19 Schwüre

Mit einigem Unbehagen schaute Loial zu, wie Nynaeve auf dem von Kandelabern erhellten Korridor in die eine und Verin in die andere Richtung davonrauschten. Keine von ihnen ging über seine Taille hinaus, aber sie waren Aes Sedai. Diese Tatsache reichte aus, um ihm lange genug einen Knoten in die Zunge zu machen, sodass sie, als er endlich den Mut gesammelt hatte, eine von ihnen zu bitten, ihn doch zu begleiten, um die Ecken verschwunden waren. Das Herrenhaus war ein weitläufiger Ort, das im Laufe der Jahre seiner Meinung nach immer weiter planlos ausgebaut worden war, und Korridore machten oft scharfe und seltsame Biegungen. Er wünschte sich sehr, seiner Mutter in Begleitung einer Aes Sedai gegenübertreten zu können. Sogar mit Cadsuane, obwohl sie ihn durch die Art und Weise, wie sie Rand immer verkniffen ansah, sehr nervös machte. Früher oder später würde Rand explodieren. Er war nicht mehr derselbe Mann, den er in Caemlyn kennengelernt hatte, nicht einmal mehr der Mann, den er in Cairhien zurückgelassen hatte. In Rands Gegenwart war die Stimmung nun immer düster und unbehaglich, ein mit Löwenklaue bewachsenes Feld, auf trügerischem Grund. Das ganze Haus fühlte sich dank Rands Anwesenheit so an.

Eine schlanke grauhaarige Dienerin, die einen Korb mit zusammengefalteten Handtüchern trug, zuckte zusammen, dann schüttelte sie den Kopf und murmelte etwas vor sich hin, bevor sie einen schnellen Knicks vollführte und weiterging. Sie machte einen kleinen Schritt zur Seite, als müsste sie um etwas herumgehen. Oder jemanden. Er starrte auf die Stelle und kratzte sich hinter dem Ohr. Vielleicht konnte er ja nur tote Ogier sehen. Nicht, dass er das tatsächlich wollte. Das Wissen, dass die menschlichen Toten nicht länger in Frieden ruhen konnten, war schon traurig genug. Die Bestätigung, dass das auch für Ogier galt, hätte ausgereicht, ihm das Herz zu brechen. Und auf jeden Fall wären sie sicher nur in einem Stedding erschienen. Allerdings würde er gern sehen, wie so eine Stadt verschwand. Keine richtige Stadt, aber eine Stadt, die so tot war wie diese Geister, die Menschen zu sehen behaupteten. Möglicherweise konnte man durch ihre Straßen gehen, bevor sie zerschmolz, und hätte sich ansehen können, wie die Menschen vor dem Hundertjährigen Krieg waren, vielleicht sogar vor den Trolloc-Kriegen. Das hatte jedenfalls Verin gesagt, und sie schien eine ganze Menge darüber zu wissen. Das wäre mit Sicherheit eine Erwähnung in seinem Buch wert gewesen. Es würde ein gutes Buch werden. Er kratzte sich mit zwei Fingern den Bart — das Ding juckte! — und seufzte. Es wäre ein schönes Buch geworden.

Im Korridor herumzustehen schob nur das Unvermeidlic he auf. Schob man es auf, das Gebüsch zu beseitigen, fand man garantiert Schlingpflanzen darin, wie das alte Sprichwort besagte. Nur dass er das Gefühl hatte, die Schlingpflanzen würden ihn fesseln statt einen Baum. Er folgte der Dienerin mit tiefen Seufzern bis zu einer breiten Treppe, die hinauf zu den Ogierräumen führte. Die Treppe wies zwei massive Geländer auf, die der grauhaarigen Frau bis zu den Schultern reichten und einen ordentlichen Halt boten. Er scheute sich oft, ein für Menschen gemachtes Treppengeländer nur zu berühren, aus Angst, es möglicherweise zu zerbrechen. Eines davon verlief in der Mitte, die Stufen an der holzvertäfelten Wand waren für menschliche Füße gemacht, die an der Außenseite für Ogier.

Die Frau war alt, was Menschenjahre anging, aber sie stieg schneller in die Höhe als er und eilte bereits den Korridor entl ang, als er oben ankam. Zweifellos brachte sie die Handtücher in das Zimmer seiner Mutter und in die des Ältesten Haman und Eriths. Sicherlich würden sie sich noch trocknen wollen, bevor sie sich unterhielten. Er würde das vorschlagen. So würde er Zeit zum Nachdenken gewinnen. Seine Gedanken schienen so träge wie seine Füße zu sein, und seine Füße fühlten sich wie Mühlsteine an.

Auf diesem Korridor gab es sechs für Ogier bestimmte Schlafzimmer, und auch der Korridor selbst war entsprechend dimensioniert — Loials erhobener Hand hätte noch ein Schritt bis zur Decke gefehlt. Außerdem gab es noch einen Lagerraum, ein Badezimmer mit einer großen Messingbadewanne und das Wohnzimmer. Das war der älteste Teil des Hauses und reichte beinahe fünfhundert Jahre zurück. Die Lebensspanne eines sehr alten Ogiers, aber viele Lebensspannen für Menschen. Ihr Leben war so kurz, abgesehen von den Aes Sedai; das musste der Grund sein, warum sie wie Kolibris umherschwirrten. Aber selbst Aes Sedai konnten beinahe genauso hektisch wie der Rest sein. Das war ein Rätsel.

In die Wohnzimmertür war ein großer Baum einges chnitzt, nicht die Arbeit eines Ogiers, aber dennoch sehr detailliert und unverkennbar. Er blieb stehen, zog den Mantel zurecht, fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, wünschte sich, er hätte Zeit, die Stiefel zu putzen. Am Ärmelaufschlag war ein Tintenfleck. Auch dafür war keine Zeit. Cadsuane hatte Recht. Seine Mutter war keine Frau, die man warten ließ. Seltsam, dass Cadsuane von ihr gehört hatte. Sie vielleicht sogar kannte, so wie sie von ihr gesprochen hatte. Covril, Tochter von Ella Tochter von Soong war eine berühmte Sprecherin, aber ihm war nicht bewusst gewesen, dass sie im Draußen bekannt war. Beim Licht, er keuchte ja fast schon vor Nervosität.

Er bemühte sich, seine Atmung unter Kontrolle zu bekomm en, und trat ein. Selbst hier quietschten die Türangeln. Die Diener waren entsetzt gewesen, als er um Öl gebeten hatte — das war ihre Aufgabe; er war ein Gast —, aber sie waren noch immer nicht dazu gekommen, es selbst zu tun.

