20 Der Goldene Kranich

Der Wind hatte sich gelegt, als der Regen nachließ, aber die Sonne wurde noch immer von grauen Wolken verborgen. Der feine Nieselregen reichte allerdings aus, um Rands Haar zu durchnässen, und drang auch in seinen mit goldenem Besatz bestickten schwarzen Mantel, während er zwischen den toten Trollocs umherging. Logain hatte einen Schild aus Luft gewebt, sodass die Regentropfen von ihm abprallten oder um ihn herum zu Boden perlten, aber Rand wollte kein weiteres Mal das Risiko eingehen, dass Lews Therin wieder Saidin an sich riss. Der Mann hatte gesagt, er könnte mit dem Sterben bis zur Letzten Schlacht warten, aber wie weit konnte man einem Verrückten schon vertrauen?

Verrückt?, wisperte Lews Therin. Bin ich verrückter als du? Er wollte sich vor Lachen ausschütten.

Gelegentlich sah Nandera Rand über die Schulter an. Die hochgewachsene, sehnige Frau, die ihr grau werdendes Haar unter der braunen Shoufa verbarg, war die Anführerin der Töchter, zumindest jener auf dieser Seite der Drachenmauer, aber sie hatte beschlossen, seine Leibwache persönlich zu befehligen. Ihre grünen Augen — das war alles, was er über dem schwarzen Schleier von ihrem von der Sonne gebräunten Gesicht sehen konnte — waren ziemlich ausdruckslos, aber er war davon überzeugt, dass sie sich Sorgen machte, weil er sich nicht vor dem Regen schützte. Töchter schienen es zu bemerken, wenn etwas nicht wie immer war. Er hoffte, dass sie den Mund hielt.

Du musst mir vertrauen, sagte Lews Therin. Vertrau mir.

Oh, beim Licht, ich flehe eine Stimme in meinem Kopf an! Ich muss verrückt sein!

Nandera und der Rest der fünfzig verschleierten Töchter bildeten einen großen Kreis um Rand. Sie standen beinahe Schulter an Schulter und stießen die Speere in jeden Trolloc und Myrddraal, an dem sie vorbeikamen, traten entschlossen über große abgetrennte Arme und Beine, über abgetrennte Köpfe mit Hörnern oder Stoßzähnen oder Reißzähnen. Gelegentlich stöhnte ein Trolloc oder versuchte, matt von ihnen fortzukriechen — oder sich knurrend auf sie zu stürzen —, aber sie taten es nicht lange. Krieg mit Trollocs war wie Krieg mit tollwütigen Hunden. Entweder man tötete sie oder sie töteten einen. Es gab kein Palaver, kein Ergeben, nur sie oder wir.

Bis jetzt hatte der Regen die Geier ferngehalten, aber überall flatterten Krähen und Raben umher; ihr schwarzes Gefieder funkelte feucht, und falls einige von ihnen die Augen des Dunklen Königs waren, hielt sie das nicht davon ab, Trollocs die Augen auszurupfen oder zu versuchen, einen anderen Bissen zu erbeuten. Es waren genügend Trollocs in Stücke gerissen worden, dass die Vögel reiche Nahrung fanden. Aber keiner ging in die Nähe eines toten Myrddraals, und sie mieden Trollocs, die zu nahe bei einem Myrddraal lagen. Aber das deutete nur auf Vorsicht hin. Vermutlich rochen die Myrddraals falsch für die Vögel. Das Blut eines Myrddraals konnte Stahl verätzen, falls man es zu lange dort ließ. Für Raben und Krähen musste es wie Gift gerochen haben.

Die überlebenden Saldaeaner erlegten die Vögel mit Pfeil en oder spießten sie mit ihren leicht gekrümmten Schwertern auf oder erschlugen sie einfach mit Schaufeln oder Hacken oder Rechen, mit allem, was als ordentliche Keule diente — in den Grenzlanden war es undenkbar, eine Krähe oder einen Raben am Leben zu lassen; sie waren zu oft die Augen des Dunklen Königs —, aber es waren zu viele. Hunderte schwarz gefiederte Vögel lagen zwischen den Trollocs, und für jeden Kadaver schienen sich hundert weitere lautstark um die Weichteile zu streiten, einschließlich Teile ihrer toten Artgenossen. Die Asha’man und Aes Sedai hatten den Versuch, sie zu töten, schon lange aufgegeben.

»Mir gefällt es nicht, dass sich meine Männer auf diese Weise verausgaben«, sagte Logain. Seine Männer. »Oder die Schwestern, was das angeht. Gabrelle und Toveine werden bei Einbruch der Nacht der Erschöpfung nahe sein.« Er war mit beiden Schwestern den Bund eingegangen, also musste er es wissen. »Was ist, wenn noch ein Angriff erfolgt?«

Überall um das Herrenhaus und die Außenbezirke herum flammten kurzzeitige Feuer auf, die so heiß waren, dass sich die Leute zum Schutz die Augen beschatteten. Aes Sedai und Asha’man äscherten Trollocs und Myrddraals dort ein, wo sie lagen. Es waren zu viele, um sie einsammeln und aufschichten zu können. Mit weniger als zwanzig Aes Sedai und keinem Dutzend Asha’man und etwa hunderttausend Trollocs würde es eine langwierige Arbeit sein. Vermutlich würde sich der Verwesungsgestank zu den bereits üblen Gerüchen in der Luft dazugesellen, bevor sie erledigt war, der kupferige Geruch von Schattengezüchtblut, der Gestank dessen, was auch immer sich in den Trolloceingeweiden befunden haben mochte, als sie aufgerissen worden waren. Besser, nicht zu lange darüber nachzudenken. Vermutlich gab es zwischen dem Herrenhaus und dem Rückgrat der Welt keinen lebenden Bauern oder Dorfbewohner mehr. Dort mussten die Trollocs hergekommen sein, aus dem Wegetor außerhalb des Stedding Shangtai. Wenigstens war Loials Heimat sicher. Weder Trollocs noch Myrddraals würden ein Stedding betreten, solange sie nicht dazu getrieben wurden, und dazu benötigte man einen energischen Antrieb.

»Wollt Ihr sie lieber an Ort und Stelle verrotten lassen?«, fragte Cadsuane und klang, als wäre ihr persönlich das völlig gleichgültig. Sie hielt die grünen Röcke hoch, sodass die Seide nicht durch den blutgetränkten Schlamm oder die Eingeweide schleifte, aber sie stieg genauso unbeteiligt wie die Töchter über Beine und Köpfe. Sie hatte ebenfalls einen Regenschirm gewebt, genau wie Alivia auch, aber die hatte es erst getan, nachdem sie es bei der Grünen gesehen hatte. Rand hatte versucht, die ihm verschworenen Schwestern dazu zu bringen, der Seanchanerin mehr über die Macht beizubringen, aber ihrer Ansicht nach hatte das nichts mit dem Treueid zu tun. Sie war keine Gefahr für sich und auch keine für andere, und es reichte ihnen, es dabei zu belassen. Auch Nynaeve hatte sich geweigert, wegen Mins Sicht. Cadsuane hatte ihn kühl darüber informiert, dass sie keine Wilden unterrichtete.

»Das hier würde zu einem wahren Schlachthaus«, sagte Min. Ihr Gang hatte einen auffallenden Schwung, auch wenn sie sich offensichtlich bemühte, nicht an das zu denken, was unter ihren Füßen lag, während sie es gleichzeitig vermied, einen mit einem Absatz versehenen blauen Stiefel daraufzusetzen, und das ließ sie gelegentlich straucheln. Auch sie wurde nass, ihre Locken fingen an, am Kopf zu kleben, aber der Bund verriet keinen Verdruss darüber. Nur Wut, und dem Blick nach zu urteilen, mit dem sie Logain bedachte, war sie auf ihn gerichtet. »Wo sollten die Diener hingehen, und die Menschen, die auf den Feldern und in den Ställen arbeiten? Wie sollen sie leben?«

»Es wird keinen weiteren Angriff geben«, sagte Rand.

»Nicht bevor derjenige, der sie losgeschickt hat, von seinem Fehlschlag erfährt, und vielleicht nicht einmal dann. Das war alles, was sie geschickt haben. Die Myrddraals hätten nicht einzeln angegriffen.« Logain grunzte, aber dagegen konnte er nichts sagen.

Rand schaute zurück zum Herrenhaus. An einigen Stellen lagen tote Trollocs direkt an den Fundamenten. Keiner hatte es hinein geschafft, aber… Logain hatte Recht, dachte er und betrachtete das Schlachtfeld. Es war knapp gewesen. Ohne die Asha’man und Aes Sedai, die Logain mitgebracht hatte, hätte die Sache anders ausgehen können. Sehr knapp. Und falls es später noch einen weiteren Angriff gab…?

Offensichtlich kannte jemand Ishamaels Trick. Oder der blauäugige Mann in seinem Kopf konnte ihn wirklich lokalisieren. Ein weiterer Angriff würde größer ausfallen. Entweder das oder er würde aus einer unerwarteten Richtung kommen. Vielleicht sollte er Logain noch ein paar weitere Asha’man bringen lassen.

Du hättest sie töten sollen, schluchzte Lews Therin. Dazu ist es jetzt zu spät. Zu spät.

Die Quelle ist jetzt sauber, du Narr, dachte Rand.

Ja, erwiderte Lews Therin. Aber sind sie es? Bin ich es?

