nach ihren eigenen Bauplänen.«

»Dann ist er, jedenfalls im biologischen Sinn, noch am Leben?«

Sajaki nickte. »Natürlich kann man bei diesen Temperaturen nicht wirklich von organischem Leben sprechen. Aber wenn wir den Captain jetzt aufwärmen würden… wäre er in Teilen funktionsfähig.«

»Das klingt nicht sehr ermutigend.«

»Ich habe Sie nicht an Bord geholt, um Sie aufzumuntern, sondern damit Sie ihn heilen.«

Der Captain sah aus wie eine Statue, die in ein Netz von Silberfäden eingesponnen war. Die Ausläufer des unheimlichen biochimärischen Tumors erstreckten sich wunderschön glänzend viele Meter weit nach allen Seiten. Der Kälteschlaftank im Herzen der Eisexplosion funktionierte noch immer — ein Wunder der Technik, vielleicht auch nur Zufall. Aber seine einstmals symmetrische Form war durch die gletscherartig langsam, aber unaufhaltsam weiterwandernden Massen des Captains verzerrt und verschoben worden. Die meisten Statusanzeigen waren tot; keine entoptischen Figuren schwebten in der Luft. Einige der Anzeigen, die noch in Betrieb waren, lieferten unleserlichen Zeichensalat, sinnlose Hieroglyphen einer senilen Maschine. Khouri war froh, dass keine entoptischen Figuren mehr erzeugt wurden. Sie wären vermutlich ebenfalls krank gewesen; Scharen von boshaft feixenden Seraphim oder missgebildeten Cherubim, die das fortgeschrittene Stadium der Krankheit des Captains symbolisierten.

»Hier kann kein Chirurg mehr helfen«, sagte Sylveste. »Sie brauchen einen Priester.«

»Calvin war anderer Meinung«, widersprach Sajaki. »Er konnte es kaum erwarten, mit der Arbeit anzufangen.«

»Dann leidet die Kopie, die Sie in Cuvier gekauft haben, unter Größenwahn. Ihr Captain ist nicht krank. Er ist nicht einmal tot, denn es ist kaum noch etwas von ihm übrig, was jemals gelebt hat.«

»Trotz alledem«, sagte Sajaki, »werden Sie uns helfen. Ilia kann Sie unterstützen — sobald sie wieder gesund ist. Sie glaubt, ein Mittel gegen die Seuche entwickelt zu haben — ein Retrovirus. Soviel ich weiß, wirkt es bei kleinen Proben. Aber ihr Spezialgebiet sind Waffen und die Verabreichung des Virus gehört in den Bereich der Medizin. Immerhin wäre damit ein Werkzeug vorhanden.«

Sylveste schenkte Sajaki ein Lächeln. »Sie haben das sicher mit Calvin besprochen.«

»Sagen wir, er wurde informiert. Er ist bereit, es auszuprobieren — er meint, es könnte sogar funktionieren. Macht Ihnen das Mut?«

»Ich unterwerfe mich Calvins Urteil«, antwortete Sylveste. »Er ist schließlich der Mediziner von uns beiden. Aber bevor ich mich zu irgendetwas verpflichte, müssen wir die Bedingungen aushandeln.«

»Es gibt keine Bedingungen«, sagte Sajaki. »Und wenn Sie nicht mitspielen, werden wir Mittel und Wege finden, Sie über Pascale unter Druck zu setzen.«

»Das würden Sie wahrscheinlich bereuen.«

Khouri spürte zum zehnten Mal an diesem Tag ein Kribbeln im Nacken. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht. Auch den anderen war es aufgefallen, aber sie ließen sich nichts anmerken. Sylvestes Auftreten war zu selbstbewusst, das war es wohl. Zu selbstbewusst für jemanden, der eben entführt worden war und sich bald einer qualvollen Prozedur unterziehen sollte. Er benahm sich eher wie ein Spieler, der gleich sein Blatt aufdecken und die Partie gewinnen würde.

