15 Eine andere Fähigkeit

Zu Elaynes Wut, einer stillen, brodelnden Wut, die sie die Zähne zusammenbeißen ließ, verirrte sie sich auf dem Weg zu ihren Gemächern. Es waren ihre Räume gewesen, seit sie die Kinderstube verlassen hatte, und doch bog sie zweimal ab, nur um zu merken, dass der Weg nicht dorthin führte, wo sie hinwollte. Eine geschwungene, mit Marmorgeländer versehene Treppe brachte sie in die völlig falsche Richtung. Verflucht, ein Kind zu bekommen verwirrte ihre Sinne vollständig! Durch den Bund kam Verblüffung und dann wachsende Sorge, als sie den Weg zurückging und eine andere Treppe benutzte. Einige der Gardistinnen murmelten unbehaglich, nicht laut genug, dass sie die Worte verstehen konnte, bis die befehlshabende Bannerträgerin, eine schlanke Saldaeanerin namens Devore Zarbayan, sie mit einem scharfen Wort zum Schweigen brachte. Selbst Aviendha fing an, sie merkwürdig anzusehen. Nun, sie würde sich nicht vorhalten lassen, sich verirrt zu haben — nicht in ihrem Palast!

»Keiner sagt was«, sagte sie grimmig. »Keiner!«, fügte sie hinzu, als Birgitte trotzdem den Mund aufmachte.

Die blonde Frau machte den Mund wieder zu und zog an ihrem dicken Zopf, beinahe so, wie Nynaeve es immer tat. Sie gab sich keine Mühe, Missbilligung aus ihrem Gesicht herauszuhalten, und der Bund übermittelte noch immer Verwirrung und Sorge. Es reichte, dass Elayne selbst anfing, sich Sorgen zu machen. Sie hatte ihre Mühe, das abzuschütteln, bevor sie anfing, sich händeringend zu entschuldigen. So stark waren die Eindrücke.

»Wenn ich etwas sagen darf, ich glaube, ich versuche, meine Gemächer zu finden«, sagte Birgitte angespannt. »Ich will wieder trocken werden, bevor ich meine Stiefel durchlaufe. Wir müssen nachher darüber sprechen. Ich fürchte, da ist nichts mehr zu ändern, aber…« Mit einem steifen, fast unmerklichen Nicken stolzierte sie davon und ließ den Bogenstab von Seite zu Seite durch die Luft pfeifen.

Beinahe hätte Elayne sie zurückgerufen. Sie wollte es. Aber Birgitte brauchte genauso dringend trockene Kleidung wie sie selbst. Davon abgesehen war ihre Stimmung jetzt auf mürrisch und stur umgeschwenkt. Sie würde nicht darüber sprechen, sich in Korridoren verirrt zu haben, in denen sie aufgewachsen war, nicht jetzt und auch nicht später. Nichts mehr zu ändern? Was sollte das denn bedeuten? Falls Birgitte andeuten wollte, dass ihre Sinne zu benebelt waren, um wieder in die richtigen Bahnen gelenkt werden zu können…! Sie biss erneut die Zähne zusammen.

Endlich, nach einer weiteren unerwarteten Biegung, stieß sie auf die hohen, mit Löwenreliefs verzierten Türen ihrer Gemächer und stieß einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus. Langsam hatte sie schon geglaubt, dass ihre Erinnerungen an den Palast wirklich völlig durcheinander waren. Zwei Gardistinnen, prächtig anzuschauen mit den breitkrempigen Hüten mit weißem Helmbusch und den spitzengesäumten Schärpen mit aufgestickten weißen Löwen, die sich quer über die polierten Harnische zogen, sowie noch mehr Spitzenbesatz an Ärmeln und Hals, nahmen Haltung an, als sie herankam. Sie plante, sie mit rot lackierten Harnischen auszustatten, die zu ihren Seidenmänteln und Hosen passten, sobald sie Zeit hatte, sich damit zu befassen. Falls sie so hübsch aussahen, dass jeder Angreifer sie nicht ernst nahm, bis es zu spät war, würde sie sie richtiggehend ausstaffieren. Die Gardistinnen schien es nicht zu stören. Tatsächlich waren sie schon sehr auf die lackierten Harnische gespannt.

Sie hatte zufällig gehört, dass einige sich verächtlich über die Gardistinnen geäußert hatten — in der Hauptsache Frauen, aber auch Doilin Mellar, ihr eigener Kommandant —, doch sie hatte volles Vertrauen in ihre Fähigkeiten, sie zu beschützen. Sie waren mutig und entschlossen, oder sie wären nicht hier gewesen. Yurith Azeri und andere, die Kaufmannswachen gewesen waren, ein seltenes Handwerk für Frauen, gaben täglich Schwertunterricht, und auch ein paar der Behüter gaben noch zusätzlich jeden Tag eine zweite Unterrichtsstunde. Sareithas Ned Yarman und Vandenes Jaem äußerten sich sehr anerkennend darüber, wie schnell sie lernten. Jaem sagte, es läge daran, dass sie nicht zu wissen glaubten, wie man mit einer Klinge umgehen müsste, was albern klang. Wie konnte man glauben, dass man etwas bereits wusste, wenn man Unterricht darin brauchte?

Trotz der bereits postierten Wächterinnen winkte Devore zwei von ihrer Eskorte herbei, und sie zogen die Schwerter und gingen hinein, während Elayne mit Aviendha und dem Rest im Korridor wartete und ungeduldig mit dem Fuß auftippte. Jeder vermied es, sie anzusehen. Die Suche war keine Herabsetzung der Frauen, die die Tür bewachten — Elayne hielt es für möglich, dass jemand die Palastwand hochkletterte; es gab genügend Verzierungen, die als Haltegriffe dienen konnten —, aber es ärgerte sie, dass sie warten musste. Sie und Aviendha durften erst eintreten, nachdem die Frauen wieder herausgekommen und Devore Bericht erstattet hatten, dass in den Gemächern keine Attentäter lauerten und auch keine Aes Sedai darauf warteten, Elayne zurück zu Elaida und der Burg zu verschleppen. Die Gardistinnen nahmen zu beiden Seiten der Tür neben den anderen Aufstellung. Elayne war sich nicht sicher, ob sie sie davon abgehalten hätten, schon vorher einzutreten, aber bis jetzt hatte sie es nicht darauf ankommen lassen wollen. Von der eigenen Leibwache festgehalten zu werden wäre einfach unerträglich gewesen, und dabei spielte es keine Rolle, dass sie nur ihre Arbeit taten. Es war besser, es nicht herauszufinden.