Darüber hatte sich Rand auch schon Gedanken gemacht. Die eine Hälfte der zweifachen Wunde in seiner Seite stammte von Ishamael, die andere Hälfte von Padan Fains Dolch, der mit dem Makel von Shadar Logoth beschmutzt gewesen war. Sie pulsierten oft, und wenn sie das taten, schienen sie zu leben.

Der Kreis der Töchter öffnete sich ein Stück, um einen weißhaarigen Diener mit einer langen spitzen Nase durchzulassen, der noch gebrechlicher als Ethin aussah. Er versuchte sich ausgerechnet unter einen Sonnenschirm des Meervolks zu ducken, aber die alte blaue Seide wies mehrere Löcher auf, und ein paar Rinnsale plätscherten auf seinen gelben Mantel und seinen Kopf. Das dünner werdende Haar klebte ihm am Schädel und tropfte. Er schien klitschnass zu sein, als hätte er auf den Schirm verzichtet. Zweifellos hatte einer von Algarins Vorfahren das Ding als Souvenir mitgebracht, und wo er es herhatte, war bestimmt eine Geschichte für sich. Rand bezweifelte, dass sich das Meervolk so ohne weiteres vom Sonnenschirm einer Herrin der Wogen trennte.

»Mein Lord Drache«, sagte der alte Mann mit einer Verb eugung, die noch mehr Wasser seinen Rücken runterschickte. »Verin Sedai hat mir aufgetragen, Euch das hier sofort zu geben.« Er zog ein zusammengefaltetes und versiegeltes Blatt Papier unter dem Mantel hervor.

Rand stopfte es schnell in die Manteltasche, um es vor dem Regen zu schützen. Tinte verschwamm schnell. »Danke, aber das hätte warten können, bis ich zurück im Haus bin. Ihr solltet schnell wieder hineingehen, bevor Ihr völlig durchnässt seid.«

»Sie sagte sofort, mein Lord Drache.« Der Bursche klang verärgert. »Sie ist eine Aes Sedai.«

Nach Rands Nicken verbeugte er sich erneut und ging langsam zum Haus zurück, den Rücken steif vor Stolz, während der Sonnenschirm ihn mit noch mehr Wasser tränkte. Sie war eine Aes Sedai. Jeder sprang für eine Aes Sedai, selbst in Tear, wo sie nicht beliebt waren. Was hatte Verin zu sagen, dass sie es schriftlich niederlegen musste? Rand strich mit dem Daumen über das Siegel und ging weiter.

Sein Ziel war eine der Scheunen, deren Strohdach teilw eise verbrannt war. Es war die Scheune, in die die Trollocs eingedrungen waren. Ein stämmiger Kerl in einem schlichten braunen Mantel und schlammverschmierten Stiefeln, der am Torpfosten lehnte, stellte sich bei Rands Näherkommen aufrecht hin und schaute aus irgendeinem Grund hastig über die Schulter ins Scheuneninnere. Die Töchter schwärmten aus und umstellten die Scheune.

Er blieb an der Schwelle wie angewurzelt stehen, Min und die anderen taten es ihm nach. Logain knurrte einen Fluch. Zwei Laternen, die an den Pfeilern des Heubodens hingen, verbreiteten nur schwaches Licht, aber es reichte aus, um zu sehen, dass jede Fläche vor Fliegen wimmelte, selbst der strohbedeckte Boden. Und genauso viele schienen in der Luft umherzuschwirren.

»Wo kommen die her?«, fragte Rand. Algarin mochte nicht reich sein, aber seine Scheunen und Ställe wurden so sauber wie möglich gehalten. Der stämmige Kerl zuckte schuldbewusst zusammen. Er war jünger als die meisten der Diener, aber sein Haar hatte sich bereits gelichtet, und seine Augen und seine Mundwinkel wiesen tiefe Falten auf.

»Weiß nicht, mein Lord«, murmelte er und führte einen schmutzigen Knöchel an die Stirn. Er konzentrierte sich so sehr auf Rand, dass offensichtlich war, dass er nicht in die Scheune sehen wollte. »Ich bin zur Tür gegangen, um Luft zu schnappen, und als ich mich wieder umdrehte, waren sie da. Ich dachte… ich dachte, es wären vielleicht tote Fliegen.«

Rand schüttelte angewidert den Kopf. Diese Fliegen waren nur zu lebendig. Nicht jeder der Saldaeaner, die diese Scheune verteidigt hatten, war gestorben, aber man hatte alle Gefallenen der Saldaeaner hierher gebracht. Sie mochten es nicht, im Regen begraben zu werden. Keiner von ihnen konnte den Grund dafür nennen, aber man begrub einfach niemanden, solange es regnete. Auf dem Boden lagen neunzehn Männer in einer ordentlichen Reihe, so ordentlich das ging, wenn einigen Gliedmaßen fehlten oder eingeschlagene Schädel aufwiesen. Aber sie waren von ihren Freunden und Kameraden sorgfältig hingelegt worden, die Gesichter gewaschen, die Augen geschlossen. Er war ihretwegen gekommen. Nicht um sich zu verabschieden oder aus anderen sentimentalen Gründen; er hatte keinen dieser Männer persönlich gekannt, lediglich das eine oder andere Gesicht war ihm vertraut. Er war gekommen, um sich in Erinnerung zu rufen, dass selbst etwas, das wie ein vollständiger Sieg erschien, Blut kostete. Und dennoch hatten sie etwas Besseres verdient, als von Fliegen übersät zu sein.

Ich brauche keine Erinnerung, knurrte Lews Therin.

Ich bin nicht du, dachte Rand. Ich muss mich abhärten.

»Logain, schafft die verdammten Mistviecher weg!«, sagte er laut.

Du bist härter, als ich es jemals war, sagte Lews Therin. Plötzlich kicherte er. Wenn du nicht ich bist, wer bist du dann?

»Bin ich jetzt hier die verdammte Fliegenklatsche?«, murm elte Logain.

Rand wirbelte wütend zu ihm herum, aber Alivia sprach, bevor er auch nur ein Wort hervorbringen konnte.

»Lasst es mich versuchen, mein Lord.« In gewisser Weise bat sie, aber sie wartete wie eine Aes Sedai nicht auf die Erlaubnis. Er bekam eine Gänsehaut, als sie Saidar umarmte und die Macht lenkte.

Fliegen suchten selbst vor dem leichtesten Regen Schutz, weil ein Regentropfen ausreichte, um eine Fliege zu Boden zu reißen, was sie zu einer leichten Beute machte, bis ihre Flügel wieder getrocknet waren, aber plötzlich war das Tor mit einer summenden Fliegenmasse erfüllt, als wäre der Regen der Scheune vorzuziehen. Die Luft schien nur noch aus ihnen zu bestehen. Rand schlug Fliegen von seinem Gesicht fort, und Min bedeckte das Gesicht mit den Händen, während Ekel im Bund pulsierte, aber sie waren nur an der Flucht interessiert. In wenigen Augenblicken waren sie alle verschwunden. Der ältere Mann starrte Alivia mit offenem Mund an, dann hustete er plötzlich und spuckte zwei Fliegen in die Hand. Cadsuane warf ihm einen Blick zu, der seinen Mund zuschnappen und den Knöchel an die Stirn fliegen ließ. Nur ein Blick, aber sie war, was sie war.

»Also seht Ihr zu«, sagte sie zu Alivia. Ihre dunklen Augen waren auf das Gesicht der Seanchanerin gerichtet, aber Alivia zuckte nicht zusammen und stotterte auch nicht. Aes Sedai konnten sie nicht so sehr beeindrucken wie andere Leute.

»Und ich erinnere mich an das, was ich sehe. Ich muss ja irgendwie lernen, wenn ich dem Lord Drachen helfen soll. Ich habe mehr gelernt, als Ihr ahnt.« Min gab einen Laut von sich, beinahe ein Knurren aus tiefster Kehle, und Wut schoss durch den Bund, aber die blonde Frau ignorierte sie.

»Ihr seid mir nicht böse?«, fragte sie Rand nervös.

»Nein. Lernt, so viel Ihr könnt. Ihr macht das sehr gut.«

Sie errötete und schlug die Augen wie ein Mädchen nieder, das von einem unerwarteten Kompliment überrascht worden war. Ihre Augenwinkel wiesen feine Fältchen auf, aber manchmal fiel es schwer, nicht zu vergessen, dass sie hundert Jahre älter als jede lebende Aes Sedai und nicht ein halbes Dutzend Jahre jünger als er war. Er musste jemanden finden, der sie weiter unterrichtete.

»Rand al’Thor«, sagte Min ärgerlich, »du wirst doch wohl diese Frau nicht…«

»Deine Sicht irrt dich nie«, unterbrach er sie. »Was du siehst, passiert auch. Du hast versucht, die Dinge zu ändern, und es hat nie funktioniert. Das hast du mir selbst gesagt. Wie kommst du also darauf, dass es diesmal anders sein soll?«

»Weil es anders sein muss«, sagte sie aufgebracht. Sie beugte sich vor, als wollte sie sich auf ihn stürzen. »Weil ich will, dass es anders ist. Weil es anders sein wird. Davon abgesehen weiß ich nicht, ob alles eintrifft, was ich sehe. Menschen verändern sich. Ich habe mich bei Moiraine geirrt. Ich habe alle möglichen Dinge in ihrer Zukunft gesehen, und sie ist tot. Vielleicht sind auch ein paar andere der Dinge, die ich gesehen habe, niemals wahr geworden.«

Es darf diesmal nicht anders sein, keuchte Lews Therin.

