5 Ein seltsamer Zwischenfall

Das Trommeln des Regens auf dem Zeltdach, das fast die ganze Nacht angedauert hatte, wurde leiser, als Faile sich Sevannas Stuhl näherte, einem vergoldeten und mit übermäßigen Schnitzereien versehenen Thron in der Mitte der hellen Teppiche, die den Zeltboden bedeckten. Sie hielt den Blick sorgfältig gesenkt, um nicht aufzufallen. Der Frühling war plötzlich über sie hereingebrochen, aber die Kohlenpfannen waren nicht entzündet, und die Morgenluft hatte einen kühlen Biss. Mit einem tiefen Knicks präsentierte sie das Silbertablett. Die Aiel nahm den goldenen Weinpokal und trank, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung zu werfen, aber sie machte einen weiteren tiefen Knicks, bevor sie rückwärts zurückwich und das Tablett auf der blauen, mit Messingbändern beschlagenen Truhe absetzte, auf der bereits eine silberne Weinkanne mit hohem Hals und drei weitere Pokale standen, dann kehrte sie zu ihrem Platz bei den elf anderen anwesenden Gai'schain zurück, die an der roten Seidenwand des Zeltes zwischen den Spiegelstehlampen standen. Es war ein geräumiges Zelt, und hoch. Kein niedriges Aiel-Zelt für Sevanna.

Manchmal fiel es schwer, sie überhaupt als Aiel zu sehen. An diesem Morgen trug sie eine rote Brokatseidenrobe, die fest zugebunden war, sodass sie fast bis zur Taille aufklaffte und die Hälfte ihres üppigen Busens zur Schau stellte; dabei trug sie so viele Halsketten mit Smaragden und Feuertropfen und Opalen und Reihen von Perlenketten, dass sie beinahe schon wieder ein schickliches Bild bot. Aiel trugen keine Ringe, aber Sevanna hatte mindestens einen edelsteingekrönten Ring an jedem Finger. Die dicken Goldbänder und Feuertropfen auf dem zusammengefalteten blauen Seidenschal, der ihr taillenlanges blondes Haar zurückhielt, ähnelten einem Diadem oder gar einer Krone. Das entsprach nicht im mindesten den Aiel.

Faile und die anderen — sechs Frauen und fünf Männer — waren in der Nacht geweckt worden, um an Sevannas Bett Aufstellung zu nehmen — zwei aufeinander gelegte Federmatratzen —, für den Fall, dass die Frau erwachte und einen Wunsch hatte. Wurde jede Herrscherin auf der Welt im Schlaf von einem Dutzend Dienern umgeben? Sie kämpfte gegen ein Gähnen an. Viele Dinge würden vielleicht eine Bestrafung nach sich ziehen, aber Gähnen auf jeden Fall. Gai'schain sollten demütig und eilfertig sein, und es hatte den Anschein, als würde das Unterwürfigkeit bis zum Punkt der Erniedrigung bedeuten. Bain und Chiad, so wild sie auch sonst waren, schien es leicht zu fallen. Faile war da anders. In dem Monat, der vergangen war, seit man sie wegen des Besitzes eines Messers nackt ausgezogen und kunstvoll gefesselt hatte, war sie neunmal wegen läppischer Vergehen geprügelt worden, die in Sevannas Augen ernst waren. Die letzten Striemen waren noch nicht wieder verblasst, und sie hatte nicht vor, sich durch Sorglosigkeit die nächsten einzubrocken.

Sie hoffte, dass Sevanna sie durch die Nacht in der Kälte für gezähmt hielt. Nur Rolan und seine Kohlenpfannen hatten ihr Leben gerettet. Sie hoffte, dass sie noch nicht gezähmt war. Spielte man zu lange etwas vor, konnte es irgendwann zur Wahrheit werden. Sie war noch keine zwei Monate Gefangene, und doch konnte sie sich nicht mehr daran erinnern, vor genau wie vielen Tagen sie gefangen genommen worden war. Manchmal kam es ihr so vor, als würde sie das weiße Gewand schon ein Jahr lang oder länger tragen. Manchmal fühlten sich der breite Gürtel und der Kragen aus flachen goldenen Gliedern ganz normal an. Das jagte ihr Angst ein. Sie klammerte sich inbrünstig an die Hoffnung, bald zu entkommen. Sie musste entkommen. Bevor Perrin sie einholte und versuchte, sie zu retten. Warum hatte er sie noch nicht eingeholt? Die Shaido kampierten nun schon lange Zeit vor Maiden. Er würde sie nicht aufgegeben haben. Ihr Wolf würde kommen und sie retten. Sie musste vorher entkommen, bevor er bei dem Versuch zu Tode kam. Bevor sie nicht länger nur so tat.

»Wie lange wollt Ihr Galina Sedai noch bestrafen, Therava?«, wollte Sevanna wissen und sah die Aes Sedai voller Unmut an. Therava saß im Schneidersitz auf einem blauen, mit Troddeln geschmückten Kissen vor ihr, kerzengerade aufgerichtet und streng. »Gestern Abend hat sie mein Badewasser zu heiß gemacht, und sie ist so voller Striemen, dass ich befehlen musste, sie auf die Fußsohlen zu schlagen. Das ist nicht sehr effektiv, wenn sie noch laufen soll.«

Faile hatte es vermieden, Galina anzusehen, seit Therava sie mit ins Zelt gebracht hatte, aber bei der Erwähnung ihres Namens glitt ihr Blick unwillkürlich zu der Frau. Galina kniete aufrecht in der Mitte zwischen den beiden Aiel, leicht zur Seite geneigt, auf ihren Wangen waren bräunliche Blutergüsse zu sehen, ihre Haut war feucht und glitschig von dem unablässigen Regen, durch den sie auf dem Hinweg gegangen war, ihre Füße und Knöchel waren schlammverschmiert. Sie trug nur ihren goldenen, mit Feuertropfen besetzten Kragen und den Gürtel, und sie erschien nackter als nackt. Von ihrem Haar und ihren Brauen waren nur vereinzelte Stoppel übrig geblieben. Man hatte ihr mit der Einen Macht jedes Haar vom Körper gebrannt. Faile hatte davon gehört, genau wie man die Aes Sedai für die erste Prügelstrafe an den Knöcheln aufgehängt hatte. Darüber hatten sich die Gai'schain tagelang unterhalten. Nur die Hand voll, die ihr altersloses Gesicht als das erkannten, was es war, glaubten noch immer, dass sie eine Aes Sedai war, und einige von ihnen hatten die gleichen Zweifel, die auch Faile plagten, seit sie eine Aes Sedai unter den Gai'schain gefunden hatte. Schließlich hatte sie das richtige Gesicht und den Ring, aber warum sollte sich eine Aes Sedai so von Therava behandeln lassen? Faile hatte sich das schon oft gefragt, ohne eine Antwort zu finden. Sie sagte sich immer wieder, dass Aes Sedai oft etwas aus Gründen taten, die niemand sonst verstehen konnte, aber das war nicht sehr befriedigend.

