17 Der Bronzebär

Elayne verließ Frau Harfor und Meister Norry und machte sich ungeduldig auf den Weg zum Kartenzimmer; sie hielt Saidar noch immer fest. Ungeduldig, aber keinesfalls eilig. Deni und drei Gardistinnen gingen ihr voraus, ständig nach Bedrohungen Ausschau haltend, und die anderen vier stapften hinter ihr her. Sie bezweifelte, dass Dyelin lange zum Frischmachen brauchen würde, ob sie nun gute oder schlechte Nachrichten brachte. Mochte das Licht geben, dass es gute waren. Birgitte ging mit auf dem Rücken verschränkten Händen sowie einem Stirnrunzeln daher und schien in Schweigen versunken zu sein, allerdings betrachtete sie jede Korridorkreuzung, als würde sie aus dieser Richtung einen Angriff erwarten. Der Bund übertrug noch immer Sorge. Und Müdigkeit. Ein Gähnen ließ Elaynes Kiefer knacken, bevor sie es verhindern konnte.

Es war nicht nur der Widerwille, Gerüchte in die Welt zu setzen, der für Elaynes gemächlichen Schritt sorgte. Jetzt hielten sich nicht nur Diener in den Gängen auf. Die Höflichkeit hatte es verlangt, den Adligen, die es geschafft hatten, sich mit ihren Waffenmännern bis zur Stadt durchzuschlagen — die Bezeichnung Waffenmänner war dabei großzügig auszulegen; ein paar waren gut ausgebildet und trugen jeden Tag ein Schwert, andere hatten bloß ihre Pflüge geschoben, bevor man sie aufgefordert hatte, ihren Herren oder Herrinnen zu folgen —, Gemächer im Palast zur Verfügung zu stellen, und eine große Anzahl hatte angenommen. Hauptsächlich jene, die in Caemlyn keine Unterkunft besaßen oder das Geld beisammen halten wollten, wie sie vermutete. Bauern und Tagelöhner glaubten zwar immer, dass alle Adlige reich waren, und mit Sicherheit waren es die meisten auch, aber auch nur verglichen mit ihnen. Die Ausgaben, die ihre Position und ihre Pflichten erforderten, ließen viele ihre Münzen so sorgfältig wie jede Bauersfrau zählen. Elayne hatte keine Ahnung, was sie mit den letzten Neuankömmlingen machen sollte. Adlige schliefen bereits zu dritt oder viert in einem Bett, wo die Betten groß genug waren; abgesehen von den schmälsten konnte jedes von ihnen zumindest zwei Schläfer aufnehmen und tat es auch. Viele Kusinen mussten in den Dienerunterkünften auf Pritschen schlafen, und man konnte nur dem Licht danken, dass der Frühling das möglich gemacht hatte.

Es hatte den Anschein, als würden sämtliche ihrer adligen Gäste einen Spaziergang machen, und wenn sie sie grüßten, musste sie stehen bleiben und zumindest ein paar Worte wechseln. Sergase Gilbearn, klein und schlank in ihrem grünen Reitgewand, die ihre ganzen zwanzig Waffenmänner in ihren Diensten mitgebracht hatte, und der zähe alte Kelwin Janevor in seinem diskret gestopften blauen Wollmantel, der mit zehn gekommen war, wurden genauso freundlich behandelt wie der dürre Barel Layden und die stämmige Anthelle Sharplyn, obwohl sie ein Hoher Herr und eine Hohe Herrin waren, wenn auch von unbedeutenden Häusern. Sie alle waren zu ihrer Unterstützung geritten gekommen mit dem, was sie zusammenkratzen konnten, und keiner war umgekehrt, nachdem man ihm die Lage erklärt hatte. Aber vielen war ihr Unbehagen anzusehen.

Niemand äußerte sich dazu — sie alle hatten nur gute Wünsche und hofften auf eine schnelle Krönung und wie geehrt sie waren, ihr folgen zu können —, aber die Sorge stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Arilinde Branstorm, die normalerweise so überschwänglich war, dass man glauben konnte, ihre fünfzig Waffenmänner würden allein das Ruder zu Elaynes Gunsten herumreißen, war nicht die einzige Frau, die auf der Unterlippe herumkaute, und Laerid Traehand, stämmig und zurückhaltend und für gewöhnlich so phlegmatisch wie ein Stein, war nicht der einzige Mann mit gefurchter Stirn. Selbst die Neuigkeiten über Guybon und der von ihm gebrachten Hilfe rief nur flüchtiges Lächeln hervor, das schnell von neuem Unbehagen verdrängt wurde.

»Glaubst du, die haben von Arymillas Zuversicht gehört?«, fragte sie in einer der kurzen Pausen, in denen sie keine Verbeugungen oder Knickse erwiderte. »Nein, das würde nicht reichen, um Arilinde oder Laerid zu beunruhigen.« Die beiden wären vermutlich nicht mal dann aufgebracht, wenn sich Arymilla mit dreißigtausend Mann innerhalb der Stadtmauern befinden würde.

»Das würde es nicht«, bestätigte Birgitte. Sie blickte sich um, um sich zu vergewissern, wer außer den Gardistinnen zuhören konnte, bevor sie fortfuhr. »Vielleicht machen sie sich über das Sorgen, was mir Sorgen bereitet. Du hast dich bei unserer Rückkehr nicht verlaufen. Oder vielmehr, es war nicht deine Schuld.«

Elayne hielt inne, um ein paar Worte mit einem grauhaarigen Pärchen zu wechseln, dessen Wollkleidung wohlhabenden Bauern gut gestanden hätte. Brannin und Elvaine Martans Gutshaus hatte große Ähnlichkeit mit einem großen Bauernhaus und beherbergte Generationen unter seinem Dach. Ein Drittel ihrer Waffenmänner waren ihre Söhne und Enkel, Neffen und Großneffen. Nur jene, die zu jung oder zu alt zum Reiten waren, hatte man zurückgelassen, um sich um die Aussaat zu kümmern. Sie hoffte, dass die beiden nicht das Gefühl hatten, abgekanzelt worden zu sein, aber sie ging fast in dem Moment weiter, in dem sie schwiegen. »Was meinst du damit, es war nicht meine Schuld?«, wollte sie wissen., »Der Palast ist… verändert.« Einen Augenblick lang war Verwirrung in dem Bund. Birgitte verzog das Gesicht. »Es klingt verrückt, ich weiß, aber es ist so, als wäre das ganze Gebäude nach einem leicht veränderten Bauplan entstanden.« Eine der Gardistinnen der Vorhut kam aus dem Tritt, fing sich aber wieder. »Ich habe ein gutes Erinnerungsvermögen…« Birgitte zögerte, der Bund füllte sich mit allen möglichen Gefühlen, die schnell unterdrückt wurden. Die meisten ihrer Erinnerungen an vergangene Leben hatten sich so sicher aufgelöst wie der Schnee vom Winter. Aus der Zeit vor der Gründung der Weißen Burg war nichts mehr übrig geblieben, und die vier Leben, die sie zwischen diesem Zeitpunkt und dem Ende der Trolloc-Kriege gelebt hatte, fingen an, zu Fragmenten zu zerfallen. Nur wenig schien ihr Angst machen zu können, aber sie fürchtete sich davor, den Rest zu verlieren, vor allem ihre Erinnerungen an Gaidal Cain. »Ich vergesse keinen Weg, den ich einmal gegangen bin«, fuhr sie fort, »und manche dieser Korridore sind nicht mehr die gleichen wie früher. Einige Gänge sind… verschoben worden. Andere gibt es gar nicht mehr, und ein paar sind neu. Soweit ich es ergründen konnte, spricht niemand darüber, aber ich glaube, die alten Leute schweigen darüber, weil sie Angst haben, den Verstand zu verlieren, und die jüngeren haben Angst, ihre Stellungen zu verlieren.«

»Das ist doch…« Elayne machte den Mund zu. Offensichtlich war das doch nicht unmöglich. Birgitte litt nicht unter plötzlichen Halluzinationen. Plötzlich ergab Naris' Zögern, ihre Gemächer zu verlassen, einen Sinn, vielleicht auch Reenes Verblüffung vorhin. Beinahe wünschte sie sich, die Schwangerschaft hätte ihren Verstand tatsächlich getrübt. Aber wie konnte das sein? »Nicht die Verlorenen«, sagte sie bestimmt. »Wenn sie zu so etwas fähig wären, hätten sie es schon vor langer Zeit getan, und schlimmer als… auch Euch einen schönen Tag, Lord Aubrem.«

Dürr und zäh und abgesehen von einem dünnen Haarkranz völlig kahl, hätte Aubrem Pensenor die Kinder seiner Enkel auf den Knien wiegen sollen, aber sein Rücken war gerade und sein Blick messerscharf. Er hatte zu den Ersten gehört, die in Caemlyn eingetroffen waren, mit fast hundert Mann und der Nachricht, dass es Arymilla Marne war, die unterstützt von Naean und Elenia auf die Stadt zumarschierte. Er fing an, in Erinnerungen an die Zeit zu schwelgen, in der er für die Thronfolge ihrer Mutter geritten war, bis Birgitte etwas davon murmelte, dass Lady Dyelin sie erwartete.