Du hast es versprochen!

Ein leichtes Stirnrunzeln erschien auf Logains Gesicht, und er schüttelte den Kopf. Es konnte ihm nicht gefallen, hören zu müssen, dass Min ihre Fähigkeiten in Frage stellte. Beinahe bedauerte es Rand, dass er ihm von ihrer Sicht erzählt hatte, auch wenn es seinerzeit nur eine harmlose Ermunterung zu sein schien. Der Mann hatte doch tatsächlich Aes Sedai gebeten, Mins Gabe zu bestätigen, obwohl er klug genug gewesen war, seine Zweifel nicht vor Rand zum Ausdruck zu bringen.

»Ich verstehe nicht, warum diese junge Frau so leidens chaftlich ist, was Euch betrifft, mein Junge«, sagte Cadsuane nachdenklich. Sie schürzte nachdenklich die Lippen, dann schüttelte sie den Kopf und ließ den Schmuck baumeln.

»Oh, Ihr seid ja ganz attraktiv, schätze ich mal, aber ich kann das einfach nicht nachvollziehen.«

Um weiteren Streit mit Min zu vermeiden — sie nannte das anders, sie bezeichnete es als »Gespräch«, aber er kannte den Unterschied —, holte Rand Verins Brief aus der Tasche und brach das gelbe Wachssiegel, in das der Große Schlang enring eingeprägt war. Die spinnenhafte Handschrift der Braunen Schwester bedeckte den größten Teil der Seite; ein paar Buchstaben waren verschwommen, wo das Papier Regentropfen abbekommen hatte. Er ging zur nächsten Laterne. Sie stank leicht nach ranzigem Öl.

Wie ich bereits gesagt habe, habe ich hier getan, was ich tun konnte. Ich glaube, ich kann meinen Eid Euch gegenüber anderswo besser erfüllen, also bin ich mit Tomas abgereist. Schließlich gibt es viele Möglichkeiten, Euch zu dienen, und viele Notwendigkeiten. Ich bin überzeugt, dass Ihr Cadsuane vertrauen könnt, und Ihr solltet auf ihren Rat hören, aber hütet Euch vor den anderen Schwestern, eingeschlossen denen, die Euch die Treue geschworen haben. Einer Schwarzen Schwester bedeutet dieser Eid gar nichts, und selbst jene, die im Licht wandeln, könnten ihn auf eine Weise interpretieren, die Euch nicht gefallen dürfte. Ihr wisst bereits, dass nur wenige diesen Eid in allen Dingen im Sinne absoluten Gehorsams sehen. Einige mögen andere Schlupflöcher finden. Ob Ihr nun Cadsuanes Rat folgt oder nicht, und ich finde, Ihr solltet ihn befolgen, hört aber auf jeden Fall auf meinen. Seid sehr misstrauisch.

Die Unterschrift lautete schlicht »Verin«.

Er grunzte mürrisch. Nur wenige waren der Meinung, dass der Eid absoluten Gehorsam bedeutete? Wohl eher keine. Für gewöhnlich gehorchten sie, aber das bedeutete nicht, dass sie auch dahinterstanden. Man musste nur Verin als Beispiel nehmen. Sie warnte ihn davor, dass die anderen Dinge taten, die er vermutlich missbilligen würde, aber sie hatte nicht gesagt, wo sie hinging oder was sie dort tun wollte. Fürchtete sie, er würde damit nicht einverstanden sein? Vielleicht war es nur die Geheimniskrämerei einer Aes Sedai. Für Schwestern waren Geheimnisse so natürlich wie das Atmen.

Als er Cadsuane den Brief reichte, zuckte ihre linke Augenbraue. Sie musste wirklich überrascht gewesen sein, um sich so viel anmerken zu lassen, aber sie nahm den Brief und hielt ihn ins Laternenlicht.

»Eine Frau mit vielen Masken«, sagte sie schließlich, als sie den Brief zurückgab. »Aber sie erteilt da einen guten Rat.«

Was hatte das mit den Masken denn zu bedeuten? Er wollte sie danach fragen, aber da erschienen Loial und der Älteste Haman plötzlich in der Tür, jeder mit einer langschäftigen Axt auf der Schulter. Die Pinselohren des weißhaarigen Ogiers waren dicht an den Kopf gelegt, seine Miene war grimmig. Und Loials Ohren zuckten. Vermutlich vor Aufregung, nahm Rand an. Das konnte man nur schwer einschätzen.

»Ich hoffe, wir stören nicht?«, sagte Ältester Haman. Seine Ohren hoben sich, als er traurig auf die Reihe der Toten schaute.

»Überhaupt nicht«, sagte Rand und schob den Brief in die Tasche. »Ich wünschte, ich könnte zu deiner Hochzeit kommen, Loial, aber…«

»Oh, die ist vorbei, Rand«, sagte Loial. Er musste aufgeregt sein; es war ungewöhnlich für ihn, jemanden zu unterbrechen. »Meine Mutter hat darauf bestanden. Es wird nicht einmal Zeit für ein großes Hochzeitsfest geben, vielleicht gibt es sogar gar keines, wegen der Sache mit dem Stumpf und weil ich…« Der ältere Ogier legte ihm die Hand auf den Arm. »Was?«, sagte Loial und sah ihn an.

»Oh. O ja. Natürlich. Gut.« Er rieb sich mit einem Finger von der Größe einer Wurst unter der Nase.

Etwas, das er nicht sagen durfte? Anscheinend hatten selbst Ogier ihre Geheimnisse. Rand berührte den Brief in seiner Tasche. Andererseits hatte die jeder.

»Ich verspreche dir eines, Rand«, sagte Loial. »Was auch immer passiert, ich werde bei Tarmon Gai’don an deiner Seite stehen. Was auch geschieht.«

»Mein Junge«, murmelte Ältester Haman, »ich glaube nicht, dass du so etwas . ..« Er verstummte, schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches; es klang wie ein fernes Erdbeben.

Rand überbrückte in drei Schritten die Distanz zwischen ihnen und streckte die rechte Hand aus. Loial ergriff sie mit einem breiten Lächeln, und bei einem Ogier bedeutete das sehr breit. Aus dieser Nähe musste Rand den Kopf in den Nacken legen, um seinen Freund ansehen zu können. »Danke, Loial. Ich kann dir nicht sagen, wie viel es mir bedeutet, das zu hören. Aber ich brauche dich vorher.«

»Du… brauchst mich?«

»Loial, ich habe die Tore des Kurzen Weges versiegelt, die ich kenne, jene in Caemlyn und Cairhien, Illian und Tear, und ich habe das, das in der Nähe von Fal Dara geöffnet wurde, mit einer sehr hässlichen Falle versehen, aber das in der Nähe von Far Madding konnte ich nicht finden. Selbst wenn ich weiß, dass so ein Tor in der Stadt ist, kann ich es selbst nicht finden, und dann sind da noch alle diese Städte, die es nicht mehr gibt. Ich brauche dich, damit du für mich den Rest findest, oder Trollocs werden gleichzeitig in jedes Land strömen können, und keiner wird es mitbekommen, bevor sie im Herzen von Andor oder Cairhien sind.«

Loials Lächeln verschwand. Seine Ohren zuckten, und seine Brauen senkten sich, bis ihre Enden seine Wangen berührten. »Das kann ich nicht, Rand«, sagte er traurig.

»Ich muss morgen in aller Frühe aufbrechen, und ich weiß nicht, wann ich wieder nach Draußen kommen kann.«

»Ich weiß, dass du schon lange außerhalb eines Stedding bist.« Rand bemühte sich um einen sanften Tonfall, aber es klang trotzdem hart. Sanftheit schien nur noch eine verblassende Erinnerung zu sein. »Ich werde mit deiner Mutter sprechen. Ich werde sie davon überzeugen, dich wieder gehen zu lassen, wenn du dich etwas erholt hast.«

»Er braucht mehr als nur eine kleine Ruhepause.« Ältester Haman stellte den Knauf der Axt auf den Boden, umfasste den aus dem Axtkopf herausragenden Schaft mit beiden Händen und richtete einen strengen Blick auf Rand. Ogier waren friedliche Wesen, aber er sah nicht im mindesten so aus. »Er war jetzt länger als fünf Jahre draußen, viel zu lange.

Er braucht mindestens wochenlange Ruhe in einem Stedd ing. Monate wären besser.«

»Rand, meine Mutter trifft nicht länger solche Entscheidungen. Obwohl, um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, diese Erkenntnis überrascht sie immer noch. Erith tut das. Meine Gemahlin.« Seine dröhnende Stimme legte so viel Stolz in dieses Wort, dass er förmlich davor zu platzen schien. Auf jeden Fall schwoll seine Brust damit an, und das Lächeln schien sein Gesicht in zwei Teile zu spalten.

»Und ich habe dir noch nicht einmal gratuliert«, sagte Rand und schlug ihm auf die Schulter. Sein Versuch, herzlich zu klingen, klang selbst in seinen eigenen Ohren einfach nur falsch, aber es war das Beste, zu dem er imstande war. »Wenn du Monate brauchst, dann sollst du auch Monate haben. Aber ich brauche trotzdem einen Ogier, der diese Tore findet. Ich bringe euch morgen früh selbst zum Stedding Shangtai. Vielleicht kann ich da jemanden überzeugen, diese Aufgabe zu erledigen.« Ältester Haman richtete das Stirnrunzeln auf die Hände auf dem Axtschaft und fing wieder an zu murmeln, zu leise, um die Worte verstehen zu können; es klang wie eine Hummel von der Größe einer gewaltigen Bulldogge, die im Nebenraum in einem riesigen Glas umherschwirrte. Er schien mit sich zu ringen.

