2 Die Hand des Dunklen Königs

Beonin erwachte beim ersten Tageslicht, wie es ihre Gewohnheit war, auch wenn nur wenig von der Morgendämmerung durch den geschlossenen Eingang ins Zeltinnere sickerte. Gewohnheiten waren gut, wenn es die richtigen Gewohnheiten waren. Im Laufe der Jahre hatte sie sich einige angeeignet. Die Luft im Zelt hielt noch immer einen Hauch der Nachtkälte, aber sie verzichtete darauf, das Kohlenbecken zu entzünden. Sie hatte nicht vor, lange zu bleiben. Sie ergriff kurz die Macht, zündete eine Messinglampe an, dann erhitzte sie das Wasser in der weißen Schale und wusch sich an dem klapprigen Waschständer mit seinem blasigen Spiegel das Gesicht. Fast alles in dem kleinen runden Zelt war wackelig, von dem winzigen Tisch bis hin zu ihrer schmalen Lagerbettstatt, und das einzige stabile Teil, ein Stuhl mit niedriger Lehne, war primitiv genug, um aus der ärmsten Bauernhofküche zu stammen. Sie war allerdings daran gewöhnt, damit auszukommen. Nicht alle Urteile, die sie hatte fällen müssen, waren in Palästen erfolgt. Auch der einfachste Weiler verdiente Gerechtigkeit. Sie hatte in Scheunen und sogar Schuppen geschlafen, um dafür zu sorgen.

Mit bedachten Bewegungen zog sie das beste Reitgewand an, das sie dabeihatte, einfache graue Seide von ausgezeichnetem Schnitt, und stramm sitzende Stiefel, die bis zu ihren Knien reichten, dann fing sie an, sich das dunkelblonde Haar mit einer mit einem Elfenbeinrücken versehenen Bürste zu kämmen, die ihrer Mutter gehört hatte. Ihr Bild in dem Spiegel war leicht verzerrt. Aus irgendeinem Grund störte sie das an diesem Morgen.

Jemand räusperte sich am Zelteingang, und ein Mann mit einem murandianischen Akzent rief fröhlich: »Frühstück, Aes Sedai, wenn es Euch recht ist.« Sie senkte die Bürste und öffnete sich der Quelle.

Sie hatte sich keine Leibdienerin besorgt, und manchmal hatte es den Anschein, als würde jede Mahlzeit von einem neuen Gesicht gebracht, aber sie erinnerte sich an den stämmigen Mann mit dem ergrauenden Haar und dem permanenten Lächeln, der nach ihrem Befehl mit einem von einem weißen Tuch bedeckten Tablett eintrat.

»Stellt es bitte auf dem Tisch ab, Ehvin«, sagte sie, ließ Saidar los und wurde mit einem Lächeln belohnt, das noch breiter wurde, einer tiefen Verbeugung über dem Tablett und einer weiteren, bevor er ging. Zu viele Schwestern vergaßen die kleinen Höflichkeiten für jene, die unter ihnen standen. Kleine Höflichkeiten waren das Schmiermittel des Alltags.

Sie warf dem Tablett einen wenig enthusiastischen Blick zu und bürstete weiter, ein Ritual zweimal am Tag, das sie immer beruhigend fand. Aber statt Trost in dem Gefühl der durch ihr Haar gleitenden Bürste zu finden, musste sie sich an diesem Morgen dazu zwingen, die vollen einhundert Striche zu machen, bevor sie die Bürste auf den Waschständer neben den dazugehörigen Kamm und den Handspiegel legte. Einst hätte sie den Hügeln Geduld beibringen können, aber das war ihr seit Salidar zusehends schwerer gefallen. Und seit Murandy war es so gut wie unmöglich. Also zwang sie sich dazu, so wie sie sich gezwungen hatte, gegen den ausdrücklichen Wunsch ihrer Mutter zur Weißen Burg zu gehen, sich gezwungen hatte, die Disziplin der Burg zusammen mit ihrer Ausbildung zu akzeptieren. Als Mädchen war sie eigensinnig gewesen, hatte immer höher hinausgewollt. Die Burg hatte sie gelehrt, dass man viel erreichen konnte, wenn man sich kontrollieren konnte. Sie war stolz auf diese Fähigkeit.

Selbstbeherrschung oder nicht, sich an ihr Frühstück aus gedünsteten Pflaumen und Brot zu setzen erwies sich als genauso schwierig, wie ihr Ritual mit der Bürste zu vollenden. Die Pflaumen waren getrocknet und vielleicht zu alt gewesen, sie waren zu Mus zerkocht, und sie war sich sicher, ein paar der schwarzen Flecken übersehen zu haben, die das knusprige Brot zierten. Sie versuchte sich davon zu überzeugen, dass alles, was zwischen ihren Zähnen knackte, ein Gerstenkorn oder Roggenkorn war. Es war nicht das erste Mal, dass sie Brot mit Getreidekäfern aß, aber es war kaum etwas, das man genießen konnte. Auch der Tee hatte einen seltsamen Beigeschmack, als stünde er kurz vor dem Verderben.

Als sie endlich das Leinentuch wieder über das geschnitzte Holztablett legte, hätte sie beinahe geseufzt. Wie lange noch, bevor es im Lager gar nichts Essbares mehr gab? Geschah das Gleiche in Tar Valon? Es musste so sein. Die Hand des Dunklen Königs berührte die Welt, ein Gedanke so düster wie ein steiniges Feld. Aber der Sieg würde kommen. Sie weigerte sich, jede andere Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Der junge al’Thor würde sich für vieles verantworten müssen, für sehr viel, und doch würde er es irgendwie schaffen. Er musste es schaffen! Irgendwie. Aber der Wiedergeborene Drache befand sich außerhalb ihres Einflussbereichs; sie konnte die Ereignisse nur aus der Ferne verfolgen. Es hatte ihr nie gefallen, am Rand zu sitzen und zuzusehen.

Diese ganzen bitteren Gedanken waren sinnlos. Es war Zeit. Sie stand so schnell auf, dass ihr Stuhl nach hinten umkippte, aber sie ließ ihn auf dem mit Segeltuch bedeckten Boden liegen.

Sie steckte den Kopf aus dem Eingang und fand Tervail auf einem Hocker auf dem Gehweg sitzen; sein dunkler Umhang war zurückgeworfen, er stützte sich auf das von der Scheide verhüllte Schwert, das er zwischen die Stiefel geklemmt hatte. Die Sonne stand am Horizont, zwei Drittel einer hellgoldenen Kugel, aber in der anderen Richtung ballten sich dunkle Wolken um den Drachenberg und kündigten in Kürze weiteren Schnee an. Oder vielleicht auch Regen. Nach der vergangenen Nacht fühlte sich die Sonne fast warm an. Mit etwas Glück würde sie bald drinnen gemütlich im Warmen sitzen.

Tervail nahm ihre Anwesenheit mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis, ohne seine scheinbar oberflächliche Beobachtung von allen, die sich in seinem Sichtfeld bewegten, zu unterbrechen. Im Augenblick waren nur Arbeiter unterwegs, Männer in grob gewobener Wolle mit Körben auf dem Rücken, Männer und Frauen in genauso einfacher Kleidung, die hochrädrige Karren beladen mit gebündeltem Feuerholz, Holzkohlesäcken und Wasserfässern die zerfurchte Straße entlangsteuerten. Sein Interesse wäre allerdings nur jemandem oberflächlich vorgekommen, der keinen Behüterbund mit ihm teilte. Ihr Tervail, er war so zielgerichtet wie ein eingespannter Pfeil. Er musterte nur die Männer, und sein Blick verweilte auf denen, die er nicht kannte. Da zwei Schwestern und ein Behüter von der Hand eines Mannes, der die Macht lenken konnte, gestorben waren — es erschien unmöglich, dass es zwei Mörder dieser Art gab —, betrachtete jeder fremde Männer mit Misstrauen. Zumindest jeder, der Bescheid wusste. Man hatte diese Erkenntnis nicht gerade öffentlich verkündet.

Wieso er glaubte, den Mörder erkennen zu können, ging über ihren Horizont, es sei denn, der Mann hätte ein Banner getragen, aber sie würde sich nicht über ihn lustig machen, weil er seine Pflicht erfüllen wollte. Er war gertenschlank, mit einer kräftigen Nase und einer dicken Narbe am Unterkiefer, die er in ihren Diensten davongetragen hatte. Er war kaum mehr als ein Junge gewesen, als sie ihn gefunden hatte, gewandt und schnell wie eine Katze und bereits einer der besten Schwertkämpfer in ihrer Heimat Tarabon, und in keinem der seitdem vergangenen Jahre hatte es auch nur einen Moment gegeben, in dem er weniger Einsatz gezeigt hätte. Er hatte ihr mindestens zwanzig Mal das Leben gerettet. Abgesehen von Straßenräubern und Dieben, die zu dumm waren, um eine Aes Sedai zu erkennen, konnte das Gesetz gefährlich sein, wenn die eine oder andere Seite verzweifelt versuchte, ein gegen sie gefälltes Urteil zu verhindern, und er hatte oft die Gefahr noch vor ihr erkannt.

