Die Sonne stieg dem Zenit entgegen und ließ die Schatten von Galad und seinen drei Begleitern vorauseilen, während sie auf ihren Pferden die Straße entlangtrabten, die schnurgerade durch den dichten Wald aus Eichen und Zwerglorbeer, Tannen und Tupelobäumen führte, der größtenteils das Rot des Frühlingsbewuchses zeigte. Im Gegensatz zu Galad trugen sie ihre Rüstungen. Er versuchte seinen Verstand leer und ruhig zu halten, aber kleine Dinge drangen trotzdem zu ihm durch. Abgesehen vom Stampfen der Pferdehufe war der Tag still. Kein Vogel sang auf einem Ast, kein Eichhörnchen keckerte. Zu still für diese Jahreszeit, als würde der Wald den Atem anhalten. Einst war das hier ein wichtiger Handelsweg gewesen, lange bevor Amadicia und Tarabon entstanden waren, und gelegentlich durchbrach uraltes Straßenpflaster die harte Oberfläche aus gelblichem Lehm. Der einsame Bauernkarren hinter dem dahinstampfenden Ochsen weit voraus war von ihnen abgesehen das einzige Lebenszeichen. Der Handel hatte sich weit nach Norden verlagert, die Bauernhöfe und Dörfer in der Gegend schwanden dahin, und die sagenhaften Minen von Aelgar blieben in den unzugänglichen Bergen verschollen, die nur ein paar Meilen weiter im Süden begannen. Dort ballten sich dunkle Wolken zusammen und versprachen für den Nachmittag Regen, falls sie weiter langsam vorrückten. Ein rotgeflügelter Falke strich am Waldrand vorbei und jagte dort. So wie er selbst auf der Jagd war. Aber nach dem Herzen, nicht nach dem Rand. Das Landhaus, das die Seanchaner Eamon Valda zugeteilt hatten, kam in Sicht, und er zügelte das Pferd, wünschte sich, er hätte einen Helmriemen zum Festerzurren als Vorwand. Stattdessen musste er sich damit zufrieden geben, den Schwertgurt auf- und zuzumachen und so zu tun, als hätte er nicht richtig gesessen. Eine Rüstung anzulegen war sinnlos gewesen. Wenn der Morgen so verlief, wie er hoffte, würde er Harnisch und Kettenhemd sowieso ablegen müssen, und wenn alles schlecht verlief, würde die Rüstung kaum mehr Schutz als sein weißer Mantel bieten.
Das Gebäude war einst Landsitz des Königs von Amadicia gewesen, ein großes Haus mit blauem Dach und rot angemalten Baikonen, ein Holzpalast mit Holztürmen an den Ecken auf einem Steinfundament, das an einen niedrigen, schräg ansteigenden Hügel erinnerte. Die Außengebäude — Ställe und Scheunen, Unterkünfte für die Arbeiter und Werkstätten der Handwerker — duckten sich in die große Lichtung, die das Haupthaus umgab, aber mit ihrem blauen und roten Anstrich waren sie beinahe genauso glänzend. Eine Hand voll Männer und Frauen bewegte sich dort, aus dieser Entfernung winzige Gestalten, und Kinder spielten unter der Aufsicht ihrer Eltern. Ein Bild der Normalität, wo es doch keine Normalität mehr gab. Seine Begleiter saßen mit ihren glänzenden Helmen und Brustpanzern in ihren Sätteln und beobachteten ihn ausdruckslos. Ihre Pferde stampften ungeduldig mit den Beinen, der kurze Ritt vom Lager hatte ihrer morgendlichen Frische nichts anhaben können.
»Es ist verständlich, dass Ihr zweifelt, Damodred«, sagte Trom schließlich. »Es ist eine schlimme Anschuldigung, so bitter wie Galle, aber…«
»Für mich gibt es keinen Zweifel«, unterbrach Galad ihn.
Seine Absichten standen seit dem Vortag fest. Aber er war dankbar. Trom hatte ihm die Gelegenheit geboten, die er brauchte. Sie waren bei seinem Aufbruch einfach aufgetaucht und hatten sich ihm wortlos angeschlossen. Da hatte es anscheinend keinen Platz für Worte gegeben. »Aber was ist mit euch dreien? Ihr geht ein Risiko ein, wenn ihr mich begleitet. Ein Risiko, das ihr nicht eingehen müsst. Egal, wie der Tag auch verlaufen wird, er wird euch brandmarken. Das ist meine Angelegenheit, und ich erlaube euch, euch um eure Belange zu kümmern.« Zu unbeholfen gesagt, aber an diesem Morgen konnte er nicht die richtigen Worte finden. Oder die Enge in seinem Hals loswerden.
Der stämmige Mann schüttelte den Kopf. »Das Gesetz ist das Gesetz. Und ich kann meinen neuen Rang genauso gut einmal benutzen.« Die drei goldenen, wie Sterne geformten Knoten eines Hauptmanns hingen auf der Brust seines weißen Mantels unter der lodernden Sonne. Bei Jeramel hatte es mehr als nur ein paar Tote gegeben, einschließlich drei Lordhauptmänner. Damals hatten sie gegen die Seanchaner gekämpft und waren nicht mit ihnen verbündet gewesen.
»Ich habe im Dienst des Lichts schlimme Dinge getan«, sagte Byar grimmig; die in seinem hageren Gesicht tief sitzenden Augen funkelten, als ginge es um eine persönliche Beleidigung, »so finster wie die mondlose Mitternacht, und vermutlich werde ich das auch wieder tun, aber manche Dinge sind zu finster, als dass man sie erlauben sollte.« Er sah aus, als wollte er ausspucken.
»Das ist richtig«, murmelte der junge Bornhaid und rieb sich mit der in einem Panzerhandschuh steckenden Hand über den Mund. Galad betrachtete ihn immer als jung, dabei war Dain Bornhaid nur wenige Jahre jünger als er. Seine Augen waren blutunterlaufen, er hatte sich am vergangenen Abend wieder am Branntwein gütlich getan. »Wenn man etwas Falsches getan hat, selbst wenn man dem Licht dient, dann muss man tun, was richtig ist, um das auszugleichen.« Byar grunzte mürrisch. Vermutlich hatte er genau das nicht damit gemeint.
»Also gut«, sagte Galad. »Aber es wird keinem Mann, der umkehren sollte, ein Vorwurf gemacht. Das hier ist allein meine Angelegenheit.«
Doch als er seinen braunen Wallach zum leichten Galopp antrieb, freute er sich, dass sie ihn einholten und dann an seiner Seite ritten, die weißen Umhänge vom Wind aufgebläht. Er hätte natürlich allein reiten können, aber ihre Anwesenheit verhinderte vielleicht, dass man ihn sofort verhaftete und aufhängte. Nicht, dass er damit rechnete, den Tag zu überleben. Was getan werden musste, musste getan werden, ganz egal, wie hoch der Preis war.
Die Pferdehufe klapperten lautstark über den Steinweg, der zum Herrenhaus hinaufführte, sodass sich jeder Mann auf dem großen Hof umdrehte und ihrer Ankunft zusah: fünfzig Kinder des Lichts in funkelnder Rüstung und konischen Helmen, die meisten im Sattel, während ängstlich geduckte Stallburschen aus Amadicia in dunklen Mänteln die Tiere für den Rest hielten. Die Balkone waren leer, wenn man von ein paar Dienern absah, die anscheinend zuschauten, während sie so taten, als würden sie fegen. Sechs Zweifler, große Männer mit dem scharlachroten Hirtenstab auf der Sonne ihrer Umhänge, standen ein Stück abseits von den anderen wie eine Leibwache dicht gedrängt um Rhadam Asunawa. Die Hand des Lichts stand immer vom Rest der Kinder getrennt, eine Wahl, die der Rest der Kinder begrüßte. Der grauhaarige Asunawa, dessen kummervolles Gesicht Byar förmlich pausbäckig erscheinen ließ, war das einzige anwesende Kind, das keine Rüstung trug, und auf seinem schneeweißen Umhang prunkte nur der hellrote Hirtenstab, ein weiteres Merkmal der Abgrenzung. Aber einmal davon abgesehen, dass sich Galad vergewissern wollte, wer alles hier anwesend war, hatte er nur Augen für einen Mann auf dem Hof. Möglicherweise war Asunawa irgendwie darin verwickelt gewesen — das blieb unklar —, aber allein der Kommandierende Lordhauptmann konnte den Hochinquisitor zur Rechenschaft ziehen.
Eamon Valda war nicht groß, aber sein dunkles, hartes Gesicht trug den Ausdruck eines Mannes, der von allen Gehorsam erwartete. Er stand da mit leicht gespreizten Beinen, den Kopf hoch erhoben, und jeder Fuß drückte seine Befehlsgewalt aus. Er trug den weißen und goldenen Wappenrock des Kommandierenden Lordhauptmanns über dem vergoldeten Brust- und Rückenpanzer, ein Wappenrock aus Seide, der aufwändiger verziert war als alles, was Pedron Niall jemals getragen hatte. Sein weißer Umhang mit den flammenden, mit goldenem Garn gestickten Sonnen auf beiden Seiten bestand ebenfalls aus Seide, genau wie der mit goldenen Stickereien besetzte Mantel. Der Helm mit der lodernden Sonne über dem Stirnrand, den er unter dem Arm hielt, war vergoldet, und der schwere Goldring an der linken Hand, der über dem Panzerhandschuh getragen wurde, hielt einen großen gelben Saphir in der Form eines Sonnenstrahls. Ein weiteres Zeichen der Gunstbezeugungen, die er von den Seanchanern erhielt.
Valda runzelte leicht die Stirn, als Galad und seine Begleiter abstiegen und ihren Salut entrichteten, den Arm auf die Brust geschlagen. Unterwürfige Stallburschen kamen angerannt, um die Zügel zu halten.