In dem weißen Marmorkamin des Vorzimmers brannte ein kleines Feuer, aber es schien nur wenig Wärme zu spenden. Man hatte die Teppiche wegen des Frühlings entfernt, und die Bodenfliesen fühlten sich kalt unter ihren Stiefelsohlen an, so dick sie auch sein mochten. Essande, ihre Kammerzofe, breitete die grauen, rot gesäumten Röcke mit für ihr Alter überraschender Anmut aus, auch wenn die gertenschlanke, weißhaarige Frau unter Gelenkschmerzen litt, die sie verdrängte und auch nicht Heilen lassen wollte. Sie hätte sich genauso vehement gegen den Vorschlag gewehrt, wieder in den Ruhestand zurückzukehren. Elaynes Goldene Lilie war stolz auf der Kleiderbrust aufgenäht und wurde stolz getragen. Die beiden jüngeren Frauen einen Schritt hinter ihr trugen ähnliche Livreen, aber mit kleineren Lilien; es waren Sephanie und Naris, stämmige Geschwister mit kantigen Gesichtern. Noch immer schüchtern, wenn auch gut von Essande ausgebildet, machten sie tiefe Knickse, bei denen sie sich fast auf den Boden setzten.

So zerbrechlich und langsam Essande auch in ihren Bewegungen sein mochte, sie verschwendete nie Zeit mit belanglosem Geplauder oder damit, das Offensichtliche festzustellen. Es gab keine Klagen, wie nass Elayne und Aviendha doch waren, obwohl die Gardistinnen es ihr zweifellos gesagt hatten. »Wir sorgen dafür, dass Ihr warm und trocken werdet, meine Lady, und dann etwas Passendes für das Treffen mit den Söldnern heraussuchen. Das rote Seidengewand mit Feuertropfen am Hals sollte sie ausreichend beeindrucken. Eure Essenszeit ist auch schon lange vorbei. Spart Euch die Mühe, mir zu sagen, dass Ihr gegessen habt, meine Lady. Naris, hol für die Lady Elayne und die Lady Aviendha etwas zu essen aus der Küche.« Aviendha gab ein schnaubendes Lachen von sich, aber sie hatte schon vor langer Zeit aufgehört, sich gegen die Anrede Lady zu wehren. Was vernünftig war, denn sie würde Essande niemals davon abhalten. Bei Dienern gab es Dinge, die man anordnete und Dinge, über die man einfach hinwegsehen musste.

Naris zog eine Grimasse und holte aus irgendeinem Grund tief Luft, machte aber einen weiteren tiefen Knicks, der diesmal Essande galt, und einen etwas tieferen für Elayne — sie und ihre Schwester hatten vor der älteren Frau genauso viel Ehrfurcht wie vor der Tochter-Erbin von Andor —, bevor sie die Röcke raffte und hinaus in den Korridor eilte.

Auch Elayne verzog das Gesicht. Offensichtlich hatten die Gardistinnen Essande auch über die Söldner informiert. Und dass sie nicht gegessen hatte. Sie hasste es, wenn die Leute hinter ihrem Rücken über sie redeten. Aber wie viel davon lag an ihren Stimmungsschwankungen? Sie konnte sich nicht daran erinnern, sich früher darüber geärgert zu haben, wenn eine Dienerin im Voraus wusste, welches Kleid sie herauslegen sollte oder wenn jemand wusste, dass sie hungrig war und eine Mahlzeit kommen ließ, ohne darum gebeten worden zu sein. Diener unterhielten sich — das hieß, sie klatschten ununterbrochen, das war so —, und wenn sie gut in ihrer Arbeit waren, gaben sie alles weiter, was dabei half, ihrer Herrin besser zu dienen. Essande war sehr gut in ihrer Arbeit. Trotzdem störte es Elayne, und es störte sie noch mehr, weil sie sich bewusst war, dass das irrational war.

Sie ließ zu, dass Essande sie und Aviendha in das Ankleidezimmer führte. Sephanie schloss sich ihnen an. Mittlerweile fühlte sie sich richtig elend, sie war nass und zitterte, sie war wütend auf Birgitte, weil sie so einfach davongestürmt war, sie verspürte Angst, weil sie sich in dem Palast verirrt hatte, in dem sie aufgewachsen war, es störte sie, dass ihre Leibwächterinnen über sie klatschten. In Wahrheit fühlte sie sich absolut fürchterlich.

Aber Essande hatte sie schnell von den nassen Sachen befreit und in ein großes weißes Handtuch gewickelt, das vor dem großen Marmorkamin am anderen Ende des Raums auf einer Wärmestange gehangen hatte. Das hatte eine beruhigende Wirkung. Dieses Feuer war nicht so klein, und in dem Zimmer schien es fast schon zu heiß zu sein, eine willkommene Hitze, die in die Haut eindrang und das Zittern vertrieb. Essande rieb Elaynes Haar mit dem Handtuch trocken, während Sephanie das Gleiche bei Aviendha tat, was die Aiel noch immer verdross, obwohl es bei weitem nicht das erste Mal war. Sie und Elayne bürsteten sich oft abends gegenseitig das Haar, aber diesen einfachen Dienst von einer Zofe erledigen zu lassen trieb Farbe in Aviendhas sonnengebräunte Wangen.

Als Sephanie einen der Schränke an der Wand öffnete, seufzte Aviendha tief. Sie hielt ein Handtuch lose um ihren Körper — es war zwar peinlich, sich von einer anderen Frau das Haar trocknen zu lassen, aber fast nackt zu sein war in Ordnung —, und ein weiteres, kleineres, war um ihren Kopf gewickelt. »Elayne, findest du, ich sollte Feuchtländerkleidung tragen, da wir doch zu diesen Söldnern gehen?«, fragte sie mit zögerndem Tonfall. Essande lächelte. Sie genoss es, Aviendha in Seide zu kleiden.