Das Zimmer mit der hohen Decke war recht geräumig, mit dunklen, glänzenden Tapeten und mit Ranken verzierten Stühlen und kleinen Tischen und schmiedeeisernen Kandelabern von vernünftiger Größe, deren von Spiegeln verstärkte Flammen über seinem Kopf tanzten. Abgesehen von einem Regal voller Bücher, die alle alt genug waren, dass ihre Ledereinbände abblätterten und die er alle schon zuvor gelesen hatte, stammte nur eine kleine Schale aus gesungenem Holz von Ogierhand. Ein hübsches Teil; er wünschte sich, er hätte gewusst, wer sie besungen hatte, aber sie war alt genug, dass es nicht einmal ein Echo gegeben hatte, als er sie besungen hatte. Doch alles war von jemandem gemacht worden, der ein Stedding besucht haben musste. Alles hätte in eine Siedlung gepasst. Natürlich hatte der Raum keine Ähnlichkeit mit einem Raum in einem Stedding, aber Lord Algarins Vorfahre hatte sich die Mühe gemacht, dass sich seine Besucher hier wohlfühlen konnten.

Seine Mutter stand vor einem der Ziegelkamine, eine Frau mit einem energischen, eindrucksvollen Gesicht, die ihre mit einem Rebenmuster bestickten Röcke ausgebreitet hielt, damit die Wärme sie trocknen konnte. Er seufzte erleichtert, dass sie nicht so nass war, wie er gedacht hatte, aber das schloss den Vorschlag aus, dass sie sich erst trockneten. Ihre Regenumhänge mussten durchlässig geworden sein. Das geschah nach einiger Zeit, da sich das Anssed-Öl verflüchtigte. Vielleicht würde ihre Laune auch nicht so schlecht sein, wie er befürchtet hatte. Der weißhaarige Älteste Haman, dessen Mantel mehrere große feuchte Stellen aufwies, musterte eine der Äxte, die an der Wand hingen, schüttelte den Kopf darüber. Ihr Schaft war so lang, wie er groß war. Es gab zwei davon. Sie stammten aus der Zeit der Trolloc-Kriege oder sogar noch davor, die Axtköpfe waren mit Einlegearbeiten aus Gold und Silber verziert, und es gab auch noch zwei spitze, verzierte Baummesser, die ebenfalls lange Griffe aufwiesen. Natürlich wiesen Baummesser, die auf der einen Seite glatt geschliffen und auf der anderen mit Sägezähnen versehen waren, immer lange Griffe auf, aber die Einlegearbeiten und langen roten Quasten waren ein deutlicher Hinweis, dass man sie auch als Waffen hergestellt hatte. Nicht gerade die glücklichste Wahl, um sie in einen Raum zu hängen, der zum Lesen oder für Unterhaltungen oder einfach das stumme Genießen von Stille gedacht war.

Aber Loials Blicke glitten an seiner Mutter und dem Ältesten Haman vorbei zu dem anderen Kamin, an dem Erith ihre Röcke trocknete. Sie war klein und erschien beinahe zerbrechlich. Ihr Mund war gerade, die Nase kurz und wohlgerundet, ihre Augen wiesen exakt die Farbe der reifen Samenkapsel eines Silberglöckchens auf. Kurz gesagt: Sie war wunderschön! Und diese Ohren, die aus dem schimmernden schwarzen Haar ragten, das auf ihren Rücken herunterströmte… Geschwungen und drall, mit feinen Haarbüscheln versehen, die so weich wie Gänseblumensamen aussahen, waren sie die schönsten Ohren, die er je gesehen hatte. Nicht, dass er so vulgär wäre, das laut auszusprechen. Sie lächelte ihn an, ein sehr geheimnisvolles Lächeln, und seine Ohren zitterten vor Verlegenheit. Sicherlich konnte sie nicht wissen, was er gedacht hatte. Oder doch? Rand behauptete, dass Frauen das manchmal konnten, aber da ging es um Menschenfrauen.

»So, da bist du ja«, sagte seine Mutter und stemmte die Fäuste in die Hüften. Sie lächelte nicht. Ihre Brauen waren nach unten gezogen, ihr Kiefer nach vorn geschoben. Wenn das ihre bessere Laune war, hätte sie genauso gut klatschnass gewesen sein können. »Ich muss schon sagen, du hast uns eine schöne Verfolgungsjagd geliefert, aber jetzt habe ich dich erwischt, und ich habe nicht vor, dich wieder… Was ist das da auf deiner Lippe? Und deinem Kinn? Nun, das kannst du sofort wieder abrasieren. Und schneide mir keine Grimassen, Sohn Loial!«

Er tastete unbehaglich nach den Haaren über seiner Oberl ippe und bemühte sich, seine Stirn zu glätten — wenn deine Mutter dich als Sohn bezeichnete, dann war sie nicht zu Scherzen aufgelegt — aber es fiel schwer. Er wollte den Bart. Möglicherweise hielten das ja viele für albern, so jung wie er war, trotzdem…

»Eine schöne Verfolgungsjagd, in der Tat«, sagte der Älteste Haman trocken und hängte die Axt wieder an die Wand. Er hatte einen langen weißen Schnurrbart, der über sein Kinn hinausreichte, und auch einen langen schmalen Kinnbart, der bis zu seiner Brust reichte. Sicher, er war über dreihundert Jahre alt, aber es erschien trotzdem ungerecht.

»Eine sehr schöne Verfolgungsjagd. Zuerst sind wir nach Cairhien gegangen, da wir gehört hatten, du wärst dort, aber du warst schon wieder fort. Nach einem Aufenthalt im Stedding Tsofu begaben wir uns nach Caemlyn, wo uns der junge al’Thor darüber informierte, dass du bei den Zwei Flüssen bist, und uns dort hinbrachte. Aber du warst wieder weg. Nach Caemlyn, wie es den Anschein hatte!« Seine Brauen hoben sich beinahe bis zu seinem Haaransatz. »Ich hatte fast schon den Eindruck, Fangen zu spielen.«

»Die Menschen von Emondsfelde haben uns gesagt, wie heldenhaft du gewesen bist«, sagte Erith. Ihre hohe Stimme klang wie Musik. Sie hielt die Röcke mit beiden Händen, ihre Ohren wackelten vor Aufregung, sie schien kurz davor, auf und ab zu springen. »Sie haben uns alles darüber erzählt, wie du gegen die Trollocs und Myrddraal gekämpft hast, und wie du dich ganz allein zwischen sie gedrängt hast, um das Manetheren-Wegetor zu versiegeln, damit keine mehr von ihnen kommen konnten.«

»Ich war nicht allein«, protestierte Loial. Er hatte das Gefühl, seine Ohren würden sich gleich von seinem Kopf lösen, so sehr zuckten sie vor Verlegenheit. »Gaul war dabei. Wir haben es zusammen getan. Ohne Gaul hätte ich das Wegetor niemals erreicht.«

Seine Mutter schnaubte. Ihre Ohren waren starr vor Abscheu. »Dummheit. In Schlachten zu kämpfen. Dich in Gefahr zu begeben. Zu spielen. Das alles. Reine Dummheit, und damit ist jetzt Schluss.«

Der Älteste räusperte sich, seine Ohren zuckten gereizt, und er verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Er mochte es nicht, unterbrochen zu werden. »Also sind wir nach Caemlyn zurückgekehrt, aber du warst schon weg, und dann wieder nach Cairhien, nur um entdecken zu müssen, dass du bereits wieder weg warst.«

»Und in Cairhien hast du dich erneut in Gefahr gebracht«, mischte sich seine Mutter ein und drohte ihm mit dem Fing er. »Hast du keinen Funken Verstand in deinem Kopf?«

»Die Aiel sagen, du bist bei den Quellen von Dumai sehr tapfer gewesen«, murmelte Erith und blickte ihn durch die langen Wimpern an. Er schluckte mühsam. Ihr Blick sorgte dafür, dass seine Kehle ganz rau war. Er wusste, er hätte wegsehen sollen, aber wie konnte er Einwände erheben, wenn sie ihn ansah ?