»Warum seid Ihr nicht auf dem Weg nach Nassad, Trom?« Valdas Worten waren sein Missvergnügen anzuhören. »Die anderen Lordhauptmänner werden jetzt schon den halben Weg dorthin zurückgelegt haben.« Er selbst traf immer später ein, wenn es um ein Treffen mit den Seanchanern ging, vielleicht um der Welt zu zeigen, dass die Kinder noch immer zumindest einen Hauch Selbstständigkeit hatten — ihn bereits bei der Abreise vorzufinden war eine Überraschung; dieses Treffen musste sehr wichtig sein. Aber er sorgte immer dafür, dass die anderen hochrangigen Offiziere pünktlich da waren, selbst wenn das bedeutete, vor Sonnenaufgang aufzubrechen. Anscheinend war es klüger, ihre neuen Herren nicht zu sehr zu reizen. Die Seanchaner hegten ein tiefes Misstrauen gegenüber den Kindern.
Trom verriet nichts von der Unsicherheit, die man vielleicht bei einem Mann erwartet hätte, der seinen neuen Rang noch keinen Monat bekleidete. »Eine dringende Sache, mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte er aalglatt und machte eine präzise Verbeugung, keine Haaresbreite tiefer oder höher, als das Protokoll verlangte. »Ein Kind unter meinem Befehl klagt ein anderes Kind an, eine Verwandte missbraucht zu haben, und er beansprucht das Recht des Urteils im Schein des Lichts, was Ihr vom Gesetz her gewähren oder ablehnen müsst.«
»Eine seltsame Bitte, mein Sohn«, sagte Asunawa, bevor Valda antworten konnte; er hatte den Kopf schief gelegt und die Hände gefaltet. Selbst die Stimme des Hochinquisitors klang missmutig; Troms Unwissenheit schien ihm körperlichen Schmerz zu bereiten. Seine Augen glühten wie heiße Kohlen. »Für gewöhnlich war es der Beschuldigte, der darum bat, das Urteil dem Schwert zu überlassen, und meines Wissens nach für gewöhnlich dann, wenn er wusste, dass die Beweise ihn verurteilen würden. Aber wie dem auch sei, das Urteil im Schein des Lichts ist seit fast vierhundert Jahren nicht mehr angewendet worden. Gebt mir den Namen des Beschuldigten, und ich werde mich der Sache ohne großes Aufsehen annehmen.« Sein Tonfall wurde so kalt wie eine sonnenlose Höhle im Winter, auch wenn sein Blick noch immer brannte. »Wir sind unter Fremden, und wir dürfen nicht zulassen, dass sie erfahren, dass einer der Kinder zu so etwas fähig ist.«
»Die Bitte ist an mich gerichtet worden, Asunawa«, fauchte Valda. Sein Blick hätte genauso gut offenen Hass ausdrücken können. Vielleicht war es auch einfach nur die Missbilligung, dass sich der andere Mann einmischte. Er schlug eine Seite seines Umhangs über die Schulter, um das Schwert zu enthüllen, er legte die Hand auf den langen Griff und reckte das Kinn noch höher. Valda war immer für eine große Geste zu haben, und er hob die Stimme, dass ihn vermutlich noch die Leute im Haus hören konnten. Er deklamierte eher, als dass er sprach.
»Ich vertrete die Ansicht, dass viele unserer alten Bräuche zu neuem Leben erweckt werden sollten, und dieses Gesetz gilt noch immer. Es wird ewig bestehen, ist es doch in der Vergangenheit niedergeschrieben worden. Das Licht gewährt Gerechtigkeit, weil das Licht die Gerechtigkeit ist. Sagt Eurem Mann, dass er die Herausforderung stellen darf, Trom, und sich dem von ihm Beschuldigten mit dem Schwert stellt. Sollte sich der Betreffende weigern, verkünde ich hiermit, dass er damit seine Schuld eingesteht und auf der Stelle aufgehängt wird, dass seine Besitztümer und sein Rang seinem Ankläger zufallen, so wie es das Gesetz sagt. Ich habe gesprochen.« Das sagte er mit einem weiteren auf den Hochinquisitor gemünzten Stirnrunzeln. Vielleicht bestand zwischen ihnen ja wirklich Hass.
Trom verbeugte sich erneut förmlich. »Ihr habt es ihm selbst gesagt, mein Kommandierender Lordhauptmann. Damodred?«
Galad fröstelte. Es war nicht die Kälte der Furcht, sondern die der Leere. Als Bornhaid betrunken die verwirrenden Gerüchte ausgeplaudert hatte, die ihm zu Ohren gekommen waren, als Byar zögernd zugegeben hatte, dass es mehr als Gerüchte waren, war in Galad wilder Zorn aufgestiegen, ein knochenzerschmelzendes Feuer, das ihn fast in den Wahnsinn getrieben hätte. Er war überzeugt gewesen, dass sein Kopf explodieren würde, falls nicht vorher sein Herz zerplatzte. Jetzt war er Eis, aller Gefühle beraubt. Er verbeugte sich ebenfalls förmlich. Vieles von dem, was er zu sagen hatte, war vom Gesetz vorgeschrieben, doch den Rest wählte er mit Sorgfalt, um der Erinnerung, die er in Ehren hielt, so viel Schande wie möglich zu ersparen.
»Eamon Valda, Kind des Lichts, ich rufe Euch zum Urteil im Schein des Lichts für den unrechtmäßigen Angriff auf die Person von Morgase Trakand, Königin von Andor, und wegen ihrer Ermordung.« Niemand hatte bestätigen können, dass die Frau, die er als seine Mutter betrachtete, tatsächlich tot war, aber es konnte nicht anders sein. Ein Dutzend Männer waren sicher, dass sie aus der Festung des Lichts verschwunden war, bevor sie von den Seanchanern gestürmt wurde, und genauso viele hatten ausgesagt, dass sie sie nicht aus freiem Willen hatte verlassen können.
Valda zeigte keinerlei Überraschung über die Anklage. Sein Lächeln hätte genauso gut sein Bedauern über Galads Dummheit ausdrücken können, eine solche Behauptung aufzustellen, aber es lag auch Verachtung darin. Er öffnete den Mund, aber Asunawa mischte sich wieder ein.
»Das ist absurd«, sagte er in einem Tonfall, der eher Trauer als Wut ausdrückte. »Nehmt den Burschen, und wir werden herausfinden, was er mit dieser Verschwörung der Schattenfreunde zu tun hat, um die Kinder in Misskredit zu bringen.« Er gab ein Zeichen, und zwei der riesigen Zweifler machten einen Schritt auf Galad zu, der eine mit einem gehässigen Grinsen auf dem Gesicht, der andere völlig reglos, ein Arbeiter, der seinem Handwerk nachging.
Aber es blieb bei einem Schritt. Ein leises Schaben hallte über den Hof, als Kinder die Schwerter in ihren Scheiden lockerten. Mindestens ein Dutzend Männer zogen die Klingen blank und ließen sie an der Seite herunterhängen. Die amadicianischen Stallburschen versuchten sich unsichtbar zu machen. Vermutlich wären sie weggerannt, hätten sie es sich getraut. Asunawa blickte sich um, seine dicken Brauen hoben sich voller Unglauben, seine Fäuste verkrampften sich um den Saum seines Umhangs. Seltsamerweise erschien sogar Valda einen Augenblick lang überrascht. Sicherlich hatte er nach seiner Ankündigung nicht erwartet, dass die Kinder eine Gefangennahme zuließen. Falls doch, erholte er sich rasch.
»Seht Ihr, Asunawa«, sagte er beinahe fröhlich, »die Kinder folgen meinen Befehlen und dem Gesetz, und nicht den Launen eines Zweiflers.« Er streckte den Helm aus, damit ihn ihm jemand abnahm. »Ich streite Eure lächerliche Anschuldigung ab, junger Galad, und ramme Euch Eure üble Lüge zwischen die Zähne. Denn es ist eine Lüge, bestenfalls das verrückte Nachplappern eines bösartigen Gerüchts von Schattenfreunden oder anderen, die den Kindern des Lichts schaden wollen. Aber was nun auch zutrifft, Ihr habt mich auf die schäbigste Weise verleumdet, also akzeptiere ich Eure Herausforderung zum Urteil im Schein des Lichts, bei dem ich Euch töten werde.« Das entsprach nur so gerade eben dem Ritual, aber er hatte die Anschuldigung bestritten und die Herausforderung angenommen; es würde reichen.
Valda wurde sich bewusst, dass er noch immer den Helm in der ausgestreckten Hand hielt; er schaute eines der abgesessenen Kinder stirnrunzelnd an, einen schlanken Saldaeaner namens Kashgar, bis der Mann vortrat, um ihm den Helm abzunehmen. Kashgar war bloß Unterleutnant, der trotz einer großen Hakennase und einem dichten, gezwirbelten Schnurrbart jungenhaft aussah, aber er bewegte sich mit offenkundigem Zögern, und Valdas Stimme nahm einen giftigeren Unterton an, während er den Schwertgürtel abschnallte und auch ihn hinhielt.
»Passt gut darauf auf, Kashgar. Das ist eine Klinge mit Reiherzeichen.« Er löste den Seidenumhang und ließ ihn auf das Hofpflaster fallen, gefolgt von dem Wappenrock, dann wandten sich seine Hände den Schnallen der Rüstung zu. Es hatte den Anschein, dass er nicht herausfinden wollte, ob auch andere zögern würden, ihm zu helfen. Er verzog keine Miene, aber wütend blickende Augen versprachen Vergeltung für mehr Leute als nur Galad. »Wie ich gehört habe, will Eure Schwester Aes Sedai werden, Damodred. Vielleicht verstehe ich ganz genau, wo das herrührt. Es gab mal eine Zeit, da hätte ich Euren Tod bedauert, aber heute nicht. Vielleicht schicke ich Euren Kopf der Weißen Burg, damit die Hexen das Ergebnis ihres Plans sehen können.«
Dain nahm mit besorgtem Gesicht Galads Umhang und Schwertgürtel und trat dabei von einem Fuß auf den anderen, als wäre er sich unsicher, das Richtige zu tun. Nun, er hatte seine Chance gehabt, und jetzt war es zu spät, die Meinung zu ändern. Byar legte eine panzerbehandschuhte Hand auf Galads Schulter und beugte sich nahe an ihn heran.