Elayne unterdrückte selbst ein Lächeln, was nicht einfach war, da sie selbst gern gelacht hätte. Ihre Schwester tat so, als würde sie Seide verabscheuen, aber sie ließ selten eine Gelegenheit aus, sie zu tragen. »Wenn du dich überwinden kannst, Aviendha«, sagte sie ernst und richtete sorgfältig ihr Handtuch. Essande sah sie jeden Tag nackt, und Sephanie auch, aber es schickte sich nicht, so etwas grundlos zu tun.

»Wir sollten sie beide beeindrucken, das erzielt den größten Erfolg. Es stört dich doch nicht zu sehr, oder?«

Aber Aviendha stand bereits am Kleiderschrank, und ihr Handtuch klaffte sorglos weit offen, während sie mehrere Kleider berührte. In einem anderen Schrank hingen mehrere Garnituren Aiel-Kleidung, aber Tylin hatte ihnen vor ihrem Aufbruch aus Ebou Dar Truhen mit aufwändig geschneiderten Seiden- und Wollkleidern mitgegeben, fast genug, um beinahe ein Viertel der Kleiderschränke zu füllen.

Nach der kurzen Heiterkeit fühlte sich Elayne nicht länger, als müsste sie sich wegen allem streiten, also ließ sie sich ohne Widerrede von Essande in ein Kleid aus roter Seide stecken, auf dessen hohen Kragen Feuertropfen in der Größe von Fingergliedern aufgenäht waren. Dieses Kleid würde beeindrucken, da gab es keinen Zweifel, und man brauchte auch keinen weiteren Schmuck, obwohl der Große Schlangenring an ihrer rechten Hand ohnehin jeden Schmuck ersetzte. Die weißhaarige Dienerin hatte einen sanften Griff, aber trotzdem zuckte Elayne zusammen, als sie hinten die Reihen winziger Knöpfe schloss, wodurch sich das Oberteil um ihre empfindlichen Brüste spannte. Die Meinungen waren geteilt, wie lange das andauern würde, aber alle waren sich einig, dass sie mit noch mehr Schwellung rechnen musste.

Oh, wie sehr wünschte sie sich doch, Rand wäre nahe genug, um die vollen Auswirkungen durch ihren Bund zu teilen. Das würde ihn lehren, ihr so ohne weiteres ein Kind zu machen. Natürlich hätte sie den Herzblatttee trinken können, bevor sie sich ihm hingegeben hatte… Sie verdrängte den Gedanken energisch. Das alles war nur Rands Schuld, und damit Schluss.

Aviendha wählte Blau, wie sie es oft tat, mit Reihen winziger Perlen am Ausschnitt. Die Seide war nicht so tief ausgeschnitten, wie es in Ebou Dar Mode war, aber sie zeigte dennoch etwas Dekollete; nur wenige Kleider aus Ebou Dar taten das nicht. Als Sephanie anfing, die Knöpfe zu schließen, tätschelte Aviendha etwas, das sie aus ihrer Gürteltasche geholt hatte, einen kleinen Dolch mit einem Hirschhorngriff, der mit Golddraht umwickelt war. Er diente auch als Ter’angreal, allerdings hatte Elayne vor dem Beginn ihrer Schwangerschaft — die solche Studien unterbrochen hatte — nicht herausfinden können, was genau man damit machen konnte.

»Warum fasziniert dich das Ding nur so?«, fragte Elayne. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihre Schwester so von diesem Messer fasziniert sah.

Aviendha zuckte zusammen und blinzelte den Dolch in ihren Händen an. Die Eisenklinge — zumindest sah sie wie Eisen aus und fühlte sich auch beinahe so an — war niemals geschärft worden, soweit Elayne das wusste, und sie war etwas länger als ihre Handfläche, wenn auch ziemlich breit. Selbst die Spitze war zu stumpf, um damit zustechen zu können. »Ich wollte ihn dir geben, aber du hast nie ein Wort darüber verloren, also glaubte ich, ich würde mich vielleicht irren, und dann hätten wir alle gedacht, du wärst sicher, jedenfalls vor einigen Gefahren, obwohl das nicht der Fall ist. Also entschied ich, ihn zu behalten. Wenn ich Recht habe, hätte ich so wenigstens dich beschützen können, und wenn ich mich täusche, macht es auch keinen Unterschied.«

Elayne schüttelte den handtuchumwickelten Kopf. »Womit denn Recht? Wovon redest du?«

»Na hiervon.« Aviendha hielt den Dolch hoch. »Ich glaube, wenn man diesen Dolch besitzt, kann einen der Schatten nicht sehen. Weder die Augenlosen noch die Schattenverzerrten, vielleicht sogar nicht einmal der Blattquäler. Aber ich muss mich da irren, wenn du es nicht sehen kannst.«

Sephanie keuchte und hielt mit der Arbeit inne, bis Essande eine leise Zurechtweisung murmelte. Essande war zu alt, um sich durch die bloße Erwähnung des Schattens einschüchtern zu lassen. Oder von den meisten anderen Dingen, was das anging.

Elayne starrte Aviendha an. Sie hatte versucht, sie in der Herstellung von Ter’angrealen zu unterrichten, aber ihre Schwester hatte darin nicht das geringste Geschick. Aber vielleicht hatte sie ja eine andere Fähigkeit, die man vielleicht sogar als Talent bezeichnen konnte. »Komm mit«, sagte sie, nahm Aviendha am Arm und zerrte sie beinahe aus dem Ankleidezimmer. Essande folgte protestierend, während Sephanie sich bemühte, Aviendhas Kleid im Laufen zuzumachen.

In dem größeren der beiden Wohnzimmer loderten ordentliche Feuer in beiden Kaminen, und wenn die Luft vielleicht auch nicht so warm wie im Ankleidezimmer war, war es dennoch angenehm. An dem Tisch mit dem Wellenmuster an seiner Kante und den Stühlen mit der niedrigen Lehne in der Mitte des weiß gefliesten Bodens nahmen sie und Aviendha die meisten ihrer Mahlzeiten ein. An dem einen Ende des Tisches stapelten sich mehrere in Leder gebundene Bücher aus der Hofbibliothek; historische Chroniken über Andor und Geschichtensammlungen. Die Kandelaber sorgten für ein gutes Licht, und hier lasen sie oft abends.