»Das könnte einige Zeit beanspruchen«, sagte Loial zweif elnd. »Du weißt, dass wir nicht gern hastige Entscheidungen treffen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie einen Menschen in das Stedding lassen, wegen des Stumpfs. Rand? Wenn ich vor der Letzten Schlacht nicht zurückkommen kann… Du wirst mir doch erzählen, was während meines Aufenthalts im Stedding passiert ist, oder? Ich meine, ohne dass ich dir alles aus der Nase ziehen muss?«

»Wenn ich es kann, werde ich es tun«, erwiderte Rand.

Wenn du kannst, fauchte Lews Therin. Du hast eingewilligt, dass wir bei Tarmon Gai’don endlich sterben können. Du hast eingewilligt, du Wahnsinniger!

»Er wird dir alle Fragen beantworten, Loial«, sagte Min fest, »und wenn ich ihm die ganze Zeit über die Schulter sehen muss.« Der Bund war von Wut erfüllt. Sie schien wirklich zu wissen, was er dachte.

Ältester Haman räusperte sich. »Ich habe den Eindruck, dass ich abgesehen von den Steinmetzen mehr an das Draußen gewöhnt bin als sonst jemand. Hm. Ja. Tatsächlich glaube ich, dass ich vermutlich der beste Kandidat für Eure Aufgabe bin.«

»Pff«, machte Cadsuane. »Anscheinend könnt Ihr jeden Ogier beeinflussen, mein Junge.« Ihr Tonfall war streng, aber ihr Gesicht trug die Miene einer typischen Aes Sedai, unleserlich verbarg es alles, was hinter diesen dunklen Augen vorging.

Loials Ohren versteiften sich vor Überraschung, und er ließ beinahe die Axt fallen. »Du? Aber der Stumpf, Ältester Haman! Der Große Stumpf?«

»Ich glaube, ich kann das beruhigt dir überlassen, mein Junge. Deine Worte waren einfach, aber wohl gewählt. Hm. Hm. Ich rate dir, versuch nicht, es schön klingen zu lassen. Bewahre die schlichte Beredsamkeit, und du könntest einige überraschen. Deine Mutter eingeschlossen.«

Es erschien unmöglich, dass Loials Ohren noch steifer wurden, aber das taten sie. Seine Lippen bewegten sich, doch es kamen keine Worte. Also sollte er zum Stumpf sprechen. Was war daran so geheim?

»Mein Lord Drache, Lord Davram ist zurückgekehrt.« Das sagte Elza Penfell, die Bashere in die Scheune eskortierte. Sie war eine attraktive Frau in einem dunkelgrünen Reitgewand; der Blick ihrer braunen Augen erhielt einen fiebrigen Glanz, als sie Rand erblickten. Wenigstens musste er sich ihretwegen keine Sorgen machen. Elza war fanatisch in ihrer Ergebenheit.

»Danke, Elza«, sagte er. »Am besten kehrt Ihr zurück und helft beim Aufräumen. Da ist noch immer viel zu tun.«

Ihre Lippen spannten sich etwas an, und ihr Blick nahm alle eifersüchtig auf, von Cadsuane bis zu den Ogiern, bevor sie einen Knicks machte und sich entfernte. Ja, fanatisch war das richtige Wort.

Bashere war ein kleiner schlanker Mann in einem goldbestickten, grauen Mantel, der den mit einem goldenen Wolfsschädel versehenen Elfenbeinstab des Generalmarschalls von Saldaea gegenüber von seinem Schwert im Gürtel stecken hatte. Seine Pluderhosen steckten in Stiefeln mit umgeschlagenen Stulpen, die trotz einiger Schlammspritzer funkelten, weil sie so gründlich gewachst worden waren. Sein letzter Auftrag hatte so viel Förmlichkeit und Würde erfordert, wie er nur aufbringen konnte, und er konnte eine Menge davon aufbringen. Selbst die Seanchaner mussten mittlerweile von seinem Ruf gehört haben. Sein schwarzes Haar war mit grauen Strähnen durchsetzt, genau wie der dicke Schnurrbart, der seinen Mund wie zwei nach unten gedrehte Hörner umgab. Mit einem traurigen Ausdruck in den schräg stehenden dunklen Augen ging er mit dem schaukelnden Gang eines Mannes, der mehr an den Sattel als an seine eigenen Füße gewöhnt war, an Rand vorbei, schritt langsam die Reihe der Toten ab, betrachtete intensiv jedes Gesicht. So ungeduldig Rand auch war, er ließ ihm die Zeit zum Trauern.

»So etwas habe ich noch nie gesehen«, sagte Bashere leise, während er sie abschritt. »Ein großer Sturmtrupp aus der Fäule umfasst tausend Trollocs. Die meisten sind nur ein paar hundert groß. Ach, Kirkun, du hast deine linke Flanke nie vernünftig gedeckt. Und selbst dann musste man ihnen dreifach oder vierfach überlegen sein, wenn man nicht in ihren Kochtöpfen landen wollte. Da draußen… Ich glaube, ich sehe einen Vorgeschmack auf Tarmon Gai’don. Einen kleinen Teil von Tarmon Gai’don. Hoffen wir, dass es wirklich die Letzte Schlacht sein wird. Sollten wir das überleben, glaube ich nicht, dass wir noch jemals eine weitere erleben wollen. Aber natürlich werden wir das. Es wird immer eine weitere Schlacht geben. So wird es immer sein, bis die ganze Welt zu Kesselflickern geworden ist.« Am Ende der Reihe blieb er vor einem Mann stehen, dessen Gesicht fast bis zu seinem prächtigen schwarzen Bart verstümmelt war.

»Ahzkan hatte eine blendende Zukunft vor sich. Aber das könnte man von vielen toten Männern sagen.«

Er wandte sich mit einem tiefen Seufzer zu Rand um.

»Die Tochter der Neun Monde wird Euch in drei Tagen in einem Herrenhaus im Norden von Altara treffen, in der Nähe der Grenze zu Andor.« Er berührte seine Mantelbrust.

»Ich habe eine Karte. Sie ist bereits irgendwo in der Nähe, aber sie sagen, das ist kein Teil des von ihnen kontrollierten Landes. Wenn es um Geheimniskrämerei geht, lassen die Seanchaner Aes Sedai so offenherzig wie Bauernmädchen erscheinen.« Cadsuane schnaubte.

»Ihr vermutet eine Falle?« Logain lockerte das Schwert in der Scheide, vielleicht unbewusst.

Bashere winkte ab, aber auch er lockerte das Schwert. »Ich rechne immer mit einer Falle. Das ist es nicht. Die Hochlady Suroth wollte noch immer nicht, dass Manfor oder ich mit jemand anderem außer ihr sprechen. Mit keinem. Unsere Diener waren alles Stumme, genau wie damals, als wir mit Loial nach Ebou Dar gereist sind.«

»Meinem Burschen hatte man die Zunge herausgeschnitt en«, sagte Loial angewidert und legte die Ohren zurück. Seine um die Axt gelegten Knöchel verfärbten sich weiß. Haman gab einen schockierten Laut von sich, seine Ohren wurden so steif wie Zaunpfähle.

»Altara hat gerade einen neuen König gekrönt«, fuhr Bashere fort, »aber im Tarasin-Palast scheint jeder auf Eiern zu gehen und über die Schulter zu blicken. Seanchaner und Altaraner. Selbst Suroth sah aus, als würde sie ein Schwert im Nacken spüren.«

»Vielleicht fürchten sie sich vor Tarmon Gai’don«, meinte Rand. »Oder vor dem Wiedergeborenen Drachen. Ich werde vorsichtig sein müssen. Ängstliche Leute tun törichte Dinge. Wie sehen die Arrangements aus, Bashere?«

Der Saldaeaner zog die Karte aus seinem Mantel, ging zu Rand und entfaltete sie dabei. »Sie sind sehr präzise. Sie wird sechs Sul’dam und Damane mitbringen, aber keine weiteren Diener.« Alivia gab einen Laut wie eine wütende Katze von sich, und er blinzelte, bevor er fortfuhr, sich zweifellos unsicher, wie man eine befreite Damane einzuschätzen hatte, um es höflich auszudrücken. »Ihr könnt fünf Leute mitbringen, die die Macht lenken können. Sie wird annehmen, dass das jeder Eurer Männer kann, aber Ihr könnt auch eine Frau mitbringen, die das nicht kann, damit die Zahl ausgeglichen ist.«

Min stand plötzlich an Rands Seite und legte die Arme um ihn.

»Nein«, sagte er energisch. Er würde sie nicht in eine mögliche Falle mitnehmen.

»Darüber reden wir noch«, murmelte sie, und der Bund füllte sich mit sturer Entschlossenheit.