Was auch immer Galina für Gründe hatte, solche Quälereien zuzulassen, jetzt waren ihre Augen weit aufgerissen und voller Angst auf Therava gerichtet. Sie keuchte so sehr, dass ihre Brüste bebten. Ihre Angst war berechtigt. Jeder, der an Theravas Zelt vorbeiging, konnte drinnen Galina um Gnade winseln hören. Länger als eine halbe Woche hatte Faile die Aes Sedai immer wieder auf irgendeinem Botengang sehen können, wie sie so haarlos und bekleidet wie jetzt mit vor Panik verzerrtem Gesicht so schnell rannte, wie sie konnte, und jeden Tag fügte Therava den Striemen, die sich von Galinas Rücken bis zu den Kniekehlen hinunterzogen, noch ein paar weitere hinzu. Sobald sie zu heilen anfingen, frischte Therava sie auf. Faile hatte Shaido murmeln hören, dass man Galina zu streng behandelte, aber niemand würde sich mit einer Weisen Frau anlegen.

Therava, die fast so groß wie die meisten Aielmänner war, zupfte mit klirrenden goldenen und elfenbeinernen Armreifen das dunkle Schultertuch zurecht und betrachtete Galina, wie ein blauäugiger Adler eine Maus betrachtete. Ihre Halsketten, ebenfalls aus Gold und Elfenbein, wirkten im Vergleich zu Sevannas opulenter Pracht schlicht, ihre dunklen Wollröcke und die weiße /l/go‹ie-Bluse sogar schäbig, und doch fürchtete Faile Therava viel mehr als Sevanna. Sevanna ließ sie ja vielleicht wegen eines kleinen Fehlers bestrafen, aber Therava konnte sie aus einer Laune heraus töten oder verstümmeln. Und sie würde es mit Sicherheit tun, wenn Failes Fluchtversuch scheiterte. »Solange auf ihrem Gesicht der kleinste blaue Fleck zu sehen ist, so lange wird auch der Rest von ihr blau sein. Ich habe ihre Vorderseite in Ruhe gelassen, damit sie für ihre Verfehlungen bestraft werden kann Galina fing an zu zittern. Stumme Tränen perlten ihre Wangen hinunter.

Faile wandte den Blick ab. Es war qualvoll, sich das anzusehen. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, den Eidstab aus Theravas Zelt zu holen, konnte ihr die Aes Sedai überhaupt noch bei der Flucht helfen? Sie sah in jeder Hinsicht völlig gebrochen aus. Das war ein harter Gedanke, aber ein Gefangener musste vor allen Dingen praktisch denken. Würde Galina sie verraten, in dem Versuch, sich von den Bestrafungen freizukaufen? Sie hatte damit gedroht, sie zu verraten, falls Faile nicht den Stab besorgte. Es war Sevanna, die an Perrin Aybaras Ehefrau interessiert sein würde, aber Galina sah verzweifelt genug aus, um alles zu versuchen. Faile betete für die Frau, damit sie Kraft zum Durchhalten fand. Natürlich plante sie eine Flucht auf eigene Faust, für den Fall, dass Galina ihr Versprechen nicht hielt und sie bei ihrer Abreise nicht mitnahm, aber es würde für alle Beteiligten so viel einfacher und sicherer sein, wenn sie es konnte. Oh, beim Licht, warum hatte Perrin sie noch nicht gefunden? Nein! Sie musste sich konzentrieren.

»So ist sie nicht besonders eindrucksvoll«, murmelte Sevanna und schaute finster in ihren Weinpokal. »Nicht mal der Ring lässt sie wie eine Aes Sedai aussehen.« Sie schüttelte gereizt den Kopf. Aus einem Grund, den Faile nicht verstand, war es Sevanna außerordentlich wichtig, dass jeder wusste, dass Galina eine Schwester war. Sie hatte sogar angefangen, sie mit diesem Ehrentitel anzusprechen. »Warum seid Ihr so früh hier, Therava? Ich habe noch nicht gegessen. Wollt Ihr Wein haben?«

»Wasser«, sagte Therava energisch. »Und was die frühe Stunde angeht, die Sonne hat den Horizont fast schon hinter sich gelassen. Ich habe gefrühstückt, bevor sie aufging. Ihr werdet so träge wie ein Feuchtländer, Sevanna.«

Die Gai'schain Lusara, eine vollbusige Domani, füllte rasch einen Pokal aus der silbernen Wasserkanne. Sevanna schien sich über die Beharrlichkeit der Weisen Frau, nur Wasser zu trinken, zu amüsieren, aber sie hatte immer welches da. Alles andere wäre auch eine Beleidigung gewesen, die selbst sie zu vermeiden gesucht hätte. Die kupferhäutige Domani war eine Kauffrau und schon weit in den mittleren Jahren, aber die paar weißen Haare inmitten der schwarzen, die bis unterhalb ihrer Schulter fielen, hatten nicht ausgereicht, um sie zu retten. Sie war eine atemberaubende Schönheit, und Sevanna sammelte die Reichen, Mächtigen und Schönen, nahm sie sich auch dann, wenn sie die Gai'schain von anderen waren. Es gab so viele Gai'schain, dass sich nur wenige beschwerten, wenn sie einen verloren. Lusara machte einen anmutigen Knicks und verbeugte sich, um Therava auf ihrem Kissen das Tablett anzubieten, alles so, wie es sich gehörte, aber auf dem Weg zurück zu ihrem Platz an der Wand lächelte sie Faile zu. Und schlimmer noch, es war ein verschwörerisches Lächeln.

Faile unterdrückte ein Seufzen. Die letzten Prügel hatte sie für ein Seufzen im falschen Augenblick bekommen. Lusara gehörte zu jenen, die ihr in den vergangenen zwei Wochen die Treue geschworen hatten. Nach Aravine hatte Faile sich bemüht, bei der Auswahl sorgfältiger vorzugehen, aber jemanden abzuweisen, der die Treue schwören wollte, schuf nur einen potenziellen Verräter, und so hatte sie viel zu viele Anhänger, und einer guten Zahl davon konnte sie sich nicht sicher sein. Langsam kam sie zu der Ansicht, dass Lusara vertrauenswürdig war oder sie zumindest nicht vorsätzlich verraten würde, aber die Frau behandelte ihre Fluchtpläne wie ein Kinderspiel, als würde es keine Konsequenzen haben, wenn sie verloren. Anscheinend hatte sie das Kaufmannsgewerbe auf die gleiche Weise betrieben, mehrere Vermögen gemacht und auch wieder verloren, aber Faile würde keine zweite Chance bekommen, wenn sie scheiterten. Und das Gleiche galt für Alliandre oder Maighdin. Oder Lusara. Diejenigen von Sevannas Gai'schain, die einen Fluchtversuch gewagt hatten, waren angekettet, wenn sie nicht arbeiteten oder sie bedienten.

