Neun

Mantell, Nord-Nekhebet,

Resurgam

2566


»Tut mir Leid wegen der Augen«, sagte eine Stimme, nachdem er eine Ewigkeit lang qualvoll herumgeschüttelt worden war.

Sylveste war zunächst verwirrt und hatte Mühe, die Ereignisse in die richtige Reihenfolge zu bringen. Irgendwo in der jüngsten Vergangenheit lagen die Hochzeit, die Morde, die Flucht ins Labyrinth und das Beruhigungsgas, aber das ging alles durcheinander. Es war, als sollte er aus einer Hand voll nicht nummerierter Fragmente eine Biografie zusammenstellen, eine Biografie aus Einzelepisoden, die ihm aufreizend bekannt vorkamen.

Der unglaubliche Schmerz in seinem Kopf, als der Mann die Waffe auf ihn richtete…

Er war blind.

Die Welt war verschwunden, ersetzt durch ein starres, graues Mosaik: das Bild, das seine Augen nach einer Notabschaltung zeigten. Calvins Werk war schwer beschädigt worden. Die Augen hatten nicht nur abgeschaltet, sie waren zerstört.

»Es war besser für Sie, uns nicht zu sehen.« Die Stimme war jetzt ganz nahe. »Wir hätten Ihnen die Augen verbinden können, aber wir wussten nicht genau, wozu diese kleinen Wunderwerke fähig waren. Vielleicht hätten sie durch jeden Stoff hindurchsehen können. So war es einfacher. Ein konzentrierter EMP… wahrscheinlich nicht ganz schmerzlos. Hat ein paar Schaltkreise geschrottet. Tut mir Leid.«

Die Stimme verriet keine Spur von Bedauern.

»Was ist mit meiner Frau?«

»Girardieus Kleine? Ihr fehlt nichts. Bei ihr waren keine derart drastischen Maßnahmen erforderlich.«

Vielleicht weil er blind war, registrierte Sylveste alle Bewegungen in seiner Umgebung sehr genau. Sie befanden sich vermutlich in einem Flugzeug und schlängelten sich durch Schluchten und Täler, um den Staubstürmen auszuweichen. Wem mochte das Flugzeug gehören? Wer war an der Macht? War Cuvier noch immer in der Hand von Girardieus Regierungstruppen oder hatte der Aufstand des Wahren Weges die ganze Kolonie erfasst? Keine der beiden Möglichkeiten sagte ihm sonderlich zu. Mit Girardieu hätte er ein Bündnis eingehen können, aber der war jetzt tot, und Sylveste war im Machtgefüge der Fluter von jeher ziemlich unbeliebt gewesen. Eine Reihe von Leuten hatte es Girardieu verübelt, dass er ihn nach dem ersten Umsturz am Leben gelassen hatte.

Immerhin, er war noch am Leben. Und blind war er nicht zum ersten Mal. Der Zustand war ihm nicht fremd; er wusste, dass er damit fertig werden konnte.

»Wohin fliegen wir?«, fragte er. Sie hatten ihm enge Fesseln angelegt, die ihm das Blut abschnürten. »Zurück nach Cuvier?«

»Und wenn schon?«, fragte die Stimme. »Wundert mich, dass Sie es so eilig haben, dorthin zu kommen.«

Das Flugzeug schwankte hin und her, dass einem übel werden konnte, und wurde auf und ab geschleudert wie ein Ruderboot auf stürmischer See. Sylveste stellte sich eine Karte der Canyon-Systeme um Cuvier vor und versuchte, die Flugbewegungen damit zu koordinieren, aber das war aussichtslos. Wahrscheinlich war er näher an der vergrabenen Amarantin-Stadt als an zu Hause, aber ebenso gut konnte er inzwischen auch an jedem anderen Punkt des Planeten sein.

»Sind Sie…?« Sylveste zögerte. Sollte er so tun, als sei er im Unklaren über seine Lage? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Dazu brauchte er nicht zu schauspielern. »Gehören Sie zu den Flutern?«

»Was glauben Sie denn?«

»Ich glaube, Sie sind vom Wahren Weg.«

»Eine Runde Applaus für den Mann.«

»Und Sie haben die Macht übernommen?«

»Alles hört auf unser Kommando.« Das klang recht großspurig, aber Sylveste war das kurze Zögern nicht entgangen. Ganz sicher ist er sich nicht, dachte er. Wahrscheinlich wussten sie nicht genau, wie weit ihr Einfluss tatsächlich reichte. Vielleicht hatte der Mann ja sogar Recht, aber vermutlich waren die Nachrichtenverbindungen auf dem Planeten schwer beschädigt, und deshalb konnte er nicht sicher sein. Er konnte sich nicht vergewissern, ob sie wirklich alles unter Kontrolle hatten. Leicht möglich, dass die Hauptstadt noch von Girardieu-Treuen oder von einer ganz anderen Gruppe besetzt war. Seine Bewacher konnten eigentlich nur in gutem Glauben handeln und hoffen, dass auch ihre Verbündeten gesiegt hatten. Was natürlich durchaus möglich war.