»Sattle Winterfink für mich, und bring dein eigenes Pferd mit«, sagte sie zu ihm. »Wir machen einen kleinen Ausritt.«

Tervail hob leicht eine Braue, warf einen flüchtigen Blick in ihre Richtung, befestigte die Schwertscheide an der rechten Gürtelseite und ging dann mit schnellen Schritten auf dem Gehweg in Richtung Pferdeleinen. Er stellte niemals unnötige Fragen. Vielleicht war sie innerlich aufgeregter, als sie dachte.

Sie ging wieder hinein, wickelte den Handspiegel sorgfältig in einem Seidentuch ein — gewebt im Muster eines schwarzweißen tairenischen Labyrinths — und schob ihn zusammen mit der Haarbürste und dem Kamm in eine der beiden großen Taschen, die in ihren guten grauen Umhang genäht waren. Ihre ordentlich zusammengefaltete Stola und ein kleines Kästchen aus fein geschnitztem Schwarzholz kamen in die andere. Das Kästchen enthielt ein paar Schmuckstücke, einige hatte sie von ihrer Mutter geerbt, den Rest von ihrer Großmutter mütterlicherseits. Abgesehen von ihrem Großen Schlangenring trug sie nur selten Schmuck, aber sie nahm das Kästchen sowie Bürste, Kamm und Spiegel auf jede Reise mit, Erinnerungen an die Frauen, die sie liebte und deren Andenken und das, was sie ihr beigebracht hatten, sie ehrte. Ihre Großmutter, eine anerkannte Advokatin in Tanchico, hatte in ihr die Liebe für die Feinheiten des Gesetzes geweckt, während ihre Mutter ihr ein Beispiel dafür gewesen war, dass es immer möglich war, sich zu verbessern. Advokaten gelangten nur selten zu Reichtum, allerdings war es Collaris ziemlich gut gegangen, und ihre Tochter Aeldrine war trotz ihrer Missbilligung Kauffrau geworden und hatte mit dem Handel mit Färbemitteln ein kleines Vermögen angehäuft. Ja, es war immer möglich, sich zu verbessern, wenn man eine sich bietende Gelegenheit ergriff, so wie sie es getan hatte, als Elaida a’Roihan Siuan Sanche abgesetzt hatte. Seitdem hatten sich die Dinge natürlich nicht einmal annährend so entwickelt, wie sie vorausgesehen hatte. Das taten die Dinge nur selten. Darum plante eine kluge Frau stets Alternativen.

Sie zog in Erwägung, drinnen auf Tervails Rückkehr zu warten — er konnte zwei Pferde nicht in wenigen Minuten holen —, aber jetzt, da der Augenblick endlich gekommen war, schien sie ihre letzte Geduld zu verlassen. Sie legte sich den Umhang über die Schultern und löschte mit einer endgültig erscheinenden Geste die Lampen. Draußen zwang sie sich allerdings, an einer Stelle zu stehen, statt auf den groben Planken des Gehweges auf und ab zu gehen. Auf und ab zu gehen würde Aufmerksamkeit erregen, und vielleicht eine Schwester, die glaubte, sie hätte Angst, allein zu sein, veranlassen, dort stehen zu bleiben. In Wahrheit hatte sie auch Angst, jedenfalls ein bisschen. Wenn ein Mann einen töten konnte, ungesehen, unentdeckt, dann war es vernünftig, Angst zu haben. Aber sie wollte keine Gesellschaft. Sie zog die Kapuze hoch, ein Signal, in Ruhe gelassen zu werden, und schloss den Umhang.

Eine dürre graue Katze mit zerfledderten Ohren kam heran und strich um ihre Füße. Im ganzen Lager gab es Katzen; sie erschienen überall, wo sich Aes Sedai versammelten, zahm wie Haustiere und doch so wild, wie sie zuvor gewesen waren. Da sie die Ohren nicht gestreichelt bekam, marschierte die Katze nach ein paar Momenten so stolz wie ein König wieder weiter, auf der Suche nach jemandem, der sich darum kümmern würde. Es gab genug Kandidaten.

Wo noch Augenblicke zuvor nur schlicht gekleidete Arbeiter und Karrenfahrer zu sehen gewesen waren, erwachte das Lager nun zum Leben. Gruppen weiß gekleideter Novizinnen, die so genannten »Familien«, eilten die Gehsteige auf dem Weg zu ihrem Unterricht entlang, der in jedem Zelt abgehalten wurde, das groß genug war, um sie alle aufzunehmen, manchmal auch im Freien. Jene, die sie passierten, hielten mit ihrem kindischen Geplapper inne, um im Vorbeigehen perfekte Knickse zu machen. Der Anblick hörte nie auf, sie zu erstaunen. Oder wütend zu machen. Eine große Zahl dieser »Kinder« waren bereits in ihren mittleren Jahren oder älter — nicht wenige hatten bereits graue Strähnen in ihrem Haar und einige waren sogar schon Großmütter! — dennoch unterwarfen sie sich den uralten Bräuchen genauso gut wie jedes der Mädchen, die sie in die Weiße Burg hatte kommen gesehen. Und es waren so viele. Eine scheinbar endlose Flut strömte durch die Straßen. Wie viele hatte die Weiße Burg verloren, weil sie sich darauf konzentriert hatte, Mädchen zu suchen, die mit dem Funken geboren worden waren oder durch ihre eigenen ungeschickten Bemühungen kurz davorstanden, die Macht zu lenken, während sie es dem Rest selbst überlassen hatten, den Weg nach Tar Valon zu finden, ob es ihm nun möglich war oder auch nicht? Wie viele waren verloren gegangen, weil man auf dem Standpunkt beharrt hatte, dass sich kein Mädchen über achtzehn der Disziplin unterwerfen konnte? Sie hatte nie Veränderungen gesucht, das Leben einer Aes Sedai wurde von Gesetzen und Bräuchen beherrscht, das war ein stabiles Fundament, und manche Veränderungen wie diese Novizinnenfamilien schienen zu radikal zu sein, um fortgeführt zu werden, aber wie viele hatte die Burg verloren?

Auch Schwestern rauschten die Gehwege entlang, meist in Gruppen von zwei oder drei, für gewöhnlich von ihren Behütern gefolgt. Der Strom der Novizinnen teilte sich vor ihnen in Wellen der Ehrenbezeugungen, Wellen, die durch die unverhohlenen, auf die Schwestern gerichteten Blicke, die diese vorgaben nicht zu bemerken, in Unruhe gerieten. Nur sehr wenige der Aes Sedai wurden nicht vom Leuchten der Macht umgeben. Beonin hätte beinahe gereizt mit der Zunge geschnalzt. Die Novizinnen wussten, dass Anaiya und Kairen tot waren — es hatte keine Bestrebungen gegeben, die Bestattungsscheiterhaufen zu verbergen —, aber ihnen mitzuteilen, wie die Schwestern gestorben waren, hätte ihnen bloß Angst gemacht. Die neuesten unter ihnen, die in Murandy ins Novizinnenbuch eingetragen worden waren, trugen das Weiß aber nun lange genug, um zu wissen, dass es mehr als ungewöhnlich war, wenn Schwestern von Saidar erfüllt umhergingen. Das allein würde sie irgendwann ängstigen, und das völlig sinnlos. Der Mörder würde kaum in aller Öffentlichkeit zuschlagen, in Anwesenheit von Dutzenden von Schwestern.

Fünf Schwestern, die langsam nach Osten ritten und nicht vom Licht Saidars umgeben waren, erregten Beonins Aufmerksamkeit. Jede von ihnen hatte ein kleines Gefolge, für gewöhnlich einen Schreiber, eine Dienerin, einen Diener für den Fall, dass schwere Lasten gehoben werden mussten, und ein paar Behüten Alle ritten mit hochgeschlagenen Kapuzen, aber sie hatte keine Mühe, sie zu erkennen. Varilin, wie sie eine Graue, war so groß wie ein Mann, während Takima, die Braune, ein winziges Ding war. Saroiyas Umhang trug auffällige weiße Stickereien — sie musste Saidar benutzen, um dieses Funkeln so hell zu halten —, und die zwei Behüter, die Faiselle folgten, kennzeichneten sie so deutlich wie der hellgrüne Umhang. Wonach die Letzte Magla sein musste, die Gelbe. Was würden sie vorfinden, wenn sie Darein erreichten? Sicherlich keine Delegation von der Burg, jetzt nicht mehr. Vielleicht glaubten sie, die übliche Routine einhalten zu müssen. Menschen machten häufig mit dem weiter, was sie getan hatten, selbst wenn der Sinn darin verloren gegangen war. Allerdings dauerte das bei Aes Sedai selten lange.