Therava nahm einen Schluck Wasser, dann stellte sie den Pokal auf dem Teppich mit dem Blumenmuster ab und fixierte Sevanna mit stählernem Blick. »Die Weisen Frauen sind der Meinung, dass es für uns höchste Zeit ist, nach Norden und Osten zu reisen. Wir können in den dortigen Bergen leicht zu verteidigende Täler finden, und wir können sie in weniger als zwei Wochen erreichen, selbst wenn uns die Gai'schain langsamer machen. Dieser Ort hier ist nach allen Seiten offen, und unsere Streifzüge, um Nahrung herbeizuschaffen, müssen wir immer weiter ausdehnen.«

Sevannas grüne Augen erwiderten das Starren, ohne zu blinzeln; Faile bezweifelte, das auch geschafft zu haben. Es ärgerte Sevanna, wenn sich die anderen Weisen Frauen ohne sie trafen, und sie ließ es oft an ihren Gai'schain aus, aber sie lächelte und trank einen Schluck Wein, bevor sie in geduldigem Tonfall antwortete, so als müsste sie jemandem etwas erklären, der leicht zurückgeblieben war. »Hier gibt es guten Ackerboden, und wir haben ihre Aussaat zusätzlich zu der unseren. Wer kann schon sagen, wie der Boden in den Bergen sein wird? Unsere Raubzüge bringen uns Rinder und Schafe und Ziegen. Hier gibt es gute Weidegründe. Welche Weidegründe kennt Ihr in den Bergen, Therava? Hier haben wir mehr Wasser, als ein Clan jemals besessen hat. Wisst Ihr, wo in den Bergen das Wasser ist? Und was die Verteidigung angeht, wer will uns angreifen? Diese Feuchtländer laufen vor unseren Speeren fort.«

»Nicht alle laufen weg«, sagte Therava trocken. »Manche können den Tanz des Speers sogar gut tanzen. Und was ist, wenn Rand al'Thor einen der anderen Clans gegen uns ausschickt? Wir würden das erst bemerken, wenn uns die Hörner aufspießen.« Plötzlich lächelte sie auch, ein Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte. »Man munkelt, Ihr habt den Plan, Euch gefangen nehmen zu lassen und Rand al'Thors Gai'schain zu werden, damit Ihr ihn dazu bringen könnt, Euch zu heiraten. Ein amüsanter Einfall, findet Ihr nicht auch?«

Faile zuckte zusammen, obwohl sie das nicht wollte.

Sevannas verrückte Absicht, al'Thor zu heiraten — sie musste verrückt sein, wenn sie glaubte, das erreichen zu können! —, war der Grund, warum Galina eine Gefahr für sie darstellte.

Falls die Aiel nicht wusste, dass Perrin mit al'Thor verbunden war, konnte Galina es ihr verraten. Würde es ihr verraten, wenn sie nicht den verfluchten Eidstab in die Hände bekam. Dann würde Sevanna nicht mehr das geringste Risiko eingehen, sie zu verlieren. Sie würde mit der gleichen Sicherheit angekettet werden, als hätte sie einen Fluchtversuch unternommen.

Sevanna sah alles andere als amüsiert aus. Sie beugte sich mit funkelnden Augen nach vorn, und ihre Robe klaffte auf, um ihren Busen endgültig zu entblößen. »Wer sagt das? Wer?«

Therava ergriff den Pokal und nahm noch einen Schluck Wasser. Sevanna begriff, dass sie keine Antwort erhalten würde, lehnte sich zurück und richtete ihre Robe. Ihre Augen funkelten allerdings immer noch wie Smaragde, und in ihren Worten lag nichts Gleichgültiges. Sie waren so hart wie ihr Blick. »Ich werde Rand al'Thor heiraten, Therava. Ich hatte ihn fast soweit, bis Ihr und die anderen Weisen Frauen mich im Stich gelassen habt. Ich werde ihn heiraten, die Clans vereinigen und alle Feuchtländer erobern!«

Therava grinste hämisch hinter ihrem Pokal. »Couladin war der Car'a'carn, Sevanna. Ich habe die Weisen Frauen noch nicht gefunden, die ihm die Erlaubnis gaben, nach Rhuidean zu gehen, aber das werde ich. Rand al'Thor ist eine Kreatur der Aes Sedai. Sie haben ihm vorgeschrieben, was er in Aleair Dal sagen sollte, und es war ein schwarzer Tag, als er Geheimnisse enthüllte, für die nur wenige stark genug sind, um damit leben zu können. Seid dankbar, dass die meisten es für Lügen hielten. Aber ich vergaß… Ihr seid ja nie selbst nach Rhuidean gegangen. Ihr habt seine Lügen ja selbst geglaubt.«

Gai'schain traten ein. Ihre weißen Gewänder waren vom Regen durchnässt, und sie hielten die Säume bis zum Knie hoch, bis sie drinnen waren. Jeder trug den goldenen Kragen und den Gürtel. Ihre weichen weißen Schnürstiefel hinterließen schlammige Abdrücke auf den Teppichen. Später, wenn sie getrocknet waren, würden sie sie entfernen müssen, aber deutlich sichtbare Schlammspuren auf dem Gewand brachte einem unweigerlich ein paar Stockschläge ein. Sevanna wollte, dass ihre Gai'schain makellos aussahen, wenn sie in ihrer Nähe waren. Keine der Frauen schenkte den Neuankömmlingen auch nur die geringste Aufmerksamkeit.

Theravas Worte schienen Sevanna bestürzt zu haben.

»Warum interessiert Euch, wer Couladin die Erlaubnis gab? Das spielt doch keine Rolle«, sagte sie; als sie keine Antwort erhielt, wedelte sie mit der Hand, als würde sie eine Fliege verscheuchen. »Couladin ist tot. Rand al'Thor trägt die Zeichen, wie auch immer er sie bekommen hat. Ich werde ihn heiraten, und ich werde ihn benutzen. Wenn ihn die Aes Sedai kontrollieren konnten — und ich habe gesehen, wie sie mit ihm wie mit einem Säugling umgesprungen sind —, dann kann ich das auch. Mit einem klein wenig Unterstützung von Euch. Und Ihr werdet mir helfen. Seid Ihr nicht der Meinung gewesen, dass die Wiedervereinigung aller Clans die Mühe wert ist, ganz egal, wie man das macht? Einst seid Ihr es gewesen.« Irgendwie lag da mehr als nur ein Hauch von Drohung darin. »Wir Shaido werden mit einem Sprung der mächtigste aller Clans sein.«

Die neuen Gai'schain schlugen die Kapuzen zurück und marschierten in einer Einzelreihe wortlos die Zeltwände entlang, neun Männer und drei Frauen, unter ihnen Maighdin. Die blonde Frau hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck, und zwar schon seit dem Tag, an dem Therava sie in ihrem Zelt entdeckt hatte. Was auch immer Therava mit ihr angestellt hatte, Maighdin wollte nicht mit der Sprache rausrücken, außer, dass sie die Frau umbringen wollte. Manchmal wimmerte sie im Schlaf.