Jemand zog ihm die Maske über das Gesicht. Die harten Kanten schnitten ihm in die Haut, aber das war erträglich, nicht mehr als eine kleine zusätzliche Unannehmlichkeit neben den ständigen Schmerzen in seinen zerstörten Augen.

Mit der Maske zu atmen war ziemlich mühsam. Er musste sich anstrengen, um die Luft durch den Staubabscheider in der Düse zu saugen. Von jetzt an kamen zwei Drittel des Sauerstoffs in seinen Lungen aus der Atmosphäre von Resurgam und das letzte Drittel aus einem Druckbehälter unter dem Rüssel. Diese Luft war mit so viel Kohlendioxid versetzt, dass sie den Atemreflex seines Körpers auslöste.

Er hatte kaum gespürt, wie das Flugzeug aufsetzte — erst als die Tür geöffnet wurde, war er ganz sicher, dass sie irgendwo gelandet waren. Sein Bewacher löste ihm die Fesseln und schob ihn energisch zum Ausgang, wo ihn Wind und Kälte erwarteten.

War es da draußen Tag oder Nacht?

Er hatte keine Ahnung; keine Möglichkeit, es festzustellen.

»Wo sind wir?«, rief er. Die Maske dämpfte seine Stimme, er hörte sich an wie ein Schwachsinniger.

»Wozu wollen Sie das wissen?« Die Stimme des Wärters klang nicht verzerrt. Sylveste begriff, dass er ohne Maske atmete. »Selbst wenn die Stadt zu Fuß zu erreichen wäre — was sie nicht ist — Sie könnten nicht einmal so weit laufen, wie Sie von hier aus spucken können, ohne sich umzubringen.«

»Ich will mit meiner Frau sprechen.«

Der Bewacher packte seinen Arm und verdrehte ihn nach hinten, bis Sylveste fürchtete, er würde aus dem Gelenk springen. Er stolperte, aber der Mann ließ ihn nicht los. »Sie können mit ihr sprechen, wenn wir es Ihnen erlauben. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass es ihr gut geht? Trauen Sie mir etwa nicht?«

»Ich habe mit angesehen, wie Sie meinen Schwiegervater getötet haben. Also was meinen Sie?«

»Ich meine, Sie sollten sich jetzt schön ducken.«

Jemand drückte ihn nach unten, in Deckung. Der Wind heulte ihm nicht mehr in den Ohren; die Stimmen hatten plötzlich ein Echo. Hinter ihm fiel eine druckfeste Tür ins Schloss. Der Sturm verstummte jäh. Trotz seiner Blindheit spürte er, dass Pascale nicht in seiner Nähe war. Hoffentlich bedeutete das nur, dass man sie getrennt von ihm ans Ziel brachte und dass seine Bewacher nicht logen, wenn sie sagten, sie sei in Sicherheit.

Jemand riss ihm die Maske ab.

Nun folgte ein Gewaltmarsch durch enge Gänge, wo man mit den Schultern anstieß und es durchdringend nach Desinfektionsmitteln roch. Mit Hilfe seines Begleiters stieg er klappernde Treppen hinunter und fuhr zwei Mal mit einem schwankenden Fahrstuhl in eine Tiefe, die er nicht schätzen konnte. Als sie ausstiegen, betraten sie ein unterirdisches Gewölbe, wo jeder Laut widerhallte. Ein Luftzug war zu spüren, es roch nach Metall. Durch ein undichtes Belüftungsrohr drang das Kreischen des Windes. Dazwischen hörte Sylveste Stimmen und glaubte auch bestimmte Satzmelodien zu erkennen, verstand aber kein einziges Wort.

Endlich gelangten sie in einen Raum.

Sylveste war sicher, dass die Wände weiß gestrichen waren. Die Leere des Würfels drohte ihn förmlich zu erdrücken.

Jemand trat zu ihm, jemand, dessen Atem nach Kohl roch. Finger strichen zart über sein Gesicht. Sie waren mit einer glatten Schicht überzogen und rochen schwach nach Desinfektionsmittel. Die Finger berührten seine Augen und beklopften die Facetten mit einem harten Gegenstand.

Jeder Schlag löste hinter seinen Schläfen eine kleine Schmerznova aus.

»Die Augen werden erst repariert, wenn ich es sage«, erklärte eine Stimme. Er kannte diese Stimme, dessen war er vollkommen sicher. Sie gehörte einer Frau, obwohl sie in ihrer kehligen Heiserkeit fast männlich klang. »Vorerst bleibt er blind.«

Schritte entfernten sich; die Sprecherin hatte seinen Bewacher wohl mit einer stummen Geste entlassen. Sylveste war allein. Nun gab es nichts mehr, woran er sich orientieren konnte. Er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor. Ganz gleich, wie er sich bewegte, die graue Matrix veränderte sich nicht. Die Knie wurden ihm weich, aber es gab nichts, woran er sich festhalten konnte. Er wusste nicht einmal, ob er nicht zehn Stockwerke hoch auf einer Holzplanke stand.

Er begann zu schwanken und zappelte kläglich mit den Armen.

Jemand fasste ihn am Ellbogen und gab ihm Halt. Er hörte ein pulsierendes Schnarren, als fräße sich eine Säge durch Holz.

Sein Atem.