»Sie scheinen kaum zusammenzugehören, findet Ihr nicht, Beonin? Man könnte glauben, sie würden nur zufällig in dieselbe Richtung zu reiten.«

So viel dazu, dass die Kapuze ein Minimum an Privatsphäre verlieh. Glücklicherweise war sie darin geübt, Seufzer zu unterdrücken oder alles andere, das mehr verriet, als sie wünschte. Die beiden Schwestern, die neben ihr stehen geblieben waren, hatten etwa die gleiche Größe, waren beide zierlich und wiesen beide dunkles Haar und braune Augen auf, aber da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Ashmanailles schmales Gesicht mit seiner spitzen Nase verriet nur selten irgendwelche Gefühle. Ihr silbern geschlitztes Seidenkleid hätte genauso gut gerade aus den Händen der Bügelfrau kommen können, und die Ränder ihres fellbesetzten Umhangs wurden von silbernen Ranken geschmückt. Phaedrines dunkle Wolle wies etliche Falten auf, ganz zu schweigen von einigen Flecken, ihr Wollumhang war schmucklos und hätte gestopft werden müssen, und sie runzelte zu oft die Stirn, genau wie jetzt auch. Ohne das hätte sie hübsch sein können. Seltsame Freundinnen, die für gewöhnlich schlampig rumlaufende Braune und die Graue, die ihrer Kleidung so viel Aufmerksamkeit widmete wie allem anderen auch.

Beonin sah den abreisenden Sitzenden nach. Sie schienen tatsächlich eher zufällig in dieselbe Richtung zu reiten, als dass sie zusammen ritten. Es zeigte, wie aufgeregt sie an diesem Morgen war, dass ihr das entgangen war. Sie wandte sich den unwillkommenen Besucherinnen zu. »Vielleicht denken sie über die Konsequenzen der letzten Nacht nach, Ashmanaille?« Unwillkommen oder nicht, die Höflichkeit musste beachtet werden.

»Wenigstens ist die Amyrlin am Leben«, erwiderte die andere Graue. »Und so wie ich gehört habe, bleibt sie auch am Leben. Und… in aller Gesundheit. Sie und auch Leane.« Auch wenn Nynaeve sowohl Siuan wie auch Leane Geheilt hatte, konnte niemand unberührt über das Dämpfen sprechen.

»Am Leben und eine Gefangene, das ist wohl besser, als enthauptet zu werden. Aber nicht viel besser.« Als Morvrin sie geweckt hatte, um ihr die Neuigkeiten mitzuteilen, war es schwer gefallen, die Aufregung der Braunen zu teilen. Zumindest Morvrin hatte es aufregend gefunden. Die Frau hatte doch tatsächlich gegrinst. Aber Beonin hatte nie daran gedacht, ihre Pläne zu ändern. Fakten musste man sich stellen. Egwene war eine Gefangene, das war so und nicht anders. »Stimmt Ihr nicht zu, Phaedrine?«

»Natürlich«, erwiderte die Braune kurz angebunden. Kurz angebunden! Aber so war Phaedrine, immer so in das versunken, was gerade ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, dass sie ihre Manieren vergaß. Und sie war noch nicht fertig.

»Aber darum haben wir Euch nicht gesucht. Ashmanaille sagt, Ihr habt beträchtliche Erfahrungen mit Mördern.« Ein plötzlicher Windstoß riss an ihren Umhängen, aber Beonin und Ashmanaille hielten sie geschickt fest. Phaedrine ließ ihren einfach flattern, den Blick fest auf Beonin gerichtet.

»Vielleicht habt Ihr Euch ja ein paar Gedanken über die Morde gemacht, Beonin«, sagte Ashmanaille ungerührt.

»Würdet Ihr sie mit uns teilen? Phaedrine und ich haben die Köpfe zusammengesteckt, aber wir kommen zu keinem Ergebnis. Meine eigenen Erfahrungen liegen eher im Zivilrecht. Ich weiß, dass Ihr einigen unnatürlichen Todesfällen auf den Grund gegangen seid.«

Natürlich hatte sie über die Morde nachgedacht. Gab es im Lager eine Schwester, die das nicht getan hatte? Sie hätte es nicht vermeiden können, selbst wenn sie gewollt hätte. Einen Mörder zu finden war eine Freude, viel befriedigender als einen Grenzdisput zu lösen. Es war das schrecklichste aller Verbrechen, es wurde etwas gestohlen, das man nie zurückbekommen konnte, all die Jahre, die niemals gelebt werden würden, all das, was man in ihnen hätte erreichen können. Und hier handelte es sich um tote Aes Sedai, was es für jede Schwester im Lager sicherlich zu einer persönlichen Sache machte. Sie wartete, dass die letzte Gruppe weiß gekleideter Frauen, zwei davon mit grauen Haaren, ihre Knickse gemacht und weitergeeilt waren. Die Zahl der Novizinnen auf den Gehwegen nahm endlich ab. Die Katzen schienen ihnen zu folgen. Novizinnen waren freigiebiger mit Streicheln als die meisten Schwestern.

»Der Mann, der aus Habgier zusticht«, sagte sie, als die Novizinnen außer Hörweite waren, »und die Frau, die aus Eifersucht vergiftet, sie sind eine Sache. Das hier ist etwas ganz anderes. Es gibt zwei Morde, sicherlich von demselben Mann verübt, aber sie liegen mehr als eine Woche auseinander. Das deutet sowohl auf Geduld wie auf eine genaue Planung hin. Das Motiv ist unklar, aber es erscheint sehr unwahrscheinlich, dass er die Opfer zufällig ausgesucht hat. Da man von ihm nicht mehr als die Tatsache weiß, dass er die Macht lenken kann, muss man damit anfangen, sich anzusehen, was die Opfer miteinander verbindet. In diesem Fall Anaiya und Kairen, sie waren beide Blaue Ajah. Also frage ich mich, welche Verbindung hat die Blaue Ajah zu einem Mann, der die Macht lenken kann? Die Antwort lautet Moiraine Damodred und Rand al’Thor. Und Kairen, sie hatte auch Kontakt zu ihm, oder?«

Die Falten auf Phaedrines Stirn wurden noch tiefer. »Ihr könnt nicht meinen, dass er der Mörder ist.« Also wirklich, sie vergaß sich immer mehr.

»Nein«, erwiderte Beonin kühl. »Ich sage, Ihr müsst der Verbindung folgen. Die zu den Asha’man führt. Männer, die die Macht lenken können. Männer, die die Macht lenken können, die das Reisen beherrschen. Männer, die Gründe haben, Aes Sedai zu fürchten, vielleicht sogar Aes Sedai mehr als alle anderen. Eine Verbindung ist kein Beweis«, gab sie zögernd zu, »aber es weißt doch in diese Richtung, oder?«

»Warum sollte ein Asha’man zweimal herkommen und jedes Mal eine Schwester töten? Das klingt doch, als hätte es der Mörder nur auf diese beiden abgesehen und keinen anderen.« Ashmanaille schüttelte den Kopf. »Wie sollte er wissen, wann Anaiya und Kairen allein sind? Ihr könnt nicht glauben, dass er als Arbeiter verkleidet hier herumlungert. Was ich so gehört habe, sind diese Asha’man dafür viel zu arrogant. Mir erscheint es viel wahrscheinlicher, dass wir einen Arbeiter hier haben, der die Macht lenken kann und irgendeinen Groll hegt.«

Beonin schnaubte abfällig. Sie konnte Tervail näher kommen spüren. Er musste gelaufen sein, um so schnell zurück zu sein. »Und warum sollte er bis jetzt gewartet haben? Die letzten Arbeiter sind in Murandy aufgenommen worden, vor mehr als einem Monat.«

Ashmanaille öffnete den Mund, aber Phaedrine kam ihr zuvor, so schnell wie ein Spatz, der einen Brotkrümel aufpickte. »Möglicherweise hat er es jetzt erst gelernt. Ein Wilder. Ich habe ein paar der Arbeiter reden hören. Genauso viele fürchten die Asha’man, wie sie diese bewundern. Ich habe ein paar sogar sagen hören, dass sie sich wünschten, den Mut zu haben, selbst zur Schwarzen Burg zu gehen.«

Die Brauen der anderen Grauen zuckten, was das Gleiche bedeutete, als hätte eine andere Frau die Stirn in Falten gelegt. Die beiden waren befreundet, aber es konnte ihr nicht gefallen, dass Phaedrine ihr auf die Weise das Wort abschnitt. Aber sie sagte nur: »Ein Asha’man könnte ihn finden, da bin ich mir sicher.«

Beonin ließ zu, dass sie Tervail fühlte, der jetzt nur noch wenige Schritte hinter ihr war. Der Bund übertrug einen stetigen Strom Ruhe und Geduld, so unerschütterlich wie die Berge. Wie sehr sie sich doch wünschte, sich darauf stützen zu können, so wie sie sich auf seine körperlichen Kräfte stützte. »Das wird wohl kaum passieren, worin Ihr mir doch sicher zustimmt«, sagte sie spitz. Romanda und die anderen mochten ja vielleicht für diese unsinnige »Allianz« mit der Schwarzen Burg sein, aber von diesem Augenblick an hatten sie sich wie betrunkene Kutscher darüber gestritten, wie man das durchführen wollte, wie man den Vertrag formulieren sollte, wie man ihn präsentieren wollte. Jede noch so kleine Einzelheit war auseinander gepflückt, wieder zusammengesetzt und erneut auseinander gepflückt worden. Die Sache war zum Scheitern verurteilt, dem Licht sei Dank.