Die unheilvollsten Worte, die eine Frau außer »Ich bringe dich um« sagen kann, dachte Rand. Plötzlich verspürte er ein Frösteln. Hatte er das überhaupt gedacht? Oder war es Lews Therin gewesen? Der Verrückte kicherte leise in seinem Hinterkopf. Egal. In drei Tagen würde ein Problem gelöst sein. Auf die eine oder andere Weise. »Was gibt es noch, Bashere?«

Nynaeve hob den feuchten Lappen von ihren Augen, und zwar vorsichtig, damit sie sich mit ihrem Armreifen und Ringen nicht in ihrem Haar verfing — mittlerweile trug sie ihn und das Schmuck-Ter’angreal ständig —, und setzte sich auf die Bettkante. Da Männer von fürchterlichen Verletzungen wie beispielsweise abgetrennten Gliedmaßen Geheilt werden mussten, war es kleinlich erschienen, darum zu bitten, von Kopfschmerzen befreit zu werden, aber die Weidenrinde schien ganz gut angeschlagen zu haben. Wenn auch viel langsamer. Tief im Inneren des blassgrünen Edelsteins eines der Ringe schien nun ein schwaches Licht zu glimmen, und er vibrierte unaufhörlich auf ihrem Finger, ohne sich allerdings dabei zu bewegen. Das Muster der Vibrationen veränderte sich, eine Reaktion auf Saidar und Saidin, die beide draußen gelenkt wurden. Allerdings war es durchaus möglich, dass die Macht auch im Haus gelenkt wurde. Cadsuane war davon überzeugt, dass der Stein die Richtung hätte angeben müssen, sie konnte aber nicht sagen, wie das funktionieren sollte. Ha! Cadsuane und ihr angeblich so überlegenes Wissen! Nynaeve wünschte sich, das der Frau ins Gesicht sagen zu können. Es war nicht so, dass die Frau sie einschüchterte, das nun mit Sicherheit nicht, schließlich stand sie über Cadsuane, aber sie wollte ein gewisses Maß an Harmonie bewahren. Das war der einzige Grund, warum sie in ihrer Anwesenheit den Mund hielt.

Die Gemächer, die sie mit Lan teilte, waren großzügig bemessen, aber zugig. Keiner der Fensterrahmen passte genau, und im Laufe der Generationen hatte sich das Haus genug gesetzt, dass die Türen abgeschliffen worden waren, damit sie ordentlich zugingen, aber das hatte nur zu weiteren Spalten geführt, die jeden Windzug durchließen. Das Feuer in dem Steinkamin tanzte, als würde es im Freien brennen, knisterte und ließ Funken aufstieben. Der Teppich war so verblichen, dass sie das Muster nicht mehr erkennen konnte, und er wies mehr Brandlöcher auf, als sie zählen konnte. Das Bett mit den schweren Bettpfosten und dem fadenscheinigen Himmel war groß und stabil, aber die Matratze war voller Knubbel, es stachen mehr Federn durch die Kissen, als dass sie eine weiche Fläche boten, und die Decken schienen mehr aus gestopften Stellen als aus ursprünglichem Stoff zu bestehen. Aber Lan wohnte hier mit ihr, und das machte den ganzen Unterschied aus. Das machte die Räume zu einem Palast.

Er stand an einem der Fenster, wo er seit dem Angriff gestanden hatte, und starrte auf die Arbeit herunter. Vielleicht studierte er auch den Schlachthof, zu dem das Gelände geworden war. Er stand so reglos da, dass er genauso gut eine Statue hätte sein können, ein hochgewachsener Mann in einem gut sitzenden dunkelgrünen Mantel, mit Schultern, die breit genug waren, um die Taille schlank erscheinen zu lassen. Die Lederschnur des Hadori hielt sein schulterlanges schwarzes Haar zurück, das an den Schläfen weiße Spuren aufwies. Ein Mann mit einem harten Gesicht, dennoch wunderschön. Jedenfalls in ihren Augen, sollten andere doch sagen, was sie wollten. Aber besser nicht in ihrer Hörweite. Selbst Cadsuane. Ein Ring mit einem makellosen Saphir an ihrer rechten Hand war kalt. Es erschien wahrscheinlicher, dass er eher Wut statt Feindseligkeit fühlte. Nynaeves Meinung nach wies der Ring einen Fehler auf. Es war schön und gut zu wissen, ob jemand in unmittelbarer Nähe Wut oder Feindseligkeit verspürte, aber das musste nicht bedeuten, dass das Gefühl auch auf einen gerichtet war.

»Es wird Zeit für mich, wieder hinauszugehen und zu helf en«, sagte sie.

»Noch nicht«, erwiderte er, ohne sich vom Fenster abzuwenden. Ring oder nicht, seine tiefe Stimme war ganz ruhig. Und entschlossen. »Moiraine hat immer gesagt, dass Kopfschmerzen ein Zeichen von übermäßigem Machtlenken sind. Das ist gefährlich.«

Ihre Hand tastete nach ihrem Zopf, bevor sie sie wieder nach unten reißen konnte. Als ob er mehr vom Machtlenken verstehen würde als sie! Nun, auf gewisse Weise tat er es. Zwanzig Jahre als Moiraines Behüter hatten ihn so viel über Saidar gelehrt, wie ein Mann darüber wissen konnte. »Meine Kopfschmerzen sind ganz verschwunden. Mir geht es wieder gut.«

»Sei nicht trotzig, meine Liebe. Es sind nur noch wenige Stunden bis zur Abenddämmerung. Morgen wird noch eine Menge Arbeit da sein.« Seine linke Hand umklammerte den Schwertgriff, entspannte sich, verkrampfte sich wieder. Allein die Hand bewegte sich.

Sie presste die Lippen zusammen. Trotzig? Sie glättete wild die Röcke. Sie war nicht trotzig! Wenn sie für sich waren, machte er nur selten sein Recht geltend, ihr etwas befehlen zu können — das Meervolk sollte verflucht sein, sich jemals so etwas ausgedacht zu haben! —, aber wenn er es tat, war er unbeugsam. Natürlich hätte sie trotzdem gehen können. Er würde nicht versuchen, sie mit Gewalt daran zu hind em. Davon war sie überzeugt. Mehr oder weniger. Aber sie hatte nicht vor, auch nur auf die geringste Weise gegen ihr Ehegelöbnis zu verstoßen. Selbst wenn sie ihrem geliebten Mann am liebsten vors Schienbein getreten hätte.

Stattdessen trat sie gegen ihre Röcke, stellte sich neben ihn ans Fenster und hakte sich bei ihm ein. Sein Arm war allerdings so hart wie ein Felsen. Er hatte harte Muskeln, was wunderbar war, aber das war die Härte von Anspannung, als würde er eine große Last stemmen. Wie sehr sie sich doch wünschte, mit ihm durch den Bund vereinigt zu sein, damit er Hinweise gab, was ihn so beschäftigte. Wenn sie Myrelle in die Finger bekam… Nein, es war besser, nicht an dies e Schlampe zu denken! Grüne! Man konnte ihnen einfach nicht vertrauen, wenn es um Männer ging!

Nicht weit vom Haus entfernt konnte sie zwei dieser schwarz gekleideten Asha’man und die mit ihnen verbundenen Schwestern sehen. Sie war diesem Haufen nach Möglichkeit aus dem Weg gegangen. Den Asha’man aus offensichtlichen Gründen, den Schwestern, weil sie zu Elaidas Partei gehörten. Aber man konnte nicht in einem Haus wohnen und vermeiden, sie zu erkennen — nicht einmal in einem Haus, das so groß und weitläufig wie Algarins war. Arel Malevin war ein Cairhiener, der noch breiter erschien, als er tatsächlich war, weil er Lan kaum bis zur Brust reichte, Donalo Sandomere war ein Tairener mit einem Granat im linken Ohr und einem spitz zulaufenden, geölten Bart, obwohl sie stark bezweifelte, dass sein faltiges, wettergegerbtes Gesicht einem Adligen gehörte. Malevin war den Bund mit Aisling Noon eingegangen, einer Grünen mit feurigen Augen, die ihre Worte gelegentlich mit Grenzländer-Flüchen würzte, die manchmal selbst Lan zusammenzucken ließen. Nynaeve wünschte sich, sie verstehen zu können, aber er weigerte sich, sie ihr zu erklären. Sandomeres Gefangene war Ayako Norsoni, eine winzige Weiße mit gewelltem, taillenlangen schwarzen Haar, die fast eine so braune Hautfarbe wie eine Domani aufwies. Sie erschien schüchtern, eine Selt enheit unter Aes Sedai. Beide Frauen trugen ihre mit Fransen besetzten Stolen. Das taten die Gefangenen fast immer, vielleicht als Trotzgeste. Andererseits schienen sie wider Erwarten gut mit den Männern auszukommen. Nynaeve hatte oft beobachtet, wie sie kameradschaftlich miteinander plauderten, kaum das Verhalten trotziger Gefangener. Und sie hatte ebenfalls den Verdacht, dass Logain und Gabrelle nicht das einzige Paar waren, die ohne verheiratet zu sein das Bett teilten. Es war eine Schande!

Plötzlich flammten unten Feuer auf, sechs hüllten vor Malevin und Aisling tote Trollocs ein, sieben vor Sandomere und Ayako, und der blendende Glanz ließ sie die Augen zusammenkneifen. Es war, als würde man in dreizehn Mittagssonnen an einem wolkenlosen Himmel blicken. Sie alle waren miteinander verknüpft. Das erkannte sie an der Art und Weise, wie sich die Ströme aus Saidar bewegten, ganz steif, als würde sie an Ort und Stelle gezwungen statt gelenkt. Das heißt, die Männer versuchten, sie zu zwingen. Das funktionierte nie bei der weiblichen Hälfte der Macht. Es war reines Feuer, und es loderte wie wild, wilder, als sie von Feuer allein erwartet hätte. Aber natürlich würden sie auch Saidin benutzen, und wer vermochte schon zu sagen, was die Männer aus diesem mörderischen Chaos hinzufügten? Das Wenige, an das sie sich noch von der Verknüpfung mit Rand erinnern konnte, hatte jedes Verlangen in ihr ausgelöscht, sich jemals wieder auch nur in die Nähe von dem zu begeben. Die Feuer lösten sich innerhalb weniger Minuten in nichts auf, ließen bloß kleine gräuliche Aschehäufchen auf verbranntem Erdboden zurück, der hart und gesprungen aussah. Das konnte nicht gut für den Boden sein.