»In Cairhien hat deine Mutter entschieden, nicht länger vom Großen Stumpf fortbleiben zu können, auch wenn ich nicht weiß, warum, da sie vermutlich sowieso noch ein oder zwei Jahre brauchen werden, um zu einer Entscheidung zu kommen, also brachen wir zum Stedding Shangtai auf, in der Hoffnung, dich später zu finden.« Ältester Haman sagte das alles sehr schnell und schaute die beiden Frauen finster an, als würde er damit rechnen, dass sie ihn erneut unterbrachen. Sein Bart und sein Schnurrbart schienen sich zu sträuben.

Loials Mutter schnaubte erneut, diesmal nur schärfer. »Ich erwarte, eine Entscheidung sehr schnell herbeiführen zu können, in einem Monat oder zwei, oder ich hätte mich niemals auf die Suche nach Loial begeben. Jetzt, da ich ihn gefunden habe, können wir alles erledigen und dann ohne jede weitere Verzögerung aufbrechen.« Ihr wurde bewusst, dass der Älteste Haman die Stirn runzelte, und schlug einen anderen Ton an.

»Vergebt mir, Ältester Haman. Ich wollte sagen, würdest du die Zeremonie durchführen, wenn es dir recht ist?«

»Ich glaube, es wäre mir recht, Covril«, sagte er sanft. Sehr sanft. Wenn Loial diesen Tonfall von seinem Lehrer gehört hatte, hatte er immer gewusst, dass er einen großen Fehler gemacht hatte. Der Älteste Haman hatte immer kurz davorgestanden, mit einem Stück Kreide zu werfen, wenn er in diesem Ton gesprochen hatte. »Da ich meine Schüler verlassen habe, ganz zu schweigen davon, nicht beim Großen Stumpf zu sprechen, um dir aus genau diesem Grund auf diese wilde Jagd zu folgen, glaube ich, dass es mir in der Tat recht ist. Erith, du bist sehr jung.«

»Sie ist über achtzig, alt genug, um zu heiraten«, sagte Loials Mutter scharf und verschränkte die Arme. Ihre Ohren zuckten ungeduldig. »Ihre Mutter und ich sind zu einer Einigung gekommen. Du hast selbst bezeugt, dass wir die Vermählung und Loials Mitgift unterzeichnet haben.«

Die Ohren des Ältesten Haman legten sich noch ein Stück weiter nach hinten, und seine Schultern hoben sich, als würde er die Hände hinter dem Rücken sehr fest verschränken. Er ließ Erith nicht aus den Augen. »Ich weiß, dass du Loial heiraten willst, aber bist du sicher, dass du dazu bereit bist? Einen Ehemann zu nehmen ist eine ernste Verantwortung.«

Loial wünschte sich, jemand würde ihm diese Frage stell en, aber das war nicht der Fall. Seine und Eriths Mutter hatten eine Vereinbarung getroffen, und allein Erith konnte das noch aufhalten. Wenn sie es wollte. Wollte er, dass sie es tat? Er konnte nicht aufhören, an sein Buch zu denken. Er konnte nicht aufhören, an Erith zu denken.

Auf jeden Fall sah sie sehr ernst aus. »Meine Websachen sind sehr gefragt, und ich bin bereit, einen weiteren Webstuhl zu kaufen und einen Lehrling einzustellen. Aber vermutlich meinst du das nicht. Ich bin bereit, mich um einen Ehemann zu kümmern.« Plötzlich grinste sie, ein wunderschönes Grinsen, das ihr Gesicht teilte. »Vor allem einen mit so schönen langen Augenbrauen.«

Loials Ohren bebten, und die des Ältesten Haman auch, wenn auch nicht so stark. Frauen redeten untereinander sehr offen, hatte er zumindest gehört, aber für gewöhnlich versuchten sie nicht, Männer damit in Verlegenheit zu bringen. Für gewöhnlich. Die Ohren seiner Mutter zitterten tatsächlich vor Heiterkeit!

Der ältere Mann räusperte sich. »Das ist ernst, Erith. Komm jetzt. Wenn du dir sicher bist, nimm seine Hände.«

Ohne zu zögern kam sie heran und trat vor Loial, lächelte zu ihm hoch und ergriff seine Hände. Ihre kleinen Hände fühlten sich sehr warm an. Seine waren taub und kalt. Er schluckte. Es würde tatsächlich geschehen.

»Erith, Tochter von Iva Tochter von Alar«, sagte der Älteste Haman und hielt ihnen die Hände über die Köpfe, »willst du Loial, Sohn von Arent Sohn von Halan, zu deinem Ehemann nehmen und beim Licht und dem Baum schwören, ihn zu ehren, zu achten und zu lieben, solange er lebt, sich um ihn zu kümmern und seine Schritte auf den Pfad zu lenken, dem sie folgen sollen?«

»Beim Licht und beim Baum, ich schwöre.« Eriths Stimme war fest und deutlich, und ihr Lächeln schien breiter als ihr Gesicht geworden zu sein.

»Loial, Sohn von Arent Sohn von Halan, willst du Erith, Tochter von Iva Tochter von Alar, zur Ehefrau nehmen und beim Licht und dem Baum schwören, sie zu ehren, zu achten und zu lieben, solange sie lebt, sich um sie zu kümmern und ihrer Führung zu folgen?«

Loial holte tief Luft. Seine Ohren zitterten. Er wollte sie heiraten. Das wollte er. Aber jetzt noch nicht. »Beim Licht und beim Baum, ich schwöre«, sagte er heiser.

»Dann erkläre ich euch beim Licht und beim Baum für verheiratet. Möget ihr immer den Segen des Lichts und des Baums haben.«

Loial sah auf seine Frau herunter. Seine Ehefrau. Sie hob die Hand und strich mit schlanken Fingern über seinen Schnurrbart. Jedenfalls die Anfänge seines Schnurrbarts.