»Oh, in diesem Fall lasst Euch nicht von mir aufhalten, meine Lady«, sagte der alte Mann herzlich. »Bitte richtet Lady Dyelin meine Grüße aus. Sie ist so beschäftigt gewesen, ich habe seit ihrer Ankunft in Caemlyn keine zwei Worte mit ihr wechseln können. Meine Empfehlung, wenn Ihr so freundlich sein wollt.« Haus Pensenor war seit undenkbaren Zeiten mit Dyelins Taravin verbündet.

»Nicht die Verlorenen«, sagte Birgitte, sobald Aubrem außer Hörweite war. »Aber was dafür die Ursache ist, das ist bloß die erste Frage. Wird es erneut passieren? Wenn ja, werden die Veränderungen immer ungefährlich sein? Oder wachst du auf und findest dich in einem Zimmer ohne Fenster und Türen wieder? Was passiert, wenn du in einem Zimmer schläfst, das verschwindet? Wenn ein Korridor verschwinden kann, dann auch ein Zimmer. Und was, wenn mehr als nur der Palast davon betroffen ist? Was ist, wenn das nächste Mal einfach ein Teil der Stadtmauer nicht mehr da ist?«

»Du wälzt wirklich finstere Gedanken«, sagte Elayne düster. Obwohl die Macht sie ausfüllte, reichten die Möglichkeiten, um ihr Magenschmerzen zu bereiten.

Birgitte berührte die vier goldenen Knoten auf der Schulter des roten Mantels mit dem weißen Kragen. »Die sind mit dem hier gekommen.« Seltsam, die Sorge, die der Bund überbrachte, war nun nicht mehr so stark, nachdem sie ihre Befürchtungen geteilt hatten. Elayne hoffte, dass ihre Freundin nicht glaubte, sie wüsste die Antworten. Nein, das war unmöglich. Dafür kannte Birgitte sie zu gut.

»Macht Euch das Angst, Deni?«, fragte sie. »Ich muss zugeben, mir macht es Angst.«

»Nicht mehr als nötig, meine Lady«, sagte die stämmige Frau, ohne in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Wo die anderen mit der Hand auf dem Schwertgriff gingen, ruhte ihre Hand auf der Keule. Ihre Stimme war so nüchtern und ruhig wie ihre Miene. »Einmal hätte mir ein großer Kutscher namens Eldrin Hackly fast das Genick gebrochen. Eigentlich war er kein brutaler Mann, aber an diesem Abend war er mehr als betrunken. Ich konnte nicht im richtigen Winkel zuschlagen, und meine Keule schien von seinem Schädel abzuprallen, ohne auch nur eine Beule zu hinterlassen. Das hat mir mehr Angst gemacht, weil ich mit absoluter Sicherheit wusste, ich würde sterben. Das hier ist nur eine Möglichkeit, und jeder Tag, an dem man erwacht, kann der Tag sein, an dem man stirbt.«

Jeder Tag, an dem man erwacht, kann der Tag sein, an dem man stirbt. Vermutlich gab es schlimmere Möglichkeiten, das Leben zu betrachten, fand Elayne. Trotzdem verspürte sie ein Frösteln. Sie war sicher, zumindest bis zur Geburt ihrer Kinder, aber sonst niemand.

Die beiden Wachtposten vor der breiten, mit Löwen verzierten Flügeltür des Kartenzimmers waren erfahrene Gardisten, der eine klein und fast schon hager, der andere breit genug, um gewaltig zu erscheinen, obwohl er von normaler Größe war. Nichts schien sie von den anderen Mitgliedern der Garde zu unterscheiden, aber diesen Posten bekamen nur gute Schwertkämpfer, vertrauenswürdige Männer. Der kleine Mann nickte Deni zu, dann nahm er Haltung an, als er Birgittes missbilligenden Blick bemerkte. Deni lächelte ihm schüchtern zu — Deni! schüchtern! während zwei Gardistinnen das unvermeidbare Ritual absolvierten. Birgitte wollte etwas sagen, aber Elayne legte ihr die Hand auf den Arm, und ihre Behüterin sah sie an und schüttelte dann den Kopf. Der dicke goldene Zopf baumelte langsam hin und her.

»Das ist nicht gut, wenn sie im Dienst sind, Elayne. Sie sollen sich auf ihre Pflichten konzentrieren und sich nicht anhimmeln.« Sie hob ihre Stimme nicht, aber Denis Wangen röteten sich, und ihr Lächeln verschwand, und sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Korridor. Vielleicht war das besser so, aber es war trotzdem schade. Wenigstens irgendjemand sollte etwas Spaß in seinem Leben haben.

Das Kartenzimmer war der zweitgrößte Ballsaal des Palasts und überaus geräumig. In vier rot geäderten Marmorkaminen brannten kleine Feuer unter den gemeißelten Simsen, eine kuppeiförmige, teilweise vergoldete Decke wurde von weit auseinander liegenden Säulen gestützt, die zwei Spannen von den weißen Marmorwänden entfernt waren, von denen man sämtliche Wandteppiche abgenommen hatte. Es gab genug Spiegellampen, um den Raum so zu erhellen, als hätte er Fenster. Der größte Teil des Fliesenbodens stellte eine detaillierte Mosaikkarte von Caemlyn dar, die ursprünglich vor mehr als tausend Jahren angefertigt worden war, nach der Fertigstellung der Neustadt, aber vor der Ausbreitung Niedercaemlyns. Lange bevor es ein Andor gegeben hatte, selbst lange vor Artur Falkenflügel. Sie war seitdem mehrere Male erneuert worden, da Fliesen verblichen oder sich abgenutzt hatten, und so war jede Straße korrekt dargestellt — jedenfalls bis zum heutigen Tag, und das Licht gab, dass es noch immer so war —, und obwohl im Laufe der Jahre viele Gebäude ersetzt worden waren, unterschieden sich selbst einige Gassen nicht von dem, was der gewaltige Stadtplan zeigte.

In absehbarer Zukunft würde es aber keinen Tanz im Kartenzimmer geben. Lange Tische zwischen den Säulen bewahrten weitere Karten, einige davon groß genug, über die Ränder hinauszuragen, und Regale an den Wänden hielten Stapel von Berichten, die nicht so heikel waren, dass man sie einschließen oder dem Gedächtnis anvertrauen und danach verbrennen musste. Birgittes breiter Schreibtisch, der fast mit Körben voll gestellt war, in denen sich größtenteils Papier stapelte, stand am anderen Ende des Raums. Als Generalhauptmann hatte sie ihr eigenes Arbeitszimmer, aber nachdem sie das Kartenzimmer entdeckt hatte, war sie zu der Einsicht gelangt, dass der Bodenplan einfach zu gut war, um nicht benutzt zu werden.

Eine kleine, rot bemalte Holzscheibe markierte die Stelle auf der Außenmauer, wo zuvor der Angriff zurückgeschlagen worden war. Birgitte hob sie im Vorbeigehen auf und warf sie in einen runden Korb auf ihrem Schreibtisch, der mit diesen Dingern gefüllt war. Elayne schüttelte den Kopf. Es war ein kleiner Korb, aber falls es ausreichend gleichzeitige Angriffe gab, dass man so viele Scheiben brauchte…

»Meine Lady Birgitte, ich habe den Bericht über das zur Verfügung stehende Futter, um den Ihr gebeten habt«, sagte eine Frau, deren Haar langsam grau wurde, und hielt ein mit ordentlichen Reihen gefülltes Blatt hin. Der Weiße Löwe auf der Brust ihrer ordentlichen braunen Tracht war klein. Fünf andere Schreiber fuhren mit kratzenden Schreibfedern mit ihrer Arbeit fort. Sie gehörten zu Meister Norrys vertrauenswürdigsten Leuten, und Frau Harfor hatte höchstpersönlich das halbe Dutzend Boten in weißroten Livreen ausgewählt, die hinter den kleinen Pulten der Schreiber an der Wand standen; es handelte sich um flinke junge Männer, eigentlich noch Jungen. Einer von ihnen, ein hübscher Kerl, fing an sich zu verbeugen, bevor er errötend aufhörte. Birgitte hatte die Frage der Ehrenbezeugungen für sie und andere Adlige mit ein paar kurzen Worten ein für alle Mal geregelt. Die Arbeit kam an erster Stelle, und jeder Adlige, dem das missfiel, konnte einen Bogen um das Kartenzimmer machen.