Ein feuchtes Schmatzen — sie hatte wieder den Mund geöffnet. Jetzt lächelte sie wohl zufrieden in sich hinein.

»Wer sind Sie?«, fragte er.

»Sie sind doch ein Dreckskerl. Sogar meine Stimme haben Sie vergessen.«

Die Finger gruben sich in seinen Unterarm, fanden zuverlässig die Nervenstränge und drückten genau an den richtigen Stellen zu. Er fiepte wie ein Hund; der erste Reiz, der stärker war als der Schmerz in seinen Augen. »Ich kenne Sie wirklich nicht«, beteuerte er. »Ich schwöre es.«

Der Druck ließ nach. Nerven und Sehnen sprangen an ihren Platz zurück. Der Schmerz flammte noch einmal auf und flaute dann ab zu einem dumpfen Taubheitsgefühl, das sich über Arm und Schulter erstreckte.

»Das sollten Sie aber«, sagte die heisere Stimme. »Auch wenn Sie mich seit langem für tot hielten, Dan. Unter einem Erdrutsch begraben.«

»Sluka«, sagte er.


Volyova war auf dem Weg zum Captain, als sich der beunruhigende Vorfall ereignete. Seit der Rest der Besatzung — einschließlich Khouris — für die Dauer der Reise nach Resurgam im Kälteschlaf lag, hatte Volyova die alte Gewohnheit wieder aufgenommen, den Captain leicht zu erwärmen, um sich mit ihm zu beraten. Wenn sie seine Hirntemperatur um den Bruchteil eines Kelvin anhob, erwachte er zu einem wenn auch fragmentarischen Bewusstsein. Das trieb sie nun schon fast zwei Jahre lang, und sie würde noch weitere zweieinhalb Jahre weitermachen, bis das Schiff in den Orbit um Resurgam einschwenkte und die anderen aus dem Kälteschlaf geweckt wurden. Natürlich fanden diese Gespräche nicht allzu häufig statt — sie durfte den Captain nicht allzu oft erwärmen, denn mit jedem Mal eroberte die Seuche etwas mehr von ihm und seiner Umgebung —, aber sie waren doch kleine Oasen menschlicher Nähe in diesen Wochen, in denen sie sich ansonsten nur mit Viren, Waffen und dem zunehmenden Verfall des Schiffs beschäftigen konnte.

Deshalb sah Volyova diesen Begegnungen mit einer gewissen Vorfreude entgegen, auch wenn der Captain nur selten erkennen ließ, dass er sich an frühere Unterhaltungen erinnerte. Obendrein hatte sich ihr Verhältnis in letzter Zeit etwas abgekühlt. Zum Teil war das wohl damit zu erklären, dass es Sajaki nicht gelungen war, Sylveste im Yellowstone-System aufzuspüren, und sich die Tortur des Captains somit mindestens um ein weiteres halbes Jahrzehnt verlängerte — vielleicht auch mehr, falls Sylveste auch auf Resurgam nicht zu finden wäre, was Volyova zumindest theoretisch für möglich hielt. Für sie bestand die Schwierigkeit darin, dass der Captain sich immer wieder nach den Fortschritten bei der Suche nach Sylveste erkundigte und sie ihm immer wieder beibringen musste, dass man nicht die gewünschten Erfolge zu verzeichnen habe. Das nahm der Captain nicht sonderlich gut auf — was sie ihm nicht verdenken konnte —, und oft verdüsterte sich seine Stimmung so stark, dass er nicht mehr ansprechbar war. Wenn sie Tage oder Wochen später einen neuen Versuch unternahm, hatte er vergessen, was sie ihm erzählt hatte, und das Ganze begann von vorn, nur dass Volyova dieses Mal nach Kräften versuchte, ihm die schlechte Nachricht schonender beizubringen oder ihr eine optimistische Färbung zu geben.

Freilich trug auch Volyova selbst dazu bei, einen Schatten auf ihre Beziehung zu werfen, indem sie nicht aufhörte, den Captain mit bohrenden Fragen nach seinem und Sajakis Besuch bei den Musterschiebern zu bedrängen. Ihr Interesse an dieser Episode war erst in den letzten Jahren erwacht, genauer gesagt, seit ihr aufgefallen war, dass sich etwa seit damals Sajakis Persönlichkeit verändert hatte. Natürlich ging man zu den Schiebern, um Eingriffe an seinem Bewusstsein vornehmen zu lassen — aber warum sollte Sajaki einer Verschlechterung zugestimmt haben? Er war jetzt grausamer als früher; aus einem entschlossenen, aber gerechten Führer, einem geschätzten Mitglied des Triumvirats, war ein sturer Despot geworden. Volyova hatte so gut wie jedes Vertrauen zu ihm verloren. Doch anstatt etwas Licht in die Geschichte zu bringen, wehrte der Captain ihre Fragen gereizt ab, mit dem Erfolg, dass sie sich nur noch mehr verrannte.

Unter solchen Gedanken war sie nun zu ihm unterwegs. Wie sollte sie die unvermeidliche Frage nach Sylveste beantworten? Wie sollte sie diesmal vorgehen, um den Captain nach den Schiebern auszuforschen? Sie hatte die übliche Route gewählt, und die führte durch den Geschützpark.