»Du siehst sehr gut aus, und ich glaube, ein Schnurrbart wird dir gut stehen. Und ein Bart auch.«

»Unfug«, sagte seine Mutter. Überraschenderweise tupfte sie sich mit einem kleinen Spitzentaschentuch die Augen ab. Sie zeigte selten Gefühle. »Er ist viel zu jung für so etwas.«

Einen Augenblick lang glaubte er, Eriths Ohren würden sich zurücklegen. Das musste er sich eingebildet haben. Er hatte einige lange Gespräche mit ihr geführt — sie war eine wunderbare Gesprächspartnerin; obwohl, wenn man so darüber nachdachte, größtenteils hörte sie zu, aber das, was sie sagte, war immer sehr vernünftig —, und er war sich sicher, dass sie nicht launisch war. Sie legte die Hände auf seine Arme, erhob sich auf die Zehenspitzen, und er beugte sich nach unten, um seine Nase gegen die ihre zu reiben. In Wahrheit näselten sie länger, als sie es in Anwesenheit seiner Mutter und des Ältesten Haman hätten tun sollen, aber die anderen verschwanden aus seinen Gedanken, als er den Duft seiner Frau einatmete und sie den seinen. Und das Gefühl ihrer Nase auf der seinen! Er hielt ihren Hinterkopf und hatte kaum die Geistesgegenwart, ihre Ohren nicht zu liebkosen. Sie zog bei ihm an den Haaren! Nach einer Weile, anscheinend einer sehr langen Weile, drangen Stimmen zu ihnen durch.

»Es regnet noch immer, Covril. Du kannst nicht ernsthaft vorschlagen, dass wir aufbrechen sollen, solange wir ein stabiles Dach über dem Kopf haben und zur Abwechslung einmal in richtigen Betten schlafen können. Nein, sage ich. Nein! Ich werde heute Nacht nicht auf dem Boden schlafen oder in einer Scheune oder, noch schlimmer, in einem Haus, in dem meine Füße und Knie über das größte vorhandene Bett baumeln.«

»Wenn du darauf bestehst«, sagte seine Mutter widerstreb end, »aber ich will morgen in aller Frühe aufbrechen. Ich weigere mich, auch nur eine unnötige Stunde zu verschwenden. Das Buch der Übersetzung muss so schnell geöffnet werden, wie das möglich ist.«

Loials Ohren zuckten entsetzt in die Höhe. »Darüber berät der Große Stumpf? Das können sie nicht machen, nicht jetzt!«

»Wir werden diese Welt am Ende verlassen müssen, also können wir es tun, wenn sich das Rad dreht«, sagte seine Mutter und ging zurück zum Kamin, um die Röcke wieder auszubreiten. »So steht es geschrieben. Jetzt ist genau der richtige Zeitpunkt, und je früher, desto besser.«

»Glaubst du das auch, Ältester Haman?«, fragte Loial besorgt.

»Nein, mein Junge, überhaupt nicht. Vor unserem Aufbruch habe ich eine drei Stunden lange Rede gehalten, die, wie ich glaube, bei einigen zu einem Sinneswandel geführt hat.« Ältester Haman nahm eine große gelbe Kanne und füllte eine blaue Tasse, aber statt zu trinken, schaute er stirnrunzelnd in den Tee. »Ich fürchte, deine Mutter hat mehr auf ihre Seite gebracht. Sie könnte sogar ihre Entscheidungen in wenigen Monaten erreichen, wie sie gesagt hat.«

Erith füllte eine Tasse für seine Mutter, dann noch zwei, von denen sie ihm eine brachte. Wieder bebten seine Ohren peinlich berührt. Das hätte er tun sollen. Er musste noch viel darüber lernen, Ehemann zu sein, aber das wusste er.

»Ich wünschte, ich könnte vor dem Stumpf sprechen«, sagte er bitter.

»Du klingst sehr interessiert, Gemahl.« Gemahl. Das bedeutete, dass Erith sehr ernst war. Das war fast so schlimm wie Sohn Loial genannt zu werden. »Was würdest du dem Stumpf sagen?«

»Ich werde nicht zulassen, dass er sich zum Narren macht, Erith«, sagte seine Mutter, bevor er den Mund aufmachen konnte. »Loial schreibt gut, und Ältester Haman sagt, er hat das Talent zum Gelehrten, aber er bekommt schon bei hundert Zuhörern keinen Ton heraus. Außerdem ist er noch ein Junge.«

Das hatte der Älteste Haman gesagt? Loial fragte sich, wann seine Ohren zu zittern aufhören würden.

»Jeder verheiratete Mann darf vor dem Stumpf sprechen«, sagte Erith fest. Diesmal gab es keinen Zweifel. Sie hatte die Ohren zurückgelegt. »Gestattest du mir, mich um meinen Gemahl zu kümmern, Mutter Covril?« Die Lippen seiner Mutter bewegten sich, aber es ertönte kein Laut. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals so verblüfft gesehen zu haben, obwohl sie damit gerechnet haben musste. Eine Ehefrau zog ihren Mann immer seiner Mutter vor. »Nun, Gemahl, was würdest du sagen?«

Er war nicht sehr interessiert, er war verzweifelt. Er trank einen großen Schluck von dem gewürzten Tee, aber sein Mund fühlte sich trotzdem trocken an. Seine Mutter hatte Recht; je mehr Zuhörer er hatte, desto mehr neigte er dazu, das zu vergessen, was er hatte sagen wollen, und abzuschweifen. Ehrlich gesagt musste er zugeben, dass er schon bei wenigen Zuhörern weitschweifig herumplapperte. Jedenfalls etwas. Dann und wann. Er kannte die Formen — jedes Kind von fünfzig kannte die Formen —, und doch konnte er die Worte nicht über die Lippen bringen. Die wenigen Leute, die ihm jetzt zuhörten, waren keine beliebigen Leute. Seine Mutter war eine berühmte Sprecherin, der Älteste Haman ebenfalls, ganz zu schweigen davon, dass er ein Ältester war. Und da war Erith. Ein Mann wollte in den Augen seiner Frau gut aussehen.

Er wandte ihnen den Rücken zu, trat ans nächste Fenster und drehte die Teetasse zwischen den Händen. Das Fenster wies eine ordentliche Größe auf, auch wenn die Scheiben in den geschnitzten Rahmen nicht größer als in den unteren Räumen waren. Der Regen war zu einem Nieseln geworden, das aus dem grauen Himmel fiel, und trotz der Schlieren im Glas konnte er die Bäume jenseits der Felder ausmachen, Pinien und Tupelobäume und gelegentlich eine Eiche. Algarins Leute kümmerten sich gut um den Wald, schafften das tote Holz fort, um möglichen Waldbränden seine Nahrung zu rauben. Feuer musste sorgfältig benutzt werden.