»Danke, Frau Anford. Ich sehe es mir später an. Wenn Ihr und die anderen draußen warten würdet, bitte?«

Frau Anford trieb schnell die Boten und die anderen Schreiber zusammen, gab ihnen gerade genug Zeit, die Tintenfläschchen zuzustöpseln und ihre Arbeit abzudecken. Keiner zeigte auch nur die geringste Überraschung. Sie waren daran gewöhnt, dass man von Zeit zu Zeit wünschte, unter sich zu sein. Elayne hatte gehört, dass das Kartenzimmer nun auch das Zimmer der Geheimnisse genannt wurde, obwohl es hier eigentlich nichts gab, was besonders geheim war. Das war in ihren Gemächern weggeschlossen.

Während die Schreiber und Boten hinausgingen, begab sich Elayne zu einem der langen Tische, auf dem eine Karte Caemlyns lag und mindestens fünfzig Meilen seines Umlandes zeigte. Sogar die Schwarze Burg war eingezeichnet worden, ein Rechteck weniger als zwei Meilen südlich von der Stadt. Ein Geschwür in Andor, und es gab keine Möglichkeit, es loszuwerden. An manchen Tagen schickte sie noch immer Abteilungen der Garde zur Inspektion, durch Wegetore, aber das Gelände war groß genug, dass die Asha'man alles Mögliche hätten machen können, ohne dass sie es erfahren hätte. Nadeln mit Emailleköpfen markierten Arymillas acht um die Stadt verteilte Lager, und kleine Metallfiguren verschiedene andere Lager. Ein kunstfertig aus Gold gefertigter Falke, kaum größer als ihr kleiner Finger, zeigte den Standort der Goshien. Beziehungsweise den ehemaligen Standort. Waren sie schon weg? Sie schob den Falken in die Gürteltasche. Aviendha war ein richtiger Falke. Birgitte auf der anderen Tischseite hob fragend eine Braue.

»Sie sind abgezogen, oder zumindest im Aufbruch begriffen«, sagte Elayne. Es würde Besuche geben. Aviendha war nicht für immer weg. »Rand hat sie irgendwohin geschickt. Ich weiß nicht wohin, verdammter Kerl.«

»Ich habe mich schon gefragt, warum Aviendha nicht bei dir ist.«

Elayne legte einen Finger auf einen Bronzereiter, der keinen Fuß groß war und ein paar Meilen westlich von der Stadt stand. »Jemand muss einen Blick auf Davram Basheres Lager werfen. Finde heraus, ob die Saldaeaner auch abziehen. Und die Legion des Drachen.« Es spielte keine Rolle, ob sie es taten. Sie hatten sich nicht eingemischt, dem Licht sei Dank, und die Zeit, in der man hätte befürchten müssen, dass sie Arymilla aufhalten würden, war lange vorbei. Aber sie mochte es nicht, wenn in Andor Dinge ohne ihr Wissen geschahen. »Und schicke morgen ein paar Gardisten zur Schwarzen Burg. Sag ihnen, sie sollen zählen, wie viele Asha'man sie sehen.«

»Also plant er eine große Schlacht. Eine weitere große Schlacht. Vermutlich gegen die Seanchaner.« Birgitte verschränkte die Arme unter der Brust und blickte die Karte stirnrunzelnd an. »Ich frage mich wo und wann, aber wir haben selbst genug zu tun.«

Die Karte zeigte die Gründe, warum Arymilla ihre Truppen zur Eile antrieb. Zum einen, nordöstlich von Caemlyn, beinahe am Rand der Karte, lag die Bronzefigur eines schlafenden Bären, der zusammengerollt dalag und die Tatzen über die Nase gelegt hatte. Zweihunderttausend Mann, fast genauso viele gedrillte Männer wie ganz Andor ins Feld schicken konnte. Vier Herrscher der Grenzländer, begleitet von vielleicht einem Dutzend Aes Sedai, die sie zu verbergen suchten und die aus nicht genannten Gründen nach Rand fahndeten. Soweit Elayne es wusste, hatten die Grenzländer keinen Grund, sich gegen Rand zu wenden — auch wenn er sie nicht an sich gebunden hatte wie andere Länder, was eine Tatsache war-, aber Aes Sedai waren eine andere Sache, vor allem, wenn es ungewiss war, wen sie unterstützten, und zwölf kamen einer Zahl nahe, die selbst ihm gefährlich werden konnte. Nun, die vier Herrscher hatten Elaynes Motive, ihnen den Zugang zu Andor zu gewähren, zum Teil erkannt, aber sie hatte es geschafft, sie hinters Licht zu führen, was Rands Aufenthaltsort anging. Unglücklicherweise hatten die Grenzländer jede Geschichte Lügen gestraft, wie schnell sie sich vorwärts bewegen konnten, als sie nach Süden krochen, und jetzt saßen sie an Ort und Stelle und versuchten eine Möglichkeit zu finden, einer belagerten Stadt aus dem Weg zu gehen. Das war verständlich, sogar löblich. Fremde Heere in der Nähe von andoranischen Waffenmännern auf dem Boden Andors sorgten für eine heikle Situation. Ein paar Hitzköpfe gab es immer. Unter solchen Umständen konnte es nur zu leicht zu Blutvergießen, wenn nicht sogar zu einem Krieg kommen. Und es würde schwierig werden, Caemlyn zu umgehen; die schmalen Landstraßen waren durch die Regenfälle in Schlamm verwandelt worden, was das Vorankommen eines jeden so großen Heeres erschwerte. Aber Elayne hätte sich fast gewünscht, sie wären noch zwanzig oder dreißig Meilen weiter auf Caemlyn vorgerückt. Sie hatte gehofft, dass ihre Anwesenheit eine andere Wirkung gehabt hätte. Aber vielleicht geschah das ja noch.

Wichtiger für Arymilla und möglicherweise auch für sie stand ein paar Meilen unterhalb der Schwarzen Burg ein kleiner silberner Schwertkämpfer, der die Klinge waagerecht vor sich ausgestreckt hielt, und ein silberner Hellebardenkämpfer, offensichtlich von demselben Silberschmied gefertigt. Einer stand westlich des schwarzen Rechtecks, der andere östlich. Luan, Ellorien und Abelle, Aemlyn, Arathelle und Pelivar standen in diesen beiden Lagern etwa sechzigtausend Mann zur Verfügung. Ihre Ländereien und die der ihnen verpflichteten Adligen mussten fast völlig entvölkert sein. In diesen beiden Lagern war Dyelin die letzten drei Tage gewesen und hatte versucht, ihre Absichten in Erfahrung zu bringen.

Der kleine Gardist öffnete einen der Türflügel und hielt sie für eine ältere Dienerin auf, die ein Silbertablett mit zwei hohen goldenen Weinkannen und einer Reihe Pokalen aus blauem Meervolkporzellan hereintrug. Reene musste sich unsicher gewesen sein, wie viele Leute anwesend sein würden. Die gebrechliche Frau bewegte sich langsam, achtete darauf, dass das schwere Tablett nicht kippte und sie nichts fallen ließ. Elayne wob Ströme aus Luft, um ihr das Tablett abzunehmen, dann ließ sie sie sich ungenützt auflösen. Anzudeuten, dass die Frau ihrer Arbeit nicht gewachsen war, würde nur demütigend sein. Aber sie dankte ihr überschwänglich. Die alte Frau lächelte breit, offensichtlich begeistert, und machte einen tiefen Knicks, sobald sie das Tablett abgestellt hatte.