»Du kannst das doch nicht unterhaltsam finden, Lan. Was denkst du?«

»Nichts Besonderes«, sagte er, und der Arm unter ihrer Hand war so hart wie Stein. Draußen flammten die nächsten Feuer auf.

»Verrate es mir.« Sie schaffte es, den Hauch einer Frage in die Worte zu legen. Die Natur ihres Gelöbnisses schien ihn zu amüsieren, dennoch weigerte er sich kategorisch, auch nur den unbedeutendsten Anordnungen zu folgen, wenn sie allein waren. Bitten erfüllte er auf der Stelle — nun, jedenfalls größtenteils —, aber er würde seine Stiefel schlammbeschmiert lassen, bis der Schlamm abblätterte, wenn sie ihm befa hl, keinen Dreck mit hereinzutragen.

»Es sind unerfreuliche Gedanken, aber wenn du es möchtest. Die Myrddraal und Trollocs lassen mich an Tarmon Gai’don denken.«

»Unerfreuliche Gedanken, fürwahr.«

Er starrte weiter aus dem Fenster und nickte. Seine Miene war völlig ausdruckslos — Lan konnte einer Aes Sedai noch etwas beibringen, wenn es darum ging, Gefühle zu verbergen! —, aber eine Spur Leidenschaft schlich sich in seine Stimme. »Es kommt bald, Nynaeve, al’Thor hingegen scheint der Ansicht zu sein, er hätte alle Zeit der Welt, um mit den Seanchanern zu tanzen. Während wir hier stehen, könnte Schattengezücht durch die Fäule nach Süden ziehen, nach Süden durch…« Er schloss ruckartig den Mund. Nach Süden durch Malkier, hätte er beinahe gesagt, durch das tote Malkier, das ermordete Land seiner Geburt. Davon war sie überzeugt. Er fuhr fort, als wäre er nie verstummt. »Sie könnten morgen gegen Schienar zuschlagen, gegen alle Grenzländer, morgen oder nächste Woche. Und al’Thor sitzt da und spinnt seine seanchanischen Pläne. Er sollte jemanden zu König Easar und den anderen schicken, um sie davon zu überzeugen, dass sie wieder ihre Pflicht an der Fäule aufnehmen. Er sollte sämtliche Streitkräfte zusammenziehen, an die er herankommt, und sie in die Fäule führen. Dort wird die Letzte Schlacht stattfinden, und in Shayol Ghul. Do rt ist der Krieg.«

In ihr stieg Trauer auf, aber es gelang ihr, sie aus ihrer Stimme zu halten. »Du musst zurückgehen«, sagte sie leise.

Endlich wandte er den Kopf, blickte stirnrunzelnd zu ihr herunter. Seine blauen Augen waren so kalt. In ihnen stand weniger Tod geschrieben, als früher der Fall gewesen war, davon war sie überzeugt, aber sie waren noch immer so kalt. »Mein Platz ist an deiner Seite. Herz meines Herzens. Immer und ewig.«

Sie sammelte ihren ganzen Mut und hielt ihn fest, so fest, dass es wehtat. Sie wollte schnell sprechen, die Worte herausbekommen, bevor sie der Mut wieder verließ, aber sie zwang sich zu einem ruhigen, gesetzten Tonfall. »Du hast mir einmal ein Grenzländersprichwort gesagt. ›Der Tod ist leichter als eine Feder, die Pflicht aber schwerer als ein Berg.‹ Meine Pflicht liegt hier, dafür zu sorgen, dass Alivia Rand nicht umbringt. Aber ich werde dich zu den Grenzländern bringen. Dort liegt deine Pflicht. Willst du nach Schienar? Du hast König Easar und Schienar erwähnt. Und es liegt näher bei Malkier.«

Er schaute lange auf sie herab, aber schließlich atmete er leise aus, und die Anspannung verschwand aus seinem Arm.

»Bist du dir sicher, Nynaeve? Wenn du es bist, dann ja, Schienar. In den Trolloc-Kriegen hat der Schatten den Tarwinpass oft dazu benutzt, viele Trollocs durchzuschleusen, genau wie vor ein paar Jahren, als wir nach dem Auge der Welt gesucht haben. Aber nur, wenn du dir auch ganz sicher bist.«

Nein, sie war sich nicht sicher. Sie wollte weinen, ihn anschreien, dass er ein Narr war, dass sein Platz an ihrer Seite war, statt allein in einem sinnlosen Privatkrieg gegen den Schatten zu sterben. Aber sie konnte nichts davon sagen. Bund oder nicht, sie wusste, dass er innerlich hin und hergerissen war, hin und hergerissen zwischen der Liebe zu ihr und seiner Pflicht, innerlich zerrissen und genauso am Bluten, als hätte man ihn mit einem Schwert durchbohrt. Sie konnte seinen Wunden keine neuen hinzufügen. Aber sie konnte versuchen, dafür zu sorgen, dass er überlebte.

»Würde ich dieses Angebot machen, wenn ich nicht sicher wäre?«, sagte sie trocken und war überrascht, wie ruhig sie klang. »Es wird mir nicht gefallen, dich weggeschickt zu haben, aber du hast deine Pflicht und ich die meine.«

Er legte die Arme um sie und drückte sie an die Brust, zuerst ganz zärtlich, dann fester, bis sie glaubte, er würde ihr die Luft aus den Lungen drücken. Es war ihr egal. Sie erwiderte die Umarmung genauso fest und musste ihre Hände mit Gewalt von seinem breiten Rücken losreißen, als sie fertig war. Beim Licht, sie wollte weinen. Und wusste, dass sie es nicht durfte.

Als er anfing, seine Satteltaschen zu packen, zog sie schnell ein Reitkleid aus gelb geschlitzter grüner Seide und feste Lederschuhe an, dann schlüpfte sie aus dem Raum, bevor er fertig war. Algarins Bibliothek war groß, ein rechteckiger Raum mit hoher Decke, der von Regalen gesäumt wurde. Ein halbes Dutzend gepolsterter Stühle stand überall verteilt, und ein langer Tisch und ein hoher Kartenständer komplettierten die Einrichtung. Die Steinkamine waren kalt und die schmiedeeisernen Stehlampen nicht angezündet, daher lenkte sie kurz die Macht, um drei von ihnen zu entzünden. Eine hastige Suche brachte die gewünschten Karten in den diamantförmigen Fächern des Kartenständers zum Vorschein. Sie waren so alt wie die meisten der Bücher, aber so große Veränderungen gab es in zwei oder dreihundert Jahren nicht.

Als sie in ihre Gemächer zurückkehrte, stand Lan mit den Satteltaschen über der Schulter im Wohnzimmer. Er hatte den farbverändernden Behüter-Umhang angelegt. Sein Gesicht war reglos, eine steinerne Maske. Sie nahm sich nur die Zeit, ihren Umhang zu holen, blaue, mit Samt gefütterte Seide, und sie gingen schweigend los zu den dunklen Ställen, in denen ihre Pferde standen; ihre rechte Hand ruhte leicht auf seinem linken Handgelenk. Die Luft roch nach Heu und Pferden und Pferdemist, wie es in Ställen so üblich war.

Ein schlanker, allmählich kahlköpfig werdender Pferdek necht mit einer mehr als nur einmal gebrochenen Nase seufzte, als Lan ihm befahl, Mandarb und Liebesknoten zu satteln. Eine grauhaarige Frau fing an, an Nynaeves kräftiger brauner Stute zu arbeiten, während drei der älteren Männer sich bemühten, Lans großen schwarzen Hengst zu satteln und aus seiner Box zu holen.

»Ich will, dass du mir etwas versprichst«, sagte Nynaeve leise, während sie warteten. Mandarb tänzelte herum, sodass der dicke Bursche, der dem Hengst den Sattel auf den Rücken wuchten wollte, hinterherrennen musste. »Einen Schwur. Ich meine das ernst, Lan Mandragoran. Wir sind nicht länger allein.«

»Was soll ich denn schwören?«, fragte er misstrauisch.

Der Stallbursche mit dem schwindenden Haar rief zwei weit ere Männer zu Hilfe.

»Dass du nach Fal Moran reitest, bevor du die Fäule betrittst, und dass du jeden, der mit dir reiten will, auch mitreiten lässt.«

Sein Lächeln war schmal und traurig. »Ich habe mich immer geweigert, Männer in die Fäule zu führen, Nynaeve. Es gab Zeiten, da ritten Männer an meiner Seite, aber ich würde nie…«

»Wenn Männer einst mit dir geritten sind«, unterbrach sie ihn, »können auch wieder Männer mit dir reiten. Deinen Schwur, oder ich schwöre, dass ich dich den ganzen langen Weg bis nach Schienar reiten lasse.« Die Frau schnallte Liebesknotens Sattelgurt fest, aber die drei Männer bemühten sich noch immer, Mandarb den Sattel aufzulegen und zu verhindern, dass er die Satteldecke wieder abschüttelte.