Dort angekommen, bemerkte sie, dass eins der Geschütze — zufällig eines, das sie besonders fürchtete — offenbar bewegt worden war.

»Es hat neue Entwicklungen gegeben«, sagte die Mademoiselle. »Günstige und weniger günstige.«

Khouri war überrascht. Sie hätte nicht erwartet, überhaupt bei Bewusstsein zu sein, geschweige denn, die Mademoiselle zu hören. Sie war in einen Kälteschlaftank gestiegen, das war das Letzte, woran sie sich erinnerte. Volyova hatte auf sie niedergesehen und dabei Befehle in ihr Armband getippt. Jetzt sah und spürte sie zwar nichts, nicht einmal die Kälte, aber sie wusste, dass sie — unerklärlicherweise — immer noch im Tank lag und in gewissem Sinne auch schlief.

»Wo bin ich? In welcher Zeit?«

»Immer noch an Bord; auf halbem Wege nach Resurgam. Wir fliegen jetzt sehr schnell; weniger als ein Prozent unter Lichtgeschwindigkeit. Ich habe Ihre Neuraltemperatur ein wenig erhöht — nur so weit, dass wir miteinander sprechen können.«

»Wird das Volyova nicht auffallen?«

»Leider haben wir sehr viel dringendere Probleme als das. Erinnern Sie sich an den Geschützpark und an den blinden Passagier, den ich im System des Feuerleitstands entdeckt hatte?« Die Mademoiselle wartete keine Antwort ab. »Die Botschaft der Bluthunde war nicht leicht zu entschlüsseln. Doch in den folgenden drei Jahren… gelang es mir, die Zeichen klarer zu deuten.«

Khouri stellte sich vor, wie die Mademoiselle ihren Hunden die Bäuche aufschnitt und die hervorquellenden Eingeweide studierte.

»Der blinde Passagier existiert also wirklich?«

»O ja. Und er ist ein Feind, aber dazu kommen wir gleich.«

»Irgendein Hinweis, um was für ein Wesen es sich handelt?«

»Nein«, sagte die Mademoiselle, aber es klang zurückhaltend. »Doch was ich erfahren habe, ist kaum weniger von Interesse.«

Was die Mademoiselle zu berichten hatte, bezog sich auf die Struktur des Feuerleitstandes. Im Grunde war er ein ungeheuer komplexes Computernetz aus vielen Schichten, die sich über Jahrzehnte Schiffszeit aufgebaut hatten. Ob eine einzelne Person — selbst Volyova — imstande war, mehr als die Grundzüge dieser Struktur zu erfassen, durfte mit Fug und Recht bezweifelt werden. Zu sehr griffen die verschiedenen, teils mehrfach gefalteten Schichten ineinander. Andererseits ließ sich der Feuerleitstand recht einfach überblicken, denn er war fast völlig vom Rest des Schiffes getrennt. Deshalb konnte man die höheren Funktionen der Weltraumgeschütze im Park nur steuern, wenn man sich persönlich im Kampfsitz befand. Der Leitstand war durch einen Firewall geschützt. Daten konnten zwar vom Rest des Schiffes einströmen, aber nicht in umgekehrter Richtung nach draußen. Das hatte taktische Gründe: Alle Bordwaffen (nicht nur die Weltraumgeschütze) mussten aus dem Schiff gebracht werden, bevor man sie abfeuern konnte. Damit boten sie feindlichen Viren die Möglichkeit, ins Schiff einzudringen. Um das zu verhindern, hatte man den Leitstand vom Rest des Datenraums getrennt und mit einer nur nach einer Richtung zu öffnenden Falltür geschützt. Diese Tür ließ nur Daten aus dem Schiff in den Leitstand; vom Innern des Leitstands aus war sie unpassierbar.

»Wir haben also festgestellt«, sagte die Mademoiselle, »dass wir im Feuerleitstand etwas entdeckt haben. Welche logische Schlussfolgerung ergibt sich daraus?«

»Was immer es ist, es ist durch ein Versehen hineingelangt.«

»Richtig.« Die Mademoiselle klang so zufrieden, als sei ihr der Gedanke selbst noch gar nicht gekommen. »Wir können wohl nicht ausschließen, dass die Entität über die Waffen Zugang zum Feuerleitstand gefunden hat, aber ich halte es für wahrscheinlicher, dass sie durch die Falltür eingedrungen ist. Zufällig weiß ich auch, wann diese Tür zum letzten Mal passiert wurde.«

»Wie lange ist das her?«

»Achtzehn Jahre.« Bevor Khouri protestieren konnte, ergänzte die Mademoiselle: »Natürlich Schiffszeit. Nach Planetenzeit schätzungsweise achtzig bis neunzig Jahre vor Ihrer Anwerbung.«

»Sylveste«, staunte Khouri. »Sajaki sagte, Sylveste sei nur deshalb von Yellowstone verschwunden, weil man ihn an Bord dieses Schiffes gebracht hätte, um Captain Brannigan zu heilen. Passt das zeitlich zusammen?«

»Ganz ausgezeichnet, würde ich sagen. Wir kommen damit etwa ins Jahr 2460 — etwa zwanzig Jahre nach Sylvestes Rückkehr von den Schleierwebern.«