»Ich muss gehen«, sagte sie und drehte sich um, um von Tervail Winterfinks Zügel entgegenzunehmen. Sein großer brauner Wallach war schlank, kräftig und schnell, ein ausgebildetes Schlachtross. Ihre braune Stute war stämmig und nicht schnell, aber sie hatte schon immer Ausdauer Schnelligkeit vorgezogen. Winterfink konnte noch weiter, lange nachdem größere, angeblich kräftigere Pferde aufgaben. Sie schob einen Fuß in den Steigbügel, legte eine Hand an den Sattelknauf und eine an den Hinterzwiesel und verharrte.

»Zwei tote Schwestern, Ashmanaille, und beides Blaue. Findet Schwestern, die sie kannten, und bringt in Erfahrung, was sie sonst noch gemeinsam hatten. Um den Mörder zu finden, müsst ihr der Verbindung folgen.«

»Ich bezweifle sehr, dass sie zu den Asha’man führt, Beonin.«

»Wichtig ist, den Mörder zu finden«, erwiderte sie, zog sich auf den Sattel und wendete Winterfink, bevor die Frau weiterdebattieren konnte. Ein abruptes Ende und unhöflich, aber sie hatte keine Weisheiten mehr, die sie teilen konnte, und die Zeit schien ihr jetzt im Nacken zu sitzen. Die Sonne hatte sich vom Horizont gelöst und stieg in den Himmel. Nach so langer Zeit drängte es sie in der Tat.

Der Ritt zum Reisegelände, das für Abreisen benutzt wurde, war kurz, aber fast ein Dutzend Aes Sedai warteten in einer Schlange vor der hohen Wand aus Zeltplane; einige führten Pferde, andere trugen keinen Umhang, als würden sie erwarten, sich über kurz oder lang drinnen aufzuhalten, und eine oder zwei hatten aus irgendeinem Grund ihre Stolen angelegt. Etwa die Hälfte wurde von Behütern begleitet, von denen sich mehrere in ihre Farben verändernden Umhänge gehüllt hatten. Eines hatten die Schwestern jedoch alle gemeinsam: jede leuchtete mit dem Glanz der Macht. Tervail zeigte keine Überraschung über ihr Ziel, natürlich nicht, aber noch wichtiger war, dass der Behüterbund weiterhin Ausgeglichenheit beförderte. Er vertraute ihr.

Hinter der Plane zuckte ein silberner Blitz auf, und nachdem genug Zeit verstrichen war, um langsam bis dreißig zu zählen, traten zwei Grüne, die kein Tor allein erschaffen konnten, zusammen mit vier Behütern ein, die Pferde führten. Beim Reisen hatte sich bereits ein neuer Brauch etabliert: Privatsphäre. Solange man keinem gestattete, dabei zuzusehen, wie man ein Wegetor webte, kam der Versuch, das Reiseziel in Erfahrung zu bringen, der direkten Frage nach seinen persönlichen Angelegenheiten gleich. Beonin wartete geduldig auf Winterfink, Tervail überragte sie auf Hammer. Wenigstens respektierten die hier anwesenden Schwestern ihre hochgeschlagene Kapuze. Vielleicht hatten sie auch ihre eigenen Gründe, um zu schweigen. Was nun auch zutraf, sie musste mit keinem sprechen. In diesem Augenblick wäre das unmöglich gewesen.

Die Schlange vor ihr nahm schnell ab, und kurz darauf stiegen sie und Tervail an der Spitze einer viel kleineren Schlange ab, die nun nur aus drei Schwestern bestand. Er zog das schwere Segeltuch zur Seite, damit sie zuerst eintreten konnte. Aufgehängt an hohen Zeltstangen, umfassten die Wände einen Raum mit den Ausmaßen von etwa zwanzig mal zwanzig Schritten, der von gefrorenem Schneematsch bedeckt wurde, ein unebener Boden, der von sich überlappenden Hufabdrücken übersät und in der Mitte von einer rasiermesserdünnen Furche markiert wurde. Jeder benutzte die Mitte. Der Boden schimmerte etwas, möglicherweise der Beginn von neuem Tauwetter, das alles in Matsch verwandeln würde, der vielleicht wieder gefror. Hier kam der Frühling später als in Tarabon, aber er stand kurz bevor.

Sobald Tervail den Eingang schloss, umarmte sie Saida r und webte beinahe liebkosend den Geist. Dieses Gewebe faszinierte sie, die Wiederentdeckung einer Sache, die für alle Zeiten verloren geglaubt gewesen war, und sicherlich die größte Entdeckung Egwene al’Veres. Jedes Mal, wenn Beonin es webte, erfüllte sie ein Staunen, das ihr als Novizin und sogar noch als Aufgenommene vertraut gewesen war, das sie aber seit dem Erringen der Stola nicht mehr verspürt hatte. Etwas Neues und Wunderbares. Der vertikale silbrige Strich erschien vor ihr, direkt auf der Linie im Boden, verwandelte sich plötzlich in einen Riss, der sich verbreiterte; das darin erscheinende Bild schien zu rotieren, bis sie einem rechteckigen, mehr als zwei mal zwei Schritte großen Loch in der Luft gegenüberstand, das Aussicht auf schneebedeckte Eichen mit dicken Ästen bot. Eine leichte Brise blies aus dem Wegetor und zupfte an ihrem Umhang. Sie war oft und gern in diesem Hain spazieren gegangen, oder hatte stundenlang auf einem der niedrigen Äste gesessen und gelesen, wenn auch nie im Schnee.

Tervail erkannte ihn nicht und eilte mit dem Schwert in der Hand durch. Er zog Hammer hinter sich her, und die Hufe des Schlachtrosses ließen auf der anderen Seite den Schnee emporstieben. Sie folgte etwas langsamer und ließ das Gewebe sich beinahe zögerlich auflösen. Es war wahrhaftig wunderbar.

Tervail stand da und richtete den Blick auf das, was sich in der Nähe über die Bäume erhob, ein großer heller Turm, der sich in den Himmel streckte. Die Weiße Burg. Sein Gesicht war ausgesprochen unbewegt, und auch der Bund schien voller Schweigen zu sein. »Ich glaube, du planst etwas sehr Gefährliches, Beonin.« Er hielt noch immer das gezogene Schwert, hatte es aber jetzt gesenkt.

Sie legte ihm die Hand auf den Arm. Das sollte ausreichen, um ihn zu beruhigen; bei einer echten Gefahr hätte sie seinen Schwertarm niemals behindert. »Nicht gefährlicher als . ..«

Sie verstummte, als sie in dreißig Schritten Entfernung eine Frau erblickte, die langsam durch den Hain aus gewaltigen Bäumen auf sie zukam. Sie musste sich hinter einem Baum versteckt haben. Eine Aes Sedai in einem altmodisch geschnittenen Kleid, mit weißem Haar, das von einem perlengeschmückten Netz aus Silberdraht zurückgehalten wurde und bis zu ihrer Taille fiel. Das konnte unmöglich sein. Aber dieses ausdrucksvolle Gesicht mit den dunklen, schräg stehenden Augen und der Hakennase war unverkennbar. Unverkennbar, aber Turanine Merdagon war gestorben, als Beonin eine Aufgenommene war. Die Frau verschwand mitten im Schritt.

»Was ist?« Tervail fuhr herum, sein Schwert schoss in die Höhe, er starrte in die Richtung, in die sie gesehen hatte.

»Was hat dir Angst gemacht?«

»Der Dunkle König, er berührt die Welt«, sagte sie leise.

Es war unmöglich! Unmöglich, aber sie war nicht für Halluzinationen oder Einbildungen empfänglich. Sie hatte gesehen, was sie gesehen hatte. Ihr Frösteln hatte nichts mit dem Schnee zu tun, in dem sie bis zu den Knöcheln versunken stand. Stumm betete sie. Möge das Licht mich in all meinen Tagen erleuchten, und möge ich in der sicheren Hoffnung auf Errettung und Wiedergehurt in der Hand des Schöpfers Schutz finden.

Als sie ihm erzählte, dass sie eine Schwester gesehen hatte, die mehr als vierzig Jahre tot war, versuchte er nicht, das als Halluzination abzutun, sondern murmelte nur leise sein eigenes Gebet. Aber sie fühlte keine Furcht in ihm. In sich selbst schon, aber keine in ihm. Die Toten konnten einen Mann nicht schrecken, der jeden Tag als seinen letzten betrachtete. Er war weniger ruhig, als sie ihm ihre Pläne enthüllte. Oder zumindest einen Teil davon. Sie tat es, indem sie in den Handspiegel blickte und sehr sorgfältig webte. Das Gesicht im Spiegel veränderte sich, als das Gewebe sie einhüllte. Es war keine große Veränderung, aber es war nicht länger das Gesicht einer Aes Sedai, nicht länger Beonin Marinyes Gesicht, nur das einer Frau, die ihr ähnlich sah, wenn auch mit viel hellerem Haar.