»Wie weit südlich in Schienar willst du mich zurücklass en?«, fragte er. Als sie keine Antwort gab, nickte er. »Also gut, Nynaeve. Wenn es das ist, was du willst. Ich schwöre beim Licht und bei meiner Hoffnung auf Wiedergeburt und Errettung.«

Es fiel sehr schwer, nicht vor Erleichterung zu seufzen. Sie hatte es geschafft, und das ohne zu lügen. Sie bemühte sich, nach Egwenes Wünschen zu handeln und sich zu verhalten, als hätte sie bereits die Drei Eide auf den Eidstab abgelegt, aber es war sehr schwer, mit einem Ehemann umzugehen, wenn man nicht einmal dann lügen durfte, wenn es absolut nötig war.

»Küss mich«, sagte sie und fügte hastig hinzu: »Das war kein Befehl. Ich will bloß meinen Mann küssen.« Ein Abschiedskuss. Später würde dafür keine Zeit sein.

»Vor all den Leuten?«, sagte er und lachte. »Dazu warst du doch immer zu schüchtern.«

Die Frau war mit Liebesknoten fast fertig, und einer der Stallburschen hielt Mandarb so ruhig, wie er konnte, während die anderen beiden eilig die Schnallen schlossen.

»Sie sind zu beschäftigt, um etwas zu sehen. Küss mich, oder ich glaube, du bist derjenige, der zu…« Seine Lippen schnitten ihr die Worte ab. Ihre Zehen krümmten sich.

Einige Zeit später lehnte sie an seiner Brust, um wieder zu Atem zu kommen, während er ihr Haar streichelte. »Vielleicht können wir noch eine letzte Nacht in Schienar haben«, murmelte er leise. »Es könnte einige Zeit dauern, bevor wir wieder zusammen sind, und ich werde es vermissen, den Rücken zerkratzt zu bekommen.«

Ihr Gesicht wurde heiß, und sie stieß sich unsicher auf den Beinen von ihm ab. Die Stallburschen waren fertig und starrten bezeichnend auf den strohbedeckten Boden, aber sie waren nahe genug, um ihnen möglicherweise zuzuhören!

»Ich glaube nicht.« Sie war stolz, dass sie nicht atemlos klang. »Ich will Rand nicht so lange mit Alivia allein lassen.«

»Er vertraut ihr, Nynaeve. Ich verstehe es zwar nicht, aber so ist es, und nur darauf kommt es an.«

Sie schnaubte. Als ob ein Mann je gewusst hätte, was gut für ihn ist.

Ihre kräftige Stute wieherte unbehaglich, als sie an toten Trollocs vorbei zu einer Stelle nicht weit vom Stall entfernt ritten, die sie gut genug kannte, um ein Wegetor zu weben. Mandarb, ein ausgebildetes Schlachtross, reagierte überhaupt nicht auf das ganze Blut und den Gestank und die riesigen Leichen. Der schwarze Hengst schien so ruhig wie sein Reiter zu sein, jetzt, da Lan auf seinem Rücken saß. Das konnte sie nachvollziehen. Lan hatte auch auf sie eine sehr beruhigende Wirkung. Meistens jedenfalls. Manchmal hatte er auch die genau entgegengesetzte Wirkung. Sie wünschte sich, sie hätt en diese Nacht gehabt. Ihr Gesicht fühlte sich wieder heiß an.

Sie stieg ab, sog Saidar in sich, ohne das Angreal zu benutzen, und webte ein Wegetor, das gerade groß genug war, dass sie Liebesknoten auf eine grasige Ebene mit Beständen aus schwarz gepunkteten Buchen und anderen Bäumen, die ihr unbekannt waren, führen konnte. Die Sonne war eine goldene Scheibe nur ein Stück von ihrem Zenit entfernt, aber die Luft war entschieden kühler als in Tear. Kalt genug, dass sie den Umhang enger zog. Im Osten und Norden und Süden erhoben sich schneegekrönte und von Wolken bedeckte Berge. Sobald Lan durch war, ließ sie das Gewebe sich auflösen und webte sofort ein weiteres Tor, diesmal nur größer, während sie in den Sattel stieg und den Umhang erneut richtete.

Lan führte Mandarb ein paar Schritte nach Westen und starrte. Keine zwanzig Schritte von ihm entfernt endete das Land abrupt an einer Klippe, von der aus sich bis zum Horizont der Ozean erstreckte. »Was hat das zu bedeuten?«, wollte er wissen. »Das ist nicht Schienar. Das hier ist Weltende in Saldaea, so weit entfernt von Schienar, wie das möglich ist, um immer noch in den Grenzlanden zu sein.«

»Ich habe dir gesagt, ich bringe dich in die Grenzländer, und das habe ich. Denk an deinen Schwur, mein Herz, denn ich werde das tun.« Und damit grub sie die Fersen in die Flanken ihrer Stute und ließ das Tier durch das offene Wegetor stürmen. Sie hörte ihn ihren Namen rufen, aber sie ließ das Tor hinter sich zusammenfallen. Sie würde ihm eine Überlebenschance verschaffen.

Nur wenige Stunden nach Mittag waren in dem großen Gemeinschaftsraum in der Königinnenlanze ein halbes Dutzend Tische besetzt. Die meisten der gut gekleideten Männer und Frauen, hinter denen aufmerksam ihre Diener und Schreiber standen, hielten sich hier auf, um Eispfeffer zu sehen, der reichlich in den Hügeln der landeinwärts gelegenen Seite der Banikhanberge wuchs, die in Saldaea auch von vielen Seemauer genannt wurden. Weilin Aldragoran interessierte sich nicht für Pfeffer. Die Seemauer hatte andere, wertvollere Feldfrüchte zu bieten.

»Mein letztes Wort«, sagte er und fuhr mit der Hand über den Tisch. Jeder Finger wies einen juwelengeschmückten Ring auf. Keine großen Steine, aber gute. Ein Mann, der Edelsteine verkaufte, musste Werbung machen. Er handelte auch noch mit anderen Dingen wie Pelzen, seltenen Hölzern für Schreiner, guten Schwertern und Rüstungen, gelegentlich auch anderen Dingen, die einen ordentlichen Profit versprachen. Aber Edelsteine machten jedes Jahr den größten Teil seines Einkommens aus. »Ich gehe nicht noch weiter runter.« Auf dem Tisch lag ein Tuch aus schwarzem Samt, auf dem ein guter Teil seines Angebots ausgebreitet lag. Smaragde, Feuertropfen, Saphire und, das Beste von allem, Diamanten. Einige davon waren groß genug, um einen Herrscher zu interessieren, und keiner davon war klein. Es wies auch keiner einen Fehler auf. Er war in allen Grenzlanden für seine makellosen Steine bekannt. »Akzeptiert den Preis, oder ein anderer wird es tun.«

Der jüngere der beiden dunkeläugigen Illianer auf der anderen Tischseite, ein glatt rasierter Mann namens Pavil Geraneos, wollte wütend etwas erwidern, aber Jeorg Damentanis, dessen mit Grau durchsetzter Bart förmlich zitterte, legte eine feiste Hand auf Geraneos’ Arm und warf ihm einen entsetzten Blick zu. Aldragoran gab sich keine Mühe, sein Lächeln zu verbergen.

Er war noch ein Säugling gewesen, als die Trollocs Malkier überrannt hatten, und er hatte nicht die geringsten Erinnerungen an dieses Land — er dachte nur selten an Malkier; das Land war tot und vergessen —, aber er war froh, dass er sich von seinen Onkeln den Hadori hatte geben lassen. An einem anderen Tisch brüllten sich Managan und eine schwarze Tairenerin mit einem Spitzenkragen an; sie übertönten beinahe die junge Frau, die auf dem niedrigen Podest neben einem der großen Steinkamine auf der Zimbel spielte.

Dieser schlanke junge Mann hatte den Hadori abgelehnt, genau wie Gorenellin, der etwa Aldragorans Alter hatte. Gorenellin feilschte angestrengt mit zwei olivefarbenen Altaranern, von denen der eine einen hübschen Rubin im linken Ohr trug, und auf Gorenellins Stirn perlte der Schweiß. Niemand schrie einen Mann mit Hadori und Schwert an, wie Aldragoran sie trug, und sie bemühten sich, es zu vermeiden, ihn zum Schwitzen zu bringen. Solche Männer hatten den Ruf, unberechenbar und gewalttätig zu sein. Er war nur selten gezwungen gewesen, das Schwert an seiner Hüfte zu benutzen, aber es war allgemein bekannt, dass er es konnte und auch tun würde.

»Ich bin einverstanden, Meister Aldragoran«, sagte Damentanis und warf seinem Gefährten einen Seitenblick zu. Geraneos bemerkte es nicht und bleckte die Zähne zu etwas, von dem er vermutlich hoffte, dass Aldragoran es als Lächeln interpretieren würde. Aldragoran ließ es durchgehen. Schließlich war er Kaufmann. Ein Ruf war eine feine Sache, wenn er die Verhandlungsposition stärkte, aber nur ein Narr war auf einen Kampf aus.