»Und Sie glauben, er hätte es mitgebracht — was immer es gewesen sein mag?«

»Wir wissen nur, was Sajaki uns erzählt hat. Demnach hatte Sylveste der Calvin-Simulation gestattet, seinen Körper zu übernehmen, um Captain Brannigan zu heilen. Irgendwann im Lauf der Operation muss Sylveste Verbindung mit dem Datenraum des Schiffes aufgenommen haben. Vielleicht hat sich der blinde Passagier dabei an Bord geschlichen. Anschließend — vermutlich schon sehr bald danach — passierte er die Tür, die nur in einer Richtung zu öffnen war, und gelangte in den Leitstand.«

»Und seither hält er sich dort auf?«

»Allem Anschein nach ja.«

Es hatte schon fast Methode: sobald Khouri den Eindruck gewann, eine gewisse Ordnung in die Ereignisse gebracht zu haben, tauchte eine neue Tatsache auf und riss das System in Fetzen. Sie kam sich vor wie ein mittelalterlicher Astronom, der immer kompliziertere Uhrwerkskosmologien entwerfen musste, um abweichende Beobachtungen integrieren zu können. Jetzt bestand plötzlich eine ganz obskure Verbindung zwischen Sylveste und dem Feuerleitstand. Immerhin hatte sie einen Trost. Hier war auch die Mademoiselle ratlos.

»Sie sagten, das Ding sei ein Feind«, bemerkte sie vorsichtig. Sie war selbst nicht sicher, ob sie noch weitere Fragen stellen wollte. Womöglich waren die Antworten so schwierig, dass sie ohnehin nichts damit anfangen konnte.

»Ja.« Die Mademoiselle zögerte. »Die Hunde waren ein Fehler«, sagte sie dann. »Ich war zu ungeduldig. Ich hätte sehen müssen, dass Sonnendieb…«

»Sonnendieb?«

»So nennt er sich. Der blinde Passagier, meine ich.«

Das war schlimm. Woher kannte sie diesen Namen? Khouri erinnerte sich blitzartig, dass Volyova sie einmal genau danach gefragt hatte. Aber das war es nicht allein. Der Name verfolgte sie schon seit längerem in ihren Träumen. Khouri setzte zum Sprechen an, aber die Mademoiselle kam ihr zuvor. »Er hat sich der Hunde bedient, um aus dem Leitstand zu entkommen, Khouri. Wenigstens mit einem Teil seiner selbst. Er ist mit den Hunden in Ihren Kopf gelangt.«

Sylveste konnte in seinem neuen Gefängnis die Zeit nicht zuverlässig messen. So wusste er nur mit Sicherheit, dass seit seiner Gefangennahme viele Tage vergangen waren. Er hatte den Verdacht, dass man ihn ständig unter Drogen setzte, die ihn in einen komaartigen, zumeist traumlosen Schlaf versenkten. In den seltenen Träumen, die ihm beschieden waren, konnte er zwar sehen, aber alles drehte sich um die Gefahr zu erblinden und die Kostbarkeit seines Augenlichts. Wenn er erwachte, sah er nur Grau, doch nach einiger Zeit — vermutlich waren es mehrere Tage — verlor das Grau seine geometrische Struktur. Sie war seinem Gehirn zu lange aufgedrückt worden; nun wurde sie einfach ausgeschieden. Was blieb, war eine farblose Unendlichkeit, kein einförmiges Grau mehr, sondern nur ein hellerer Schein ohne jeden Farbwert.

Was mochte ihm wohl alles entgehen? Möglicherweise war seine Umgebung so reizarm und spartanisch, dass sein Verstand früher oder später die Wirklichkeit auch ausgefiltert hätte, wenn er noch hätte sehen können. Ringsum spürte er nur Felswände, die kein Echo zurückwarfen; es mussten Megatonnen von Gestein sein. An Pascale dachte er unentwegt, aber es fiel ihm von Tag zu Tag schwerer, die Erinnerung an sie zu bewahren. Das Grau sickerte in sein Gedächtnis ein und deckte es zu wie flüssiger Beton. Doch eines Tages, Sylveste hatte soeben seine Mahlzeit beendet, wurde die Zellentür aufgeschlossen und er vernahm zwei Stimmen.

Die erste gehörte Gillian Sluka.

»Tun Sie, was Sie können«, krächzte sie. »Mit gewissen Einschränkungen.«

»Er sollte für die Operation unter Narkose gesetzt werden«, sagte die zweite Stimme. Männlich und so dick wie Sirup. Sylveste erkannte den Mann an seinem nach Kohl riechenden Atem.

»Sollte er vielleicht, wird er aber nicht.« Die Frauenstimme zögerte, dann fügte sie hinzu: »Ich erwarte keine Wunder, Falkender. Ich will nur, dass der Dreckskerl mich ansehen kann.«

»Geben sie mir ein paar Stunden Zeit«, sagte Falkender. Sylveste hörte, wie er mit dumpfem Geräusch etwas auf den Tisch mit den abgerundeten Kanten stellte. »Ich werde mein Bestes tun«, murmelte er wie zu sich selbst. »Aber soviel ich weiß, waren seine Augen schon bevor Sie ihn blenden ließen, nicht besonders leistungsfähig.«

»Eine Stunde.«

Sie ging hinaus und knallte die Tür zu. Sylveste, der seit seiner Gefangennahme in ewiger Stille lebte, spürte die Schwingungen bis in den letzten Winkel seines Gehirns. Zu lange hatte er sich bemüht, das leiseste Geräusch aufzufangen, das ihm einen Hinweis auf sein Schicksal geben könnte. Gehört hatte er nichts, aber mit der Zeit hatte ihn die Stille empfindlich gemacht.