»Warum willst du zu Elaida vordringen?«, wollte er misstrauisch wissen. Plötzlich lag Spannung in dem Bund. »Du willst nahe an sie heran und dann die Illusion fallen lassen, oder? Sie wird dich angreifen und… Nein, Beonin. Wenn es getan werden muss, dann lass mich gehen. Es sind zu viele Behüter in der Burg, als dass sie sie alle kennen könnte, und sie wird nicht damit rechnen, dass ein Behüter sie angreift. Ich kann ihr einen Dolch ins Herz stoßen, bevor sie überhaupt weiß, wie ihr geschieht.« Er demonstrierte es, in seiner rechten Hand erschien blitzschnell eine kurze Klinge.

»Was ich tun muss, muss ich selbst tun, Tervail.« Sie drehte die Illusion um und verknotete sie, dann bereitete sie mehrere andere Gewebe vor, nur für den Fall, dass die Dinge schief gingen, danach webte sie ein anderes, sehr kompliziertes Gewebe, in das sie sich einhüllte. Das würde ihre Fähigkeit des Machtlenkens verbergen. Sie hatte sich immer gefragt, warum man sich in manche Gewebe hüllen konnte — so wie in eine Illusion —, während es völlig unmöglich war, mit anderen den eigenen Körper zu berühren, wie beispielsweise beim Heilen. Als sie als Aufgenommene diese Frage gestellt hatte, hatte Turanine mit dieser prägnanten tiefen Stimme erwidert: »Da könnt Ihr genauso gut fragen, warum Wasser nass und Sand trocken ist, Kind. Konzentriert Euch auf das, was möglich ist, statt darüber nachzugrübeln, warum manche Dinge nicht möglich sind.« Ein guter Rat, aber sie hatte den zweiten Teil nie akzeptieren können. Die Toten wandelten auf der Welt. Möge das Licht mich in all meinen Tagen erleuchten…

Sie verknotete das letzte Gewebe und nahm den Großen Schlangenring ab, um ihn in der Gürteltasche zu verstauen. Jetzt konnte sie unerkannt neben jeder Aes Sedai stehen.

»Du hast mir immer vertraut, dass ich weiß, was das Beste ist«, fuhr sie fort. »Tust du es noch immer?«

Sein Gesicht blieb so reglos wie das einer Schwester, aber der Bund übertrug einen kurzen Schock. »Aber natürlich, Beonin.«

»Dann nimm Winterfink und geh in die Stadt. Miete ein Zimmer in einem Gasthaus, bis ich zu dir komme.« Er öffnete den Mund, aber sie hob mahnend die Hand. »Geh, Tervail.«

Sie sah zu, wie er mit beiden Pferden zwischen den Bäumen verschwand, dann wandte sie sich der Burg zu. Die Toten wandelten auf der Welt. Aber jetzt kam es nur noch darauf an, dass sie zu Elaida vordrang. Nur das.

Der Wind rüttelte an den Fenstern. Das Feuer in dem weißen Marmorkamin hatte die Luft bis zu einem Grad erwärmt, dass Feuchtigkeit auf den Glasscheiben kondensierte und Regentropfen gleich nach unten perlten. Elaida do Avriny a’Roihan, die Hüterin der Siegel, die Flamme von Tar Valon, der Amyrlin-Sitz, saß mit ruhig gefalteten Händen hinter ihrem vergoldeten Schreibtisch und behielt ein unbewegtes Gesicht bei, während sie dem Mann vor ihr, der die Schultern gesenkt hielt und mit der Faust drohte, bei seinem Wutausbruch zuhörte.

»… gefesselt und geknebelt für den größten Teil der Reise, Tag und Nacht in einer Kabine eingesperrt, die man besser als Schrank bezeichnen sollte. Elaida, ich verlange, dass der Kapitän des Schiffes dafür bestraft wird. Außerdem verlange ich von Euch und der Weißen Burg eine Entschuldigung. Glück stich mich, der Amyrlin-Sitz hat nicht mehr das Recht, Könige zu entführen! Die Weiße Burg hat dazu kein Recht! Ich verlange…«

Er fing an, sich zu wiederholen. Der Mann hielt kaum inne, um Luft zu holen. Es fiel schwer, ihm Aufmerksamkeit zu schenken. Ihr Blick wanderte zu den hellen Wandteppichen, den hübsch arrangierten Rosen auf den weißen Fußleisten in der Ecke. Es war ermüdend, während dieser Tirade nach außen hin Ruhe zu zeigen. Am Liebsten wäre sie aufgestanden und hätte ihm eine Ohrfeige versetzt. Diese Unverschämtheit! So zu einer Amyrlin zu sprechen! Aber es ruhig über sich ergehen zu lassen nutzte ihren Zwecken mehr. Sie würde ihn sich erschöpfen lassen.

Mattin Stepaneos den Baigar war muskulös, und in seiner Jugend war er vielleicht gut aussehend gewesen, aber die Jahre hatten es nicht gut mit ihm gemeint. Der weiße Bart, der seine Oberlippe frei ließ, war sauber gestutzt, aber er hatte die meisten Haare verloren, seine Nase war mehr als nur einmal gebrochen worden, und sein Stirnrunzeln vertiefte Falten auf seinem geröteten Gesicht, die kein Vertiefen brauchen konnten. Sein grüner Seidenmantel, an den Ärmeln bestickt mit den Goldenen Bienen von Illian, war sauber ausgebürstet und gereinigt worden, fast so gut wie von einer Schwester mit Hilfe der Macht, aber es war sein einziger Mantel für die Reise gewesen, und nicht alle Flecken waren rausgegangen. Das Schiff, das ihn gebracht hatte, war langsam gewesen und erst spät am Vortag eingetroffen, aber dieses eine Mal war Elaida nicht über die Langsamkeit von anderen ungehalten. Allein das Licht wusste, was für einen Schlamassel Alviarin angerichtet hätte, wäre er früher eingetroffen. Die Frau verdiente es, für die Klemme, in die sie die Burg gebracht hatte, zum Scharfrichter geschickt zu werden, ein Missstand, den sie nun wieder in Ordnung bringen musste, ganz zu schweigen davon, dass Alviarin es gewagt hatte, den Amyrlin-Sitz zu erpressen.

Mattin Stepaneos verstummte abrupt, trat auf dem gemusterten tarabonischen Teppich einen halben Schritt zurück. Elaida riss sich zusammen. Der Gedanke an Alviarin ließ sie immer finster dreinblicken, wenn sie nicht vorsichtig war.

»Eure Räume sind ausreichend bequem?«, sagte sie in das Schweigen hinein. »Die Diener reichen aus?«

Der plötzliche Themenwechsel ließ ihn blinzeln. »Die Räume sind bequem und die Diener annehmbar«, erwiderte er in einem bedeutend milderen Tonfall, vielleicht angesichts ihrer finsteren Miene von eben. »Trotzdem bin ich…«

»Ihr solltet der Weißen Burg dankbar sein, Mattin Stepaneos, und mir auch. Rand al’Thor hat Illian nur Tage nach Eurer Abreise aus der Stadt erobert. Er hat sich auch die Lorbeerkrone genommen. Die Krone der Schwerter, wie er sie nennt. Glaubt Ihr, er hätte gezögert, Euch den Kopf abzuschlagen, um sie sich zu nehmen? Ich wusste, dass Ihr nicht freiwillig gehen würdet. Ich habe Euch das Leben gerettet.« So. Jetzt sollte er eigentlich glauben, dass alles nur in seinem besten Interesse geschehen war.

Der Narr hatte die Tollkühnheit zu schnauben und die Arme vor der Brust zu verschränken. »Noch bin ich kein zahnloser alter Köter, Mutter. Ich habe bei der Verteidigung Illians oft dem Tod ins Gesicht gesehen. Glaubt Ihr, ich würde mich so sehr vor dem Tod fürchten, dass ich lieber für den Rest meines Lebens Euer ›Gast‹ bin?« Immerhin war es das erste Mal, dass er sie seit Betreten des Raumes mit ihrem richtigen Titel angesprochen hatte.

Die verzierte goldene Kastenuhr, die an der Wand stand, schlug, kleine Figuren aus Gold und Silber und Emaille bewegten sich auf drei Ebenen. Auf der höchsten von ihnen über dem Zifferblatt knieten ein König und eine Königin vor einer Amyrlin. Im Gegensatz zu der breiten Stola auf Elaidas Schultern wies die Stola dieser Amyrlin noch sieben Streifen auf. Sie hatte es bis jetzt noch nicht geschafft, einen Emailleur kommen zu lassen. Es gab so viel zu erledigen, das wichtiger war.

Sie richtete die Stola auf dem hellroten Seidengewand und lehnte sich zurück, sodass sich die Flamme von Tar Valon, die auf der hohen vergoldeten Stuhllehne von Mondsteinen dargestellt wurde, direkt über ihrem Kopf befand. Sie beabsichtigte, den Mann auf jedes Symbol dessen hinzuweisen, wer sie war und was sie repräsentierte. Wäre der von der Flamme gekrönte Stab in Reichweite gewesen, hätte sie ihn unter seine schiefe Nase gehalten. »Ein Toter kann gar nichts zurückfordern, mein Sohn. Von hier aus, mit meiner Hilfe, könnte es sein, dass Ihr Eure Krone und Eure Nation zurückfordern könnt.«

Mattin Stepaneos‹ Mund öffnete sich einen Spalt, und er atmete tief ein, wie ein Mann, der ein Zuhause roch, von dem er geglaubt hätte, es nie wiederzusehen. »Und wie wollt Ihr das bewerkstelligen, Mutter? Soweit ich weiß, wird die Hauptstadt von diesen… Asha’man gehalten« — er hatte leichte Probleme mit diesem verfluchten Namen — »und von Aiel, die dem Wiedergeborenen Drachen folgen.« Jemand hatte mit ihm gesprochen, ihm zu viel erzählt. Für ihn mussten Neuigkeiten über Ereignisse streng eingeschränkt werden. Es hatte den Anschein, dass man seine Diener auswechseln musste. Aber Hoffnung hatte den Zorn aus seiner Stimme gespült, und das war gut so.