»Er schlägt gern nach Armen und Beinen«, sagte er mit leiser Stimme und warf Valda verstohlene Blicke über die Schulter zu. Den Blicken nach zu urteilen, stand da eine unerledigte Sache zwischen ihnen. Andererseits unterschied sich seine finstere Miene nur wenig von seinem üblichen Gesichtsausdruck. »Er lässt seinen Gegner gern ausbluten, bis der Mann keinen Schritt mehr machen oder das Schwert heben kann. Dann setzt er zum Todesstoß an. Er ist schneller als eine Schlange, aber wird am häufigsten nach Eurer linken Seite schlagen und das auch von Euch erwarten.«
Galad nickte. Viele Rechtshänder fanden es einfacher, auf diese Weise zuzuschlagen, aber für einen Schwertmeister erschien das eine seltsame Schwäche. Gareth Bryne und Henre Haslin hatten ihn abwechselnd mit der Hand üben lassen, die den Griff oben festhielt, damit er sich das nicht angewöhnte. Seltsam war auch, dass Valda einen Kampf auf diese Weise in die Länge ziehen wollte. Ihm hatte man beigebracht, die Sache so schnell und sauber wie möglich zu einem Ende zu bringen.
»Danke«, erwiderte er, und der Mann mit den eingefallenen Wangen schnitt eine mürrische Grimasse. Byar war alles andere als sympathisch, und er schien außer dem jungen Bornhaid auch keinen der Männer zu mögen. Von den dreien war seine Anwesenheit die größte Überraschung, aber er war da, und das zählte zu seinen Gunsten.
Valda stand in seinem goldbesetzten weißen Mantel in der Hofmitte, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und drehte sich in einem engen Kreis. »Jeder zurück an die Hauswand«, kommandierte er laut. Hufe scharrten über den Stein, als die Kinder und die Stallburschen gehorchten. Asunawa und seine Zweifler schnappten sich die Zügel ihrer Tiere, dem Hochinquisitor stand die kalte Wut ins Gesicht geschrieben.
»Haltet die Mitte frei. Der junge Damodred und ich werden hier aufeinander…«
»Vergebt mir, Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Trom mit einer leichten Verbeugung, »aber da Ihr an dem Urteil beteiligt seid, könnt Ihr nicht der Schiedsmann sein. Abgesehen vom Hochinquisitor, der vom Gesetz her nicht teilnehmen darf, habe ich nach Euch hier den höchsten Rang inne, also mit Eurer Erlaubnis…« Valda starrte ihn finster an, dann stolzierte er an Kashgars Seite, die Arme über der Brust verschränkt. Er wippte demonstrativ mit dem Fuß, voller Ungeduld, dass es endlich losging.
Galad seufzte. Wenn sich der Tag gegen ihn wandte, was als sicher erschien, würde sein Freund den mächtigsten Mann der Kinder zum Feind haben. Vermutlich wäre das Trom sowieso passiert, aber jetzt erst recht. »Behaltet sie im Auge«, sagte er zu Bornhaid und deutete mit dem Kopf auf die Zweifler, die sich in der Nähe des Tores auf ihren Pferden zusammengerottet hatten. Asunawas Untergebene umringten ihn noch immer wie Leibwächter; jeder Mann hatte die Hand auf den Schwertgriff gelegt.
»Warum? Nicht einmal Asunawa kann jetzt noch eingreifen. Das wäre gegen das Gesetz.«
Es fiel schwer, nicht erneut zu seufzen. Der junge Dain war viel länger Kind als er, und sein Vater hatte ihnen sein ganzes Leben lang gedient, aber der Mann schien weniger als er über die Kinder zu wissen. Für die Zweifler war das Gesetz das, was sie dazu machten. »Behaltet sie einfach im Auge.«
Trom stand in der Hofmitte, das gezogene Schwert hoch über den Kopf erhoben, die Klinge parallel zum Boden, und im Gegensatz zu Valda sprach er die Worte genau so, wie sie geschrieben standen. »Wir haben uns unter dem Licht hier versammelt, um Zeuge des Urteils im Schein des Lichts zu sein, das geheiligte Recht eines jeden Kindes des Lichts. Das Licht scheint auf die Wahrheit, und hier soll das Licht die Gerechtigkeit erhellen. Kein Mann soll sprechen außer dem, der das Recht dazu hat, und jedermann, der eingreifen will, soll auf der Stelle niedergestreckt werden. Hier wird im Schein des Lichts ein Mann Gerechtigkeit finden, der sein Leben dem Licht anvertraut, durch die Kraft seines Arms und den Willen des Lichts. Die Kombattanten werden sich jetzt unbewaffnet hier treffen, wo ich stehe«, fuhr er fort und senkte das Schwert, »und miteinander sprechen, sodass nur sie es hören können. Möge das Licht ihnen helfen, die nötigen Worte zu finden, um dies ohne Blutvergießen zu klären, denn wenn es ihnen nicht gelingt, muss eines der Kinder heute sterben, wird sein Name aus unseren Schriftrollen und die Erinnerung an ihn aus unserem Gedächtnis gestrichen. Beim Licht, so wird es geschehen.«
Während Trom zur Seite des Hofes ging, bewegte sich Valda in der Haltung ›Die Katze läuft‹ über den Hof auf die Mitte zu, ein arrogantes Schlendern. Er wusste, dass es keine Worte geben würde, die das Blutvergießen verhindern konnten. Für ihn hatte der Kampf bereits begonnen. Galad ging ganz normal zu ihm. Er war beinahe einen Kopf größer als Valda, aber sein Gegenüber hielt sich, als wäre er der Größere, der von seinem Sieg überzeugt war.
Diesmal drückte sein Lächeln pure Verachtung aus.
»Nichts zu sagen, Junge? Kein Wunder, bedenkt man, dass in einer Minute ein Schwertmeister dir den Kopf abschneiden wird. Aber bevor ich dich töte, möchte ich, dass du eines ganz genau weißt. Die Schlampe war bei bester Gesundheit, als ich sie das letzte Mal sah, und sollte sie jetzt tot sein, würde ich das bedauern.« Das Lächeln vertiefte sich, sowohl was die Heiterkeit betraf wie auch die Geringschätzung. »Sie war der beste Ritt meines Lebens, und ich hoffe, sie eines Tages wieder reiten zu können.«
Rotglühender Zorn schoss in Galad hoch, aber es gelang ihm mit einer großen Anstrengung, Valda den Rücken zuzukehren und wegzugehen. In seiner Vorstellungskraft nährte er mit seiner Wut bereits eine gedachte Flamme, so wie es ihm seine beiden Lehrer beigebracht hatten. Ein Mann, der im Zorn kämpfte, starb auch im Zorn. Als er den jungen Bornhaid erreichte, hatte er das gefunden, was Gareth und Henre als Einheit bezeichneten. In der Leere schwebend, zog er das Schwert aus der Scheide, das Bornhaid ihm anbot, und die leicht gekrümmte Klinge wurde ein Teil von ihm.
»Was hat er gesagt?«, wollte Dain wissen. »Euer Gesicht zeigte einen Augenblick lang mörderische Wut.«
Byar packte Dains Arm. »Lenkt ihn nicht ab«, murmelte er. Galad war nicht abgelenkt. Jedes Knarren des Sattelleders war klar und ausgeprägt, jedes hallende Huf stampfen auf dem Pflaster. Er konnte in drei Spannen Entfernung Fliegen so deutlich vorbeisummen hören, als wären sie direkt an seinem Ohr. Er glaubte beinahe, den Schlag ihrer Flügel sehen zu können. Er war eins mit den Fliegen, dem Hof, den beiden Männern. Sie waren alle ein Teil von ihm, und er konnte nicht von sich selbst abgelenkt werden.
Valda wartete damit, die Waffe zu ziehen, bis er sich auf der anderen Seite des Hofes umgedreht hatte, eine prahlerische Bewegung. Das Schwert verschwamm, als es in seiner linken Hand umherwirbelte und in seine rechte Hand hinübersprang, wo es ein weiteres rasendes Rad schlug, bevor es aufrecht und felsenfest in beiden Händen vor ihm aufragte. Er setzte sich in Bewegung, wieder in der Haltung ›Die Katze läuft‹.
Galad hob das Schwert und ging ihm entgegen, nahm ohne bewusst nachzudenken eine Schrittfolge ein, die vermutlich von seinem Geisteszustand beeinflusst war. Sie hieß Leere, und nur ein ausgebildetes Auge würde überhaupt erkennen, dass er nicht einfach so daherging. Nur ein Kennerauge würde bemerken, dass er sich in perfekter Übereinstimmung mit jedem Herzschlag bewegte. Valda hatte das mit dem Reiher gezeichnete Schwert nicht durch Begünstigung bekommen. Fünf Schwertmeister hatten seine Fertigkeiten beurteilt und ihm einstimmig den Titel verliehen. Das Urteil musste einstimmig sein. Die einzige andere Möglichkeit bestand darin, den Träger einer reihergezeichneten Klinge in einem fairen Kampf zu töten, Mann gegen Mann. Valda war damals jünger gewesen als Galad jetzt. Es spielte keine Rolle. Er konzentrierte sich nicht auf Valdas Tod. Er konzentrierte sich auf nichts. Aber er wollte Valdas Tod, und wenn er das Schwert in die Scheide schieben musste, die Klinge mit dem Reiherzeichen in seinem Fleisch willkommen heißen musste, um das zu erreichen. Er akzeptierte, dass es dazu kommen konnte.
Valda verschwendete keine Zeit. In dem Augenblick, in dem er in Reichweite war, blitzte die Klinge Galads Hals entgegen, als hätte der andere tatsächlich die Absicht, seinen Kopf in der ersten Minute zu erringen. Den niedrig hängenden Apfel pflücken. Darauf gab es mehrere Reaktionen, die alle durch hartes Üben in Instinkt verwandelt worden waren, aber Byars Warnung schwebte in den dunklen Tiefen seines Geistes, genau wie die Tatsache, dass Valda ihn genau davor gewarnt hatte. Ihn zweimal gewarnt hatte. Ohne nachzudenken wählte er eine andere Möglichkeit, trat zur Seite und nach vorn. Genau in dem Augenblick, in dem aus ›Den niedrig hängenden Apfel pflücken‹ ›Den Leopard liebkosen‹ wurde. Valdas Augen weiteten sich überrascht, als sein Hieb Galads linke Hüfte einen Fingerbreit verfehlte, und weiteten sich noch mehr, als ›Die Seide zur Seite schieben‹ seinem rechten Unterarm einen Schnitt zufügte, aber er wechselte so schnell zu ›Flug der Taube‹, dass Galad zurücktanzen musste, bevor die Klinge sich tief in ihn hineinbohrte, und er konnte den Angriff nur mühsam mit ›Eisvogel umkreist den Teich‹ abwehren.