Therava behielt für sich, was sie davon hielt, die Clans wieder zu vereinigen. »Viele haben das Gefühl, nicht mehr hier bleiben zu wollen. Viele Septimenhäuptlinge drücken jeden Morgen die rote Scheibe auf ihre Nar'baha. Ich rate Euch, auf die Weisen Frauen zu hören.«

Nar'baha? Das bedeutete »Narrenkasten« oder dergleichen. Aber was konnte das sein? Bain und Chiad unterrichteten sie noch immer in den Bräuchen der Aiel, wenn sie die Zeit fanden, und sie hatten so etwas noch nie erwähnt. Maighdin blieb neben Lusara stehen. Ein schlanker cairhienischer Adliger namens Doirmanes blieb neben Faile stehen. Er war jung und recht hübsch, aber er biss sich nervös auf die Lippe. Falls er von dem Treueid erfuhr, würde man ihn töten müssen. Faile war davon überzeugt, dass er sofort zu Sevanna rennen würde.

»Wir bleiben hier«, sagte Sevanna wütend und schleuderte den Pokal von sich, sodass der Wein in hohem Bogen auf die Teppiche spritzte. »Ich spreche für den Clanhäuptling, und ich habe gesprochen!«

»Ihr habt gesprochen«, stimmte Therava ihr ganz ruhig zu.

»Bendhuin, der Septimenhäuptling der Grünen Salz, hat die Erlaubnis erhalten, nach Rhuidean zu gehen. Er ist vor fünf Tagen mit zwanzig seiner Algai'd'siswai aufgebrochen, begleitet von vier Weisen Frauen, die Zeuginnen sein werden.«

Erst als jeder der neuen Gai'schain neben einem der bereits Anwesenden stand, zogen Faile und die anderen die Kapuzen über und gingen in einer Reihe an der Zeltwand entlang auf den Ausgang zu und hoben bereits die Gewänder an. Mittlerweile machte es ihr schon nichts mehr aus, ihre Beine auf diese Weise zu entblößen.

»Er will mich ersetzen, und ich wurde nicht einmal darüber informiert?«

»Nicht Euch, Sevanna. Couladin. Als seine Witwe sprecht Ihr für den Clanhäuptling, bis ein neuer Häuptling aus Rhuidean zurückkehrt, aber Ihr seid nicht der Clanhäuptling.«

Faile trat in den kalten, grauen morgendlichen Nieselregen hinaus, und die Zeltplane schnitt ab, was auch immer Sevanna dazu zu sagen hatte. Was ging bloß zwischen diesen beiden Frauen vor? Manchmal, so wie an diesem Morgen, erweckten sie den Eindruck, Gegnerinnen zu sein, aber an anderen erschienen sie wie zögernde Verschwörerinnen, die durch etwas aneinander gekettet waren, das beiden Unbehagen einflößte. Vielleicht bereitete ihnen ja auch bloß die Tatsache Unbehagen, dass sie aneinander gekettet waren. Nun, Faile konnte nicht erkennen, dass dieses Wissen ihr bei der Flucht nutzen würde, also spielte es eigentlich keine Rolle. Trotzdem nagte das Rätsel an ihr.

Sechs Töchter standen in einer engen Gruppe vor dem Zelt, ihre Schleier hingen ihnen auf der Brust, die Speere waren unter die Riemen der Bogenköcher auf ihren Rücken geschoben. Bain und Chiad verachteten Sevanna dafür, dass sie Töchter des Speers als Ehrenwache benutzte, obwohl sie selbst nie eine Tochter gewesen war, und weil sie ihr Zelt immer bewachen ließ, aber es standen nie weniger als sechs da, Tag und Nacht. Die beiden verachteten auch die Töchter der Shaido dafür, dass sie das zuließen. Weder die Position des Clanhäuptlings noch sein Sprachrohr verlieh einem so viel Macht, wie sie die meisten Adligen hatten. Die Hände der Töchter blitzten in einer schnellen Unterhaltung auf. Sie erkannte mehrmals das Zeichen für Car'a'carn, aber sonst nicht genug, um verstehen zu können, was sie da sagten, oder ob es um al'Thor oder Couladin ging.

Hier lange genug herumzustehen, um es herauszufinden — falls sie es herausfinden konnte —, stand außer Frage. Da die anderen bereits durch die schlammigen Straßen davoneilten, würden die Töchter möglicherweise misstrauisch werden, und sie würden vielleicht selbst zum Stock greifen oder, was noch schlimmer war, ihre Stiefelschnüre benutzen. Ein paar Töchter hatten das mit ihr gemacht, weil sie so »unverschämt« blickte, und sie wollte das nicht noch einmal erleben. Vor allem wenn das bedeutete, sich in der Öffentlichkeit zu entblößen. Sevannas Gai'schain zu sein bot keinerlei Schutz. Jeder Shaido konnte einen Gai'schain disziplinieren, wenn er der Meinung war, dass sich dieser unbotmäßig verhielt. Sogar jedes Kind konnte das, falls das Kind damit beauftragt wurde, eine Arbeit zu überwachen. Davon abgesehen würde der Regen, so leicht er auch war, ihr Wollgewand bald völlig durchnässt haben. Es war nur ein kurzer Weg zurück zu ihrem Zelt, keine Viertelmeile, aber sie würde ihn nicht zurücklegen, ohne aufgehalten worden zu sein.

Ein Gähnen ließ ihren Kiefer knacken, als sie sich von dem großen roten Zelt abwandte. Sie sehnte sich sehr nach ihren Decken und ein paar weiteren Stunden Schlaf. Am Nachmittag würde weitere harte Arbeit auf sie zukommen. Sie wusste nicht, was es sein würde. Alles wäre viel einfacher gewesen, hätte sich Sevanna entscheiden können, wer was wann machen sollte, aber sie schien Namen völlig zufällig auszusuchen und immer in letzter Minute. Es machte jede Planung sehr schwierig, von einer Flucht ganz zu schweigen.