»Eure Krone zurückzugewinnen wird Planung und Zeit erfordern«, sagte sie, da sie im Augenblick nicht die geringste Ahnung hatte, wie man das schaffen sollte. Sie beabsichtigte jedoch auf jeden Fall, eine Möglichkeit zu finden. Den König von Illian zu entführen hatte eine Demonstration ihrer Macht sein sollen, aber ihn wieder auf einen gestohlenen Thron zu setzen, das würde eine noch bessere Demonstration sein. Sie würde den Ruhm der Weißen Burg wieder herstellen, wie er zu seiner größten Zeit gewesen war, die Tage, in denen Throne erbebten, wenn die Amyrlin die Stirn runzelte.

»Ich bin sicher, Ihr seid noch müde von Eurer Reise«, sagte sie und stand auf. So als hätte er sie aus freiem Willen gemacht. Sie hoffte, dass er klug genug war, um mitzuspielen. Im Gegensatz zur Wahrheit würde es ihnen die kommenden Tage um so vieles erleichtern. »Wir werden zusammen zu Mittag essen und besprechen, was man tun könnte. Cariandre, begleitet Seine Majestät zu seinen Gemächern und lasst einen Schneider holen. Er wird neue Kleider brauchen. Ein Geschenk von mir.« Die mollige ghealdanische Rote, die so still wie ein Mäuschen an der Tür zum Vorzimmer gestanden hatte, kam angerauscht und berührte seinen Arm. Er zögerte, wollte nicht gehen, aber Elaida fuhr fort, als wäre er schon auf dem Weg. »Sagt Tarna, sie soll reinkommen, Cariandre. Ich habe heute viel Arbeit zu erledigen«, fügte sie um seinetwillen hinzu.

Schließlich ließ sich Mattin Stepaneos mitziehen, und sie saß wieder, bevor er die Tür erreicht hatte. Drei lackierte Kästen standen ordentlich arrangiert auf dem Tisch, einer davon war ihr Korrespondenzkasten, in dem sie kürzlich eingetroffene Briefe und Berichte der Ajahs aufbewahrte. Die Roten teilen mit, was ihre Augen-und-Ohren erfuhren — zumindest glaubte sie das —, aber die anderen Ajahs steuerten noch immer nur Bruchstücke bei, obwohl sie in der vergangenen Woche einige unwillkommene Informationen geliefert hatten. Unwillkommen teilweise darum, weil sie auf Kontakte mit den Rebellen hindeuteten, die über diese Verhandlungsfarce hinausgingen. Aber es war die fette, goldverzierte Ledermappe vor ihr, die sie öffnete. Allein die Burg brachte selbst genügend Berichte hervor, um damit den Tisch unter sich zu begraben, hätte sie sie alle selbst lesen wollen, und Tar Valon produzierte zehnmal so viel. Schreiber kümmerten sich um die überwiegende Mehrheit, wählten nur die wichtigsten für sie aus. Und das war noch immer ein großer Stapel.

»Ihr wolltet mich sprechen, Mutter?«, sagte Tarna kühl und schloss die Tür hinter sich. Darin lag keine Respektlosigkeit; die blonde Frau war von Natur aus kalt, der Blick ihrer blauen Augen eisig. Das störte Elaida nicht. Allerdings erregte die hellrote Stola der Behüterin um Tarnas Hals ihr Missfallen; sie wies kaum Daumenbreite auf. Die Schlitze ihres hellgrauen Kleides zeigten genug Rot, um vom Stolz auf ihre Ajah zu künden, also warum war ihre Stola so schmal? Aber Elaida hatte viel Vertrauen in diese Frau, und in letzter Zeit war das ein seltenes Gut.

»Wie stehen die Dinge im Hafen, Tarna?« Es war überflüssig, den genauen Hafen zu bezeichnen. Allein beim Südhafen bestand noch Hoffnung, dass er ohne große Reparaturen zu benutzen war.

»Nur Flussschiffe mit geringem Tiefgang können einfahren«, sagte Tarna, während sie den Teppich überquerte und vor dem Schreibtisch stehen blieb. Sie hätte genauso gut vom Wetter sprechen können. Sie brachte nichts aus der Ruhe. »Aber der Rest wechselt sich darin ab, an dem Teil der Kette festzumachen, die nun aus Cuendillar besteht, um die Ladung in Barken umzustauen. Die Kapitäne beschweren sich, und es dauert bedeutend länger, aber für den Augenblick geht es so.«

Elaida presste die Lippen zusammen, und sie trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Für den Augenblick. Sie konnte mit der Reparatur der Häfen nicht anfangen, bevor die Rebellen endgültig aufgaben. Bis jetzt hatten sie keinen Angriff unternommen, dem Licht sei Dank. Der würde vermutlich nur mit Soldaten beginnen, aber bestimmt würden Schwestern darin verwickelt werden, was die Rebellen garantiert genauso vermeiden wollten wie sie auch. Aber die Hafentürme niederzureißen, was für die Reparatur unumgänglich war, und die Häfen offen und wehrlos zu machen, könnte sie zu verzweifelten Taten provozieren. Beim Licht! Kämpfe mussten vermieden werden, solange das möglich war.

Elaida beabsichtigte, die Rebellenarmee in die Burgwache zu integrieren, sobald sie erkannt hatten, dass alles zu Ende war und sie zur Burg zurückgekehrt waren. Ein Teil von ihr dachte bereits so, als würde Gareth Bryne für sie die Burgwache kommandieren. Ein unendlich besserer Mann für den Posten des Ersten Hauptmanns als Jimar Chubain. Dann würde die Welt den Einfluss der Weißen Burg spüren! Sie wollte nicht, dass ihre Soldaten einander töteten, genauso wenig, wie sie wollte, dass die Burg dadurch geschwächt wurde, dass ihre Aes Sedai einander töteten. Die Rebellen gehörten ihr genauso wie alle anderen in der Burg, und sie würde dafür sorgen, dass das alle anerkannten.

Sie nahm das oberste Blatt Papier von dem Stapel und überflog es kurz. »Anscheinend wurden die Straßen trotz meines ausdrücklichen Befehls noch immer nicht gereinigt. Warum?«

Ein unbehaglicher Ausdruck trat in Tarnas Augen. Es war das erste Mal, dass Elaida sie besorgt sah. »Die Leute haben Angst, Mutter. Sie verlassen ihre Häuser nur, wenn es unbedingt sein muss, und selbst dann nur mit großem Zögern. Sie sagen, sie haben die Toten auf den Straßen wandeln gesehen.«

»Ist das bestätigt worden?«, fragte Elaida ruhig. Ihr schien das Blut zu gefrieren. »Haben Schwestern das auch gesehen?«

»Keine der Roten.« Die anderen würden mit ihr nur als Behüterin sprechen, aber niemals unbefangen, niemals, um sie ins Vertrauen zu ziehen. Wie beim Licht sollte man das nur in Ordnung bringen? »Aber die Stadtbewohner beharren darauf. Sie haben gesehen, was sie gesehen haben.«

Langsam legte Elaida das Blatt zur Seite. Sie wollte frösteln. Sie hatte alles gelesen, was sie über die Letzte Schlacht gefunden hatte, selbst Studien und Vorhersagen, die so alt waren, dass man sie nie aus der Alten Sprache übersetzt hatte und sie staubbedeckt in den finstersten Ecken der Bibliothek gelegen hatten. Der junge al’Thor war ein Vorbote gewesen, aber jetzt schien es, als würde Tarmon Gai’don früher eintreten, als alle gedacht hatten. Mehrere der uralten Vorhersagen aus der Frühzeit der Weißen Burg verkündeten, dass das Erscheinen der Toten das erste Zeichen sein würde, eine Schwächung der Realität, während der Dunkle König seine Kräfte sammelte. Nicht mehr lange, und es würden schlimmere Dinge geschehen.

»Lasst die Burgwache arbeitsfähige Männer aus den Häusern zerren, falls es nötig sein sollte«, sagte sie beherrscht.