Zurück und vor tanzten sie die Figuren, glitten in diese Richtung und dann in jene über das Steinpflaster. ›Eidechse im Dornbusch‹ begegnete dem ›Dreizackigen Blitz‹. ›Blatt im Wind‹ wehrte ›Aal unter den Lilienblättern‹ ab, und ›Zwei hoppelnde Hasen‹ traf auf ›Hummel küsst eine Rose‹. Vor und zurück so glatt, als würden sie die Figuren demonstrieren. Galad versuchte einen Angriff nach dem anderen, aber Valda war so schnell wie eine Schlange. ›Das Moorhuhn tanzt‹ kostete ihn eine oberflächliche Schramme an der linken Schulter, und ›Roter Falke fängt die Taube‹ eine weitere auf dem linken Arm, diesmal nur tiefer. ›Fluss des Lichts‹ hätte ihm den Arm abtrennen können, wäre er dem angewinkelten Schnitt nicht mit einem verzweifelt schnellen ›Regen im Sturmwind‹ begegnet. Vor und zurück, die Klingen blitzten unaufhörlich, erfüllten die Luft mit dem Klirren von Stahl auf Stahl.
Er hätte nicht zu sagen vermocht, wie lange sie kämpften.
Zeit hatte aufgehört zu existieren, es gab nur noch den Augenblick. Es hatte den Anschein, als bewegten sich Valda und er wie zwei Männer im Meer, deren Bewegungen vom Widerstand des Wassers verlangsamt wurden. Schweiß trat auf Valdas Gesicht, aber er lächelte selbstbewusst, scheinbar unberührt von dem Schnitt auf seinem Unterarm, noch immer die einzige Verletzung, die er davongetragen hatte. Galad konnte fühlen, wie auch ihm der Schweiß das Gesicht hinunterlief, in seinen Augen brannte. Und das Blut rann seinen Arm herab. Diese Wunden würden ihn schließlich langsamer machen, hatten es vielleicht schon getan, aber er hatte noch zwei weitere am linken Oberschenkel davongetragen, und beide waren von ernsterer Natur. Der Fuß in seinem Stiefel war feucht vom Blut, und er konnte ein leichtes Hinken nicht unterdrücken, das mit der Zeit schlimmer werden würde. Wenn Valda sterben sollte, musste es bald geschehen.
Bewusst holte er tief Luft durch den offen stehenden Mund, dann noch einmal und noch einmal. Sollte Valda glauben, dass ihm der Atem ausging. Seine Klinge stach mit ›Die Nadel einfädeln‹ zu, auf Valdas linke Schulter gezielt und nicht so schnell, wie es hätte sein können. Sein Gegner parierte mühelos mit ›Flug der Schwalbe‹ und ging augenblicklich in ›Der Löwe springt‹ über. Dadurch trug er den dritten Schnitt am Oberschenkel davon; er wagte es nicht, in der Verteidigung schneller als beim Angriff zu sein.
Wieder griff er Valdas Schulter mit ›Die Nadel einfädeln‹ an, und immer wieder, während er die ganze Zeit keuchend nach Luft schnappte. Nur das Glück verhinderte, dass er bei dem Schlagabtausch keine weiteren Verletzungen davontrug. Oder vielleicht schien das Licht tatsächlich auf diesen Kampf.
Valdas Lächeln wurde breiter; der Mann glaubte, dass er am Ende seiner Kräfte, völlig erschöpft war. Als Galad zum fünften Mal ›Die Nadel einfädelte‹ und das viel zu langsam, hob der Gegner das Schwert zum ›Flug der Schwalbe‹, und das auf eine beinahe nachlässige Weise. Galad veränderte den Hieb, und ›Ernten der Gerste‹ fuhr Valda unterhalb des Rippenbogens quer über den Leib.
Einen Augenblick lang hatte es den Anschein, als hätte er gar nicht bemerkt, dass er getroffen worden war. Er machte einen Schritt, setzte zu einer Figur an, die möglicherweise ›Steine stürzen von der Felskante‹ hätte sein sollen. Dann weiteten sich seine Augen, und er taumelte, das Schwert entglitt seinen Händen und landete scheppernd auf den Steinen, während er in die Knie brach. Er griff nach dem gewaltigen Schnitt quer über seinem Körper, als wollte er versuchen, seine Eingeweide drinnen zu halten. Sein Mund öffnete sich, sein glasiger Blick richtete sich auf Galad. Was auch immer er sagen wollte, aus seinem Mund kam nur Blut und strömte ihm das Kinn herunter. Er kippte aufs Gesicht und regte sich nicht mehr.
Automatisch machte Galad eine ruckartige Bewegung mit der Klinge, um das Blut abzuschütteln, das ihre Spitze befleckte, dann beugte er sich langsam vor, um die letzten Tropfen an Valdas weißem Mantel abzuwischen. Die Schmerzen, die er ignoriert hatte, flammten jetzt auf. Seine linke Schulter und der Arm brannten; seine Hüfte schien in Flammen zu stehen. Sich aufzurichten war eine Anstrengung. Vielleicht stand er kürzer vor der Erschöpfung als gedacht. Wie lange hatten sie gekämpft? Er hatte geglaubt, er würde Zufriedenheit verspüren, wenn er seine Mutter gerächt hatte, aber da war nur Leere. Valdas Tod war nicht genug. Nichts würde genug sein, außer Morgase Trakand wieder lebend gegenüberzustehen.
Plötzlich wurde er sich eines rhythmischen Klatschens bewusst und schaute auf. Die Kinder hieben sich anerkennend auf die gepanzerte Schulter. Jeder Mann. Mit Ausnahme von Asunawa und den Zweiflern. Sie waren nirgendwo zu sehen.
Byar eilte mit einem kleinen Lederbeutel herbei und zog vorsichtig die Schnitte in Galads Ärmel auseinander. »Das wird genäht werden müssen«, murmelte er, »aber das kann warten.« Er kniete sich neben Galad, holte zusammengerollte Bandagen aus dem Beutel und fing an, sie um die Schnitte in seinem Oberschenkel zu binden. »Die müssen auch genäht werden, aber das hier wird verhindern, dass Ihr vorher verblutet.« Männer kamen heran, um zu gratulieren, die zu Fuß von vorn, die noch immer im Sattel von hinten. Keiner hatte einen Blick für die Leiche übrig mit Ausnahme von Kashgar, der Valdas Schwert an dem bereits blutverschmierten Mantel reinigte, bevor er es in die Scheide schob.
»Wo ist Asunawa hin?«, fragte Galad.
»Er ist in dem Augenblick aufgebrochen, in dem Ihr Valda den letzten Schnitt zugefügt habt«, erwiderte Dain unbehaglich. »Er wird zum Lager reiten, um Zweifler zu holen.«
»Er ist in die andere Richtung geritten, zur Grenze«, sagte jemand. Nassad lag direkt hinter der Grenze.
»Die Lordhauptmänner«, sagte Galad, und Trom nickte.
»Kein Kind würde zulassen, dass Euch die Zweifler für das verhaften, was hier geschehen ist, Damodred. Es sei denn, sein Lordhauptmann befiehlt es. Ich glaube, einige würden es befehlen.« Aufgebrachtes Gemurmel ertönte, Männer bestritten, dass sie so etwas zulassen würden, aber Trom brachte sie mit erhobenen Händen wieder etwas zur Ruhe. »Ihr wisst, dass das stimmt«, sagte er laut. »Alles andere wäre Meuterei.« Das rief Totenstille hervor. Bei den Kindern hatte es noch nie eine Meuterei gegeben. Es war möglich, dass noch niemals zuvor etwas dem so nahe gekommen war wie ihre Aktion vorhin. »Ich werde Euch einen Entlassungsbrief aus den Kindern schreiben, Galad. Möglicherweise wird trotzdem jemand Eure Verhaftung befehlen, aber sie müssen Euch erst finden, und Ihr werdet einen guten Vorsprung haben. Asunawa wird einen halben Tag brauchen, um die anderen Lordhauptmänner zu erreichen, und wer sich von ihnen auf seine Seite schlägt, kann vor Einbruch der Nacht nicht da sein.«
Galad schüttelte ärgerlich den Kopf. Trom hatte Recht, aber das war alles nicht richtig. Zu viel war nicht mehr richtig. »Wollt Ihr auch Entlassungsbriefe für alle anderen Männer schreiben? Ihr wisst, dass Asunawa eine Möglichkeit finden wird, auch sie anzuklagen. Wollt Ihr Entlassungsbriefe für die Kinder schreiben, die den Seanchanern nicht helfen wollen, unser Land im Namen eines Mannes zu erobern, der mehr als tausend Jahre tot ist?« Mehrere Taraboner wechselten Blicke und nickten, genau wie andere auch, darunter nicht nur Amadicianer. »Was ist mit den Männern, die die Festung des Lichts verteidigt haben? Wird sie ein Entlassungsbrief von ihren Ketten befreien oder die Seanchaner daran hindern, sie wie Tiere schuften zu lassen?« Erneut gab es wütendes Gemurmel; diese Gefangenen waren für alle Kinder ein wunder Punkt.
Trom musterte ihn mit vor der Brust verschränkten Armen, als würde er ihn das erste Mal sehen. »Was würdet Ihr denn tun?«
»Die Kinder jemanden finden lassen, egal wen, der die Seanchaner bekämpft, und sich mit ihm verbünden. Dafür sorgen, dass die Kinder des Lichts in die Letzte Schlacht reiten, statt den Seanchanern zu helfen, Aiel zu jagen und unsere Nationen zu unterjochen.«
»Egal wen?«, sagte ein Cairhiener namens Doirellin mit schriller Stimme. Niemand machte sich über Doirellins Stimme lustig. Klein geraten war er fast so breit wie hoch, er trug fast keine Unze Fett am Körper und konnte sich Walnüsse zwischen alle Finger stecken und sie knacken, indem er die Fäuste ballte. »Das könnte Aes Sedai bedeuten.«
»Wenn Ihr bei Tarmon Gai’don dabei sein wollt, werdet Ihr an der Seite der Aes Sedai kämpfen müssen«, sagte Galad leise. Bornhaid verzog das Gesicht zu einer Grimasse, und er war da nicht der Einzige. Byar richtete sich zur Hälfte auf, bevor er sich wieder bückte und mit der Arbeit weitermachte. Aber niemand sprach dagegen. Doirellin nickte langsam, als hätte er vorher noch nie darüber nachgedacht.