Die Worte kamen jetzt viel müheloser zu ihm, da er die anderen nicht sah, wie sie ihn beobachteten. Sollte er mit dem Sehnen beginnen? Konnten sie den Aufbruch wagen, wenn sie in einer Hand voll Jahren anfangen würden zu sterben? Nein, diese Frage würde man als Erstes angesprochen und vernünftige Antworten gefunden haben, sonst wäre der Stumpf innerhalb eines Jahres fertig geworden. Beim Licht, wenn er den Stumpf ansprach… Einen Augenblick lang konnte er die Menge sehen, die um ihn herumstand, Hunderte Männer und Frauen, die darauf warteten, seine Worte zu hören, vielleicht sogar Tausende. Seine Zunge wollte an seinem Rachen festkleben. Er blinzelte, und da waren nur das blasige Glas und die Bäume vor ihm. Er musste es tun. Er war nicht besonders mutig, ganz egal, was Erith auch glauben mochte, aber er hatte über Mut gelernt, indem er die Menschen beobachtete; er hatte zugesehen, wie sie nicht losließen, egal wie kräftig der Wind wurde, wie sie kämpften, auch wenn sie keine Hoffnung hatten, kämpften und siegten, weil sie mit dem Mut der Verzweiflung kämpften. Plötzlich wusste er, was er zu sagen hatte.

»Im Krieg gegen den Schatten haben wir uns nicht in unserem Stedding verkrochen, in der Hoffnung, dass kein Trolloc oder Myrddraal dazu getrieben würde, sich dort Zugang zu verschaffen. Wir haben das Buch der Übersetzung nicht geöffnet und sind geflohen. Wir sind an der Seite der Menschen marschiert und haben den Schatten bekämpft. In den Trolloc-Kriegen haben wir uns weder im Stedding versteckt noch das Buch der Übersetzung geöffnet. Wir sind an der Seite der Menschen marschiert und haben gegen den Schatten gekämpft. In den finstersten Jahren, als es keine Hoffnung mehr zu geben schien, haben wir gegen den Schatten gekämpft.«

»Und zur Zeit des Hundertjährigen Krieges haben wir gelernt, uns nicht in die Angelegenheiten der Menschen zu verstricken«, warf seine Mutter ein. Das war erlaubt. Sprechen konnte sich in eine Debatte verwandeln, es sei denn, die pure Schönheit der Worte hielt die Zuhörer in ihrem Bann. Sie hatte einmal vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang ohne eine Unterbrechung zugunsten einer sehr unpopulären Position gesprochen, und niemand war aufgestanden, um gegen sie zu sprechen. Er konnte keine wunderschönen Sätze bilden. Er konnte nur das sagen, woran er glaubte. Er wandte sich nicht von dem Fenster ab.

»Der Hundertjährige Krieg war eine Angelegenheit der Menschen und nicht die unsere. Der Schatten ist unsere Angelegenheit. Wenn der Schatten bekämpft werden muss, sind unseren Äxten immer lange Stiele gewachsen. Vielleicht werden wir das Buch der Übersetzung in einem oder fünf oder zehn Jahren öffnen, aber wenn wir es jetzt tun, können wir nicht weglaufen in der vielversprechenden Hoffnung auf Sicherheit. Tarmon Gai’don kommt, und daran hängt nicht nur das Schicksal dieser Welt, sondern auch das einer jeden Welt, auf die wir fliehen könnten. Wenn das Feuer die Bäume bedroht, rennen wir nicht weg und hoffen, dass uns die Flammen nicht folgen. Wir kämpfen. Der Schatten kommt heran wie ein Waldbrand, und wir können es nicht wagen, vor ihm wegzulaufen.« Zwischen den Bäumen bewegte sich etwas, dem Anschein nach entlang des ganzen Waldrandes. Eine Viehherde? Wenn, dann war es eine große Viehherde.

»Das ist nicht übel«, sagte seine Mutter. »Viel zu offen heraus, um in einem Stedding von Gewicht zu sein, geschweige denn natürlich bei einem Großen Stumpf, aber nicht schlecht. Mach weiter.«

»Trollocs«, hauchte er. Das war es, Tausende Trollocs in Schwarz, in stachelbewehrten Rüstungen, die mit erhobenen, wie Sicheln gekrümmten Schwertern zwischen den Bäumen hervorstürmten, die mit den Speeren drohten, Fackeln trugen. Links und rechts Trollocs, so weit er sehen konnte. Nicht Tausende. Zehntausende.

Erith drängte sich neben ihn ans Fenster und keuchte auf.

»So viele! Werden wir sterben, Loial?« Sie klang nicht ängstl ich. Sie klang… aufgeregt!

»Nicht, wenn ich Rand und die anderen warnen kann.« Er war bereits auf dem Weg zur Tür. Jetzt konnten sie nur noch die Aes Sedai und die Asha’man retten.

»Hier, mein Junge. Ich glaube, die könnten wir brauchen.«

Er drehte sich noch rechtzeitig um, um die langschäftige Axt zu fangen, die der Älteste Haman ihm zuwarf. Die Ohren des anderen Mannes zeigten ganz nach hinten, waren flach an den Schädel angelegt. Loial wurde sich bewusst, dass das auch für seine galt.

»Hier, Erith«, sagte seine Mutter ruhig und nahm eines der Baummesser von der Wand. »Sollten sie hereinkommen, werden wir versuchen, sie an der Treppe aufzuhalten.«

»Du bist mein Held, Gemahl«, sagte Erith, als sie den Messergriff nahm, »aber wenn du dich umbringen lässt, werde ich sehr böse auf dich sein.« Sie klang, als wäre es ihr damit auch ernst.

Und dann rannten er und Ältester Haman zusammen den Korridor entlang, polterten die Treppe hinunter, brüllten aus vollem Halse eine Warnung und einen Schlachtruf, den man seit zweitausend Jahren nicht mehr gehört hatte. »Trollocs kommen! Hoch die Äxte und das Feld räumen! Trollocs kommen !«

»… und so werde ich mich um Tear kümmern, Logain, während Ihr…« Plötzlich rümpfte Rand die Nase. Es war nicht so, dass er plötzlich tatsächlich einen fauligen Misthaufen roch, aber es kam ihm so vor, und das Gefühl wurde stärker.

»Schattengezücht«, sagte Cadsuane leise, legte den Stickreifen zur Seite und stand auf. Seine Haut prickelte, als sie die Quelle umarmte. Oder vielleicht war es auch Alivia, die energisch hinter der Grünen Schwester zum Fenster ging. Min stand auf und zog Wurfmesser aus den Ärmeln.