Dyelin kam fast zeitgleich mit der Dienerin, ein Abbild blühender Vitalität, und scheuchte sie hinaus, bevor der Inhalt einer der Kannen sie das Gesicht verziehen ließ — Elayne seufzte; zweifellos war es Ziegenmilch — und sie sich aus der anderen bediente. Offensichtlich hatte Dyelin ihre Toilette auf Gesichtwaschen und Kämmen beschränkt, denn ihr dunkelgraues Reitkleid mit der großen runden Silbernadel mit Taravins Eule und Eiche an dem hohen Kragen wies Flecken halb getrockneten Schlamms auf den Röcken auf.

»Hier stimmt etwas nicht«, sagte sie und ließ den Wein im Pokal kreisen, ohne zu trinken. Ein Stirnrunzeln ließ die feinen Falten um ihre Augenwinkel stärker hervortreten. »Ich bin öfters in diesem Palast gewesen, als ich zählen kann, und heute habe ich mich zweimal verlaufen.«

»Darüber wissen wir Bescheid«, erwiderte Elayne und erklärte schnell, was sie sich zusammengereimt hatten und was sie vorhatte. Zu spät webte sie eine Abschirmung gegen Lauscher und war keineswegs überrascht, als sie Saidar zertrennte. Immerhin würde der Lauscher einen Schlag erhalten. Einen kleinen Schlag, da so wenig von der Macht benutzt worden war, dass sie sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Vielleicht würde es nächstes Mal eine Möglichkeit geben, einen harten Schlag daraus zu machen. Vielleicht würde das ja Lauscher endlich entmutigen.

»Also könnte es erneut passieren«, sagte Dyelin, als Elayne verstummte. Ihr Ton war ganz ruhig, aber sie befeuchtete sich die Lippen und nahm einen Schluck Wein, als hätte sie plötzlich einen trockenen Mund. »Nun gut. Wenn Ihr die Ursache nicht kennt und nicht wisst, ob es erneut geschehen wird, was sollen wir dann tun?«

Elayne starrte sie an. Wieder schien jemand zu denken, sie hätte Antworten, die sie jedoch gar nicht hatte. Aber das bedeutete es nun einmal, Königin zu sein. Es wurde ständig von einem erwartet, Antworten zu haben oder welche zu finden. Das bedeutete es, eine Aes Sedai zu sein. »Wir können es nicht aufhalten, also werden wir damit leben müssen, Dyelin, und versucht dafür zu sorgen, dass die Leute nicht zu viel Angst bekommen. Ich werde verkünden, was geschehen ist, soweit wir es jedenfalls wissen, und ich sorge dafür, dass die anderen Schwestern es ebenfalls tun. So werden alle wissen, dass die Aes Sedai Bescheid wissen, und das sollte ein gewisser Trost sein. Sie werden sich natürlich trotzdem fürchten, aber nicht so sehr, als wenn wir schweigen und es wieder geschieht.«

Ihr kam das wie eine schwache Maßnahme vor, aber überraschenderweise stimmte ihr Dyelin ohne Zögern zu. »Ich kann selbst vorschlagen, dass nichts anderes unternommen wird. Die meisten Menschen glauben, dass ihr Aes Sedai alles regeln könnt. Das müsste unter diesen Umständen reichen.«

Und wenn sie erkannten, dass Aes Sedai nicht alles regeln konnten, dass sie das nicht konnte? Nun, das war ein Fluss, den sie überqueren würde, wenn sie an seinem Ufer stand.

»Sind es gute Neuigkeiten oder schlechte?«

Bevor Dyelin antworten konnte, öffnete sich die Tür schon wieder.

»Ich habe gehört, dass Lady Dyelin zurückgekehrt ist. Ihr hättet nach uns schicken sollen, Elayne. Noch seid Ihr nicht die Königin, und ich mag es nicht, wenn Ihr Geheimnisse vor mir habt. Wo ist Aviendha?« Catalyn Haevin, eine wilde junge Frau mit kühlem Blick — in Wahrheit war sie noch ein Mädchen, das noch lange Monate von ihrer Volljährigkeit entfernt war, auch wenn ihr Vormund sie im Stich gelassen hatte, damit sie ihren eigenen Weg gehen konnte —, war stolz bis zu den Zehennägeln und hielt das speckige Kinn hoch erhoben. Aber das konnte auch an dem großen Emailleabzeichen mit Haevins Blauem Bären liegen, das den hohen Kragen ihres blauen Reitkleides schmückte. Sie hatte angefangen, Dyelin gegenüber Respekt und ein gewisses Misstrauen zu zeigen, seit sie sich mit ihr und Sergase ein Bett teilen musste, aber bei Elayne bestand sie auf jedem Vorrecht einer Hohen Herrin.

»Wir alle haben es gehört«, sagte Conail Northan. Schlank und hochgewachsen in einem roten Seidenmantel, mit vergnügt funkelnden Augen und einer Adlernase, war er volljährig, wenn auch erst ein paar Monate seit seinem sechzehnten Namenstag vergangen waren. Er stolzierte daher und strich viel zu vernarrt über den Schwertgriff, aber er schien harmlos zu sein. Nur jungenhaft, ein unvorteilhafter Wesenszug bei einem Hohen Herrn. »Und keiner von uns konnte abwarten, zu erfahren, wann Luan und die anderen sich uns anschließen werden. Die beiden hier wären den ganzen Weg sogar gelaufen.« Er zerzauste den beiden jüngeren Jungen an seiner Seite die Köpfe, Perival Mantear und Branlet Gilyard, die ihm finstere Blicke zuwarfen und sich mit den Fingern durchs Haar fuhren, um es glatt zu streifen. Perival errötete. Ziemlich klein, aber bereits recht hübsch war er mit zwölf Jahren der jüngste, doch Branlet war nur ein Jahr älter.

Elayne seufzte, aber sie konnte sie nicht bitten zu gehen.

Auch wenn die meisten von ihnen eigentlich noch Kinder waren — vielleicht auch alle, wenn man Conails Benehmen betrachtete —, waren sie doch alle die Führer ihrer Häuser und zusammen mit Dyelin ihre wichtigsten Verbündeten. Sie wünschte sich allerdings, sie wüsste, wie sie von dem Zweck von Dyelins Reise erfahren hatten. Das hatte ein Geheimnis bleiben sollen, bis feststand, welche Neuigkeiten Dyelin brachte. Noch eine Aufgabe für Reene. Ungehinderter Klatsch, der falsche Klatsch, konnte genauso gefährlich wie Spione sein.

»Wo ist Aviendha?«, verlangte Catalyn zu wissen. Seltsamerweise war sie sehr eingenommen von Aviendha. Fasziniert war das bessere Wort. Und sie hatte allen Ernstes erreichen wollen, dass Aviendha ihr den Umgang mit dem Speer beibrachte!

»Also, meine Lady«, sagte Conail und ging lässig zum Tisch, um sich einen blauen Pokal mit Wein zu füllen, »wann stoßen sie zu uns?«

»Die schlechte Neuigkeit ist, dass sie das nicht tun werden«, sagte Dyelin ruhig. »Die gute Nachricht ist, dass sie alle Arymillas Einladung abgelehnt haben, sich auf ihre Seite zu schlagen.« Sie räusperte sich laut, als Branlet nach der Weinkanne griff. Seine Wangen röteten sich, und er nahm die andere Kanne, als hätte er sie die ganze Zeit gemeint. Der Hohe Herr von Haus Gilyard, doch trotz des Schwertes an seiner Hüfte noch ein Junge. Auch Perival trug ein Schwert, das über den Boden schleifte und zu groß für ihn aussah, aber er hatte sich bereits mit Ziegenmilch bedient. Catalyn schenkte sich Wein ein und grinste die Jüngeren spöttisch an, ein überlegenes Lächeln, das verschwand, als sie Dyelins Blick bemerkte.

»Das soll eine gute Nachricht sein?«, sagte Birgitte. »Soll man mich doch zu Asche verbrennen, wenn es das nicht ist. Ihr bringt ein verdammtes, halb verhungertes Eichhörnchen und nennt es eine Rinderhälfte.«

»Sarkastisch wie immer«, sagte Dyelin trocken. Die beiden Frauen starrten sich finster an, Birgittes Hände ballten sich zu Fäusten, Dyelins Finger tasteten über den Dolch an ihrem Gürtel.