»Ich will, dass die Straßen sauber sind, und ich will hören, dass man heute damit anfängt. Heute!«

Da hatte sie doch tatsächlich ihre übliche eisige Selbstkontrolle verloren. Die Behüterin hob die Brauen, sagte aber natürlich bloß: »Wie Ihr befehlt, Mutter.«

Elaida strahlte Gelassenheit aus, aber das war eine Scharade. Was kommen würde, würde kommen. Und sie hatte den jungen al’Thor noch immer nicht unter Kontrolle. Wenn sie nur daran dachte, dass sie ihn einst in der Hand gehabt hatte! Hätte sie es doch nur damals gewusst. Die verdammte Alviarin und die dreimal verfluchte Proklamation, die jeden außer der Weißen Burg mit einem Bann belegte, der an ihn herantrat. Sie hätte sie zurücknehmen können, aber das wäre als Schwäche erschienen, und davon abgesehen, der Schaden War angerichtet und konnte nicht mehr so ohne weiteres behoben werden. Egal, bald würde sie Elayne wieder unter Kontrolle haben, und das Königshaus von Andor war der Schlüssel, um Tarmon Gai’don zu gewinnen. Das hatte sie selbst vor langer Zeit vorhergesehen. Und die Nachricht, dass es in Tarabon zum Aufstand gegen die Seanchaner gekommen war, war eine erfreuliche Lektüre gewesen. Nicht alles war ein undurchdringliches Dorngebüsch, das sie von allen Seiten stach.

Sie überflog den zweiten Bericht und verzog das Gesicht.

Niemand mochte Abwasserkanäle, aber sie stellten ein Drittel der Lebensadern einer jeden Stadt dar, die anderen beiden waren Handel und Frischwasser. Ohne die Abwasserkanäle würde Tar Valon Dutzenden von Krankheiten zum Opfer fallen, sämtliche Bemühungen der Schwestern untergraben, ganz zu schweigen den Gestank noch übertreffen, den der verfaulende Müll jetzt schon in den Straßen anrichtete. Auch wenn der Handel im Augenblick zu einem Rinnsal geworden war, kam das Wasser noch immer durch das flussaufwärts gerichtete Inselende und wurde dann an über die ganze Stadt verstreute Wassertürme verteilt, um allen an einfachen und verzierten Springbrunnen zur Verfügung zu stehen, aber jetzt hatte es den Anschein, als wären die Abwasserkanäle am flussabwärts gerichteten Ende der Insel so gut wie verstopft. Sie tauchte ihre Feder in das Tintenfässchen und kritzelte ICH WILL, DASS SIE MORGEN FREIGE- RÄUMT SIND!, auf den oberen Rand der Seite setzte sie ihren Namen drunter. Wenn die Schreiber einen Funken Verstand hatten, dann war diese Arbeit bereits veranlasst worden, aber sie war noch nie der Ansicht gewesen, dass Schreiber Verstand gehabt hätten.

Der nächste Bericht ließ sie die Stirn runzeln. »Ratten in der Burg?« Das war mehr als nur ernst! Das hätte ganz oben liegen müssen! »Tarna, lasst jemanden die Schutzgewebe überprüfen.« Diese Schutzgewebe hielten seit dem Bau der Burg, aber vielleicht waren sie ja nach dreitausend Jahren schwächer geworden. Wie viele dieser Ratten waren die Spione des Dunklen Königs?

Es klopfte an der Tür, einen Augenblick später gefolgt von einer molligen Aufgenommenen namens Anemara, die ihre gestreiften Röcke zu einem tiefen Knicks raffte. »Bitte, Mutter, Felaana Sedai und Negaine Sedai haben eine Frau zu Euch gebracht, die sie in der Burg umherwandernd vorgefunden haben. Sie sagen, sie will dem Amyrlin-Sitz eine Petition überbringen.«

»Sagt Ihr, sie soll warten, und bietet Ihr Tee an, Anemara«, sagte Tarna energisch. »Die Mutter ist beschäftigt…«

»Nein, nein«, unterbrach Elaida sie. »schickt sie rein, Kind, schickt sie rein.« Es war viel zu lange her, dass sich jemand mit einer Petition an sie gewandt hatte. Aber sie war in der Stimmung, sie zu gewähren, falls es sich nicht um etwas allzu Lächerliches handelte. Vielleicht würde das den Strom wieder anfachen. Es war auch viel zu lange her, dass Schwestern zu ihr gekommen waren, ohne herzitiert worden zu sein. Vielleicht würden die beiden Braunen auch diese Dürre beenden.

Aber nur eine Frau betrat den Raum und schloss sorgfältig die Tür hinter sich. Dem Reitgewand aus Seide und dem guten Umhang nach zu urteilen, war sie vermutlich eine Adlige oder eine wohlhabende Kauffrau, eine Annahme, die von ihrem selbstbewussten Auftreten noch unterstützt wurde. Elaida war sich sicher, die Frau noch nie zuvor gesehen zu haben, aber etwas an dem Gesicht, das von Haar eingerahmt wurde, das noch heller als Tarnas war, erschien vage vertraut.

Elaida stand auf und ging mit ausgestreckten Händen um den Tisch herum. Und mit einem ungewohnten Lächeln. Sie versuchte, es willkommen aussehen zu lassen. »Wie ich gehört habe, habt Ihr eine Petition für mich, Tochter. Tarna, eine Tasse Tee für sie.« Der Silberkessel auf dem Silbertablett auf dem Beistelltisch musste zumindest noch warm sein.

»Die Petition, das habe ich sie nur glauben lassen, um ohne blaue Flecke zu Euch vordringen zu können, Mutter«, erwiderte die Frau mit einem tarabonischen Akzent und machte einen Knicks, und mitten in der Bewegung war ihr Gesicht plötzlich das von Beonin Marinye.

Tarna umarmte Saidar und webte eine Abschirmung um die Frau, aber Elaida begnügte sich damit, die Fäuste in die Hüften zu stemmen.

»Es wäre eine Untertreibung, wenn ich behaupte, ich wäre überrascht, dass Ihr es wagt, Euer Gesicht hier zu zeigen, Beonin.«

»Es ist mir gelungen, in Salidar Teil dessen zu werden, was man als herrschenden Rat bezeichnen könnte«, sagte die Graue ruhig. »Ich habe dafür gesorgt, dass sie dort saßen und nichts taten, und ich habe die Gerüchte in Umlauf gebracht, dass viele von ihnen in Wahrheit insgeheim Eure Anhänger sind. Die Schwestern sind einander mit solchem Misstrauen begegnet, dass ich glaube, die meisten wären an diesem Punkt bald zur Burg zurückgekehrt, aber dann sind Sitzende von anderen Ajahs als der Blauen aufgetaucht. Plötzlich hatten sie ihren eigenen Burgsaal gewählt, und der Rat wurde nicht mehr gebraucht. Ich habe dennoch weiterhin getan, was ich konnte. Ich weiß, dass Ihr mir befohlen hattet, bei ihnen zu bleiben, bis sie alle zur Rückkehr bereit sind, aber das muss in wenigen Tagen geschehen. Falls ich mir die Bemerkung erlauben darf, Mutter, es war eine ausgezeichnete Entscheidung, Egwene nicht vor Gericht zu stellen. Zum einen hat sie die überragende Fähigkeit, neue Gewebe zu entdecken, darin ist sie noch besser als Elayne Trakand oder Nynaeve al’Meara. Zum anderen haben Lelaine und Romanda miteinander darum gekämpft, zur Amyrlin erhoben zu werden, bevor man sie auserwählte. Da Egwene noch lebt, werden sie wieder darum kämpfen, aber keine kann gewinnen, oder? Ich glaube, dass mir bald andere Schwestern folgen werden. In ein oder zwei Wochen werden Lelaine und Romanda mit den Resten ihres so genannten Saals allein dastehen.«

»Wie könnt Ihr wissen, dass das al’Vere-Mädchen nicht vor Gericht gestellt wird?«, wollte Elaida wissen. »Wieso wisst Ihr überhaupt, dass sie noch am Leben ist? Löst die Abschirmung, Tarna!«

Tarna gehorchte, und Beonin nickte ihr zu, als sei sie dankbar. Jedenfalls ein bisschen. Diese großen blaugrauen Augen ließen Beonin möglicherweise immer leicht überrascht erscheinen, aber sie war eine Frau, die über eine ausgesprochene Selbstbeherrschung verfügte. Kombinierte man diese Selbstbeherrschung mit einer aus tiefem Herzen kommenden Hingabe an das Gesetz und fügte noch Ehrgeiz hinzu, von dem sie eine Menge hatte, und Elaida hatte sofort gewusst, dass Beonin die richtige Kandidatin war, die man den aus der Burg geflohenen Schwestern nachschicken konnte. Und die Frau hatte völlig versagt! Ja, gut, vielleicht hatte sie etwas Unfrieden gestiftet, aber sie hatte absolut nichts von dem erreicht, was Elaida von ihr erwartet hatte. Nicht das Geringste! Sie würde feststellen, dass ihre Belohnung ihrem Versagen entsprechen würde.

»Egwene, sie kann Tel’aran’rhiod betreten, indem sie einfach einschläft, Mutter. Ich war selbst dort und habe sie gesehen, aber ich musste ein Ter’angreal benutzen. Ich kam an keines von denen heran, die die Rebellen in ihrem Besitz haben, um sie mitzubringen. Wie dem auch sei, sie hat mit Siuan Sanche in deren Träumen gesprochen, erzählt man sich, auch wenn ich es eher für wahrscheinlich halte, dass es in der Welt der Träume war. Angeblich hat sie erzählt, dass sie eine Gefangene ist, aber sie wollte nicht verraten, wo, und sie hat jeden Rettungsversuch verboten. Darf ich mir eine Tasse Tee nehmen?«

Elaida war so verblüfft, dass es ihr die Sprache verschlug.