Der Schreiber der Illianer, ein hagerer Bursche mit grauem Haar und ebenfalls Illianer, schloss unter den aufmerksamen Blicken ihrer beiden Leibwächter die eisenbeschlagene Geldkiste auf. Die Leibwächter waren stämmige Männer mit diesen seltsamen Barten, die die Oberlippe frei ließen. Sie trugen Ledermäntel mit aufgenähten Stahlscheiben, Schwerter und Keulen. Hinter Aldragoran stand sein eigener Schreiber, ein Saldaeaner mit hartem Blick, der die Schwertspitze nicht vom Knauf unterscheiden konnte. Er benutzte nie Leibwächter. Auf seinem Anwesen gab es zwar Wächter, aber keine Leibwächter. Das unterstützte seinen Ruf nur noch. Und natürlich brauchte er sie auch nicht.

Sobald Damentanis zwei Besitzurkunden auf der Rücks eite unterschrieben und drei dicke Geldbeutel voller Gold herübergeschoben hatte — Aldragoran zählte die Münzen, hielt sich aber nicht damit auf, sie zu wiegen; einige der dicken Kronen aus zehn verschiedenen Ländern würden leichter als andere sein, aber er war bereit, den unweigerlichen Verlust zu akzeptieren —, sammelten die Illianer die Edelsteine ein und schoben sie in Waschlederbeutel, die in der Geldkiste verstaut wurden. Er bot ihnen noch Wein an, aber der stämmige Mann lehnte höflich ab, und sie gingen. Die Leibwächter trugen zusammen die Geldkiste. Aldragoran konnte nicht verstehen, wie sie so beladen überhaupt etwas beschützen wollten. Kayacun war sicher keine gesetzlose Stadt, aber zurzeit waren mehr Räuber unterwegs als üblich, auch mehr Mörder und Brandstifter, es gab viel mehr Verbrechen, ganz zu schweigen von Wahnsinn einer Art, über die kein Mann nachdenken wollte. Aber die Edelsteine waren jetzt die Sorge der Illianer.

Ruthan hatte Aldragorans Geldkiste geöffnet — draußen warteten zwei Träger-, aber er saß da und starrte die Besitzurkunden und die Geldbeutel an. Wieder mehr als doppelt so viel, was er erwartet hatte. Leichte Münzen aus Altara und Murandy oder nicht, es war doppelt so viel. Das würde sein profitabelstes Jahr sein. Und alles nur, weil Geraneos seine Wut gezeigt hatte. Danach hatte Damentanis Angst gehabt, noch weiter zu verhandeln. So ein Ruf war doch eine wunderbare Sache.

»Meister Aldragoran?«, sagte eine Frau und stützte sich auf den Tisch. »Ihr seid mir als Kaufmann mit einem umf angreichen Brieftaubennetz empfohlen worden.«

Natürlich fiel ihm zuerst ihr Schmuck auf, aus reiner Gewohnheit. Der schmale goldene Gürtel und die lange Halskette waren mit sehr guten Rubinen besetzt, genau wie einer ihrer Armreifen, und mit einigen hellgrünen und blauen Steinen, die er nicht erkannte und als wertlos einstufte. Der goldene Reif an ihrem linken Arm, ein seltsames Stück, das durch flache Ketten mit vier Fingerringen verbunden war und komplizierte Gravuren aufwies, war ohne Edelsteinbesatz, aber ihre letzten beiden Armreifen waren mit schönen Saphiren und weiteren grünen Steinen verziert.

Zwei der Ringe an ihrer rechten Hand wiesen ebenfalls diese grünen Steine auf, aber die anderen beiden hatten besonders schöne Saphire. Ganz hervorragende sogar. Dann wurde ihm bewusst, dass sie an dieser Hand einen fünften Ring trug, vor einem der Ringe mit dem wertlosen Stein. Eine goldene Schlange, die sich in den Schwanz biss.

Sein Blick flog zu ihrem Gesicht hoch, und das war der zweite Schock. Das von der Kapuze eingerahmte Gesicht war sehr jung, aber sie trug den Ring, und nur wenige waren so dumm, das zu tun, ohne das Recht dazu zu haben. Er hatte schon ein paar Mal junge Aes Sedai gesehen. Nein, es war nicht ihr Alter, das ihn schockierte. Aber sie trug den Ki’sain auf der Stirn, den roten Fleck einer verheirateten Frau. Aber sie sah nicht wie eine Malkieri aus. Sie klang auch nicht wie eine Malkieri. Viele jüngere Leute hatten den Akzent von Saldaea oder Kandor, Arafel oder Schienarer selbst den von Saldaea —, aber sie hörte sich überhaupt nicht wie eine Grenzländerin an. Außerdem konnte er sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal von einer Malkieri gehört hatte, die zur Weißen Burg ging. Die Burg hatte Malkier in seiner Not im Stich gelassen, und die Malkieri hatten der Burg den Rücken zugewandt. Trotzdem stand er schnell auf. Bei Aes Sedai war es immer klug, höflich zu sein. In ihren dunklen Augen lag Temperament. Ja, Höflichkeit war klug.

»Wie darf ich Euch helfen, Aes Sedai? Soll ich für Euch mit meinen Tauben eine Botschaft schicken? Es wäre mir ein Vergnügen.« Es war auch klug, Aes Sedai jeden Gefallen zu erweisen, um den sie baten, und eine Taube war ein kleiner Gefallen.

»Eine Botschaft an jeden Kaufmann, mit dem Ihr korresp ondiert. Tarmon Gai’don kommt bald.«

Er zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Damit habe ich nichts zu tun, Aes Sedai. Ich bin Kaufmann.« Sie bat um viele gute Tauben. Er korrespondierte bis nach Schienar.

»Aber ich werde Eure Botschaft weiterleiten.« Das würde er auch, ganz egal, wie viele Vögel er brauchte. Nur Narren hielten Versprechen bei Aes Sedai nicht ein. Außerdem wollte er sie und ihr Gerede über Tarmon Gai’don loswerden.

»Erkennt Ihr das?«, fragte sie und zog eine Lederschnur aus dem Halsausschnitt.

Ihm stockte der Atem, und er streckte die Hand aus, fuhr mit dem Finger über den schweren Goldsiegelring an der Schnur. Über den fliegenden Kranich. Wie war sie daran gekommen? Beim Licht, wie nur? »Ich erkenne ihn«, sagte er mit plötzlich heiserer Stimme.

»Mein Name ist Nynaeve ti al’Meara Mandragoran. Ich will folgende Botschaft verschickt haben. Mein Ehemann reitet von Weltende auf den Tarninpass zu, auf Tarmon Gai’don zu. Wird er allein reiten?«

Er zitterte. Er wusste nicht, ob er lachte oder weinte. Verm utlich beides. Sie war seine Frau? »Ich werde Eure Botschaft schicken, meine Lady, aber das hat nichts mit mir zu tun. Ich bin Kaufmann. Malkier ist tot. Tot, sage ich Euch.«

Das Feuer in ihrem Blick schien noch heißer zu werden, und sie griff mit einer Hand nach ihrem langen, dicken Zopf.

»Lan hat mir einst gesagt, dass Malkier lebt, solange ein Mann mit seinem Hadori den Schwur erfüllt, dass er gegen den Schatten kämpft, solange eine Frau mit ihrem Ki’sain den Schwur erfüllt, dass sie ihre Söhne ausschickt, um gegen den Schatten zu kämpfen. Ich trage den Ki’sain, Meister Aldragoran. Mein Ehemann trägt den Hadori. Ihr auch. Wird Lan Mandragoran allein in die Letzte Schlacht reiten?«

Er lachte, er schüttelte sich vor Lachen aus. Er konnte fühl en, wie ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen. Es war Wahnsinn! Völliger Wahnsinn! Aber er konnte nichts dagegen tun. »Das wird er nicht, meine Lady. Ich kann natürlich nicht für andere sprechen, aber ich schwöre Euch beim Licht und bei meiner Hoffnung auf Wiedergeburt und Errettung, dass er nicht allein reiten wird.« Sie studierte einen Augenblick lang sein Gesicht, dann nickte sie nachdrücklich und wandte sich ab. Er griff nach ihr. »Darf ich Euch Wein anbiet en, meine Lady? Meine Frau wird Euch kennenlernen wollen.« Alida war Saldaeanerin, aber sie würde auf jeden Fall die Frau des Ungekrönten Königs kennenlernen wollen.

»Vielen Dank, Meister Aldragoran, aber ich muss heute noch einige Städte besuchen, und ich muss heute Abend wieder in Tear sein.«

Er blinzelte ihr hinterher, als sie zur Tür rauschte. Sie musste heute noch mehrere Städte besuchen, und sie musste heute Abend wieder in Tear sein? Aes Sedai konnten Wunder wirken!

In dem Gemeinschaftsraum herrschte Stille. Sie hatten nicht leise gesprochen, und selbst das Mädchen hatte aufgehört, ihre Zimbel zu spielen. Jeder starrte ihn an. Den meisten Ausländern stand der Mund offen.

»Nun, Managan, Gorenellin«, sagte er, »wisst ihr noch, wer ihr seid? Erinnert ihr euch an euer Blut? Wer reitet mit mir zum Tarwinpass?«

Einen Augenblick lang glaubte er, dass keiner der Männer sprechen würde, aber dann sprang Gorenellin mit Tränen in den Augen auf die Füße. »Der Goldene Kranich fliegt für Tarmon Gai’don«, sagte er leise.

»Der Goldene Kranich fliegt für Tarmon Gai’don!«, rief Managan und sprang so schnell auf, dass er seinen Stuhl umkippte.

Lachend fiel Aldragoran ein, sie alle drei schrien aus voll em Halse. »Der Goldene Kranich fliegt für Tarmon Gai’don!«

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