Im gleichen Augenblick hörte er durch die dicken Wände undeutlich die Ogier rufen. Diese tiefen, trommelähnlichen Stimmen waren unverkennbar. »Trollocs kommen! Hoch die Äxte und das Feld räumen!«

Mit einem Fluch sprang auch er auf die Füße und rannte zu einem Fenster. Tausende Trollocs rannten durch den leichten Regen über die frisch gesäten Felder, Trollocs so groß wie Ogier und größer, Trollocs mit Widderhörnern und Ziegenhörnern, Wolfsschnauzen, Keilerschnauzen, Trollocs mit Adlerschnäbeln und befiederter Brust. Schlamm spritzte unter Stiefeln und Hufen und Tatzen auf. Sie rannten so lautlos wie der Tod. Hinter ihnen galoppierten schwarz gekleidete Myrddraal; ihre Umhänge hingen herunter, als würden sie ganz still dastehen. Er konnte dreißig oder vierzig ausmachen. Wie viele waren noch auf den anderen Seiten des Hauses?

Andere hatten die Rufe der Ogier gehört oder vielleicht auch nur aus dem Fenster gesehen. Blitze gingen unter den angreifenden Trollocs nieder, silbrige Blitze, die mit einem Krachen einschlugen und gewaltige Körper in alle Richtungen schleuderten. An anderen Stellen brach der Boden in Flammen aus, schickte Fontänen aus Erde und Teilen von Trollocs in die Höhe, Köpfe, Arme und Beine wirbelten durch die Luft. Feuerbälle trafen sie und explodierten, jeder tötete Dutzende. Aber sie rannten weiter, so schnell wie Pferde, wenn nicht noch schneller. Rand konnte die Gewebe nicht sehen, die einige der Blitze anzogen. Jetzt, da sie entdeckt worden waren, fingen die Trollocs an zu brüllen, ein wortloser Aufschrei der Wut. In den strohgedeckten Wirtschaftsgebäuden, großen, stabilen Scheunen und Ställen, steckten einige von Basheres Soldaten die Köpfe heraus und zogen sie schnell wieder zurück, knallten die Türen hinter sich zu.

»Ihr habt Euren Aes Sedai erlaubt, dass sie zur Selbstvert eidigung die Macht lenken können?«, sagte er ruhig.

»Sehe ich wie ein solcher Narr aus, das nicht zu tun?«, fauchte Logain. Er stand an einem anderen Fenster und hielt bereits Saidin, beinahe genauso viel, wie Rand schöpfen konnte. Er webte so schnell er konnte. »Wollt Ihr hier helfen oder bloß zusehen, mein Lord Drache?« In den Worten lag viel zu viel Sarkasmus, aber jetzt war nicht der Augenblick, das zur Sprache zu bringen.

Rand holte tief Luft, ergriff den Fensterrahmen, um gegen den Schwindel gewappnet zu sein, der kommen würde — die goldmähnigen Drachenköpfe auf seinen Handrücken schienen sich zu winden —, und griff nach der Macht. Alles drehte sich in seinem Kopf, als Saidin in ihn hineinfloss, eisige Flammen und zerberstende Berge, Chaos, das ihn fortspülen wollte. Aber von süßer Reinheit. Dieses Wunder berührte ihn noch immer. In seinem Kopf drehte sich alles, und sein Magen wollte sich ausleeren, die seltsame Übelkeit, die mit dem Makel hätte verschwinden sollen, aber das war nicht der Grund, warum er sich noch fester am Fenster festkrallte. Die Eine Macht erfüllte ihn — aber in dem Moment der Übelkeit hatte sie Lews Therin ihm entrissen.

Starr vor Entsetzen starrte er die Trollocs und Myrddraal an, die auf die Scheunen zuhielten. Gefüllt mit der Macht konnte er die Anstecker ausmachen, die an gewaltigen gepanzerten Schultern befestigt waren. Der silberne Wirbelwind der Ahf’frait und der blutrote Dreizack der Ko’bal. Der gespaltene Blitz der Ghraem’lan und die Krummaxt der Al’ghol. Die Eisenfaust der Dhai’mon und die rote, blutbefleckte Faust der Kno’mon. Und da waren Schädel. Der gehörnte Schädel der Dha’vol und die aufgeschichteten Totenköpfe der Ghar’ghael und der mit der sensenförmigen Klinge gespaltene Schädel der Dhjin’nen und der mit einem Dolch durchbohrte Schädel der Bhan’sheen. Trollocs liebten Totenschädel, sofern sie überhaupt etwas liebten. Es hatte den Anschein, dass die zwölf Hauptstämme hier vertreten waren, und ein paar der weniger bedeutenden. Er sah Symbole, die ihm unbekannt waren. Ein starrendes Auge, eine von einem Dolch durchbohrte Hand, eine in Flammen gehüllte menschliche Gestalt. Sie näherten sich den Ställen, aus deren Strohdächern sich Schwerter bohrten, als die Saldaeaner versuchten, sich Wege aufs Dach freizuschneiden. Stroh war zäh. Sie würden verzweifelt arbeiten müssen. Seltsam. Die Gedanken, die einem kamen, obwohl ein Verrückter mit Todessehnsucht einen beim nächsten Herzschlag töten konnte.

Glas und Holz splitterten, als Ströme aus Luft den Fensterr ahmen vor ihm herausstießen. Meine Hände, keuchte Lews Therin. Warum kann ich meine Hände nicht bewegen? Ich muss die Hände heben! Erde, Luft und Feuer strömten in ein Gewebe, das Rand nicht kannte, sechs von ihnen zugleich. Obwohl er sie erkannte, als er das fertige Gewebe sah. Feuerb lumen. Sechs vertikale rote Schäfte erschienen mitten unter den Trollocs, zehn Fuß hoch und dünner als Rands Unterarme. Der nächststehende Trolloc würde ihr schrilles Jaulen hören, aber falls seit dem Krieg gegen den Schatten nicht die Erinnerungen weitervererbt worden waren, würden sie nicht erkennen, dass sie den Tod hörten. Lews Therin drehte den letzten Strom Luft, und Feuer blühte auf. Mit einem das Herrenhaus erschütternden Donnern dehnte sich jeder der roten Schäfte schlagartig zu einer dreißig Fuß durchmessenden Flammenscheibe aus. Gehörnte Köpfe und mit Schnauzen versehene Köpfe flogen durch die Luft, umherwirbelnde Arme und Stiefel und Beine, die in Pfoten oder Hufen endeten. Hundert Schritte oder weiter von der Explosion entfernte Trollocs stürzten, und nur einige standen wieder auf. Er hatte die Gewebe noch nicht fertiggestellt, da webte Lews Therin schon sechs andere, mit Feuer versetzter Geist, das Gewebe für ein Wegetor, aber dann fügte er hier und da Erde hinzu. Die vertrauten vertikalen, silbrig blauen Striche erschienen, nicht weit von dem Herrenhaus entfernt, Gelände, das Rand gut kannte, rotierten zu… nicht zu Öffnungen, sondern nur zu dem vier mal vier Schritte großen nebelhaften Hintergrund eines Tors. Statt offen zu bleiben, schnappten sie wieder zu, um sich dann wieder drehend zu öffnen. Und statt an Ort und Stelle zu bleiben, rasten sie auf die Trollocs zu. Wegetore und doch etwas anderes. Todestore. Sobald sich die Todestore in Bewegung setzten, verknotete Lews Therin die Gewebe, ein lockerer Knoten, der nur wenige Minuten halten würde, bevor er dem Gewebe erlaubte, sich wieder aufzulösen. Und er webte schon weiter. Mehr Todestore, mehr Feuerblumen, die die Hauswände erbeben ließen und Trollocs in Stücke rissen. Die ersten der fliegenden Todestore trafen die Trollocs und schnitten sich einen Weg durch sie hindurch. Es war nicht nur der messerscharfe Rand der sich öffnenden und schließenden Tore. Wo ein Todestor vorbeizog, da gab es einfach keine Trollocs mehr. Meine Hände!, heulte der Wahnsinnige. Meine Hände!