»Ich halte nicht mehr von den Hexen als jeder andere Mann«, sagte Byar schließlich, ohne den Kopf von der Arbeit zu heben. Blut sickerte durch die Verbände, noch während er sie anlegte. »Aber in den Regeln steht: Um den Raben zu bekämpfen, darf man sich mit der Schlange verbünden, bis die Schlacht beendet ist.« Viele der Männer nickten. Der Rabe stand für den Schatten, aber jeder wusste, dass das auch das Kaiserliche Siegel der Seanchaner war.
»Ich kämpfe an der Seite der Hexen«, sagte ein schlanker Taraboner, »sogar an der Seite dieser Asha’man, von denen wir gehört haben, falls sie die Seanchaner bekämpfen. Oder in der Letzen Schlacht. Und ich trete gegen jeden Mann an, der sagt, dass ich da falsch liege.« Er warf finstere Blicke um sich, als wäre er bereit, auf der Stelle damit anzufangen.
»Es scheint, als würde sich alles so ergeben, wie Ihr wünscht, mein Kommandierender Lordhauptmann«, sagte Trom und machte eine viel tiefere Verbeugung als für Valda.
»Zumindest bis zu einem gewissen Punkt. Wer weiß schon, was die nächste Stunde bringt, geschweige denn der nächste Tag?«
Galad überraschte sich selbst, indem er lachte. Seit gestern war er davon überzeugt gewesen, nie wieder zu lachen. »Das ist ein schlechter Scherz, Trom.«
»So lautet das Gesetz. Und Valda hat es verkündet. Davon abgesehen habt Ihr den Mut gehabt, das auszusprechen, was viele dachten, die aber den Mund gehalten haben, unter anderem auch ich. Ihr habt einen besseren Plan für die Kinder als alles, was ich gehört habe, seit Pedron Niall gestorben ist.«
»Es ist trotzdem ein schlechter Scherz.« Wie auch immer das Gesetz lautete, diesen Teil hatte man seit dem Ende des Hundertjährigen Krieges ignoriert.
»Wir werden sehen, was die Kinder dazu zu sagen haben«, erwiderte Trom mit einem breiten Grinsen, »wenn Ihr sie fragt, ob sie uns in Tarmon Gai’don folgen, um an der Seite der Hexen zu kämpfen.«
Wieder hieben sich Männer auf die Schulter, lauter als für seinen Sieg. Zuerst waren es nur wenige, dann stimmten mehr mit ein, bis jeder Mann Trom eingeschlossen seine Zustimmung bekundete. Jeder Mann außer Kashgar. Der Saldaeaner machte eine tiefe Verbeugung und hielt die mit dem Reiher gezeichnete Klinge in ihrer Scheide ausgestreckt hin.
»Die gehört jetzt Euch, mein Kommandierender Lordhauptmann.«
Galad seufzte. Er hoffte, dass dieser Unsinn aufhören würde, bevor sie das Lager erreichten. Die Rückkehr allein war dumm genug, ohne einen derartigen Anspruch geltend zu machen. Vermutlich würde man ihn auch ohne einen solchen Versuch in Ketten legen oder gleich zu Tode prügeln. Aber er musste gehen. Es war das einzig Richtige.
Das Licht an diesem kühlen Frühlingstag wurde stärker, auch wenn die Sonne noch kein Schimmern am Horizont war, und Rodel Ituralde hob sein mit einer Goldfassung versehenes Fernglas, um das Dorf unterhalb des Hügels zu studieren, auf dem er sich mit seinem braunen Wallach befand, tief im Herzen Tarabons. Er hasste es, darauf warten zu müssen, dass es genug Licht zum Sehen gab. Er achtete darauf, dass die Linse des Fernglases nicht verräterisch funkelte, stützte das Ende der langen Röhre auf dem Daumen ab und beschattete es mit der gewölbten Hand. Zu dieser Stunde war die Aufmerksamkeit der Wächter am geringsten, da sie erleichtert waren, dass die Dunkelheit, in der sich ein Gegner anschleichen konnte, nun endlich wich. Aber seit der Überquerung der Ebene von Almoth hatte er Geschichten von Aiel-Überfällen ins Innere von Tarabon gehört. Wäre er ein Wachtposten und die Aiel möglicherweise in der Nähe, hätte er sich ein zusätzliches Paar Augen wachsen lassen. Seltsam, dass das Land wegen dieser Aiel nicht wie ein getretener Ameisenhaufen in Aufruhr war. Seltsam und vielleicht unheilverkündend. Es liefen viele Bewaffnete herum, Seanchaner und Taraboner, die ihnen die Treue geschworen hatten, und Horden von Seanchanern, die Bauernhöfe und sogar Dörfer erbauten, aber so weit zu kommen war fast schon zu leicht gewesen. Heute war Schluss mit dieser Leichtigkeit.
Hinter ihm stampften Pferde ungeduldig zwischen den Bäumen. Die hundert Domani unter den Männern, die ihn begleiteten, verhielten sich still, wenn man einmal von dem gelegentlichen Ächzen des Sattelleders absah, falls ein Mann sein Gewicht verlagerte, aber er konnte ihre Anspannung fühlen. Er wünschte, er hätte doppelt so viel. Fünfmal so viel. Am Anfang war es als Geste des guten Willens erschienen, dass er selbst mit einer Streitmacht ritt, die sich hauptsächlich aus Tarabonern zusammensetzte. Er war sich nicht länger sicher, ob das die richtige Entscheidung gewesen war. Aber für Selbstvorwürfe war es zu spät.
Serana, auf dem halben Weg zwischen Elmora und der Grenze zu Amadicia, erhob sich in einem flachen grasigen Tal, umgeben von bewaldeten Hügeln, und in jeder Richtung war es mindestens eine Meile bis zu den Bäumen, abgesehen von der Stelle, an der er sich befand. Ein kleiner, von Schilf umgebener See speiste die beiden breiten Flüsse, die zwischen ihm und dem Dorf lagen. Kein Ort, den man bei Tageslicht überraschen konnte. Er war schon vor dem Eintreffen der Seanchaner von beträchtlicher Größe gewesen, ein Haltepunkt für die Kaufmannskarawanen nach Osten, mit über einem Dutzend Herbergen und beinahe genauso vielen Straßen. Dorfbewohner gingen bereits ihrem Tagewerk nach, Frauen balancierten Körbe auf dem Kopf, während sie die Dorfstraßen entlangeilten; andere wiederum entzündeten die Feuer unter ihren Waschkesseln hinter ihren Häusern. Männer gingen zu ihren Werkstätten, blieben manchmal stehen, um ein paar Worte zu wechseln. Ein ganz normaler Morgen, an dem Kinder bereits umherrannten und spielten, Reifen rollen ließen und sich Bohnensäckchen zuwarfen. Aus einer Schmiede ertönte Klirren, von der Entfernung gedämpft. Der Rauch von den Frühstücksfeuern verwehte über den Schornsteinen.
Soweit er sehen konnte, schenkte in Serana niemand den drei Wächterpaaren, deren Brustpanzer mit hellen Streifen versehen waren, einen zweiten Blick; sie führten ihre Pferde vielleicht eine Viertelmeile vor und wieder zurück. Der See, der beträchtlich breiter als das Dorf war, schottete die vierte Seite effektiv ab. Es hatte den Anschein, als wären die Wachen eine alltägliche Sache geworden, das galt auch für das seanchanische Lager, das Serana auf mehr als die doppelte Größe hatte anschwellen lassen.
Ituralde schüttelte leicht den Kopf. Er hätte das Lager nicht so nahe am Dorf aufgebaut. Die Häuserdächer von Serana bestanden alle aus Ziegeln, aus roten, grünen oder blauen, aber die Gebäude selbst waren aus Holz; ein Feuer im Dorf konnte viel zu schnell auf das Lager übergreifen, in dem Segeltuchzelte von den Ausmaßen großer Häuser die kleineren Zelte, in denen die Männer schliefen, bei weitem an Zahl übertrafen, und große Stapel aus Fässern und Kisten bedeckten zweimal so viel Grund als alle Zelte zusammen. Dorfbewohner mit flinken Fingern fern zu halten würde so gut wie unmöglich sein. In jedem Dorf gab es ein paar schräge Vögel, die alles stahlen, von dem sie glaubten, damit durchkommen zu können, und selbst ehrliche Männer konnten durch die Nähe in Versuchung geführt werden. Der Standort bedeutete auch eine kürzere Distanz, um Wasser aus dem See zu holen, wie auch einen kürzeren Weg für die Soldaten, um sich in ihrer dienstfreien Zeit im Dorf mit Ale und Wein zu versorgen, es deutete alles auf einen Kommandanten mit lascher Disziplin hin.
Lasche Disziplin oder nicht, auch im Lager gab es Aktivitäten. Die Dienststunden der Soldaten ließen die Arbeitsstunden eines Bauern gemütlich erscheinen. Männer kontrollierten die Tiere an den langen Pferdeleinen, Bannerträger inspizierten in Reihen angetretene Soldaten, Hunderte Arbeiter ent- oder beluden Wagen, Stallburschen schirrten Gespanne an. An jedem Tag trafen Wagenzüge im Lager ein, aus dem Osten und dem Westen, und andere reisten ab. Er bewunderte die Effizienz der Seanchaner, dafür zu sorgen, dass ihre Soldaten das hatten, was sie brauchten, und zwar wann und wo sie es brauchten. Drachenverschworene hier in Tarabon, hauptsächlich Männer mit mürrischen Gesichtern, die glaubten, dass die Seanchaner ihren Traum zerstört hatten, waren bereit gewesen, ihm alles zu erzählen, was sie wussten, wenn sie nicht sogar mit ihm ritten. Das Lager enthielt alles von Stiefeln bis ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^ Schwertern, Pfeile und Hufeisen und Feldflaschen, genug, um Tausende von Männern mit allem auszurüsten. Sie würden seinen Verlust spüren.