Sevannas Zelt wurde von allen möglichen anderen umgeben, niedrige dunkle Aiel-Zelte, Spitzzelte, Zelte jeder vorstellbaren Art und Farbe, nur getrennt von einem Wirrwarr aus Fußwegen, die sich in Schlammpfade verwandelt hatten. Die Shaido hatten nicht genug eigene Zelte, darum nahmen sie jedes Zelt an sich, das sie finden konnten. Vierzehn Septimen kampierten nun um Maiden herum, einhunderttausend Shaido und fast genauso viele Gai'schain, und Gerüchten zufolge würden innerhalb der nächsten beiden Tage zwei weitere Septimen eintreffen, die Morai und die Weißen Klippen. Abgesehen von den kleinen Kindern, die mit Hunden durch den Schlamm tobten, trugen die meisten Leute, die Faile sehen konnte, schlammbeflecktes Weiß und trugen Körbe oder prall gefüllte Säcke. Die meisten Frauen beeilten sich nicht; sie rannten. Shaido erledigten nur selten irgendwelche Arbeiten selbst, mit Ausnahme von Schmiedearbeiten, und das auch nur aus Langeweile, wie Faile vermutete. Mit so vielen Gai'schain war es selbst für sie eine Last, sich Arbeiten einfallen zu lassen. Sevanna war nicht mehr die einzige Shaido, die in der Badewanne saß und sich von einem Gai'schain den Rücken schrubben ließ. Bis jetzt war noch keine der Weisen Frauen so weit gegangen, aber einige der anderen bewegten sich keine zwei Schritte, um etwas aufzuheben, wenn sie einem Gai'schain befehlen konnten, es zu holen.

Faile hatte fast den Gai'schain-Teil des Lagers erreicht, das in unmittelbarer Nähe der grauen Steinmauern von Maiden stand, als sie eine Weise Frau auf sich zukommen sah, die sich das dunkle Schultertuch wegen des Regens um den Kopf gewunden hatte. Faile blieb nicht stehen, knickte aber in den Knien ein. Meira war nicht so furchteinflößend wie Therava, aber die Frau mit dem grimmigen Gesicht war hart genug und kleiner als Faile. Ihr schmaler Mund wurde stets noch schmaler, wenn sie mit einer Frau konfrontiert wurde, die größer als sie war. Faile hätte gedacht, dass die Nachricht von der baldigen Ankunft ihrer eigenen Septime, die Weißen Klippen, die Stimmung der Frau aufgehellt hätte, aber die Neuigkeit hatte keine sichtbaren Auswirkungen.

»Also hast du bloß herumgetrödelt«, sagte Meira, als sie näher kam. Ihre Augen waren so hart wie die Saphire, denen sie ähnelten. »Ich habe Rhiale bei den anderen gelassen, weil ich Angst hatte, dass dich ein besoffener Narr ins Zelt gezerrt hat.« Sie schaute sich so finster um, als würde sie nach einem besoffenen Narren Ausschau halten, der das erledigen konnte.

»Niemand ist mir zu nahe getreten, Weise Frau«, sagte Faile schnell. Das war in den letzten Wochen ein paar Mal passiert, einige waren betrunken gewesen, einige auch nicht, aber Rolan war immer im letzten Augenblick aufgetaucht. Der riesige Mera'din hatte zweimal kämpfen müssen, um sie zu retten, und einmal hatte er den anderen Mann getötet. Sie hatte deswegen mit allen möglichen Schwierigkeiten gerechnet, aber die Weisen Frauen hatten es zu einem fairen Kampf erklärt, und Rolan hatte gesagt, dass ihr Name nicht einmal erwähnt worden war. So entschieden Bain und Chiad auch darauf bestanden, dass es gegen alle Bräuche verstieß, schwebten hier alle Gai'schain-Frauen in der ständigen Gefahr, vergewaltigt zu werden. Sie war davon überzeugt, dass Alliandre das passiert war, bevor sie und Maighdin ebenfalls Mera'din als Schatten bekommen hatten. Rolan hatte abgestritten, sie zu bitten, ihren Leuten zu helfen. Er hatte gesagt, sie seien einfach gelangweilt und suchten nur eine Beschäftigung. »Es tut mir sehr Leid, dass ich langsam war.«

»Du brauchst nicht zusammenzuzucken. Ich bin nicht Therava. Ich werde dich nicht aus Vergnügen schlagen.« Worte in einem Tonfall gesagt, der hart genug für einen Scharfrichter gewesen wäre. Meira mochte vielleicht keinen zum Vergnügen schlagen, aber Faile wusste genau, dass sie einen starken Arm hatte, der den Stock zu schwingen wusste. »Jetzt erzähl mir, was Sevanna gesagt und getan hat. Dieses Wasser, das vom Himmel fällt, mag ja eine wunderbare Sache sein, aber es ist unerfreulich, darin herumzuspazieren.«

Diesen Befehl zu erfüllen war leicht. Sevanna war während der Nacht nicht aufgewacht, und nachdem sie aufgestanden war, hatten sich ihre Gespräche nur darum gedreht, welche Kleider und welchen Schmuck sie tragen sollte, vor allem welchen Schmuck. Ihr Schmuckkasten war ursprünglich für Kleidung gewesen, und er war bis zum Rand mit mehr Edelsteinen gefüllt, als die meisten Königinnen besaßen. Bevor sie überhaupt ein Kleidungsstück anzog, verbrachte sie einige Zeit damit, verschiedene Kombinationen aus Halsketten und Ringen anzulegen und sich in dem vergoldeten Standspiegel zu betrachten. Es war sehr peinlich gewesen. Für Faile.

Sie war gerade bei Theravas Ankunft mit Galina angelangt, als alles vor ihren Augen Wellen schlug. Sie selbst schlug Wellen! Es war keine Einbildung. Meira riss die blauen Augen auf, so weit das ging; auch sie hatte es gefühlt. Wieder wogte alles, sie selbst eingeschlossen, härter als zuvor. Entsetzt richtete sich Faile zu ihrer vollen Größe auf und ließ das Gewand los. Die Welt schlug ein drittes Mal Wellen, dieses Mal noch härter, und als es sie durchdrang, fühlte sie sich, als könnte eine Brise sie fortwehen oder sie sich einfach in Nebel auflösen.

Mit hektischen Atemzügen wartete sie auf das vierte Wogen, das, von dem sie wusste, dass es sie und alles andere vernichten würde. Als es nicht kam, stieß sie vor Erleichterung jedes Quäntchen Luft aus ihren Lungen aus. »Was ist soeben geschehen, Weise Frau? Was war das?«

Meira berührte ihren Arm und sah leicht überrascht aus, dass die Hand nicht durch Fleisch und Knochen glitt. »Ich… ich weiß es nicht«, sagte sie langsam. Sie schüttelte sich und fügte hinzu: »Kümmere dich um deine Aufgaben, Mädchen.« Sie schürzte die Röcke und ging an Faile vorbei, fast schon im Laufschritt, spritzte dabei Schlamm in alle Richtungen.