»Ich werde Ihren verdammten Captain heilen«, sagte Sylveste. »Oder zumindest den Beweis antreten, dass eine Heilung nicht möglich ist — eins von beiden. Aber dafür müssen Sie mir einen kleinen Gefallen tun.«

»Verzeihung«, sagte Hegazi, »aber wenn man in einer so schwachen Position ist, verlangt man keine Gegenleistungen.«

»Wer redet denn von Schwäche?« Wieder lächelte Sylveste, diesmal mit unverhohlener Bosheit und einer Schadenfreude, die bedrohlich wirkte. »Bevor ich Mantell verließ, taten mir meine Aufseher einen letzten kleinen Gefallen. Ich glaube nicht, dass sie unbedingt das Gefühl hatten, mir das schuldig zu sein. Aber es war für sie nur eine Kleinigkeit, und die Vorstellung, Ihnen damit eins auszuwischen, hatte wohl einen unwiderstehlichen Reiz. Sie selbst mussten wohl oder übel auf mich verzichten — aber Sie sollten auch nicht ganz das bekommen, was Sie glaubten.«

»Das gefällt mir gar nicht«, sagte Hegazi.

»Glauben Sie mir«, sagte Sylveste, »es wird Ihnen gleich noch viel weniger gefallen. Also: zunächst eine Frage, nur damit jedem klar ist, wo wir stehen.«

»Nur zu«, sagte Sajaki.

»›Heißer Staub‹ ist Ihnen allen ein Begriff?«

»Sie haben es mit Ultras zu tun«, sagte Hegazi.

»Natürlich. Ich wollte nur ganz sicher gehen, dass Sie sich keine Illusionen machten. Sie werden auch wissen, dass Fragmente von heißem Staub in Behältern aufbewahrt werden können, die kleiner sind als Stecknadelköpfe? Selbstverständlich wissen Sie das.« Er klopfte sich mit dem Finger gegen das Kinn und dozierte wie ein ausgebildeter Anwalt. »Sie haben natürlich von Remilliod gehört? Sein Lichtschiff hatte als letztes vor Ihnen das Resurgam-System besucht und mit der Kolonie Handel getrieben.«

»Davon haben wir gehört.«

»Nun, dieser Remilliod hat uns heißen Staub verkauft. Keine großen Mengen; nur so viel, wie eine Kolonie braucht, die in naher Zukunft die Planetenlandschaft in größerem Ausmaß umgestalten möchte. Ein knappes Dutzend Proben fiel den Leuten in die Hände, die mich gefangen genommen hatten. Muss ich noch weiter sprechen, oder sind Sie mir bereits vorausgeeilt?«

»Ich fürchte ja«, sagte Sajaki. »Fahren Sie trotzdem fort.«

»Einer dieser Stecknadelköpfe wurde in das optische System integriert, das Cal für mich angefertigt hat. Es braucht keinen Strom, und selbst wenn Sie meine Augen auseinander nähmen, könnten Sie nicht feststellen, welcher Bestandteil die Bombe ist. Aber das sollten Sie lieber nicht ausprobieren, denn sobald sich jemand daran zu schaffen macht, wird die Bombe gezündet. Ihre Sprengkraft reicht aus, um den vorderen Kilometer dieses Schiffs in eine sehr teure, aber völlig nutzlose Glasskulptur zu verwandeln. Wenn Sie mich töten oder so schwer verletzen, dass gewisse Körperfunktionen über ein festgesetztes Maß hinaus eingeschränkt werden, geht das Ding hoch. So weit klar?«

»Kristallklar.«

»Gut. Wenn Sie sich an Pascale vergreifen, geschieht das Gleiche: ich kann die Bombe auch gezielt mit einer Folge von Neuralbefehlen auslösen. Natürlich könnte ich auch einfach Selbstmord begehen — das würde am Ausgang nichts ändern.« Er faltete die Hände und strahlte wie eine Buddhastatue. »Und wie wäre es jetzt mit Verhandlungen?«

Sajaki schwieg sehr lange. Sicher überdachte er Sylvestes Worte in allen ihren Konsequenzen. Endlich sagte er, ohne sich mit Hegazi abgesprochen zu haben: »Wir sind durchaus… flexibel.«

»Gut. Dann möchten Sie jetzt sicher meine Bedingungen hören.«

»Wir zittern vor Ungeduld.«

»Dank der jüngsten Misshelligkeiten«, sagte Sylveste, »kann ich ziemlich gut einschätzen, wozu Ihr Schiff imstande ist. Und die kleine Machtdemonstration war wohl eher ein schüchterner Anfang. Habe ich Recht?«

»Wir verfügen über gewisse… Kapazitäten, aber darüber müssten Sie mit Ilia sprechen. Woran hatten Sie denn gedacht?«

Sylveste lächelte.

»Zunächst sollten Sie mich an einen anderen Ort fliegen.«

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