Aber wichtiger war der lange Seitentisch an der dunkel getäfelten Wand. Er war mit Ter’angrealen aus der Kiste voll gestellt, die die Kusinen in Ebou Dar versteckt gehabt hatten, Becher und Schalen, Statuetten und Tonfiguren, Juwelen, alle möglichen Gegenstände. Die meisten sahen ganz normal aus, wenn man vielleicht von dem oft seltsamen Design absah, aber selbst die am zerbrechlichsten wirkenden konnten nicht zerbrochen werden, und einige waren schwerer oder leichter, als sie aussahen. Elayne konnte sie nicht länger auf Erfolg versprechende Weise studieren — da war zwar Mins Versicherung, dass ihre Kinder nicht verletzt werden konnten, aber da ihre Kontrolle der Macht so unberechenbar war, bestand die nicht zu unterschätzende Möglichkeit, dass sie sich selbst schadete —, aber sie wechselte das Sortiment auf dem Tisch jeden Tag aus, holte zufällig ausgesuchte Stücke aus den Körben in dem Tresorraum ihres Gemachs, nur damit sie sie ansehen und darüber nachdenken konnte, was sie vor Beginn ihrer Schwangerschaft über sie herausbekommen hatte. Nicht, dass sie viel herausbekommen hätte — gut, sie hatte gar nichts herausbekommen —, aber sie konnte über sie nachdenken. Man musste sich keine Sorgen machen, dass etwas gestohlen wurde. Reene hatte die meisten Unehrlichen aus der Dienerschaft herausgesiebt, wenn nicht sogar alle, und die allgegenwärtigen Wachen an der Tür sorgten für den Rest.

Die Lippen zu einem missbilligendem Strich verzogen, machte Essande mit Elaynes Knöpfen weiter — man zog sich im Ankleidezimmer an, wie es sich gehörte, und nicht hier draußen, wo jeden Augenblick jemand hereinplatzen konnte. Sephanie mühte sich hektisch und schwer atmend mit Aviendhas Kleid ab, vermutlich mehr durch das Missfallen der alten Frau nervös gemacht als durch alles andere.

»Such dir irgendeines aus und sag mir, was es deiner Meinung nach kann.« Ansehen und darüber nachdenken hatte keinen Erfolg gebracht, und sie hatte es auch nicht erwartet.

Aber wenn Aviendha die Fähigkeiten eines Ter’angreals bestimmen konnte, nur indem sie es in der Hand hielt… Heißer und bitterer Neid schoss in ihr hoch, aber sie drängte ihn zurück und sprang dann vorsichtshalber solange darauf herum, bis er verschwunden war. Sie würde nicht neidisch auf Aviendha sein!

»Ich bin mir nicht sicher, dass ich das kann. Ich habe doch bloß eine Ahnung, dass dieser Dolch eine Art von Abschirmung ist. Und ich muss mich irren, oder du würdest es wissen. Du verstehst mehr von diesen Dingen als alle anderen zusammen.«

Elaynes Wangen röteten sich vor Verlegenheit. »Ich weiß nicht einmal annährend so viel, wie du zu glauben scheinst. Versuch es, Aviendha. Ich habe noch nie davon gehört, dass jemand Ter’angreale… lesen kann, aber wenn du das kannst, und wenn es auch nur ein bisschen ist, begreifst du nicht, wie großartig das wäre?«

Aviendha nickte, doch in ihrem Gesicht blieb der Zweifel bestehen. Zögernd berührte sie einen schmalen schwarzen Stab, einen Schritt lang und so biegsam, dass man ihn zu einem Kreis biegen und er wieder in seine ursprüngliche Form zurückschnellen konnte. Berührte ihn und riss die Hand zurück, wischte sich die Finger unbewusst an ihrem Rock ab.

»Der verursacht Schmerz.«

»Das hat uns Nynaeve gesagt«, erwiderte Elayne ungeduldig, und Aviendha sah sie streng an.

»Nynaeve al’Meara hat nicht gesagt, dass du festlegen kannst, wie viel Schmerz jeder Schlag anrichtet.« Dann überfiel sie wieder die Unsicherheit, und ihre Stimme wurde zögernd.

»Zumindest glaube ich, dass er das kann. Ich glaube, ein Schlag kann sich wie einer oder wie hundert anfühlen. Aber das sind bloß Vermutungen, Elayne. Ich glaube das lediglich.«

»Mach weiter«, sagte Elayne aufmunternd. »Vielleicht finden wir etwas, mit dem wir es beweisen können. Was ist damit?« Sie ergriff eine seltsam geformte Metallkappe. Bedeckt mit seltsamen, rechteckigen Mustern, die von einer besonders feinen Gravur gebildet wurden, war sie viel zu dünn, um als Helm dienen zu können, war aber doppelt so schwer, wie es den Anschein hatte. Das Metall fühlte sich auch ganz schmierig an, nicht nur glatt, als wäre es eingeölt.

Aviendha legte den Dolch zögernd zur Seite und drehte die Kappe in den Händen, bevor sie sie wieder auf dem Tisch ablegte und den Dolch an sich nahm. »Ich glaube, damit kann man eine Art von… Gerät steuern. Eine Maschine.« Sie schüttelte den Kopf, um den noch immer das Handtuch gebunden war. »Aber ich weiß nicht wie oder was für eine Maschine. Siehst du? Ich rate bloß herum.«

Aber Elayne ließ sie nicht aufhören. Aviendha berührte ein Ter’angreal nach dem anderen oder nahm es auch kurz in die Hand, und jedes Mal hatte sie eine Antwort. Zögernd und mit der Warnung, dass es sich nur um eine Vermutung handelte, aber immer eine Antwort. Ein kleines Kästchen, scheinbar aus Elfenbein und mit gewundenen roten und grünen Streifen bedeckt, enthielt Musik, Hunderte Melodien, vielleicht Tausende. Bei einem Ter’angreal war das durchaus möglich. Eine flache weiße Schüssel von einem Schritt Durchmesser diente dazu, Dinge aus weiter Ferne zu beobachten, und eine hohe Vase mit grünen und blauen Schlingpflanzen — blauen Schlingpflanzen! — zog Wasser aus der Luft. Das klang nutzlos, aber Aviendha liebkoste sie beinahe, und nach kurzem Nachdenken erkannte Elayne, dass sie in der Wüste sehr nützlich sein würde. Wenn sie so funktionierte, wie Aviendha glaubte. Und jemand herausfinden konnte, wie man sie zum Funktionieren brachte. Das schwarzweiße Figürchen eines fliegenden Vogels mit ausgebreiteten Schwingen war dazu gemacht, um aus großer Distanz mit Leuten zu sprechen. Genau wie die blaue Frauenfigur, die klein genug war, um in Aviendhas Hand zu passen. Und wie fünf Ohrringe, sechs Fingerringe und drei Armreifen.