Die Kinder waren von den Straßen verschwunden, aber Faile konnte sie in den Zelten weinen hören. Verlassene Hunde zitterten und winselten mit zwischen die Beine geklemmten Schwänzen. Leute auf der Straße berührten sich und andere, Shaido und Gai'schain. Faile faltete die Hände. Natürlich war sie vorhanden. Es hatte sich nur so angefühlt, als würde sie sich in Nebel verwandeln. Natürlich. Sie hob das Gewand an, um jede unnötige Wäsche zu vermeiden, und setzte sich wieder in Bewegung. Sie ging, und dann rannte sie, und es war ihr egal, wie viel Schlamm sie auf sich oder andere spritzte. Sie wusste, dass man vor keiner weiteren Welle würde fortlaufen können. Aber sie rannte trotzdem, so schnell ihre Beine sie trugen.

Die Zelte der Gai'schain bildeten einen breiten Ring um Maldens hohe Granitmauern, und sie waren genauso kunterbunt zusammengewürfelt wie die Zelte an der Außenseite des Lagers, auch wenn die meisten klein waren. Ihr eigenes Spitzzelt hätte kaum zwei Leuten Platz zum Übernachten geboten; es beherbergte sie und drei andere, Alliandre, Maighdin und eine ehemalige cairhienische Adlige namens Dairaine, eine von denen, die sich bei Sevanna einschmeicheln wollte, indem sie ihr Geschichten über andere Gai'schain andiente. Das komplizierte alles, aber es ließ sich nicht ändern, es sei denn, sie hätten die Frau umgebracht, und Faile würde so etwas nicht unterstützen. Nicht, bevor Dairaine zu einer echten Bedrohung wurde. Sie schliefen notgedrungen dicht aneinander gedrängt wie Hundewelpen, in den kalten Nächten froh über die geteilte Körperwärme.

Das Innere des niedrigen Zeltes war dunkel, als sie sich hineinduckte. Lampenöl und Kerzen waren Mangelware und wurden nicht für Gai'schain verschwendet. Nur Alliandre war da. Sie lag lediglich mit dem goldenen Kragen bekleidet auf dem Bauch auf ihren Decken, mit einem feuchten, in Kräutersud getauchtem Tuch auf ihrem misshandelten Hinterteil. Immerhin waren die Weisen Frauen bereit, ihre Heilkräuter gleichermaßen an Gai'schain wie an Shaido zu verteilen. Alliandre hatte nichts Falsches getan, war aber als eine der fünf ausgewählt worden, die Sevanna am Vortag am wenigsten erfreut hatten. Im Gegensatz zu anderen hatte sie ihre Strafe tapfer ertragen — Doirmanes hatte zu schluchzen angefangen, bevor man ihn über die Truhe beugte —, aber sie schien zu jenen zu gehören, die alle drei oder vier Tage an die Reihe kamen. Königin zu sein schien einem nicht beizubringen, wie man eine Königin zu bedienen hatte. Andererseits wurde Maighdin fast genauso oft ausgesucht, und sie war die Zofe einer Dame, wenn auch keine besonders gute. Faile war nur einmal ausgewählt worden.

Es war ein deutliches Anzeichen dafür, wie sehr Alliandres Lebensgeister gesunken waren, dass sie keine Anstalten machte, sich zu bedecken, sondern sich nur auf die Ellbogen stemmte. Wenigstens hatte sie ihr langes Haar gekämmt. Wenn sie das einmal nicht mehr machte, würde Faile wissen, dass die Frau den Tiefpunkt erreicht hatte. »Ist Euch eben etwas .. . Seltsames… passiert, meine Lady?«, fragte sie mit unsicherer Stimme, aus der deutlich Furcht hervorklang.

»Das ist es«, sagte Faile gebückt unter dem Querbalken.

»Ich weiß nicht, was es war. Meira weiß nicht, was es war. Ich bezweifle, dass es andere Weise Frauen wissen. Aber es hat uns nicht geschadet.« Natürlich hatte es ihnen nicht geschadet. Natürlich nicht. »Und es ändert nichts an unseren Plänen.« Gähnend hakte sie den breiten goldenen Gürtel auf und ließ ihn auf ihre Decken fallen, dann packte sie das Obergewand, um es sich über den Kopf zu ziehen.

Alliandre barg den Kopf in den Händen und fing an, leise zu weinen. »Wir werden niemals entkommen. Ich werde heute Abend wieder geschlagen. Ich weiß es. Ich werde für den Rest meines Lebens jeden Tag geschlagen werden.«

Mit einem Seufzen ließ Faile das Gewand, wo es war, und kniete nieder, um ihrer Lehnsfrau das Haar zu streicheln. Es gab genauso viel Verantwortung nach unten wie nach oben.

»Mich plagen manchmal die gleichen Ängste«, gab sie leise zu. »Aber ich weigere mich, mich von ihnen entmutigen zu lassen. Ich werde entkommen. Wir werden entkommen. Ihr dürft Euren Mut nicht verlieren, Alliandre. Ich weiß, dass Ihr tapfer seid. Ich weiß, dass Ihr Euch Masema entgegengestellt und Euren Mut nicht verloren habt. Das könnt Ihr jetzt auch, wenn Ihr es versucht.«

Aravine steckte den Kopf durch den Zelteingang. Sie war eine unscheinbare, pummelige Frau — Faile war davon überzeugt, dass sie eine Adlige war, auch wenn sie es nie behauptet hatte —, und Faile konnte trotz des Dämmerlichts sehen, dass sie strahlte. Auch sie trug Sevannas Gürtel und Kragen.

»Meine Lady, Alvon und sein Sohn haben etwas für Euch.«

»Es wird ein paar Minuten warten müssen«, sagte Faile. Alliandre hatte aufgehört zu schluchzen, aber sie lag stumm und reglos da.

»Meine Lady, darauf werdet Ihr nicht warten wollen.«

Faile stockte der Atem. Konnte es möglich sein? Es schien beinahe vermessen zu sein, darauf zu hoffen.

»Ich werde den Mut nicht verlieren«, sagte Alliandre und hob den Kopf, um Aravine anzusehen. »Wenn Alvon das hat, was ich hoffe, werde ich meinen Mut auch dann nicht verlieren, sollte mich Sevanna der Befragung unterziehen.«

Faile schnappte sich ihren Gürtel — draußen ohne Gürtel und Kragen gesehen zu werden, hatte eine Bestrafung zur Folge, die fast so schwer war wie für einen Fluchtversuch — und eilte aus dem Zelt. Aus dem Nieselregen war ein feuchter Nebel geworden, aber sie schlug trotzdem die Kapuze hoch. Es war immer noch kalt.