Er senkte das Fernglas, um eine grüne summende Fliege vom Gesicht zu verscheuchen. Sie wurde fast augenblicklich von zwei anderen ersetzt. In Tarabon wimmelte es von Fliegen. Kamen sie hier immer so früh heraus? Wenn er wieder in Arad Doman war, würden sie gerade erst schlüpfen. Falls er wieder dort hinkam. Nein, keine schlechten Gedanken. Wenn er wieder da war. Tamsin würde sonst verstimmt sein, und es war selten klug, sie zu sehr zu verstimmen.
Die meisten Männer da unten waren bezahlte Arbeiter, keine Soldaten, und nur hundert oder dergleichen waren Seanchaner. Allerdings war am Vortag gegen Mittag eine Kompanie aus dreihundert Tarabonern in streifenbemalter Rüstung ins Lager geritten und hatte ihre Zahl mehr als verdoppelt und ihn gezwungen, seine Pläne zu ändern. Gegen Sonnenuntergang war eine weitere, genauso große Gruppe Taraboner eingetroffen, gerade rechtzeitig, um zu essen und sich dort schlafen zu legen, wo immer gerade Platz für ihre Decken war. Kerzen und Lampenöl waren Luxus für Soldaten. Im Lager befand sich auch eine dieser angeleinten Frauen, eine Damane. Er wünschte, er hätte warten können, bis sie das Lager wieder verlassen hatte — sie mussten sie anderswo hinbringen; was für einen Nutzen hatte eine Damane in einem Versorgungslager? —, aber heute war der festgesetzte Tag, und er konnte es sich nicht leisten, den Tarabonern Gründe für die Behauptung zu geben, er würde sich zurückhalten. Manchen würde jeder Grund recht sein, ihrer eigenen Wege zu gehen. Er wusste, dass sie ihm nicht viel länger folgen würden, und doch musste er so viele wie möglich noch ein paar Tage länger halten.
Er wandte den Blick nach Westen, machte sich aber nicht die Mühe, wieder nach dem Fernglas zu greifen.
»Jetzt«, flüsterte er, und als hätten sie seinen Befehl gehört, galoppierten zweihundert Männer mit Kettenschleiern vor den Gesichtern zwischen den Bäumen hervor. Und hielten sofort wieder an, drängelten sich um ihre Plätze, fuchtelten mit den mit Stahlspitzen versehenen Lanzen herum, während die Anführer vor ihnen hin- und herritten und wild mit den Armen herumfuchtelten im offensichtlichen Bemühen, einen Anschein von Ordnung herzustellen.
Auf diese Distanz hätte Ituralde nicht einmal mit dem Fernglas die Gesichter zu erkennen vermocht, aber er konnte sich die Wut auf Torney Lanasiets Gesicht vorstellen, diese Scharade zu spielen. Der stämmige Drachenverschworene hatte das brennende Verlangen, gegen die Seanchaner zu kämpfen. Egal, welche. Es war schwer gefallen, ihn davon abzuhalten, an dem Tag zuzuschlagen, an dem sie die Grenze überquert hatten. Gestern war er sichtlich außer sich vor Freude gewesen, endlich die verhassten Streifen vom Brustharnisch abkratzen zu können, die Loyalität zu den Seanchanern verkündeten. Wie dem auch sei, bis jetzt gehorchte er seinen Befehlen aufs Wort.
Als die Lanasiet nächsten Wachtposten ihre Pferde drehten, um ins Dorf und Lager zu eilen, wandte Ituralde seine Aufmerksamkeit wieder in diese Richtung und hob erneut das Fernglas. Die Wachtposten würden erkennen, dass ihre Warnung überflüssig war. Jede Bewegung hatte aufgehört. Ein paar Männer zeigten auf die Reiter auf der anderen Seite des Dorfes, während der Rest sie einfach nur anzustarren schien, Soldaten wie Arbeiter. Das Letzte, was sie erwarteten, waren Plünderer. Ob es nun Überfälle der Aiel gab oder nicht, die Seanchaner betrachteten Tarabon als ihr Eigentum, und das zu Recht. Ein schneller Blick auf das Dorf zeigte Menschen auf der Straße, die in Richtung der seltsamen Reiter starrten. Auch sie hatten keine Plünderer erwartet. Die Seanchaner hatten offensichtlich Recht mit ihrer Ansicht über die Besitzverhältnisse, eine Meinung, die er in absehbarer Zukunft keinem Taraboner sagen würde.
Aber bei gut ausgebildeten Männern konnte eine Überraschung nur eine gewisse Zeit andauern. Im Lager rannten Soldaten zu ihren Pferden, von denen viele noch ungesattelt waren, obwohl die Pferdeknechte angefangen hatten, so schnell zu arbeiten, wie sie konnten. Etwa achtzig seanchanische Fußsoldaten, Bogenschützen, formierten sich zu Rängen und liefen durch Serana. Nach dem Beweis, dass da tatsächlich eine Bedrohung war, fingen die Leute an, die kleineren Kinder hochzureißen und die älteren auf die hoffentliche Sicherheit der Häuser zuzutreiben. Nur wenige Augenblicke später waren die Straßen leer bis auf die herbeieilenden Bogenschützen in ihren lackierten Rüstungen mit den seltsamen Helmen.
Ituralde richtete das Fernglas auf Lanasiet und entdeckte, dass er seine Reihe aus Reitern antrieb. »Warte«, knurrte er.
»Warte.«
Wieder hatte es den Anschein, als hätte der Taraboner seinen Befehl gehört, denn er hob endlich die Hand, um seine Männer anzuhalten. Der hitzköpfige Narr sollte fast eine Meile weit weg sein, am Rand der Bäume, in scheinbarer Unordnung, leicht zu vertreiben, aber eine halbe würde reichen müssen. Er unterdrückte den Drang, den roten Rubin an seinem linken Ohr zu berühren. Die Schlacht hatte jetzt begonnen, und in der Schlacht musste man denen, die einem folgten, den Glauben einflößen, dass man vollkommen kühl war, einen nichts berührte. Dass man einen zögernden Verbündeten am liebsten nicht hätte niederschlagen wollen. Gefühle schienen von einem Kommandanten auf seine Männer überzugehen, und wütende Männer benahmen sich dumm, ließen sich umbringen und verloren Schlachten.
Er berührte den halbmondförmigen Schönheitsflecken auf seiner Wange — an einem Tag wie heute sollte ein Mann seinen besten Anblick präsentieren — und nahm langsame, genau kalkulierte Atemzüge, bis er überzeugt war, dass er innerlich genauso kühl war, wie er nach außen hin wirkte, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Lager zu. Dort waren die meisten der Taraboner mittlerweile aufgesessen, aber sie warteten darauf, dass die etwa zwanzig Seanchaner, die von einem hochgewachsenen Burschen mit einer einzelnen dünnen Feder auf seinem seltsamen Helm angeführt wurden, ins Dorf ritten, bevor sie sich ihnen anschlossen; die Nachzügler vom Vortag bildeten die Nachhut.
Ituralde musterte die Gestalt an der Spitze der Reihe, beobachtete sie durch die Lücken zwischen den Häusern. Eine einzelne Feder würde einen Leutnant oder vielleicht einen Unterleutnant auszeichnen. Was möglicherweise einen bartlosen Jüngling bei seinem ersten Kommando bedeuten konnte oder einen erfahrenen Veteran, der einem beim ersten Fehler den Kopf abschlug. Seltsamerweise trieb die Damane, die anhand der glitzernden silbernen Leine zu erkennen war, die sie mit einer Frau auf einem anderen Pferd verband, ihr Pferd genauso hart an wie alle anderen. Seine sämtlichen Informationen besagten, dass Damane Gefangene waren, aber sie erschien genauso eifrig wie die andere Frau, die Sul’dam. Vielleicht…
Plötzlich stockte ihm der Atem, und sämtliche Gedanken an die Damane verschwanden. Da waren noch immer Leute auf der Straße, sieben oder acht Männer und Frauen, die in einer dicht gedrängten Gruppe vor der herangaloppierenden Reihe hergingen und nicht zu hören schienen, dass sie hinter ihnen herandonnerte. Den Seanchanern blieb keine Zeit anzuhalten, selbst wenn sie es gewollt hätten — und sie hatten gute Gründe, es auch nicht zu versuchen, befand sich vor ihnen doch der Feind —, aber es hatte den Anschein, als würden die Hände des großen Burschen an seinen Zügeln nicht einmal zucken, als er und der Rest die Leute einfach niederritten. Also ein Veteran. Ituralde murmelte ein Gebet für die Toten und senkte das Fernglas. Was als Nächstes geschah, sah man sich besser ohne an.
Zweihundert Schritte jenseits des Dorfes, wo die Bogenschützen bereits stehen geblieben waren und mit eingelegten Pfeilen warteten, fing der Offizier an, seine Befehle zu geben. Er winkte die Taraboner hinter ihm in verschiedene Richtungen, dann drehte er sich um und betrachtete Lanasiet durch ein Fernglas. Sonnenlicht spiegelte sich auf der Röhre. Die Sonne ging auf. Die Taraboner teilten sich geschickt auf, Lanzenspitzen glitzerten und kippten im gleichen Winkel, disziplinierte Männer schlossen sich zu beiden Seiten der Bogenschützen zu geordneten Rängen zusammen.
Der Offizier beugte sich zur Seite, um mit der Sul’dam zu sprechen. Wenn er sie und die Damane jetzt einsetzte, konnte sich das noch immer in eine Katastrophe verwandeln. Natürlich konnte es das auch, wenn er es nicht tat. Die letzten Taraboner — jene, die spät eingetroffen waren — zogen sich fünfzig Schritte hinter den anderen zu einer dünnen Linie auseinander, stießen die Lanzen mit den Spitzen voran in den Boden und zogen aus den hinter den Sätteln befestigten Köchern ihre Reiterbogen. Lanasiet, der verdammte Narr, ließ seine Männer vorwärts galoppieren.