Elayne beschlich schon der Verdacht, dass Aviendha aufgab und immer das Gleiche antwortete in der Hoffnung, dass sie zu fragen aufhörte, aber dann wurde ihr klar, dass die Stimme ihrer Schwester zusehends selbstbewusster wurde, dass die Proteste, sie würde nur raten, aufgehört hatten. Und ihre »Vermutungen« wurden immer detaillierter. Ein gebogener, mattschwarzer schmuckloser Stab von der Breite ihres Handgelenks — er schien aus Metall zu bestehen, aber das eine Ende passte sich jeder Hand an, die ihn ergriff — ließ Aviendha an Schneiden denken, entweder Metall oder Stein, solange sie nicht zu dick waren. Allerdings nichts, das Feuer fangen konnte. Die angebliche Glasfigur eines Mannes, die einen Fuß hoch war und der die Hände hob, als wollte er signalisieren, dass es hier nicht mehr weiterging, würde Ungeziefer verjagen, was bei Caemlyns Ratten- und Fliegenplagen mit Sicherheit nützlich gewesen wäre. Eine Steinschnitzerei von der Größe ihrer Hand — sie fühlte sich wie Stein an, obwohl die Schnitzereien irgendwie durch natürliche Einflüsse geformt erschienen — war dafür gedacht, etwas wachsen zu lassen. Keine Pflanzen. Sie ließ sie an Löcher denken, aber es waren keine richtigen Löcher. Und sie glaubte nicht, dass jemand die Macht lenken musste, um sie zu aktivieren. Man musste nur das richtige Lied singen! Ein Ter’angreal, das nicht die Eine Macht brauchte! Singen?

Sephanie hatte Aviendhas Kleid endlich geschlossen und war in den Bann ihrer Beschreibungen geraten, ihre Augen wurden immer größer. Auch Essande hörte interessiert zu, den Kopf zur Seite gelegt, und bei jeder neuen Enthüllung gab sie ihrem Erstaunen durch Murmeln kund, aber sie hüpfte nicht auf den Zehen herum, wie Sephanie es tat.

»Was ist damit, meine Lady?«, platzte die junge Frau heraus, als Aviendha eine Pause einlegte. Sie zeigte auf die Statuette eines stämmigen bärtigen Mannes mit einem fröhlichen Lächeln, der ein Buch hielt. Zwei Fuß groß schien sie aus vom Alter gedunkelter Bronze zu bestehen, und sie war auf jeden Fall schwer genug, um es auch zu sein. »Wenn ich ihn ansehe, möchte ich auch immer lächeln, meine Lady.«

»Ich auch, Sephanie Pelden«, sagte Aviendha und streichelte über den Bronzekopf des Mannes. »Ihr müsst wissen, er hält mehr als nur ein Buch. Er hält Tausende und Abertausende Bücher.« Plötzlich hüllte das Licht Saidars sie ein, und sie berührte die Bronzefigur mit winzigen Strömen aus Feuer und Erde.

Sephanie quiekte auf, als über dem Kopf der Statuette zwei Wörter in der Alten Sprache erschienen, so schwarz wie mit guter Tinte geschrieben. Ein paar der Buchstaben waren etwas seltsam geformt, aber die Worte waren deutlich zu lesen. Ansoen und Imsoen schwebten im Nichts. Aviendha sah fast so überrascht wie die Zofe aus.

»Ich glaube, wir haben endlich unseren Beweis«, sagte Elayne ruhiger, als sie sich fühlte. Ihr Herz klopfte wild. Lügen und Wahrheit. So konnte man die beiden Worte übersetzen. Oder vielleicht wäre Dichtung und Wahrheit im Kontext die bessere Übersetzung gewesen. Ihr reichte dieser Beweis. Sie merkte sich, wo die Ströme die Figur berührten, für die Zeit, in der sie mit ihren Studien fortfahren konnte.

»Aber du hättest das nicht tun sollen. Es ist nicht sicher.«

Das Schimmern um Aviendha verschwand. »Beim Licht«, rief sie aus und warf die Arme um Elayne. »Ich habe nicht nachgedacht! Ich schulde dir großes Toh. Ich wollte dich oder deine Babys niemals in Gefahr bringen! Niemals!«

»Meine Babys und ich sind sicher.« Elayne lachte und erwiderte die Umarmung. »Mins Sicht?« Zumindest ihre Babys waren sicher. Bis zur Geburt. So viele Säuglinge starben in ihrem ersten Jahr. Min hatte nichts darüber hinaus gesagt, als dass sie gesund zur Welt kommen würden. Min hatte aber auch nichts darüber gesagt, ob sie ausbrennen würde, doch sie hatte nicht vor, das bei ihrer Schwester zur Sprache zu bringen, die sich bereits schuldig fühlte. »Du schuldest mir kein Toh. Ich habe dabei an dich gedacht. Du hättest sterben können, oder deine Fähigkeiten, die Macht zu lenken, hätten ausbrennen können.«

Aviendha wich weit genug von ihr zurück, um ihr in die Augen zu sehen. Was sie dort las, reichte aus, um sie zu beruhigen, denn ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen.