Er roch, dass Falkender sich über ihn beugte. »Es ist mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten, Dr. Sylveste«, sagte er fast schüchtern. »Ich hoffe sehr, die Schäden, die sie Ihnen zugefügt hat, zum größten Teil beheben zu können. Ich brauche nur Zeit.«

»Sie hat Ihnen eine Stunde gegeben«, stellte Sylveste fest. Sogar seine eigene Stimme klang ihm fremd in den Ohren; zu lange hatte er nur im Schlaf irgendwelchen Unsinn vor sich hin gemurmelt. »Was können Sie in einer Stunde schon ausrichten?«

Er hörte den Mann in seinen Instrumenten kramen. »Zumindest kann ich Ihren Zustand verbessern.« Er unterstrich seine Bemerkungen, indem er mit der Zunge schnalzte. »Wenn Sie stillhalten, erreiche ich natürlich mehr. Aber ich kann nicht versprechen, dass es angenehm sein wird.«

»Sie tun sicher alles, was in Ihren Kräften steht.«

Der Mann strich ihm prüfend mit den Fingerspitzen über die Augäpfel.

»Ich habe Ihren Vater immer bewundert.« Wieder dieses Zungenschnalzen. Sylveste fühlte sich an einen von Janequins Pfauen erinnert. »Jedermann weiß, dass er die Augen für sie angefertigt hat.«

»Nur seine Beta-Simulation«, verbesserte Sylveste.

»Natürlich, natürlich.« Er sah förmlich vor sich, wie Falkender den feinen Unterschied mit wegwerfender Handbewegung abtat. »Nicht einmal das Alpha — es ist allgemein bekannt, dass es schon vor Jahren verschwunden ist.«

»Ich habe es an die Schieber verkauft«, sagte Sylveste tonlos. Die Wahrheit schoss ihm aus dem Mund wie ein Melonenkern, nachdem er sie so viele Jahre lang für sich behalten hatte.

Falkender stieß einen gutturalen Laut aus, und Sylveste begriff erst nach einer Weile, dass das vielleicht ein Lachen gewesen war. »Natürlich, natürlich. Eigentlich erstaunlich, dass man Ihnen gerade das nie unterstellt hat. So zynisch ist die Menschheit.« Ein schrilles Jaulen erfüllte die Luft, gefolgt von nervenzerfetzenden Schwingungen. »Ich fürchte, von Ihrem Farbensinn müssen Sie sich verabschieden«, sagte Falkender. »Mehr als Schwarzweiß bringe ich in der Eile wohl nicht zustande.«


Khouri hatte auf eine geistige Atempause gehofft, in der sie ihre Gedanken sammeln und in aller Ruhe auf die Atemzüge der Präsenz lauschen konnte, die in ihren Kopf eingedrungen war. Aber die Mademoiselle hörte nicht auf zu reden.

»Ich glaube, Sonnendieb hat so etwas schon einmal versucht«, sagte sie. »Ich spreche natürlich von Ihrem Vorgänger.«

»Sie meinen, der blinde Passagier wollte auch in Nagornys Kopf eindringen?«

»Genau das. Nur gab es in Nagornys Fall keine Bluthunde, an die er sich anhängen konnte. Deshalb musste Sonnendieb auf primitivere Mittel zurückgreifen.«

Khouri überlegte, was sie von Volyova über den Vorfall erfahren hatte.

»Primitiv genug, um Nagorny in den Wahnsinn zu treiben?«

»Ganz offensichtlich«, nickte ihre ständige Begleiterin. »Vielleicht hat Sonnendieb lediglich versucht, dem Mann seinen Willen aufzuzwingen. Aus dem Feuerleitstand konnte er nicht entkommen, also begnügte er sich damit, Nagorny zu seiner Marionette zu machen. Vielleicht nahm er immer dann Einfluss auf Nagornys Unterbewusstsein, wenn der sich im Leitstand aufhielt.«

»Mit welchen Schwierigkeiten muss ich rechnen?«

»Im Moment ist es noch nicht allzu schlimm. Es waren nur ein paar Hunde — damit konnte er nicht viel Schaden anrichten.«

»Was geschah mit den Hunden?«

»Ich habe sie natürlich decodiert — um ihre Botschaft zu erfahren. Aber dabei habe ich mich geöffnet. Für Sonnendieb, meine ich. Die Hunde hatten ihn wohl etwas behindert, denn sein Angriff auf mich war alles andere als raffiniert. Für mich war das ein Glück, sonst hätte ich meine Abwehr womöglich nicht mehr rechtzeitig aktivieren können. Er war nicht allzu schwer zu besiegen, aber ich musste mich natürlich auch nur mit einem kleinen Teil von ihm herumschlagen.«