»Keinen Streit«, sagte Elayne und legte Schärfe in ihren Tonfall. Die Wut in dem Bund half. Manchmal hatte sie die Befürchtung, die beiden würden sich noch prügeln. »Mir steht heute nicht der Sinn nach euren Wortgefechten.«

»Wo ist Aviendha?«

»Fort, Catalyn. Was habt Ihr sonst noch in Erfahrung bringen können, Dyelin?«

»Wo ist sie hin?«

»Sie ist weg«, sagte Elayne ruhig. Saidar oder nicht, sie wollte das Mädchen ohrfeigen. »Dyelin?«

Die Hohe Herrin trank einen Schluck Wein, um das Ende ihres Blickeduells mit Birgitte zu überspielen. Sie trat an Elaynes Seite, nahm den silbernen Schwertkämpfer, drehte ihn um, setzte ihn wieder ab. »Aemlyn, Arathelle und Perivar wollten mich davon überzeugen, meinen Anspruch auf den Thron anzumelden, aber sie beharrten nicht mehr so darauf wie bei unserem letzten Gespräch. Ich glaube, ich habe sie fast davon überzeugt, dass ich es nicht tun werde.«

»Fast?« Birgitte legte ätzenden Spott in das Wort. Dyelin ignorierte sie einfach. Elayne warf Birgitte einen ärgerlichen Blick zu, die sich unbehaglich abwandte und lange genug wegging, um sich einen Pokal Wein zu holen. Sehr zufriedenstellend. Was auch immer sie richtig machte, sie hoffte, es würde auch weiterhin funktionieren.

»Meine Lady«, sagte Perival mit einer Verbeugung und reichte Elayne einen von zwei Pokalen. Sie brachte ein Lächeln zustande sowie einen kleinen Knicks, bevor sie den Pokal annahm. Ziegenmilch. Beim Licht, sie fing an, das Zeug zu verabscheuen!

»Luan und Abelle waren… unverbindlich«, fuhr Dyelin fort und blickte den Hellebardenträger stirnrunzelnd an.

»Möglicherweise sind sie Euch zugeneigt.« Sie hörte sich allerdings nicht so an, als würde sie das glauben. »Ich habe Luan daran erinnert, dass er mir geholfen hat, Naean und Elenia festzunehmen, damals am Anfang, aber das hat vermutlich genauso wenig genutzt wie bei Pelivar.«

»Also warten sie vermutlich alle darauf, dass Arymilla gewinnt«, sagte Birgitte grimmig. »Wenn du überlebst, werden sie sich für dich und gegen sie aussprechen. Tust du es nicht, wird einer von ihnen seinen eigenen Anspruch geltend machen. Ellorien hat nach dir den besten Anspruch, oder?« Dyelin runzelte die Stirn, erhob aber keine Einwände.

»Und Ellorien?«, fragte Elayne ganz ruhig. Sie war sich sicher, die Antwort bereits zu kennen. Ihre Mutter hatte Ellorien auspeitschen lassen. Das war unter Rahvins Einfluss geschehen, aber das schienen nur wenige zu glauben. So wie nur wenige zu glauben schienen, dass Gaebril in Wahrheit Rahvin gewesen war.

Dyelin schnitt eine Grimasse. »Die Frau hat einen Kopf aus Stein! Sie würde einen Anspruch in meinem Namen verkünden, wenn sie der Ansicht wäre, das würde etwas bringen. Wenigstens hat sie genug Verstand, um zu erkennen, dass das nutzlos wäre.« Elayne entging nicht, dass sie nichts von einem möglichen Anspruch von Ellorien selbst sagte.

»Wie dem auch sei, ich habe Keraille Surtovni und Julanya Fote zurückgelassen, um sie im Auge zu behalten. Ich bezweifle, dass sie abrücken, aber sollten sie es dennoch tun, werden wir es sofort erfahren.« Drei Kusinen, die einen Zirkel bilden mussten, um Reisen zu können, beobachteten die Grenzländer aus dem gleichen Grund.

Also keinen guten Nachrichten, ganz egal, wie Dyelin es verkaufen wollte. Elayne hatte gehofft, dass die Bedrohung der Grenzländer einige der Häuser dazu treiben würde, sie zu unterstützen. Immerhin erfüllt wenigstens einer der Gründe, warum ich sie nach Andor einreisen ließ, seinen Zweck , dachte sie grimmig. Selbst wenn es ihr nicht gelang, den Thron zu erringen, hatte sie Andor wenigstens diesen Dienst erwiesen. Immer vorausgesetzt, derjenige, der den Thron errang, verpfuschte nicht alles. Was sie sich bei Arymilla nur zu gut vorstellen konnte. Nun, Arymilla würde sich die Rosenkrone nicht aufsetzen, und damit war die Sache erledigt. Sie musste aufgehalten werden, auf die eine oder andere Weise.

»Also sind es sechs, sechs und sechs«, sagte Catalyn und fuhr mit dem Daumen über den langen Siegelring an ihrer linken Hand. Sie wirkte nachdenklich, was ungewöhnlich für sie war. Normalerweise sagte sie das, was sie dachte, ohne auch nur einen Moment über die Konsequenzen nachzudenken. »Selbst wenn sich Candraed uns anschließt, fehlen uns zehn.« Fragte sie sich, ob sie Haevin einer hoffnungslosen Sache versprochen hatte? Unglücklicherweise hatte sie ihr Haus nicht so fest mit Elayne verbunden, dass sich die Knoten nicht mehr lösen ließen.

»Ich war sicher, dass sich Luan uns anschießen würde«, murmelte Conail. »Und Abelle und Pelivar.« Er trank einen großen Schluck Wein. »Sobald wir Arymilla geschlagen haben, werden sie kommen. Denkt an meine Worte.«

»Aber was denken sie sich dabei?«, wollte Branlet wissen.

»Wollen sie einen Dreifrontenkrieg anfangen?« Während seiner Worte kippte seine Stimme, und er wurde knallrot. Er vergrub das Gesicht in seinem Pokal, schnitt aber eine Grimasse. Anscheinend mochte er Ziegenmilch genauso wenig wie sie.

»Es sind die Grenzländer.« Perival hatte noch die Stimme eines Jungen, aber er klang selbstbewusst. »Sie halten sich zurück, denn wer auch immer hier gewinnt, er muss sich mit ihnen auseinander setzen.« Er nahm den Bären und wog ihn in der Hand, als könnte ihm sein Gewicht Antworten geben. »Aber was ich dabei nicht verstehe, warum sie überhaupt bei uns eingefallen? Wir sind so weit von den Grenzländern weg. Und warum sind sie nicht weitermarschiert und haben Caemlyn angegriffen? Sie könnten Arymilla zur Seite fegen, und ich bezweifle, dass wir sie so leicht abwehren könnten wie Arymilla. Also warum sind sie hier?«

Conail schlug ihm lächelnd auf die Schulter. »Na, das wird eine tolle Schlacht werden, wenn wir uns den Grenzländern entgegenstellen. Northans Adler und Mantears Amboss werden Andor an diesem Tag mit Stolz erfüllen, was?« Perival nickte, aber die Vorstellung schien ihm nicht zu gefallen. Conail hingegen schon.

Elayne wechselte einen Blick mit Dyelin und Birgitte, die beide erstaunt aussahen. Elayne war selbst erstaunt. Die beiden Frauen wussten natürlich Bescheid, aber der kleine Perival hatte beinahe an ein Geheimnis gerührt, das bewahrt werden musste. Irgendwann würde man darauf kommen, dass die Grenzländer die anderen Häuser dazu hätten bringen sollen, sich ihr anzuschließen, aber das durfte man um keinen Preis bestätigen.

»Luan und die anderen haben Arymilla um einen Waffenstillstand gebeten, bis die Grenzländer vertrieben worden sind«, sagte Dyelin nach einem Augenblick. »Sie hat um Bedenkzeit gebeten. So wie ich mir das ausgerechnet habe, ist das der Zeitpunkt gewesen, an dem sie die Angriffe auf die Mauer verstärkt hat. Sie hat ihnen mitgeteilt, dass sie noch immer darüber nachdenkt.«

»Mal von allem anderen abgesehen zeigt das genau, warum Arymilla den Thron nicht verdient«, sagte Catalyn hitzig. »Ihre eigenen Ambitionen sind ihr wichtiger als Andors Sicherheit. Luan und die anderen müssen Narren sein, wenn sie das nicht erkennen.«

»Sie sind keine Narren«, erwiderte Dyelin. »Nur Männer und Frauen, die glauben, dass sie die Zukunft besser vorsehen können, als sie es in Wahrheit tun.«

Was, wenn sie und Dyelin diejenigen waren, die die Zukunft nicht klar sahen?, fragte sich Elayne. Um Andor zu retten, hätte sie auch Dyelin unterstützt. Nicht gern, aber um Andors Blut zu retten, hätte sie es getan. Dyelin hätte die Unterstützung von zehn Häusern gehabt, sogar mehr als zehn. Selbst Danine Candraed hätte sich möglicherweise endlich entschieden, ihre Lethargie abzuschütteln, um Dyelin zu unterstützen. Aber Dyelin wollte nicht Königin werden. Sie glaubte, dass Elayne die Richtige war, um die Rosenkrone zu tragen. Elayne glaubte das auch. Aber was, wenn sie sich irrte? Diese Frage stellte sich ihr nicht zum ersten Mal, aber jetzt, da sie die Karte mit all ihren schlechten Nachrichten anstarrte, konnte sie sie nicht abschütteln.