Alvon war ein schwerer Mann, der von seinem Sohn Theril überragt wurde, einem schlanken Jungen. Beide trugen schlammbefleckte, beinahe weiße Gewänder aus Segeltuch. Theril, Alvons Ältester, war erst vierzehn, aber die Shaido hatten es wegen seiner Größe nicht geglaubt, die fast an die der meisten Männer in Amadicia herankam. Faile war bereit gewesen, Alvon von Anfang an zu vertrauen. Er und sein Sohn waren unter den Gai'schain beinahe so etwas wie eine Legende. Sie waren dreimal weggelaufen, und jedes Mal hatten die Shaido länger gebraucht, um sie zurückzuholen. Und trotz zusehends härterer Bestrafungen hatten sie an dem Tag, an dem sie den Treueid geschworen hatten, den vierten Versuch geplant, zu ihrer Familie zurückzukehren. Faile hatte noch nie gesehen, dass einer von ihnen gelächelt hätte, aber heute lag sowohl auf Alvons faltigem wie auf Therils schmalem Gesicht ein Lächeln.

»Was habt ihr für mich?«, fragte Faile und befestigte schnell den Gürtel um ihre Taille. Sie glaubte, ihr Herz würde gleich explodieren, so heftig schlug es.

»Es war mein Theril, meine Lady«, sagte Alvon. Er war ein Holzfäller und sprach mit einem heiseren Akzent, der ihn schwer verständlich machte. »Er ging bloß zufällig vorbei, wisst Ihr, und dann war niemand in der Nähe, nicht einer, also ist er schnell hineingehuscht und… Theril, zeig es der Dame.«

Schüchtern griff Theril in seinen weiten Ärmel — für gewöhnlich waren dort Taschen eingenäht — und zog einen glatten weißen Stab heraus, der aus Elfenbein zu sein schien, etwa einen Fuß lang und so schlank wie Failes Handgelenk.

Nach einem schnellen Blick in die Runde, um zu sehen, ob sie beobachtet wurden — sie standen allein auf der Straße, jedenfalls im Augenblick —, nahm Faile ihn schnell entgegen, schob ihn in den Ärmel und steckte ihn dort in eine Tasche. Die Tasche war gerade tief genug, dass er nicht herausfallen konnte, aber jetzt, wo sie das Ding hatte, wollte sie es nicht mehr loslassen. Es fühlte sich wie Glas an und war sehr kühl, kühler als die Morgenluft. Vielleicht war es ein Angreal oder ein Ter'ang real. Das würde erklären, warum Galina es haben wollte, wenn auch nicht, warum sie es nicht selbst genommen hatte. Die Hand im Ärmel vergraben, umklammerte Faile den Stab. Galina war nicht länger eine Bedrohung. Jetzt war sie die Rettung.

»Ihr wisst, Alvon, dass Galina Euch und Euren Sohn möglicherweise nicht mitnehmen kann, wenn sie abreist«, sagte sie. »Ihr Versprechen gilt nur für mich und jene, die zusammen mit mir gefangen genommen worden sind. Aber ich verspreche Euch, dass ich einen Weg finde, euch und jeden, der mir die Treue geschworen hat, zu befreien. Auch den Rest, falls ich das kann, aber vor allem sie. Ich schwöre es unter dem Licht und bei meiner Hoffnung auf Errettung und Wiedergeburt.« Sie hatte keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte, falls sie nicht ihren Vater um eine Armee bitten wollte, aber sie würde es tun.

Der Holzfäller schien ausspucken zu wollen, dann schaute er sie an, und sein Gesicht rötete sich. Er schluckte stattdessen. »Diese Galina wird keinem helfen, meine Lady. Sagt, sie sei Aes Sedai und so, aber sie ist das Spielzeug dieser Therava, wenn Ihr mich fragt, und diese Therava wird sie nie gehen lassen. Aber egal, ich weiß, dass Ihr für uns zurückkommen werdet, wenn wir Euch befreien können, und Ihr braucht nicht zu schwören. Ihr habt gesagt, Ihr wollt den Stab, falls ihn sich jemand schnappen kann, ohne dabei erwischt zu werden, und Theril hat ihn Euch besorgt, das ist alles.«

»Ich will frei sein«, sagte Theril plötzlich, »aber wenn wir irgendjemandem die Freiheit verschaffen, dann haben wir sie geschlagen.« Er schien überrascht zu sein, dass er gesprochen hatte, und wurde knallrot. Sein Vater sah ihn stirnrunzelnd an, dann nickte er nachdenklich.

»Gut gesprochen«, sagte Faile leise zu dem Jungen. »Aber ich habe es geschworen, und ich stehe dazu. Du und dein Vater…« Sie unterbrach sich, als Aravine, die über ihre Schulter sah, ihr die Hand auf den Arm legte. Das Lächeln der Frau war von Furcht ersetzt worden.

Faile drehte den Kopf und erblickte Rolan neben ihrem Zelt. Mindestens zwei Fuß größer als Perrin trug er seine Shou fa um den Hals gewickelt, und der schwarze Schleier hing auf seine breite Brust herunter. Der Regen ließ sein kurzes rotes Haar in Locken an seinem Schädel kleben. Wie lange war er schon da? Nicht lange, sonst hätte Aravine ihn zuvor bemerkt. Das kleine Zelt bot kein Versteck. Alvon und sein Sohn schoben die Schultern nach vorn, als würden sie darüber nachdenken, den Mera 'di n anzugreifen. Das war eine sehr schlechte Idee. Mäuse, die eine Katze angriffen, waren dumm, wie Perrin gesagt hätte.

»Geht und kümmert euch um Eure Pflichten, Alvon«, sagte sie schnell. »Ihr auch, Aravine. Geht jetzt.«

Aravine und Alvon hatten genug Verstand, auf jede Ehrenbezeugung zu verzichten, bevor sie mit einem letzten besorgten Blick auf Rolan gingen, aber Theril hatte die Hand schon fast bis zur Stirn gehoben, bevor er daran dachte. Errötend eilte er hinter seinem Vater her.

Rolan setzte sich in Bewegung und blieb vor ihr stehen.

Seltsamerweise hatte er einen kleinen Strauß aus blauen und gelben Wildblumen in der Hand. Sie war sich des Stabes in ihrem Ärmel bewusst. Wo sollte sie ihn verstecken? Sobald Therava sein Verschwinden entdeckt hatte, würde sie vermutlich das ganze Lager auf den Kopf stellen.