Langsam hob Rand die Hände, stieß sie durch die Öffnung. Augenblicklich webte Lews Therin Feuer und Erde in komplizierten Kombinationen, und aus Rands Fingerspitzen lösten sich rote Fäden, zehn an jeder Hand. Flammenpfeile. Sobald sie verschwanden, erschienen die nächsten, und das so schnell, das sie nur zu flackern schienen statt sich auszubreiten. Trollocs zuckten, wenn sich von diesen Blitzen getroffenes Fleisch und Blut erhitzte und verflüssigte, zuckten und stürzten mit Löchern, die durch ihre massigen Körper gestanzt worden waren. Oft stürzten auch nur drei oder vier hinter dem ersten Opfer, bis sich die Blitze erschöpften. Er spreizte die Finger und bewegte langsam die Hände hin und her, verbreitete den Tod entlang der ganzen Linie. Feuerblumen erschienen, die er nicht gewebt hatte, und Todestore, die etwas kleiner als Lews Therins waren, und Feuerpfeile, die von Logain kommen mussten. Die anderen Asha’man passten auf, aber nur wenige würden auf Positionen stehen, auf denen sie sehen konnten, wie man die letzten beiden Gewebe herstellte.

Trollocs fielen zu Hunderten, zu Tausenden, niederg estreckt von Blitzen und von Feuerbällen, Feuerblumen und Todestoren und Flammenpfeilen, die Erde selbst explodierte unter ihren Füßen, und doch stürmten sie brüllend weiter und schwangen die Waffen. Myrddraal ritten dicht hinter ihnen, Schwerter mit schwarzen Klingen in der Hand. Als sie die Außengebäude erreichten, kreisten ein paar der Trollocs sie ein, hämmerten mit den Fäusten gegen die Türen, gingen mit Schwertern und Speeren auf die Wände los, warfen Fackeln auf die Strohdächer. Die dort oben stehenden Saldaeaner bedienten ihre Reiterbögen, so schnell sie konnten, traten die Fackeln zurück nach unten, aber ein paar blieben an den Dachrändern hängen, und selbst das feuchte Stroh fing Feuer.

Das Feuer, dachte Rand, an Lews Therin gewandt. Die Sald aeaner werden brennen! Tu was!

Lews Therin gab keine Erwiderung, webte nur den Tod, so schnell wie er konnte, und warf ihn den Trollocs entgegen, Todestore und Flammenpfeile. Ein von einem halben Dutzend roter Fäden durchbohrter Myrddraal wurde aus dem Sattel geschleudert, dann ein weiterer. Ein Dritter verlor durch einen Flammenpfeil den Kopf in einer Explosion aus kochendem Blut und Fleisch, aber er ritt weiter und schwenkte das Schwert, als wüsste er nicht, dass er tot war. Rand suchte sie sich heraus. Wenn die Myrddraal alle getötet wurden, wandten sich die Trollocs möglicherweise zur Flucht.

Jetzt webte Lews Therin nur noch Todestore und Flamm enpfeile. Die Masse der Trollocs befand sich unterdessen zu nahe am Haus für Feuerblumen. Einige der Asha’man erkannten das offensichtlich nicht sofort. Lautes Donnern ließ das Zimmer erbeben, das ganze Herrenhaus erzitterte wie von riesigen Vorschlaghämmern getroffen, bebte, als würde es sich in seine Bestandteile auflösen, und dann hörten die Explosionen auf, außer an den Stellen, wo ein Feuerball aufflammte oder der Boden selbst explodierte, um Trollocs wie kaputte Spielzeuge umherzuwirbeln. Der Himmel schien Blitze zu regnen. Silberblaue Blitze schlugen so nahe am Haus ein, dass die Haare auf Rands Armen und Brust sich aufrichten wollten, genau wie die auf seinem Kopf.

Ein paar Trollocs gelang es, die Türen zu einer der Scheun en aufzuzwingen, und sie strömten hinein. Rand bewegte die Hände, mähte die noch draußen stehenden mit flackernden roten Fäden nieder, die Löcher in sie hineinstanzten. Ein paar hatten es ins Innere geschafft, aber mit denen würden die Saldaeaner selbst fertig werden müssen. Auf einer anderen Scheune und einem Stall flackerten Flammen im Stroh auf, Männer husteten durch den ätzenden Rauch, während sie mit ihren Bögen schössen.

Hör mir zu, Lews Therin. Das Feuer. Du musst etwas dagegen unternehmen!

Lews Therin schwieg, webte nur seine Gewebe, um Troll ocs und Myrddraal zu töten.

»Logain«, rief Rand. »Die Feuer! Löscht sie!«

Der Asha’man antwortete auch nicht, aber Rand sah Gewebe, die die Hitze aus den Flammen sogen und sie löschten. Sie verschwanden einfach, ließen kaltes, geschwärztes Stroh zurück, von dem nicht einmal mehr Rauch aufstieg. Der Tod wandelte unter den Trollocs, aber sie waren jetzt so nahe am Haus, dass sogar die Explosionen der Feuerbälle das Gebäude erschütterten.

Plötzlich stand ein Myrddraal vor dem Fenster, das blasse, augenlose Gesicht so ruhig wie das einer Aes Sedai. Das Schwert zuckte bereits auf Rand zu. Zwei geschleuderte Aiel-Speere trafen seine Brust, ein Wurfmesser bohrte sich in seine Kehle, aber er stolperte bloß zurück, bevor er das Schwert erneut hob. Rand legte die Finger zusammen, und kurz bevor ihn die Klinge treffen konnte, schössen hundert Flammenpfeile durch den Myrddraal und warfen ihn zwanzig Schritte zurück. Er blieb durchbohrt liegen, schwarzes Blut tränkte den Boden. Myrddraal starben selten auf der Stelle, aber dieser zuckte nicht einmal mehr.