»Dann bin ich also in Sicherheit?«

»Nicht ganz. Ich konnte ihn vertreiben — allerdings nur aus dem Implantat, in dem ich mich aufhalte. Leider wirkt meine Abwehr nicht auf Ihre anderen Implantate, auch nicht auf die von Volyova eingesetzten.«

»Er ist also immer noch in meinem Kopf?«

»Vielleicht hat er die Hunde gar nicht gebraucht«, überlegte die Mademoiselle. »Er könnte auch schon in Volyovas Implantate eingedrungen sein, als Volyova Sie zum ersten Mal in den Leitstand brachte. Aber die Hunde kamen ihm sicher gelegen. Hätte er nicht versucht, mich damit zu überfallen, dann hätte ich am Ende gar nicht bemerkt, dass er die anderen Implantate bereits besetzt hatte.«

»Ich fühle mich wie immer.«

»Gut. Das bedeutet, dass meine Gegenmaßnahmen wirken. Wissen Sie noch, wie ich gegen Volyovas Loyalitätsbehandlung vorging?«

»Ja«, sagte Khouri düster. Sie war nicht sicher, ob die Gegenmaßnahmen so wirkungsvoll gewesen waren, wie die Mademoiselle gerne glauben wollte.

»Nun, diesmal läuft es ähnlich. Mit dem einzigen Unterschied, dass ich mich auf die Bereiche Ihres Bewusstseins konzentriere, die Sonnendieb besetzt hält. Seit zwei Jahren führen wir nun schon so etwas wie…« Sie zögerte kurz, dann kam ihr offenbar die Erleuchtung. »Man könnte es wohl als Kalten Krieg bezeichnen.«

»Kalt müsste er schon sein.«

»Und langsam«, ergänzte die Mademoiselle. »Die Kälte entzog uns die Energie für weitergehende Aktivitäten. Und wir mussten uns natürlich in Acht nehmen, um Sie nicht zu verletzen. Nur unversehrt waren Sie für mich wie für Sonnendieb zu gebrauchen.«

Khouri fiel wieder ein, warum dieses Gespräch überhaupt möglich war.

»Aber jetzt haben Sie mich erwärmt…«

»Sie begreifen schnell. Mit der Erwärmung ist der Kampf härter geworden. Ich könnte mir denken, dass Volyova bereits Verdacht geschöpft hat. Ihr Gehirn wird nämlich mit einem besonderen Scanner, einem so genannten Trawl überwacht. Das Gerät könnte den neuralen Krieg zwischen Sonnendieb und mir entdeckt haben. Ich konnte nicht nachgeben — das hätte Sonnendieb sofort ausgenützt, um meine Abwehr außer Kraft zu setzen.«

»Aber Sie können ihn in Schach halten…«

»Ich denke schon. Falls es mir jedoch nicht gelingen sollte, dann wissen Sie jetzt wenigstens, was vorgeht.«

So weit ganz vernünftig: es war besser zu wissen, dass Sonnendieb in sie eingedrungen war, als sich der Illusion hinzugeben, sie sei ihr eigener Herr.

»Außerdem wollte ich Sie warnen. Sonnendieb befindet sich zum größten Teil nach wie vor im Feuerleitstand. Ich bin überzeugt davon, dass er bei der ersten Gelegenheit versuchen wird, vollständig oder so vollständig wie möglich in Sie einzudringen.«

»Das hieße wohl, bei meiner nächsten Sitzung im Feuerleitstand?«

»Viel lässt sich dagegen nicht tun, zugegeben«, sagte die Mademoiselle. »Aber ich hielt es für besser, wenn Sie die Situation in ihrer Gesamtheit überblicken.«

Davon konnte wohl noch lange nicht die Rede sein, dachte Khouri. Aber das Gespenst hatte Recht. Es war besser, auf eine Gefahr vorbereitet zu sein, als ahnungslos hineinzustolpern.

»Wissen sie«, sagte sie, »wenn es wirklich Sylveste war, der dieses Wesen hier eingeschleppt hat, dann wird mich sein Tod nicht allzu sehr belasten.«

»Gut. Außerdem kann ich Ihnen versichern, dass die Nachrichten nicht so schlecht bleiben werden. Als ich die Hunde in den Feuerleitstand schickte, schleuste ich auch einen Avatar von mir mit ein. Und aus den Berichten der Hunde weiß ich, dass dieser Avatar zumindest in den ersten Tagen von Volyova nicht entdeckt wurde. Natürlich war das vor mehr als zwei Jahren… aber ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass er seither gefunden wurde.«

»Vorausgesetzt, Sonnendieb hat ihn nicht zerstört.«

»Ein berechtigter Einwand«, räumte das Gespenst ein. »Aber wenn Sonnendieb so intelligent ist, wie ich glaube, wird er alles unterlassen, womit er auf sich aufmerksam machen würde. Er kann nicht mit Sicherheit sagen, ob nicht Volyova den Avatar ins System geschickt hat. Sie hat schließlich auch ihre Zweifel.«

»Und warum haben Sie es getan?«

»Um notfalls den Feuerleitstand in meine Gewalt zu bringen.«


Hätte Calvin ein Grab gehabt, dachte Sylveste, dann hätte sich sein Vater darin jetzt schneller gedreht als Cerberus um den Neutronenstern Hades. Diese Misshandlung seines Werkes hätte ihn hellauf empört. Allerdings war Calvin selbst bereits lange tot oder zumindest entmaterialisiert gewesen, als seine Simulation die Sehwerkzeuge konstruierte. Mit solchen Gedankenspielen gelang es Sylveste, sich zumindest zeitweilig von seinen Schmerzen abzulenken. Eigentlich hatte er während seiner Gefangenschaft ständig Schmerzen gelitten. Falkender überschätzte sich, wenn er glaubte, mit seinen chirurgischen Eingriffen Sylvestes Qualen nennenswert zu steigern.