An diesem Abend saß sie nach einem Nachtmahl, das nur deshalb erwähnenswert war, weil man sie mit ein paar winzigen Erdbeeren überrascht hatte, in dem großen Wohnzimmer ihrer Gemächer und las. Versuchte zu lesen. Das in Leder gebundene Buch war eine Geschichte Andors, wie in letzter Zeit der größte Teil ihrer Lektüre. Um an eine echte Version der Wahrheit zu kommen, war es erforderlich, so viele davon zu lesen wie möglich und sie miteinander zu vergleichen. Zum einen erwähnte kein Buch, das während der Herrschaft einer Monarchin veröffentlicht worden war, ihre oder die Fehltritte ihrer unmittelbaren Vorgängerinnen, wenn sie demselben Haus angehörten. Man musste Bücher lesen, die geschrieben worden waren, während Trakand den Thron besetzte, um Mantears Fehler zu erfahren, und Bücher, die unter Mantears Herrschaft erschienen waren, um Norwelyns Fehler zu erfahren. Die Fehler anderer konnten sie lehren, sie nicht zu wiederholen. Das war fast die erste Lektion gewesen, die ihre Mutter ihr beigebracht hatte.

Aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Oftmals ertappte sie sich dabei, eine Seite anzustarren, ohne ein Wort wahrzunehmen, in Gedanken bei ihrer Schwester, oder dass sie anfing, Aviendha etwas sagen zu wollen, bevor ihr einfiel, dass sie nicht da war. Sie fühlte sich sehr einsam, was lächerlich war. Sephanie stand in der Ecke, nur für den Fall, dass sie etwas brauchte. Acht Gardistinnen standen vor der Tür ihrer Gemächer, und eine von ihnen, Yurith Azeri, war eine ausgezeichnete Gesprächspartnerin, eine gebildete Frau, die aber nie über ihre Vergangenheit redete. Aber keine von ihnen war Aviendha.

Als Vandene gefolgt von Kirstian und Zarya ins Zimmer rauschte, erschien das eine Erleichterung. Die beiden weiß gekleideten Frauen blieben mit demütigen Mienen in der Tür stehen. Vom Eidstab unberührt, schien die blasse Kirstian, die die Hände auf Taillenhöhe gefaltet hatte, in ihren mittleren Jahren zu sein; Zarya mit ihren schräg stehenden Augen und der Hakennase kurz davor. Sie hielt etwas, das in ein weißes Tuch gewickelt war.

»Entschuldigt, falls ich Euch störe«, setzte Vandene an und runzelte dann die Stirn. Trotz ihrer Aes Sedai-Züge vermittelte das Gesicht der weißhaarigen Grünen irgendwie den Eindruck von Alter. Es hätten zwanzig oder auch vierzig Jahre sein können oder alles Mögliche dazwischen; das schien sich bei jedem Blinzeln zu verändern. Vielleicht waren es ihre dunklen Augen, die leuchtend und schmerzerfüllt waren, die so viel gesehen hatten. Irgendwie machte sie auch einen müden Eindruck. Sie hielt sich kerzengerade, aber sie sah trotzdem erschöpft aus. »Natürlich geht mich das nichts an«, sagte sie taktvoll, »aber gibt es einen Grund, warum Ihr so viel von der Macht haltet? Als ich Euch im Korridor gespürt habe, dachte ich, Ihr müsst etwas sehr Komplexes weben.«

Überrascht wurde sich Elayne bewusst, dass sie fast so viel Saidar hielt, wie sie ohne Schaden nehmen konnte. Wie war das passiert? Sie konnte sich nicht daran erinnern, so tief davon geschöpft zu haben. Hastig ließ sie die Quelle los, Bedauern erfüllte sie, als die Macht versickerte und die Welt… wieder gewöhnlich wurde. Sofort kippte ihre Stimmung um.

»Ihr stört nicht«, sagte sie verdrossen und legte das Buch vor sich auf den Tisch. Sie hatte sowieso keine drei Seiten von dem Ding geschafft.

»Darf ich dann für Abgeschiedenheit sorgen?«

Elayne nickte knapp — es ging die Frau verdammt noch mal nichts an, wie viel von der Macht sie hielt; sie kannte das Protokoll genauso gut wie Elayne, wenn nicht sogar besser — und befahl Sephanie, im Vorraum zu warten, während Vandene eine Abschirmung gegen Lauscher webte.

Dennoch wartete Vandene, bis sich die Tür hinter der Zofe geschlossen hatte, bevor sie sprach. »Reanne Corley ist tot, Elayne.«

»Oh, beim Licht, nein.« Die Verärgerung wandelte sich in Schluchzen, und sie zog schnell ein Spitzentaschentuch aus dem Ärmel, um die Tränen abzutupfen, die ihr plötzlich die Wangen hinunterströmten. Ihre verfluchten Stimmungsschwankungen waren am Werk, aber Reanne verdiente sicherlich Tränen. Sie wäre doch so gern eine Grüne geworden.

»Wie?« Verdammt, sie wünschte sich, sie hätte aufhören können zu heulen!

Bei Vandene gab es keine Tränen. Vielleicht hatte sie keine Tränen mehr. »Sie wurde mit der Macht erstickt. Wer auch immer das getan hat, hat viel mehr davon benutzt, als nötig war. Die Spuren von Saidar hafteten dicht an ihr und dem Zimmer, in dem sie gefunden wurde. Die Mörderin wollte sichergehen, dass jeder erfährt, auf welche Weise sie starb.«

»Das ergibt doch keinen Sinn, Vandene.«

»Vielleicht doch. Zarya?«

Die Saldaeanerin legte ihr kleines Bündel auf den Tisch und wickelte es aus. Darin lag eine Gelenkpuppe aus Holz. Sie war sehr alt, das einfache Kleidchen fadenscheinig, das bemalte Gesicht blätterte ab und es fehlte ein Auge, die Hälfte des langen Haares war weg.

»Die gehörte Mirane Larinen«, sagte Zarya. »Derys Nermala fand sie hinter einem Geschirrschrank.«

»Ich verstehe nicht, was eine von Mirane zurückgelassene Puppe mit Reannes Tod zu tun haben soll«, sagte Elayne und wischte sich über die Augen. Mirane war eine jener Kusinen, die weggelaufen waren.

»Nur das«, antwortete Vandene. »Als Mirane damals zur Weißen Burg ging, versteckte sie diese Puppe außerhalb, weil sie gehört hatte, dass man alle ihre Besitztümer verbrennen würde. Nachdem man sie hinauswarf, holte sie sie zurück und trug sie immer bei sich. Immer. Sie hatte da allerdings einen Tick. Wo auch immer sie eine Zeit lang verweilte, versteckte sie die Puppe wieder. Fragt mich nicht nach dem Grund. Aber sie wäre nicht weggelaufen und hätte die Puppe zurückgelassen.«

Elayne tupfte sich noch immer die Augen und lehnte sich in den Stuhl zurück. Ihr Weinen war zu einem Schniefen abgeklungen, aber noch immer liefen Tränen. »Also ist Mirane nicht weggelaufen. Sie wurde ermordet und ihre Leiche . . . weggeschafft.« Eine schreckliche Art, es auszudrücken. »Glaubt Ihr, die anderen auch? Sie alle?«

Vandene nickte, und einen Augenblick lang sackten ihre schmalen Schultern nach unten. »Ich befürchte es in der Tat«, sagte sie und straffte sich wieder. »Ich vermute, man hinterließ Hinweise bei den Sachen, die sie zurückließen, geliebte Erinnerungstücke wie diese Puppe, ein Lieblingsschmuckstück. Die Mörderin wollte uns glauben machen, dass sie ihre Verbrechen geschickt verbergen konnte, aber eben nicht geschickt genug, bloß dass wir nicht schlau genug waren, diese Hinweise zu finden. Also entschied sie sich, offensichtlicher zu werden.«