»Du musst vorsichtig sein, Faile Bashere«, sagte Rolan und lächelte zu ihr herunter. Alliandre hatte ihn als unansehnlich bezeichnet, aber Faile war zu dem Schluss gekommen, dass sie sich irrte. Diese blauen Augen und dieses Lächeln machten ihn fast schon schön. »Was du da tust, ist gefährlich, und ich bin vielleicht nicht mehr lange da, um dich zu beschützen.«

»Gefährlich?« Sie fröstelte. »Was sagt Ihr da? Wo geht Ihr hin?« Bei dem Gedanken, seinen Schutz zu verlieren, verkrampfte sich ihr Magen. Nur wenige Feuchtländerinnen waren dem Interesse der Shaido entgangen. Ohne ihn…

»Ein paar von uns denken darüber nach, in das Dreifache Land zurückzukehren.« Sein Lächeln verblasste. »Wir können keinem falschen Car'a'carn folgen, der überdies auch noch ein Feuchtländer ist, aber vielleicht erlaubt man uns, unser Leben in unseren eigenen Besitzungen zu Ende zu leben. Wir denken darüber nach. Wir sind lange Zeit von zu Hause fort, und diese Shaido machen uns krank.«

Sie würde eine Strategie finden müssen, nach seiner Abreise damit zurechtzukommen. Sie würde es schaffen müssen. Irgendwie. »Und was tue ich Gefährliches?« Sie versuchte unbeschwert zu klingen, aber es fiel ihr schwer. Beim Licht, wie würde es ihr ohne ihn ergehen?

»Diese Shaido sind blind, selbst wenn sie nicht betrunken sind, Faile Bashere«, erwiderte er ruhig. Er schob ihre Kapuze zurück und steckte ihr über dem linken Ohr eine Wildblume ins Haar. »Wir Mera'din benutzen unsere Augen.« Noch eine Wildblume kam in ihr Haar, diesmal auf der anderen Seite. »Du hast in letzter Zeit viele neue Freunde gewonnen, und du willst mit ihnen fliehen. Ein mutiger Plan, aber gefährlich.«

»Werdet Ihr das den Weisen Frauen oder Sevanna sagen?« Sie war selbst überrascht, dass das ganz sachlich herauskam. Ihr Magen wollte sich verknoten.

»Warum sollte ich das tun?«, fragte er und fügte noch eine Blume hinzu. »Jhoradin glaubt, er wird Lacile Aldorwin mit zurück ins Dreifache Land nehmen, obwohl sie eine Baummörderin ist. Er glaubt sie davon überzeugen zu können, ihm einen Brautkranz zu Füßen zu legen.« Lacile hatte ihren eigenen Beschützer gefunden, indem sie unter die Decke des Mera'din gekrochen war, der sie zur Gai'schain gemacht hatte, und Arrela hatte das Gleiche mit einer der Töchter gemacht, die sie gefangen genommen hatten, aber Faile hatte ihre Zweifel, dass Jhoradins Wunsch in Erfüllung gehen würde. Beide Frauen waren auf die Flucht konzentriert, so wie Pfeile auf ihr Ziel gerichtet waren. »Und jetzt, da ich darüber nachdenke, könnte ich dich mitnehmen, wenn ich gehe.«

Faile starrte zu ihm hoch. Der Nieselregen fing an, ihr Haar zu durchnässen. »In die Wüste? Rolan, ich liebe meinen Ehemann. Das habe ich Euch gesagt, und es ist die Wahrheit.«

»Ich weiß«, sagte er und fügte weiterhin Blumen hinzu.

»Aber im Augenblick trägst du noch Weiß, und das, was passiert, solange du Weiß trägst, ist wieder vergessen, wenn du es ausziehst. Dein Ehemann kann dir das nicht zum Vorwurf machen. Davon abgesehen, wenn wir gehen und in die Nähe einer Feuchtländerstadt kommen, werde ich dich gehen lassen. Ich hätte dich niemals zu einer Gai'schain machen dürfen. Dieser Kragen und der Gürtel sind genug Gold, damit du sicher zu deinem Mann zurückkehren kannst.«

Ihr blieb der Mund offen stehen. Es überraschte sie, als ihre Faust seine breite Brust traf. Gai'schain durften niemals gewalttätig sein, aber der Mann grinste sie bloß an. »Ihr…!« Sie schlug ihn erneut, diesmal härter. Sie schlug auf ihn ein.

»Ihr…! Mir fällt nicht einmal ein passendes Schimpfwort ein. Ihr habt mich glauben lassen, Ihr würdet mich den Shaido überlassen, dabei wolltet Ihr mir die ganze Zeit bei der Flucht helfen?«

Er fing ihre Faust und hielt sie mühelos in einer Hand, die ihre völlig verschluckte. »Falls wir gehen, Faile Bashere.« Er lachte. Der Mann lachte! »Es ist noch nicht entschieden. Außerdem darf ein Mann eine Frau nicht glauben lassen, dass er zu interessiert ist.«

Wieder überraschte sie sich, diesmal, indem sie versuchte, gleichzeitig zu lachen und zu weinen, und sie tat es so ausgelassen, dass sie sich an ihn anlehnen musste, weil sie sonst gefallen wäre. Dieser verdammte Aiel-Humor!

»Du siehst sehr hübsch mit Blumen im Haar aus, Faile Bashere«, murmelte er und schob noch eine Blüte hinein.

»Oder ohne. Und im Augenblick trägst du noch Weiß.«

Beim Licht! Sie hatte den Stab, der so kühl gegen ihren Arm drückte, aber man würde ihn unmöglich Galina geben können, bevor Therava sie wieder allein umhergehen lassen würde, und man konnte unmöglich sicher sein, dass die Frau sie vorher nicht aus Verzweiflung verriet. Rolan bot ihr die Flucht an, falls sich die Mera'din zur Abreise entschieden, aber solange sie Weiß trug, würde er versuchen, sie unter seine Decke zu bekommen. Und wenn sich die Mera'din gegen die Abreise entschieden, würde einer von ihnen ihre Fluchtpläne verraten? Wenn man Rolan Glauben schenken wollte, wussten sie alle Bescheid! Hoffnung und Gefahr, beides unauflösbar miteinander verknüpft. Was für ein Durcheinander.

Wie sich herausstellte, hatte sie mit Theravas Reaktion genau ins Schwarze getroffen. Kurz vor Mittag wurden alle Gai'schain hinausgetrieben und mussten sich bis auf die Haut ausziehen. Faile bedeckte sich so gut es ging mit den Händen und drängte sich an die anderen Frauen, die Sevannas Gürtel und Kragen trugen — die hatten sie sofort wieder anlegen müssen —, drängte sich an sie, um wenigstens einen Anflug von Sittsamkeit zu zeigen, während die Shaido die Zelte der Gai'schain durchwühlten und alles hinaus in den Schlamm warfen. Faile konnte an nichts anderes als ihr Versteck in der Stadt denken und beten. Hoffnung und Gefahr, und keine Möglichkeit, beides zu entwirren.

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