Doch irgendwann ließ der Schmerz wie durch ein Wunder nach.

Es war, als entstehe in Sylvestes Bewusstsein ein Vakuum, eine eiskalte, leere Kammer, die vorher nicht da gewesen war. Mit dem Schmerz brach sozusagen eine innere Stütze weg. Sylveste spürte, wie er in sich zusammensank, wie die Schlusssteine seiner Psyche herausfielen, weil sie das Gewicht nicht mehr tragen konnten. Nur mit Mühe gelang es ihm, sein inneres Gleichgewicht halbwegs wiederherzustellen.

Plötzlich tanzten farblose Schemen vor seinen Augen.

Sekunden später hatten sie sich zu klaren Formen verfestigt. Die Wände eines Raums — genau so glatt und leer wie in seiner Vorstellung — und eine maskierte Gestalt, die sich tief über ihn beugte. Falkenders Hand steckte in einem Handschuh aus Chrom, der an Stelle von Fingern in einer Vielzahl von blitzenden Mikroinstrumenten endete. Vor einem Auge hatte der Mann ein Linsenmonokel, das über ein biegsames Stahlkabel mit dem Handschuh verbunden war. Seine Haut war so fahl wie der Bauch einer Eidechse: das sichtbare Auge schielte und war bläulich verfärbt. Die Stirn war mit getrocknetem Blut bespritzt. Die Spritzer waren graugrün, aber Sylveste erkannte trotzdem, worum es sich handelte.

Tatsächlich war alles graugrün, fiel ihm jetzt auf.

Der Handschuh entfernte sich, Falkender zog ihn sich aus. Seine bloße Hand war mit einer dicken, glänzenden Ölschicht bedeckt.

Er packte seine Geräte zusammen. »Ich habe Ihnen keine Wunder versprochen«, sagte er. »Und sie durften auch keine erwarten.«

Seine Bewegungen wirkten abgehackt. Sylveste begriff erst nach einer Weile, dass seine Augen nur drei bis vier Bilder pro Sekunde verarbeiten konnten. Die Welt bewegte sich so stotternd wie die Bilder, die er als Kind mit Bleistift auf die Ecken von Buchseiten gemalt und durch rasches Blättern zwischen Daumen und Zeigefinger zum Leben erweckt hatte. Alle paar Sekunden verkehrte sich die Tiefenwahrnehmung in verwirrender Weise in ihr Gegenteil, dann erschien Falkender als menschenförmige Nische in der Zellenwand. Manchmal verklemmte sich ein Teil des Blickfelds für zehn Sekunden oder länger und veränderte sich nicht, auch wenn er in einen anderen Teil des Raumes schaute.

Immerhin hatte er sein Sehvermögen oder zumindest dessen schwachsinnigen Vetter wieder.

»Ich danke Ihnen«, sagte Sylveste. »Es ist… eine Verbesserung.«

»Wir müssen uns beeilen«, drängte Falkender. »Wir sind schon fünf Minuten über die Zeit.«

Sylveste nickte, und das genügte, um heftige Migränewellen auszulösen, die allerdings ungleich schwächer waren als die Schmerzen, die er vor Falkenders Eingriff hatte erdulden müssen.

Er wälzte sich von der Liege und ging zur Tür. Vielleicht lag es daran, dass er ein Ziel hatte — dass er zum ersten Mal erwartete, durch diese Tür hinauszugehen — jedenfalls kam ihm die Aktion plötzlich so abwegig und sinnlos vor, als würde er sich ohne weiteres in einen Abgrund stürzen. Er war jetzt völlig aus dem Gleichgewicht. Er hatte sich so an seine Blindheit gewöhnt, dass ihn die Wiederkehr des Sehvermögens in tiefe Verwirrung stürzte. Aber das Schwindelgefühl legte sich rasch, als zwei stämmige Vertreter des Wahren Weges eintraten und ihn an den Armen fassten.

Falkender folgte ihm. »Seien Sie vorsichtig. Es könnten Wahrnehmungslücken auftreten…«

Sylveste hörte die Worte, aber sie bedeuteten ihm nichts. Er wusste jetzt, wo er war, und dieses Wissen verdrängte im Moment alles andere. Er war nach mehr als zwanzig Jahren im Exil wieder zu Hause.

Sein Gefängnis lag in Mantell, dem Ort, den er seit dem Umsturz nicht wiedergesehen — und selbst in seinen Erinnerungen kaum jemals besucht hatte.

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