»Aber ich habe es zum Funktionieren gebracht. Vielleicht kann ich ihr Studium übernehmen. Wenn du mich anleitest, sollte es völlig sicher sein. Es sind noch Monate, bis du es wieder selbst übernehmen kannst.«

»Dafür hast du keine Zeit mehr, Aviendha«, sagte eine Frauenstimme aus Richtung der Tür. »Wir brechen auf. Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr an das Gefühl von Seide auf der Haut gewöhnt. Elayne, ich grüße Euch.«

Aviendha sprang förmlich aus der Umarmung und errötete aufgebracht, als zwei Aielfrauen den Raum betraten, und es waren keine beliebigen Aiel. Nadere, blond und fast so groß und breit wie ein Mann, war eine Weise Frau, die unter den Goshien über eine beträchtliche Autorität verfügte, und Dorindha, in deren langen roten Haaren sich weiße Strähnen abzeichneten, war die Ehefrau von Bael, dem Clanhäuptling der Goshien; allerdings verdankte sie ihre Macht eigentlich ihrer Position als Dachherrin der Rauchquellenfeste, der größten Festung des Clans. Sie war diejenige gewesen, die gesprochen hatte.

»Ich grüße Euch, Dorindha«, sagte Elayne. »Ich grüße Euch, Nadere. Warum holt ihr Aviendha fort?«

»Ihr habt gesagt, ich könnte bei Elayne bleiben und dabei helfen, ihr den Rücken freizuhalten«, protestierte Aviendha.

»Das habt Ihr, Dorindha.« Elayne griff nach der Hand ihrer Schwester, und Aviendha erwiderte den Druck. »Ihr und auch die Weisen Frauen.«

Armreifen aus Gold und Elfenbein klapperten, als Dorindha ihr dunkles Schultertuch zurechtrückte. »Wie viele braucht Ihr, damit Euer Rücken gedeckt ist, Elayne?«, fragte sie trocken. »Ihr habt ungefähr hundert oder sogar noch mehr, die sich allein diesem Schutz verschworen haben, und jede ist so hart wie eine Vax Dareis Mai.« Ein Lächeln ließ die Fältchen in ihren Augenwinkeln tiefer erscheinen. »Ich glaube, diese Frauen vor der Tür wollten, dass wir vor dem Eintreten unsere Gürtelmesser abgeben.«

Nadere berührte den Horngriff ihres Messers, in ihren grünen Augen flackerte ein wildes Leuchten, obwohl es unwahrscheinlich war, dass die Leibwache so etwas verlangt hatte. Selbst Birgitte, die jeden für verdächtig hielt, wenn es um Elaynes Sicherheit ging, konnte bei den Aiel keine Gefahr erkennen, und Elayne hatte verschiedene Verpflichtungen akzeptiert, als sie und Aviendha einander adoptiert hatten. Weise Frauen, die an der Zeremonie teilgenommen hatten — so wie Nadere — konnten sich im Palast zu jeder Zeit frei bewegen. Das war eine der Verpflichtungen. Was nun Dorindha anging, sie machte einen gebieterischen Eindruck — wenn auch auf eine leise, stille Art —, dass es unvorstellbar erschien, jemand könnte ihr den Weg versperren.

»Deine Ausbildung ist zu lange unterbrochen worden, Aviendha«, sagte Nadere fest. »Geh und zieh dir anständige Kleidung an.«

»Aber ich lerne so viel von Elayne, Nadere. Gewebe, die selbst euch unbekannt sind. Ich glaube, ich kann es im Dreifachen Land regnen lassen! Und erst heute haben wir erfahren, dass…«

»Was auch immer du gelernt haben magst«, wurde sie scharf von Nadere unterbrochen, »anscheinend hast du genauso viel wieder verlernt. Wie die Tatsache, dass du noch immer ein Lehrling bist. Die Macht gehört zu dem Geringsten, in dem sich eine Weise Frau auskennen muss, sonst wären ja nur jene, die die Macht lenken können, Weise Frauen. Jetzt geh und zieh dich um, und danke deinem Glück, dass ich dich nicht nackt zurückkehren lasse, damit du eine Tracht Prügel bekommst. Die Zelte werden in diesem Augenblick abgebaut, und wenn sich die Abreise des Clans verzögert, dann wirst du mit dem Riemen Bekanntschaft machen.«

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ließ Aviendha Elaynes Hand los und rannte aus dem Zimmer, prallte dabei gegen Naris, die stolperte und beinahe das große, mit einem Tuch bedeckte Tablett hätte fallen lassen, das sie trug. Nach einer schnellen Geste Essandes eilte Sephanie hinter Aviendha her. Beim Anblick der Aiel machte Naris große Augen, aber Essande schalt sie dafür, so lange gebraucht zu haben, und befahl ihr, das Essen aufzutragen. Die junge Zofe gehorchte eilig und murmelte dabei Entschuldigungen.

Auch Elayne wollte hinter Aviendha herrennen, um noch jeden Augenblick mit ihr ihrer Erinnerung einzuprägen, aber Naderes Worte hielten sie davon ab. »Ihr verlasst Caemlyn, Dorindha? Wo zieht ihr hin?« So sehr Elayne die Aiel auch mochte, sie wollte nicht, dass sie im Land umherzogen. So heikel wie die Situation war, waren sie bereits ein Problem, wenn sie ihr Lager verließen, um zu jagen oder zu handeln.

»Wir verlassen Andor, Elayne. In ein paar Stunden werden wir weit jenseits Eurer Grenzen sein. Wohin wir gehen, das müsst Ihr den Car’a’carn fragen.«

Nadere hatte sich zum Tisch begeben, um sich genau anzusehen, was Naris dort herrichtete, und die Zofe fing so an zu zittern, dass sie um ein Haar mehr als nur ein Gericht hätte fallen lassen. »Das sieht gut aus, aber einige der Kräuter erkenne ich nicht«, sagte die Weise Frau. »Hat Eure Hebamme für alles ihr Einverständnis gegeben, Elayne?«

»Ich lasse eine Hebamme kommen, wenn meine Zeit gekommen ist, Nadere. Dorindha, Ihr könnt nicht glauben, dass Rand will, dass man mir Euer Ziel vorenthält. Was hat er gesagt?«

Dorindha zuckte kaum merklich mit den Schultern. »Er hat einen Boten geschickt, einen der Schwarzmäntel, mit einem Brief für Bael. Bael hat ihn mir natürlich gezeigt, aber…« — ihr Tonfall machte deutlich, dass nie in Zweifel gestanden hatte, ob sie den Brief lesen würde oder nicht — »aber der Car’a’carn hat Bael gebeten, es keinem zu sagen, also kann ich Euch es nicht sagen.«