Hastig suchte Rand nach weiteren Zielen, aber dann bemerkte er, dass Lews Therin aufgehört hatte, die Macht zu lenken. Er konnte noch immer die Gänsehaut spüren, die ihm verriet, dass Cadsuane und Alivia die Macht hielten, konnte noch immer das Saidin in Logain fühlen, aber der andere Mann webte auch nicht länger. Der Erdboden draußen war mit Leichen und Körperteilen übersät, von den Feldern bis fast zur Hauswand. Nur noch wenige Schritte entfernt. Ein paar Pferde der Myrddraal standen noch, eines hielt den Vorderlauf hoch, als wäre er gebrochen. Ein kopfloser Myrddraal stolperte herum, hieb wild mit dem Schwert um sich, und hier und da zuckte ein Trolloc oder versuchte sich vergeblich noch einmal zu erheben, aber sonst rührte sich nichts mehr.

Es ist vorbei, dachte er. Es ist vorbei, Lews Therin. Du kannst Saidin jetzt loslassen. Harilin und Enaila standen auf dem Tisch, verschleiert und mit Speeren in den Händen. Min stand mit grimmigem Gesicht neben ihnen, in jeder Hand ein Wurfmesser. Der Bund war voller Furcht, und nicht um sich selbst, wie er vermutete. Sie hatten ihm das Leben gerett et, aber jetzt musste er sich selbst retten.

»Das war knapp«, murmelte Logain. »Wäre das vor meiner Ankunft geschehen… Wirklich knapp.« Er schüttelte sich und ließ die Quelle los, wandte sich von dem glaslosen Fenster ab. »Wollt Ihr diese neuen Gewebe nur Euren Favoriten überlassen, so wie Taim? Diese Tore. Wo haben wir diese Trollocs hingeschickt? Ich habe Euer Gewebe lediglich genau kopiert.«

»Es ist egal, wo sie gelandet sind«, sagte Rand abwesend. Seine Aufmerksamkeit war auf Lews Therin konzentriert. Der Wahnsinnige, diese verfluchte Stimme in seinem Kopf, schöpfte noch etwas mehr von der Macht. Lass los, Mann.

»Schattengezücht überlebt den Durchgang durch ein Weget or nicht.«

Ich will sterben, sagte Lews Therin. Ich will zu meiner Ilyena.

Wenn du wirklich sterben wolltest, warum hast du dann die Trollocs getötet?, dachte Rand. Warum diesen Myrddraal töten? »Die Leute werden Gruppen toter Trollocs und vielleicht auch Myrddraal ohne jede äußere Verletzung finden«, sagte er laut.

Ich glaube, ich kann mich ans Sterben erinnern, murmelte Lews Therin. Ich erinnere mich, wie ich es getan habe. Er schöpfte weiter, und Rands Schläfen fingen an zu schmerzen.

»Aber nicht zu viele an einer Stelle. Das Ziel ändert sich jedes Mal, wenn sich das Todestor öffnet.« Rand rieb sich die Schläfen. Dieser Schmerz war eine Warnung. Er stand kurz davor, die Menge an Saidin zu halten, die er kontrollieren konnte, ohne zu sterben oder ausgebrannt zu werden. Du kannst noch nicht sterben, sagte er zu Lews Therin. Wir müssen bis Tarmon Gai’don überleben, oder die Welt stirbt.

»Ein Todestor«, sagte Logain voller Abscheu. »Warum haltet Ihr noch immer die Macht?«, fragte er dann plötzlich.

»Und so viel. Wenn Ihr mir beweisen wollt, dass Ihr stärker seid, als ich es bin, das weiß ich bereits. Ich habe gesehen, wie groß Eure Todestore verglichen mit meinen waren. Und ich würde behaupten, dass Ihr jeden Tropfen Saidin haltet, der möglich ist.«

Das zog jedermanns Aufmerksamkeit auf sich. Min steckte die Messer weg und sprang vom Tisch; der Bund schien plötzlich so voller Furcht, dass er förmlich davor pulsierte. Harilin und Enaila wechselten besorgte Blicke, dann schauten sie wieder aus dem Fenster. Sie vertrauten nicht darauf, dass Trollocs wirklich tot waren, bevor sie nicht drei Tage lang begraben blieben. Alivia trat stirnrunzelnd einen Schritt auf ihn zu, aber er schüttelte kaum merklich den Kopf, und sie wandte sich wieder ihrem Fenster zu, auch wenn das Stirnrunzeln bestehen blieb.

Cadsuane rauschte durch den Raum; ihr Gesicht trug einen strengen Ausdruck. »Was fühlt er?«, wollte sie von Min wissen. »Keine Ausflüchte, Mädchen. Ihr kennt den Preis. Ich weiß, dass er sich mit Euch verbunden hat, und Ihr wisst, dass ich es weiß. Fürchtet er sich?«

»Er hat nie Angst«, sagte Min. »Außer wegen mir und…«

Sie schob stur das Kinn nach vorn und verschränkte die Arme unter den Brüsten, widmete Cadsuane einen Blick, der die Grüne Schwester herausforderte, ihr Schlimmstes zu tun. Der komplizierten Mixtur aus Gefühlen nach zu urteilen, die von Angst bis zu Scham reichte, die sie aus dem Bund halten wollte, worin sie aber scheiterte, hatte sie durchaus eine genaue Vorstellung, wie Cadsuanes Schlimmstes aussehen würde.

»Ich stehe genau vor Euch«, sagte Rand. »Wenn Ihr wissen wollt, wie ich mich fühle, dann fragt mich.« Lews Therin?, dachte er. Keine Antwort, und das Saidin, das ihn erfüllte, nahm nicht ab. Seine Schläfen fingen an zu pochen.

»Und?«, sagte Cadsuane ungeduldig.

»Ich fühle mich blendend.« Lews Therinl »Aber ich habe eine Regel für Euch, Cadsuane. Droht Min nie wieder. Und mehr noch, lasst sie in Frieden.«

»So, so. Der Junge zeigt die Zähne.« Goldene Vögel und Fische, Sterne und Monde wackelten, als sie den Kopf schüttelte. »Zeigt aber nicht zu viele. Und Ihr könntet die junge Frau fragen, ob sie Euren Schutz überhaupt will.« Seltsamerweise hatte Min ihren Missmut jetzt auf ihn gerichtet, und der Bund prickelte vor Gereiztheit. Beim Licht, es war schlimm genug, dass es ihr nicht gefiel, wenn er sich um sie sorgte. Jetzt wollte sie sich anscheinend auch noch im Alleingang auf Cadsuane stürzen, etwas, das nicht einmal er gern getan hätte.

Wir können bei Tarmon Gai’don sterben, sagte Lews Ther in, und plötzlich strömte die Macht aus ihm heraus.

»Er hat losgelassen«, sagte Logain, als wäre er plötzlich auf Cadsuanes Seite.

»Ich weiß«, erwiderte sie. Er riss überrascht den Kopf zu ihr herüber.

»Min kann sich selbst mit Euch auseinandersetzen, wenn sie es will«, sagte Rand und ging in Richtung Tür. »Aber bedroht sie nicht.« ]a, dachte er. Wir können bei Tarmon Gai’don sterben.

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