»Um den Kusinen Angst einzujagen, damit sie die Flucht ergreifen«, murmelte Elayne. Das würde sie nicht völlig handlungsunfähig machen, aber dann wäre sie wieder allein auf die Gnade der Windsucherinnen angewiesen, und die schienen damit geizig zu werden. »Wie viele von ihnen wissen Bescheid?«

»Mittlerweile wohl alle, vermute ich«, sagte Vandene trocken. »Zarya hat Derys befohlen, den Mund zu halten, aber diese Frau hört sich gern reden.«

»Das scheint gegen mich gerichtet zu sein, um Arymilla auf den Thron zu helfen, aber warum sollte sich eine Schwarze Schwester dafür interessieren? Ich kann nicht glauben, dass wir zwei Mörderinnen in unserer Mitte haben. Wenigstens ist damit die Frage mit Merilille geklärt. Vandene, sprecht mit Sumeko und Alise. Sie können dafür sorgen, dass der Rest nicht in Panik ausbricht.« Sumeko war nach Reanne die Ranghöchste gewesen, so wie die Kusinen ihre Rangfolge regelten, und auch wenn Alise eine bedeutend niedrigere Stellung einnahm, war sie doch eine Frau mit großem Einfluss. »Von jetzt an soll keine von ihnen mehr allein sein, bei keiner Gelegenheit. Immer mindestens zwei zusammen, und drei oder vier wären besser. Und sagt ihnen, sie sollen sich vor Careane und Sareitha in Acht nehmen.«

»Davon rate ich ab«, sagte Vandene schnell. »In der Gruppe sollten sie sicher sein, und Careane und Sareitha würden das mitbekommen. Sie vor Aes Sedai warnen? Die Kusinen würden sich auf der Stelle verraten.« Kirstian und Zarya nickten ernst.

Nach einem kurzen Moment stimmte Elayne der weiteren Geheimhaltung zögernd zu. Die Kusinen müssten in Gruppen sicher sein. »Informiert Chanelle über Reanne und die anderen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Windsucherinnen in Gefahr sind — sie zu verlieren würde mir nicht so schaden wie der Verlust der Kusinen —, aber wäre es nicht wunderbar, wenn sie sich zur Abreise entscheiden würden?«

Sie rechnete nicht damit, dass das passieren würde — Chanelle fürchtete sich davor, zum Meervolk zurückzukehren, ohne ihren Teil des Abkommens eingehalten zu haben —, aber sollten sie es dennoch tun, wäre das ein Lichtblick in einem ansonsten erbärmlichen Tag gewesen. Zumindest erschien es unwahrscheinlich, dass dieser Tag noch schlimmer werden konnte. Der Gedanke ließ sie erschaudern. Beim Licht, man konnte nur hoffen, dass er nicht noch schlimmer wurde.

Arymilla schob den Teller mit dem Eintopf mit einer Grimasse von sich. Man hatte ihr verschiedene Übernachtungsmöglichkeiten angeboten — Arlene, ihre Zofe, traf mittlerweile die Wahl; die Frau wusste, was ihr gefiel —, und das Mindeste, was sie erwartete, war eine vernünftige Mahlzeit, aber das Hammelfleisch war fettig und hatte definitiv angefangen zu vergammeln. Das war in letzter Zeit zu oft passiert. Dieses Mal würde der Koch ausgepeitscht werden! Sie war sich nicht sicher, welcher der Adligen im Lager ihn beschäftigte, nur dass er angeblich der Beste sein sollte, der zur Verfügung stand — der Beste! Aber das spielte keine Rolle. Er würde ausgepeitscht werden, um ein Exempel zu statuieren. Und danach natürlich fortgeschickt werden. Man konnte keinem Koch weiterhin vertrauen, nachdem er bestraft worden war.

Die Stimmung im Zelt war alles andere als lebhaft. Mehrere der Adligen im Lager hatten auf eine Einladung zum Essen gehofft, aber keiner von ihnen stand hoch genug im Rang. So langsam bedauerte sie, nicht doch einen oder zwei gefragt zu haben, selbst welche von Naeans oder Elenias Leuten. Sie wären vielleicht unterhaltsam gewesen. Ihre engsten Verbündeten saßen zusammen am Tisch, und man hätte glauben können, sie wären bei einem Totenschmaus. Oh, der dürre alte Nasin, dessen sich lichtendes Haar ungekämmt war, aß herzhaft, ohne dabei zu bemerken, dass das Fleisch fast verfault war, und tätschelte ihr dabei immer mal wieder auf väterliche Weise die Hand. Sie erwiderte sein Lächeln wie eine brave Tochter. Heute Abend trug der Narr einen seiner mit Blumen bestickten Mäntel. Das Ding wäre als der Morgenmantel einer Frau durchgegangen! Glücklicherweise war sein ständiges lüsternes Grinsen an Elenia gerichtet, die ein Stück weiter unterhalb am Tisch saß; die Frau mit dem honigblonden Haar zuckte immer zusammen und ihr fuchshaftes Gesicht wurde blass, wenn sie ihn ansah. Sie kontrollierte Haus Sarand, als wäre sie seine Herrscherin und nicht ihr Ehemann, und doch fürchtete sie, dass Arymilla sie trotz allem Nasin überließ. Die Drohung war mittlerweile unnötig geworden, aber es war praktisch, sie für den Ernstfall in der Hinterhand zu haben. Ja, Nasin war mit seiner sinnlosen Jagd auf Elenia zufrieden, aber die anderen waren in ihre düsteren Gedanken versunken. Ihre Teller waren kaum angerührt, und sie ließen ihre beiden Diener ununterbrochen die Weinbecher nachfüllen. Sie hatte noch nie gern fremden Dienern vertraut. Wenigstens war der Wein genießbar.

»Ich sage, wir sollten einen energischeren Angriff durchführen«, murmelte Lir angetrunken in seinen Becher. Der Hohe Herr von Baryn, ein gertenschlanker Mann, dessen roter Mantel die Abnutzung durch die Rüstungsriemen zeigte, war immer begierig zuzuschlagen. Subtilität war für ihn ein Fremdwort. »Meine Augen-und-Ohren berichten, dass jeden Tag neue Gardisten durch diese ›Wegetore‹ kommen.« Er schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches. Der Mann glaubte doch allen Ernstes diese Gerüchte über Dutzende von Aes Sedai im Palast. »Diese halbherzigen Angriffe sind doch bloß eine Verschwendung von Männern.«

»Dem stimme ich zu«, sagte Karind und spielte an der großen goldenen Anstecknadel mit dem laufenden roten Fuchs von Anshar herum, die an ihrer Brust befestigt war. Sie war nicht weniger betrunken als Lir. Es war ihrem kantigen Gesicht deutlich anzusehen. »Wir müssen den Druck erhöhen, statt diese Männer wegzuwerfen. Sobald wir über die Mauer sind, wird sich unsere Überlegenheit auszahlen.«

Arymilla presste die Lippen zusammen. Sie hätten ihr wenigstens den Respekt erweisen können, der einer Frau, die bald Königin von Andor sein würde, zustand, statt die ganze Zeit anderer Meinung zu sein. Unglücklicherweise waren Baryn und Anshar nicht so fest an sie gebunden wie Sarand und Arawn. Im Gegensatz zu Jarid und Naean hatten Lir und Karind ihre Unterstützung nicht schriftlich festgelegt. Nasin zwar auch nicht, aber bei ihm hatte sie nicht die Befürchtung, ihn zu verlieren. Ihn hatte sie sich um den Finger gewickelt.