Ituralde drehte den Kopf kurz und sprach laut genug, dass die Männer hinter ihm es hören konnten. »Seid bereit.« Sattelleder ächzte, als Männer nach den Zügeln griffen. Dann murmelte er ein weiteres Gebet für die Toten und flüsterte: »Jetzt.«
Die dreihundert Taraboner in der lang gezogenen Reihe, seine Taraboner, hoben wie ein Mann ihre Bögen und schössen. Er brauchte das Fernglas nicht, um sehen zu können, wie die Sul’dam, die Damane und der Offizier plötzlich mit Pfeilen gespickt waren. Sie wurden alle von beinahe einem Dutzend Treffern förmlich aus den Sätteln gerissen. Dieser Befehl hatte ihm einen Stich versetzt, aber die Frauen waren die gefährlichsten Gegner auf dem Schlachtfeld. Der Rest der Salve mähte die meisten der Bogenschützen nieder und leerte Sättel, und noch während Männer auf dem Boden landeten, flog eine zweite Salve und machte die letzten Bogenschützen nieder und leerte noch mehr Sättel.
Völlig überrascht versuchten die seanchantreuen Taraboner zu kämpfen. Einige von denen, die noch im Sattel saßen, rissen die Pferde herum und senkten die Lanzen, um ihren Angreifern entgegenzustürmen. Andere, möglicherweise von der Irrationalität ergriffen, die Männer in einer Schlacht heimsuchen konnte, ließen die Lanzen fallen und versuchten, die Köcher ihrer Reiterbögen zu öffnen. Aber eine dritte Salve peitschte auf sie herab, keilförmige Pfeile durchschlugen auf diese Distanz Brustpanzer, und plötzlich schienen die Überlebenden zu begreifen, dass sie Überlebende waren. Die meisten ihrer Kameraden lagen noch immer am Boden oder versuchten sich von zwei oder drei Pfeilen durchbohrt auf die Beine zu kämpfen. Die, die noch im Sattel saßen, waren ihren Gegnern zahlenmäßig unterlegen. Ein paar Männer zogen ihre Pferde herum, und blitzartig floh der Haufen nach Süden, verfolgt von einer letzten Pfeilsalve, die noch mehr niederstreckte.
»Aufhören«, murmelte Ituralde. »Hört auf.«
Eine Hand voll der berittenen Bogenschützen schoss noch einmal, aber der Rest hielt sich klugerweise zurück. Sie hätten noch ein paar mehr töten können, bevor der Feind ganz außer Reichweite war, aber diese Gruppe war besiegt, und es würde nicht lange dauern, und sie würden jeden Pfeil brauchen. Vernünftigerweise galoppierte keiner von ihnen hinterher.
Von Lanasiet konnte man das nicht behaupten. Mit wehenden Umhängen rasten er und seine Zweihundert den Flüchtenden hinterher. Ituralde stellte sich vor, sie bellen hören zu können, Jäger auf der Spur der davonlaufenden Beute.
»Ich glaube, Lanasiet werden wir nicht mehr zu sehen bekommen, mein Lord«, sagte Jaalam und zügelte seinen Grauen an Ituraldes Seite, der bloß mit den Schultern zuckte.
»Vielleicht, mein junger Freund. Vielleicht kommt er auch wieder zu Verstand. Ich habe sowieso nicht geglaubt, dass die Taraboner mit uns nach Arad Doman zurückkehren. Ihr?«
»Nein, mein Lord«, erwiderte der größere Mann, »aber ich habe geglaubt, dass seine Ehre den ersten Kampf überstehen würde.«
Ituralde hob das Fernglas, um Lanasiet zu betrachten, der noch immer hart galoppierte. Der Mann war weg, und es war unwahrscheinlich, dass er wieder zu Sinnen kam, die er nicht besaß. Ein Drittel seiner Streitmacht so sicher verloren, als hätte die Damane sie getötet. Er hatte mit ein paar Tagen mehr gerechnet. Er würde seine Pläne wieder ändern müssen, sich vielleicht ein anderes nächstes Ziel aussuchen müssen.
Er verdrängte Lanasiet aus seinen Gedanken, schwenkte das Fernglas zu der Stelle, an der man die Menschen niedergeritten hatte, und grunzte überrascht. Dort lagen keine zertrampelten Leichen. Freunde und Nachbarn mussten gekommen sein und sie weggetragen haben, obwohl das bei einer Schlacht am Dorfrand so wahrscheinlich war, als wären sie nach dem Durchritt der Pferde wieder aufgestanden und weggegangen.
»Es ist Zeit, dieses schöne seanchanische Lager niederzubrennen«, sagte er. Er schob das Fernglas in das am Sattel festgebundene Lederfutteral, setzte den Helm auf und trieb Geruhsam mit den Hacken den Hügel hinunter, gefolgt von Jaalam und den anderen in einer Zweierreihe. Furchen von Bauernkarren markierten eine Furt in dem östlichen Strom.
»Und, Jaalam, schickt ein paar Männer, sie sollen die Einwohner dazu anhalten, das auszuräumen, was sie retten wollen. Ratet ihnen, in den Häusern anzufangen, die dem Lager am nächsten stehen.« Wo sich Feuer in eine Richtung ausbreiten konnte, konnte es das auch in eine andere, und vermutlich würde es das auch tun.
In Wahrheit hatte er bereits einen wichtigen Brand gelegt.
Zumindest die erste Glut entfacht. Wenn das Licht auf ihn leuchtete, wenn niemand durch den Würgegriff der Seanchaner auf Tarabon vom Eifer oder von der Verzweiflung überwältigt worden war, wenn niemand dem Missgeschick zum Opfer gefallen war, das die besten Pläne ruinieren konnte, dann würden in ganz Tarabon zwanzigtausend Männer solche Schläge ausgeteilt haben oder sie noch austeilen, bevor der Tag vorüber war. Und morgen würden sie es wieder. Jetzt musste er nur noch den Rückweg durch vierhundert Meilen Tarabon erkämpfen, die tarabonischen Drachenverschworenen loswerden und seine eigenen Männer einsammein und dann die Ebene von Almoth überqueren. Wenn das Licht auf ihn leuchtete, würde diese Feuersbrunst die Seanchaner genug versengen, dass sie wütend hinter ihm herjagten. Rasend vor Wut, wie er hoffte. So würden sie kopfüber in die Falle rennen, die er aufgestellt hatte, bevor sie überhaupt begriffen, wie ihnen geschah. Folgten sie ihm nicht, hatte er zumindest seine Heimat von den Tarabonern befreit und die domanischen Drachenverschworenen durch Eide dazu gebracht, für den König zu kämpfen statt gegen ihn. Und wenn sie die Falle erkannten…
Ituralde ritt den Hügel hinunter und lächelte. Wenn sie die Falle erkannten, hatte er bereits einen anderen Plan in Bewegung gesetzt, und dahinter einen weiteren. Er plante immer voraus, plante für jede Eventualität, die er sich vorstellen konnte, vielleicht ausgenommen, dass der Wiedergeborene Drache plötzlich genau vor ihm erschien. Er war der Ansicht, dass die Pläne, die er hatte, für den Moment ausreichten.
Hochlady Suroth Sabelle Meldarath lag wach auf ihrem Bett und starrte die Decke an. Der Mond war untergegangen, und die dreibögigen Fenster, die auf den Palastgarten hinausschauten, waren dunkel, aber ihre Augen hatten sich soweit daran gewöhnt, dass sie zumindest die Umrisse der aufwändig bemalten Stuckarbeiten erkennen konnte. Die Dämmerung war keine zwei Stunden weit entfernt, und doch hatte sie nicht geschlafen. Seit Tuons Verschwinden hatte sie die meisten Nächte wachgelegen und nur dann geschlafen, wenn die Erschöpfung ihr die Augen zufallen ließ, wie sehr sie sich auch bemühte, sie offen zu halten. Schlaf brachte Albträume, die sie sich wünschte, vergessen zu können. In Ebou Dar wurde es niemals richtig kalt, aber die Nächte waren zumindest etwas kühl, genug, um sie unter der dünnen Seidendecke wachzuhalten. Eine einfache Frage suchte ihre Träume heim. Lebte Tuon, oder war sie tot?
Die Flucht der Damane der Atha’an Miere und die Ermordung Königin Tylins deuteten auf ihren Tod hin. Drei Ereignisse dieser Größenordnung, die sich in einer Nacht zutrugen, das konnte kein Zufall mehr sein, und die ersten beiden waren allein schon übel genug, um für Tuon das Schlimmste befürchten zu lassen. Jemand versuchte unter den Rhyagelle, ›Die nach Hause zurückkehren‹, Furcht zu säen, möglicherweise die ganze Wiederkehr zu spalten. Wie sollte man dieses Ziel besser erreichen, als Tuon zu ermorden? Was noch viel schlimmer war, es musste einer von ihnen sein. Weil sie vom Schleier verhüllt an Land gegangen war, wusste kein Einheimischer, wer Tuon war. Tylin war bestimmt mit der Einen Macht getötet worden, von einer Sul’dam und ihrer Damane. Suroth hatte sich auf die Annahme gestürzt, dass Aes Sedai die Schuld trugen, aber schließlich würde jemand von Rang die Frage stellen, wie eine dieser Frauen in einer Stadt voller Damane in einen Palast voller Damane eindringen und unentdeckt bleiben konnte. Es war mindestens eine Sul’dam nötig gewesen, um die Damane vom Meervolk vom Kragen zu befreien. Und zwei ihrer eigenen Sul’dam waren fast zur gleichen Zeit verschwunden.
Zumindest waren sie zwei Tage später vermisst worden, und niemand hatte sie seit der Nacht von Tuons Verschwinden mehr gesehen. Suroth glaubte nicht, dass sie darin verwickelt waren, obwohl sie in den Zwingern gewesen waren. Zum einen konnte sie sich nicht vorstellen, dass Renna oder Seta eine Damane losketteten. Sie hatten sicherlich Gründe genug, um sich davonzuschleichen und in der Ferne eine Beschäftigung zu suchen, wo niemand ihr schmutziges Geheimnis kannte; jemand wie Egeanin Tamarath, die ein Paar Damane gestohlen hatte. Schon seltsam für jemanden, der erst kürzlich ins Blut aufgenommen worden war. Seltsam, aber unwichtig; sie konnte sich nicht vorstellen, was das mit dem Rest zu tun haben sollte. Vermutlich hatte die Frau die Pflichten und die Komplexität des Adelsstandes als zu schwierig für eine einfache Seefahrerin empfunden. Nun, irgendwann würde man sie finden und festnehmen.