»Keine Hebamme?«, fragte Nadere ungläubig. »Wer sagt Euch, was Ihr essen oder trinken sollt? Wer gibt Euch die richtigen Kräuter? Frau, hört auf, mir diese finsteren Blicke zuzuwerfen. Melaines Launen sind schlimmer, als Eure es je sein könnten, aber sie hat Verstand genug, sich Monaelle um diese Dinge kümmern zu lassen.«

»Jede Frau im Palast kümmert sich darum, was ich esse«, erwiderte Elayne bitter. »Manchmal glaube ich sogar, es ist jede Frau in Caemlyn. Dorindha, könnt Ihr wenigstens…«

»Meine Lady, Euer Essen wird kalt«, sagte Essande leise, aber mit genau der Spur an Autorität, die einer älteren Gefolgsfrau zustand.

Mit zusammengebissenen Zähnen schritt Elayne zu dem Stuhl, hinter dem Essande wartete. Sie stürmte nicht hin, obwohl sie es nur zu gern getan hatte. Sie schritt hoheitsvoll. Essande brachte eine Bürste mit Elfenbeingriff zum Vorschein, entfernte das Handtuch von Elaynes Kopf und fing an, ihr Haar auszubürsten, während sie aß. Sie aß hauptsächlich deshalb, weil es nicht zu tun nur bedeutet hätte, dass man jemandem befehlen würde, eine neue warme Mahlzeit zu holen, denn Essande und ihre eigene Leibwache würden sie möglicherweise so lange hier behalten, bis sie gegessen hatte. Aber abgesehen von einem gedörrten Apfel, der nicht angefault war, war die Mahlzeit auf jeden Fall unappetitlich. Das Brot war knusprig, aber voller Getreidekäfer, und die aufgekochten getrockneten Bohnen waren hart und geschmacklos, da sämtliche eingemachten Bohnen verdorben waren. Der Apfel war in eine Schüssel mit Kräutern geschnitten — große Klette, schwarze Mehlbeere, Schneeballrinde, Löwenzahn — und mit einem Klecks Öl angemacht, und als Fleisch gab es ein Stück Zicklein, das in einer geschmacklosen Brühe gekocht worden war. Soweit sie es sagen konnte, so gut wie salzlos. Sie hätte für ein Stück salziges Rindfleisch töten können! Aber es musste vor Fett nur so triefen! Auf Aviendhas Teller lag aufgeschnittenes Rindfleisch, aber es sah zäh aus. Sie hätte auch Wein haben können. Sie selbst konnte zwischen Wasser und Ziegenmilch wählen. Ihr Verlangen nach Tee war genauso stark wie nach fettem Fleisch, aber selbst bei dem schwächsten Tee musste sie sofort zum Abort rennen, und sie hatte auch so schon genügend Schwierigkeiten. Also aß sie methodisch, mechanisch, versuchte an alles Mögliche zu denken, nur nicht an den Geschmack in ihrem Mund. Bis auf den Apfel, was das anging.

Sie versuchte aus den beiden Aielfrauen Neuigkeiten über Rand herauszupressen, aber anscheinend wussten die noch weniger als sie selbst. Jedenfalls soweit sie es zugeben wollten. Sie konnten den Mund halten, wenn sie wollten. Immerhin wusste sie, dass er irgendwo weit im Südosten war. Vermutlich irgendwo in Tear, obwohl es genauso gut die Ebenen von Maredo oder das Rückgrat der Welt hätte sein können. Darüber hinaus wusste sie, dass er am Leben war. Und das war es auch schon. In der Hoffnung, dass sie unbeabsichtigt etwas verrieten, versuchte sie, das Thema Rand beizubehalten, aber sie hätte genauso gut versuchen können, Ziegelsteine mit den Fingern zu behauen. Dorindha und Nadere verfolgten ihr eigenes Ziel, versuchten sie davon zu überzeugen, sich sofort eine Hebamme zu besorgen. Sie hörten nicht auf, davon zu sprechen, wie sie sich selbst und ihren Nachwuchs in Gefahr brachte, und nicht einmal Mins Vorhersage konnte ihre Meinung ändern.

»Also gut«, sagte sie schließlich und knallte Messer und Gabel hin. »Ich fange noch heute an, mich nach einer umzusehen.« Und wenn sie keine fand, nun, sie würden es nie erfahren.

»Ich habe eine Nichte, die Hebamme ist, meine Lady«, sagte Essande. »Melfane verteilt Kräuter und Salben in einem Laden auf der Kerzenstraße in der Neustadt, und ich glaube, sie kennt sich gut aus.« Sie brachte ein paar letzte Locken an Ort und Stelle und trat mit einem zufriedenen Lächeln zurück. »Ihr erinnert mich so sehr an Eure Mutter, meine Lady.«

Elayne seufzte. Anscheinend würde sie ihre Hebamme bekommen, ob sie wollte oder nicht. Noch jemand, der dafür sorgen würde, dass sie nur ungenießbare Mahlzeiten bekam. Nun, vielleicht konnte die Hebamme eine Medizin gegen diese abendlichen Rückenschmerzen und den empfindlichen Busen empfehlen. Sie dankte dem Licht, dass ihr wenigstens die ständige Übelkeit erspart geblieben war. Frauen, die die Macht lenken konnten, erlitten nie diesen Teil der Schwangerschaft.

Als Aviendha zurückkehrte, trug sie wieder Aieltracht. Das noch immer feuchte Schultertuch war über ihre Arme drapiert, und ein dunkles Tuch um die Schläfen hielt ihr Haar zurück. Auf dem Rücken trug sie ihr Bündel. Im Gegensatz zu der Unzahl Armreifen und Ketten, wie Dorindha und Nadere sie trugen, hatte sie nur eine einzige Silberkette, aufwändig gearbeitete Scheiben in einem komplexen Muster. Außerdem trug sie einen mit geschnitzten Rosen und Dornen verzierten Elfenbeinarmreif. Sie gab Elayne den stumpfen Dolch. »Du musst ihn behalten, dann wirst du sicher sein. Ich werde dich so oft besuchen, wie ich kann.«

»Vielleicht ist Zeit für einen gelegentlichen Besuch«, sagte Nadere streng, »aber du bist in deinen Studien zurückgefallen und musst hart arbeiten, um wieder aufzuholen.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Seltsam, so zwanglos über Besuche aus so großer Ferne zu sprechen. Meilen, Hunderte von Meilen mit einem Schritt zurückzulegen. Wir haben seltsame Dinge in den Feuchtländern gelernt.«

»Komm, Aviendha, wir müssen gehen«, sagte Dorindha.