Sie zwang sich zu einem Lächeln und legte einen jovialen Ton in ihre Stimme. »Wir verlieren Söldner. Wozu sind Söldner sonst gut, als an Stelle unserer Waffenmänner zu sterben?« Sie hielt ihren Weinbecher hoch, und ein schlanker Mann in ihrem mit Silber abgesetzten Blau eilte herbei, um ihn zu füllen. Tatsächlich hatte er es so eilig, dass er einen Tropfen auf ihre Hand vergoss. Ihr finsterer Blick ließ ihn ein Taschentuch aus seiner Tasche reißen, um den Tropfen abzutupfen, bevor sie die Hand wegziehen konnte. Sein Taschentuch! Allein das Licht wusste, wo das dreckige Ding zuvor alles gewesen war, und er hatte sie damit berührtl Furcht stand in sein Gesicht geschrieben, als er sich verbeugend und Entschuldigungen murmelnd zurückzog. Sollte er noch bei dem Essen bedienen. Er konnte danach rausgeworfen werden. »Wir werden alle unsere Waffenmänner brauchen, wenn ich gegen die Grenzländer reite. Stimmt Ihr mir zu, Naean?«

Naean zuckte zusammen, als hätte man sie mit einer Nadel gestochen. Zierlich und blass, in gelbe Seide gekleidet, die auf der Brust das silberne Muster von Arawns Drei Schlüsseln aufgestickt hatte, machte sie seit einigen Wochen einen verhärmten Eindruck, ihre blauen Augen blickten müde und angespannt. Ihr anmaßendes Benehmen war so gut wie verschwunden. »Natürlich, Arymilla«, sagte sie lammfromm und leerte ihren Becher. Gut. Sie und Elenia waren definitiv gezähmt, aber Arymilla überprüfte es gelegentlich gern, um sich zu vergewissern, dass keiner von ihnen ein neues Rückgrat wuchs.

»Wenn Luan und die anderen Euch nicht unterstützen, was nutzt es Euch dann, Caemlyn zu erobern?« Sylvase, Nasins Enkelin, sprach so selten, dass die Frage ein Schock war. Derb und im Grunde eigentlich nicht hübsch, schaute sie für gewöhnlich stumpf drein, aber im Augenblick funkelte ein ziemlich scharfer Blick in ihren blauen Augen. Alle starrten sie an. Das schien sie nicht im Mindesten zu stören. Sie spielte mit ihrem Weinbecher, aber Arymilla glaubte nicht, dass sie mehr als zwei getrunken hatte. »Wenn wir gegen die Grenzländer kämpfen müssen, warum dann nicht Luans Waffenstillstandsangebot annehmen, damit Andor seine volle Stärke nicht entzweit ins Feld schickt?«

Arymilla lächelte. Dabei hätte sie die dumme Kuh am liebsten geohrfeigt. Aber das hätte Nasin verärgert. Er wollte, dass sie Arymillas »Gast« blieb, um seine Absetzung als Hoher Herr zu verhindern — ein Teil von ihm schien sich bewusst zu sein, dass sein Verstand nicht mehr funktionierte; aber sein ganzes Wesen hatte vor, sich bis zu seinem Tod an der Position des Hohen Herrn festzuklammern —, doch er liebte sie. »Ellorien und einige der anderen werden sich mir noch anschließen, Kind«, sagte sie aalglatt. Glätte erforderte einige Anstrengung. Für wen hielt sich diese Schlampe?

»Aemlyn, Arathelle, Pelivar. Sie hegen Groll gegen Trakand.«

Sie würden bestimmt zu ihr kommen, sobald Elayne und Dyelin aus dem Weg geschafft waren. Diese beiden würden Caemlyns Fall nicht überleben. »Sobald die Stadt mir gehört, werden sie auf jeden Fall auf meiner Seite sein. Drei von Elaynes Anhängern sind Kinder, und Conail Northan ist kaum mehr als ein Kind. Ich werde sie mit Sicherheit mühelos überzeugen können, mich öffentlich zu unterstützen.« Und sollte ihr das nicht gelingen, Meister Lounalt würde das sicherlich keine Mühe bereiten. Es wäre eine Schande, ihm und seinen Schnüren Kinder übergeben zu müssen. »Bei Sonnenuntergang des Tages, an dem Caemlyn mir in die Hände fällt, werde ich Königin sein. Ist es nicht so, Vater?«

Nasin lachte und spuckte Stücke halb zerkauten Eintopfs über den Tisch. »Ja, ja«, sagte er und tätschelte Arymillas Hand. »Hör auf deine Tante, Sylvase. Tu, was sie dir sagt. Sie wird bald die Königin von Andor sein.« Sein Lächeln verblasste, und ein seltsamer Ton trat in seine Stimme. Es hätte beinahe ein… Flehen sein können. »Vergiss nicht, du wirst die Hohe Herrin von Caeren sein, wenn es mich nicht mehr gibt. Wenn es mich nicht mehr gibt. Du wirst die Hohe Herrin sein.«

»Wie du befiehlst, Großvater«, murmelte Sylvase und neigte kurz den Kopf. Als sie wieder aufschaute, war ihr Blick so leer wie immer. Die Intelligenz musste eine Lichtspiegelung gewesen sein. Natürlich.

Nasin grunzte und machte sich beherzt wieder daran, den Eintopf runterzuschlingen. »Der Beste, den ich seit Tagen hatte. Ich glaube, ich nehme noch eine Portion. Mehr Wein, Mann. Siehst du nicht, dass mein Becher leer ist?«

Die Stille am Tisch wurde immer unbehaglicher. Nasins deutliche Zurschaustellung seiner Senilität brachte das mit sich.

»Ich sage trotzdem…«, fing Lir schließlich an, nur um durch das Eintreten eines Waffenmannes mit Marnes vier Silbernen Monden auf der Brust unterbrochen zu werden.

Der Bursche verbeugte sich respektvoll, ging um den Tisch herum und beugte sich vor, um Arymilla ins Ohr zu flüstern. »Meister Hernvil bittet um ein privates Wort, meine Lady.«

Bis auf Nasin und seine Enkelin taten alle so, als würden sie sich auf ihren Wein konzentrieren und nicht versuchen zu lauschen. Er aß weiter. Sie sah Arymilla ausdruckslos an. Diese Schärfe musste eine Lichtspiegelung gewesen sein.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Arymilla und erhob sich. Sie deutete mit der Hand auf das Essen und den Wein. »Genießt das bis zu meiner Rückkehr. Genießt.« Lir verlangte mehr Wein.

Draußen machte sie sich nicht die Mühe, die Röcke zu heben, um sie vor dem Schlamm zu bewahren. Arlene würde sie sowieso reinigen müssen, also kam es auf ein kleines bisschen mehr Schlamm auch nicht an. Aus einigen Zelten fiel Licht, aber größtenteils lag das Lager dunkel im Schein des Halbmondes da. Jakob Hernvil, ihr Sekretär, wartete ein kleines Stück von dem Zelt entfernt; er hielt eine Laterne, die einen gelben Lichtkreis um ihn herum erschuf. Er war ein kleiner Mann und dürr, als hätte man alles Fett aus ihm herausgekocht. Diskretion war ihm angeboren, und sie versicherte sich seiner Loyalität, indem sie ihm genug zahlte, dass nur die größten Bestechungssummen für ihn von Interesse sein konnten, weitaus mehr, als sonst jemand für einen Schreiber bezahlen würde.

»Verzeiht mir, dass ich Eure Mahlzeit unterbrochen habe, meine Lady«, sagte er mit einer Verbeugung, »aber ich war mir sicher, dass Ihr das sofort erfahren wolltet.« Es war immer eine Überraschung, bei einem so winzigen Mann eine so tiefe Stimme zu hören. »Sie haben sich einverstanden erklärt. Aber sie wollen die volle Summe des Goldes im Voraus.«

Unwillkürlich presste sie die Lippen zusammen. Die volle Summe. Sie hatte gehofft, nur die erste Hälfte zahlen zu müssen. Denn wer würde es wagen, sie wegen ihrer Schulden zu bedrängen, sobald sie Königin war? »Setzt einen Brief für Frau Andscale auf. Ich unterschreibe und versiegele ihn morgen früh als Erstes.« So viel Gold zu transportieren würde Tage in Anspruch nehmen. Und wie lange würde es dauern, bis die Waffenmänner bereitstanden? Sie hatte noch nie richtig zugehört, wenn es um solche Dinge ging. Lir hätte es ihr sagen können, aber sie hasste es, Schwächen zu zeigen.

»Richtet ihnen aus, von morgen an eine Woche, auf den Tag genau.« Das sollte ausreichen. In einer Woche würde Caemlyn ihr gehören. Der Thron würde ihr gehören. Arymilla, durch die Gnade des Lichts, Königin von Andor, Verteidigerin des Reiches, Beschützerin des Volkes, Hohe Herrin von Haus Marne. Mit einem Lächeln ging sie zurück ins Zelt, um den anderen die wunderbare Nachricht mitzuteilen.

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