Sie bedeutete Beonin, sich zu bedienen, und die Graue machte erneut einen Knicks, bevor sie zu dem Beistelltisch ging und die Silberkanne vorsichtig mit dem Handrücken berührte. Das Mädchen konnte Tel’aran’rhiod betreten! Und es gab Ter’angreale, die das ebenfalls erlaubten? Die Welt der Träume war fast so etwas wie eine Legende. Und diesen beunruhigenden Hinweisen zufolge, die die Ajahs gnädigerweise mit ihr geteilt hatten, hatte das Mädchen das Gewebe für das Schnelle Reisen wiederentdeckt und noch jede Menge anderer Entdeckungen gemacht. Das war der ausschlaggebende Faktor für ihre Entscheidung gewesen, das Mädchen der Burg zu erhalten, aber nach all dem anderen jetzt auch noch das?

»Falls Egwene das tun kann, Mutter, dann ist sie vielleicht wirklich eine Träumerin«, sagte Tarna. »Die Warnung, die sie Silviana übermittelt hat…«

»Ist nutzlos, Tarna. Die Seanchaner sind noch immer tief im Landesinneren von Altara und haben Illian kaum berührt.«

Wenigstens waren die Ajah bereit, alles weiterzugeben, was sie über die Seanchaner erfuhren. Zumindest hoffte sie, dass sie alles weitergaben. Der Gedanke ließ ihre Stimme rauer klingen. »Solange sie das Reisen nicht lernen, fällt Euch irgendeine Vorsichtsmaßnahme ein, die ich außer denen ergreifen sollte, die bereits veranlasst sind?« Natürlich fiel ihr nichts ein. Das Mädchen hatte eine Rettungsaktion verboten? Oberflächlich gesehen war das gut, aber es war ein Hinweis darauf, dass sie sich noch immer als Amyrlin betrachtete. Nun, Silviana würde ihr diese Flausen schnell austreiben, falls die Schwestern, die sie in ihren Klassen unterrichteten, versagten. »Kann man ihr genug von dem Trank verabreichen, um sie aus Tel’aran’rhiod herauszuhalten?«

Tarna verzog leicht den Mund — niemandem gefiel das widerwärtige Gebräu, nicht einmal den Braunen, die sich dazu überwunden hatten, es auszuprobieren — und schüttelte den Kopf. »Wir können sie für die Nacht betäuben, aber sie wäre am nächsten Tag zu nichts zu gebrauchen, und wer vermag schon zu sagen, ob es diese Fähigkeit überhaupt beeinflussen würde.«

»Darf ich Euch einschenken, Mutter?«, fragte Beonin und balancierte eine weiße Teetasse aus dünnem Porzellan auf den Fingerspitzen. »Tarna? Die wichtigste Neuigkeit, die ich mitgebracht habe…«

»Ich will keinen Tee«, sagte Elaida gereizt. »Habt Ihr irgendetwas mitgebracht, um Eure Haut wegen Eurem erbärmlichen Versagen zu retten? Kennt Ihr die Gewebe für das Schnelle Reisen oder dieses Gleiten .. .« Es gab so viele. Vielleicht waren es alles Talente und Fertigkeiten, die verloren gegangen waren, aber anscheinend hatte man den meisten noch nicht wieder Namen verliehen.

Die Graue spähte mit völlig reglosem Gesicht über ihre Teetasse. »Ja«, sagte sie schließlich. »Ich kann kein Cuendillar herstellen, aber ich kann die neuen Heilgewebe so gut wie die meisten Schwestern weben, und ich kenne sie alle.« Ein Hauch Aufregung stahl sich in ihre Stimme. »Das Wunderbarste ist das Schnelle Reisen.« Ohne um Erlaubnis zu bitten, umarmte sie die Quelle und webte Geist. Ein vertikaler Silberstrich erschien vor einer Wand und verbreiterte sich zu einem Anblick schneebedeckter Eichen. Ein kalter Windstoß fuhr in den Raum und ließ die Kaminflammen tanzen. »Das nennt man ein Wegetor. Es kann nur erschaffen werden, wenn man mit dem Ausgangspunkt gut vertraut ist. Will man zu einem Ort, der einem nicht bekannt ist, benutzt man das Gleiten.« Sie veränderte das Gewebe, und die Öffnung zerschmolz wieder zu dem silbrigen Strich, der erneut breiter wurde. Die Eichen wurden von Dunkelheit ersetzt sowie einer grau gestrichenen, mit einer Reling versehenen Barke, die vor der Öffnung auf dem Nichts trieb.

»Löst das Gewebe auf«, sagte Elaida. Sie hatte das Gefühl, dass, sollte sie zu dieser Barke gehen, sich die Dunkelheit in allen Richtungen so weit erstrecken würde, wie sie sehen konnte. Dass sie für alle Ewigkeit fallen würde. Es verursachte ihr ein flaues Gefühl im Magen. Die Öffnung — das Wegetor — verschwand. Die Erinnerung daran blieb jedoch.

Sie nahm ihren Platz hinter dem Tisch wieder ein und öffnete das größte der lackierten Kästchen, das mit roten Rosen und goldenen Schnörkeln verziert war. Sie nahm eine kleine Elfenbeinminiatur von dem obersten Einsatz, eine Schwalbe mit gespreiztem Schwanz, der die Jahre eine dunkelgelbe Färbung verliehen hatten, und strich mit dem Daumen über die geschwungenen Schwingen. »Ohne meine Erlaubnis werdet Ihr diese Dinge niemandem beibringen.«

»Aber .. . warum denn nicht, Mutter?«

»Einige der Ajahs widersetzen sich der Mutter beinahe genauso hartnäckig wie jene Schwestern auf der anderen Flussseite«, sagte Tarna.

Elaida warf ihrer Behüterin der Chroniken einen unwirschen Blick zu, aber das kühle Gesicht nahm ihn unbeeindruckt hin. »Ich werde entscheiden, wer… verlässlich… genug ist, um es beigebracht zu bekommen, Beonin. Ich will, dass Ihr es mir versprecht. Nein, ich will, dass Ihr schwört.«

»Auf dem Hinweg habe ich Schwestern verschiedener Ajahs gesehen, die sich böse anstarrten. Was ist in der Burg geschehen, Mutter?«

»Euren Eid, Beonin.«

Die Graue stand da und schaute lange genug in ihre Teetasse, dass Elaida langsam glaubte, sie würde sich weigern. Aber der Ehrgeiz siegte. Sie hatte sich in der Hoffnung, bevorzugt zu werden, an Elaidas Röcke gebunden, und das würde sie jetzt nicht wegwerfen. »Beim Licht und bei meiner Hoffnung auf Errettung und Wiedergeburt schwöre ich, dass ich ohne die Erlaubnis des Amyrlin-Sitzes niemandem die Gewebe beibringen werde, die ich unter den Rebellen gelernt habe.« Sie hielte inne, nippte an der Tasse. »Einige Schwestern in der Burg, sie sind vielleicht weniger verlässlich, als Ihr glaubt. Ich habe versucht, das zu verhindern, aber der ›Rat‹ hat zehn Schwestern zur Burg zurückgeschickt, um die Geschichte über die Rote Ajah und Logain zu verbreiten.« Elaida erkannte nur wenige der Namen, die sie abspulte, aber den Letzten schon. Der ließ sie sich kerzengerade hinsetzen.

»Soll ich sie verhaften lassen, Mutter?«, fragte Tarna noch immer so kalt wie Eis.

»Nein. Lasst sie beobachten. Beobachtet jeden, mit dem sie Umgang haben.« Also gab es eine Verbindung zwischen den Ajahs in der Burg und den Rebellen. Wie tief war die Fäulnis schon gewuchert? Aber das spielte keine Rolle, sie würde damit aufräumen!

»So wie die Dinge stehen, könnte das schwierig sein, Mutter.«

Elaida schlug mit der freien Hand auf die Tischplatte, es klang wie ein Peitschenknall. »Ich habe nicht gefragt, ob es schwierig ist. Ich sagte, tut es! Und informiert Meidani, dass ich sie heute Abend zum Essen einlade.« Die Frau hatte beharrlich versucht, wieder an eine Freundschaft anzuknüpfen, die vor vielen Jahren geendet hatte. Jetzt kannte sie den Grund dafür. »Geht und kümmert Euch darum.« Ein Schatten huschte über Tarnas Gesicht, als sie einen Knicks machte.

»Keine Sorge«, sagte Elaida. »Beonin darf Euch jedes Gewebe beibringen, das sie kennt.« Schließlich vertraute sie Tarna, und es hellte ihre Miene in der Tat auf, auch wenn es sie nicht wärmer machte.

Als sich die Tür hinter ihrer Behüterin schloss, schob Elaida die Ledermappe zur Seite, stützte die Ellbogen auf den Tisch und konzentrierte sich auf Beonin. »Und jetzt zeigt mir alles.«

Загрузка...