»Wartet«, rief Elayne. »Bitte wartet, nur einen Moment.« Sie nahm den Dolch und eilte in das Ankleidezimmer. Sephanie hielt darin inne, Aviendhas blaues Kleid aufzuhängen, um einen Knicks zu machen, aber Elayne ignorierte sie und öffnete den geschnitzten Deckel ihres Schmuckkästchens. Auf den Halsketten und Armreifen und Anstecknadeln in ihren Fächern lag eine Brosche in Form einer Schildkröte, die anscheinend aus Bernstein bestand, sowie eine sitzende Frau, die sich in ihr Haar einhüllte und aus uraltem, von der Zeit gedunkeltem Elfenbein geschnitzt war. Beides waren Angreale. Sie legte den Dolch in das Kästchen, nahm die Schildkröte und schnappte sich dann noch den verdrehten Traumring aus Stein. Seit Beginn ihrer Schwangerschaft schien er nutzlos für sie geworden zu sein, und wenn sie es schaffte, Geist zu weben, hatte sie noch immer den Silberring aus geflochtenen Spiralen, den man von Ispan zurückgeholt hatte.

Sie eilte zurück ins Wohnzimmer und fand Dorindha und Nadere bei einem Streit vor oder zumindest einer hitzigen Diskussion, während Essande so tat, als würde sie nach Staub suchen, und mit dem Finger unter dem Tischrand entlangfuhr. Der Haltung ihres Kopfes nach zu urteilen, lauschte sie allerdings aufmerksam. Naris starrte die Aielfrauen offen an, während sie mechanisch Elaynes Geschirr abräumte.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie den Riemen zu spüren bekommt, wenn wir die Abreise verzögern«, sagte Nadere gerade recht temperamentvoll, als Elayne den Raum betrat.

»Es ist sicher nicht gerecht, wenn sie nicht der Grund dafür ist, aber ich habe gesagt, was ich gesagt habe.«

»Ihr werdet tun, was Ihr müsst«, erwiderte Dorindha ruhig, aber mit einer gewissen Anspannung um die Augen, die andeutete, dass das nicht die ersten Worte zu diesem Thema waren. »Vielleicht verzögern wir ja gar nichts. Und vielleicht wird Aviendha den Preis gern bezahlen, um sich von ihrer Schwester zu verabschieden.«

Elayne versuchte erst gar nicht, sich für Aviendha einzusetzen. Es hätte nichts genutzt. Aviendha selbst zeigte einen Gleichmut, der einer Aes Sedai zu Gesicht gestanden hätte; als würde es keine Rolle spielen, ob man sie für den Fehler einer anderen schlagen würde.

»Die sind für dich«, sagte Elayne und drückte ihrer Schwester Brosche und Ring in die Hand. »Ich fürchte, es sind keine Geschenke. Die Weiße Burg wird sie zurückhaben wollen. Aber benutze sie.«

Aviendha sah die Gegenstände an und keuchte auf. »Selbst als Leihgabe sind sie ein großes Geschenk. Du beschämst mich, Schwester. Ich habe kein Abschiedsgeschenk für dich.«

»Du schenkst mir deine Freundschaft. Du hast mir eine Schwester gegeben.« Elayne fühlte, wie ihr eine Träne die Wange hinunterlief. Sie stieß ein Lachen aus, aber es klang schwach und zittrig. »Wie kannst du sagen, du hast nichts, um es mir zu schenken? Du hast mir alles gegeben.«

Auch in Aviendhas Augen schimmerten Tränen. Sie legte die Arme um Elayne, auch wenn die anderen zusahen, und umarmte sie fest. »Ich werde dich vermissen, Schwester«, flüsterte sie. »Mein Herz ist so kalt wie die Nacht.«

»Meines auch, Schwester«, flüsterte Elayne und erwiderte die Umarmung genauso fest. »Ich werde dich auch vermissen. Aber sie werden dir erlauben, mich hin und wieder zu besuchen. Das hier ist nicht für ewig.«

»Nein, nicht für ewig. Aber ich werde dich trotzdem vermissen.«

Als Nächstes hätten sie vermutlich angefangen zu weinen, aber Dorindha legte ihnen die Hände auf die Schultern.

»Aviendha, es ist Zeit. Wir müssen aufbrechen, wenn du hoffen willst, dem Riemen zu entgehen.«

Aviendha nahm mit einem Seufzen die Schultern zurück und rieb sich die Augen. »Mögest du immer Wasser und Schatten finden, Schwester.«

»Mögest du immer Wasser und Schatten finden, Schwester«, erwiderte Elayne. Der Aiel-Gruß hatte so etwas Endgültiges, also fügte sie hinzu: »Bis ich dich wiedersehe.«

Und dann waren sie ganz schnell weg. Und genauso schnell fühlte sie sich sehr allein. Aviendhas Gegenwart war eine Selbstverständlichkeit geworden, eine Schwester, mit der man sich unterhalten, lachen, Hoffnungen und Ängste teilen konnte, aber diesen Trost gab es nun nicht länger.

Essande war aus dem Zimmer geschlüpft, während sie und Aviendha sich umarmt hatten, und jetzt kehrte sie zurück und setzte ihr den Reif der Tochter-Erbin auf, einen einfachen Goldreif mit einer einzigen goldenen Rose an der Stirn. »Damit diese Söldner nicht vergessen, mit wem sie sprechen, meine Lady.«

Elayne war sich gar nicht bewusst, dass sie die Schultern hatte hängen lassen, bis sie sie nach hinten nahm. Ihre Schwester war weg, aber sie musste eine Stadt verteidigen und einen Thron erringen. Jetzt würde die Pflicht ihr Kraft geben müssen.

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