Die wichtige Tatsache, die potenziell tödliche Tatsache bestand darin, dass Renna und Seta weg waren, und niemand konnte mit Gewissheit sagen, wann sie gegangen waren. Falls der falschen Person ihr Aufbruch in unmittelbarer Nähe zu dem kritischen Zeitpunkt auffiel und sie auf den falschen Gedanken kam… Sie drückte die Handkanten gegen die Augen und atmete leise aus, beinahe schon ein Stöhnen.
Selbst wenn sie dem Verdacht entkam, Tuon ermordet zu haben — sollte die Frau tot sein, würde sie sich bei der Kaiserin — möge sie ewig leben — entschuldigen müssen. Für den Tod der designierten Erbin des Kristallthrons würde es eine ausführliche Entschuldigung sein müssen, so schmerzvoll wie demütigend; sie konnte mit ihrer Hinrichtung enden, oder — noch schlimmer — sie wurde als Ware auf eine Sklavenauktion geschickt. Nicht dass es tatsächlich dazu kommen würde, auch wenn das in ihren Albträumen häufig geschah. Ihre Hand glitt unter die Kopfkissen, um den dort liegenden blanken Dolch zu berühren. Die Klinge war kaum länger als ihre Hand, dennoch scharf genug, um ihr die Adern zu öffnen, vorzugsweise in einem warmen Bad. Sollte die Zeit für eine Entschuldigung kommen, würde sie nicht lebend in Seandar eintreffen. Die Entehrung ihres Namens würde vielleicht sogar etwas gemindert, wenn die Leute zu der Ansicht kamen, dass die Tat selbst eine Entschuldigung darstellte. Sie würde einen Brief mit dieser Erklärung hinterlassen. Das würde vielleicht helfen.
Aber es bestand noch immer die Chance, dass Tuon lebte, und Suroth klammerte sich daran. Sie zu töten und die Leiche verschwinden zu lassen mochte eine Tat sein, die von Seanchan von einer ihrer überlebenden Schwestern angeordnet worden sein konnte, die den Thron begehrten, aber Tuon hatte mehr als einmal ihr eigenes Verschwinden arrangiert. Dieser Verdacht drängte sich geradezu auf, wenn man bedachte, dass Tuons Der’sul’dam sämtliche ihrer Sul’dam und Damane neun Tage zuvor zu einer Übung aufs Land gebracht hatte, und seitdem hatte man sie nicht mehr gesehen. Eine Damane-Übung nahm keine neun Tage in Anspruch. Und erst heute — nein, in wenigen Stunden gestern — hatte Suroth erfahren, dass der Hauptmann von Tuons Leibwache die Stadt ebenfalls vor neun Tagen mit einem beträchtlichen Kontingent seiner Männer verlassen hatte und nicht zurückgekehrt war. Das konnte kein Zufall sein, war fast schon ein Beweis. Zumindest reichte es aus, um sich Hoffnungen zu machen.
Jedes vorherige Untertauchen war jedoch Teil von Tuons Bestrebungen gewesen, die Anerkennung der Kaiserin zu erlangen, mochte sie ewig leben, und als Erbin eingesetzt zu werden. Jedes Mal war eine Konkurrentin unter ihren Schwestern zu Taten gezwungen oder ermutigt worden, die ihr Ansehen schmälerte, als Tuon wieder auftauchte. Wozu benötigte sie eine derartige Strategie jetzt, hier? So sehr sich Suroth auch das Hirn zermarterte, sie konnte außerhalb von Seanchan kein lohnendes Ziel finden. Sie hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass sie selbst das Ziel war, aber auch nur kurz und weil ihr nichts anderes einfiel. Tuon hätte sie mit drei Worten ihrer Position in der Wiederkehr berauben können. Sie hätte dazu nur den Schleier abnehmen müssen; hier sprach die Tochter der Neun Monde, die die Wiederkehr befahl, mit der Stimme des Kaiserreichs. Der bloße Verdacht, dass Suroth Atha’an Shadar war, was man auf dieser Seite des Aryth-Meeres einen Schattenfreund nannte, hätte für Tuon ausgereicht, sie den Suchern zur Befragung zu übergeben. Nein, Tuon war auf etwas anderes aus. Falls sie noch lebte. Aber das musste sie. Suroth wollte nicht sterben. Sie berührte den Dolch.
Es spielte keine Rolle, was es war, ausgenommen als Hinweis, wo Tuon sein konnte, aber das war sehr wichtig. Von immenser Wichtigkeit. Trotz der Bekanntmachung einer ausgedehnten Inspektionsreise ging beim Blut bereits das Gerücht um, dass sie tot war. Je länger sie vermisst blieb, desto lauter würden diese Gerüchte werden, und mit ihnen der Druck auf Suroth wachsen, nach Seandar zurückzukehren und diese Entschuldigung vorzubringen. Sie konnte sich nur eine gewisse Zeit weigern, bevor man sie für so Sei’mosiev erklärte, dass ihr nur noch ihre Dienerschaft und ihr Besitz gehorchen würde. Man würde ihre Blicke in den Boden malmen. Das Niedere Blut wie auch das Hohe würde sich weigern, mit ihr zu sprechen, möglicherweise sogar das einfache Volk. Kurz danach würde sie sich auf einem Schiff wiederfinden, ob sie nun wollte oder nicht.
Zweifellos würde Tuon nicht erfreut sein, wenn man sie fand, aber es erschien unwahrscheinlich, dass ihr Missfallen so weit gehen würde, dass Suroth entehrt und gezwungen sein würde, sich die Pulsadern aufzuschlitzen; also musste Tuon gefunden werden. Jeder Sucher in Altara suchte nach ihr-jedenfalls die, die Suroth bekannt waren. Tuons eigene Sucher waren ihr natürlich unbekannt, aber sie mussten doppelt so angestrengt suchen wie die anderen. Es sei denn, sie hätte sie ins Vertrauen gezogen. Aber in siebzehn Tagen war nichts außer der albernen Geschichte aufgedeckt worden, dass Tuon von Goldschmieden Schmuck erpresste, und das wusste jeder gewöhnliche Soldat. Vielleicht…
Die bogenförmige Tür zum Vorraum öffnete sich verstohlen, und Suroth kniff schnell das rechte Auge zu, um ihre Nachtsicht vor dem einströmenden Licht zu schützen. Sobald der Spalt groß genug war, schlüpfte eine hellhaarige Frau im durchsichtigen Gewand einer Da'covale in das Schlafgemach, schloss die Tür leise hinter sich und stürzte den Raum in tiefe Finsternis. Bis Suroth ihr Auge wieder öffnete und eine schattenhafte Gestalt ausmachte, die auf ihr Bett zuschlich. Plötzlich erhob sich ein anderer Schatten in der Zimmerecke, als sich Almandaragal lautlos erhob. Der Lopar konnte den Raum in einem Herzschlag durchqueren und das Genick der dummen Frau brechen, aber Suroth umklammerte trotzdem den Dolchgriff. Eine zweite Verteidigungsreihe war klug, selbst wenn die erste unüberwindlich erschien. Einen Schritt vor dem Bett blieb die Da'covale stehen. Ihr aufgeregter Atem erschien in der Stille sehr laut.
»Sammelst du deinen Mut, Liandrin?«, sagte Suroth grob. Das honigfarbene, zu dünnen Zöpfen geflochtene Haar hatte ausgereicht, um sie zu erkennen.
Mit einem Quieken warf sich die Da'covale auf die Knie und drückte das Gesicht auf den Teppich. Zumindest das hatte sie gelernt. »Ich würde Euch nichts antun, Hochlady«, log sie. »Das wisst Ihr doch.« Ihre Stimme klang gepresst, kam in atemloser Panik. Anscheinend konnte sie genauso wenig lernen, wann sie sprechen musste und wann nicht, wie mit dem nötigen Respekt zu sprechen. »Wir sind beide verschworen, dem Großen Herrn zu dienen, Hochlady. Habe ich nicht bewiesen, dass ich nützlich sein kann? Ich habe für Euch doch Alwhin beseitigt, oder? Ihr habt gesagt, Ihr wollt sie tot sehen, Hochlady, und ich habe sie beseitigt.«
Suroth verzog das Gesicht und setzte sich in der Dunkelheit auf; die Decke rutschte ihr in den Schoß. Es passierte so schnell, dass man die Anwesenheit von Da'covale vergaß, selbst dieser Da'covale, und dann entschlüpften einem Dinge, die man besser für sich behalten hätte. Alwhin war nicht gefährlich gewesen, bloß ein Ärgernis, lästig in ihrer Stellung als Suroths Stimme. Sie hatte damit alles erreicht, was sie sich jemals ersehnt hatte, und die Wahrscheinlichkeit, dass sie das auch nur durch den geringsten Verrat aufs Spiel gesetzt hätte, war winzig gewesen. Sicher, hätte sie sich bei einem Treppensturz das Genick gebrochen, wäre Suroth eine lästige Person losgewesen, aber Gift, das hervorquellende Augen und ein blaues Gesicht hinterließ, war eine andere Sache. Trotz der Suche nach Tuon hatte das den Blick der Sucher auf Suroths Haushalt gezogen. Sie war gezwungen gewesen, darauf zu bestehen, wegen des Mordes an ihrer Stimme. Sie akzeptierte, dass es Lauscher in ihrem Haushalt gab; jeder Haushalt hatte seinen Anteil Lauscher. Sucher taten aber mehr als nur zuzuhören, und möglicherweise entdeckten sie etwas, das verborgen bleiben musste.
Ihre Wut zu verbergen erforderte eine überraschende Mühe, und ihr Ton war kälter als gewünscht. »Ich hoffe, du hast mich nicht geweckt, nur um wieder zu betteln, Liandrin.«
»Nein, nein!« Die Närrin hob den Kopf und sah sie doch tatsächlich direkt an! »General Galgan hat einen Offizier geschickt, Hochlady. Er wartet, um Euch zum General zu bringen.«
Suroth verspürte ein gereiztes Pochen im Kopf. Die Frau verzögerte eine Botschaft von Galgan und schaute ihr in die Augen? Es geschah zwar in der Dunkelheit, aber in ihr stieg das Verlangen auf, Liandrin mit bloßen Händen zu erwürgen. Ein zweiter Tod so kurz nach dem ersten würde das Interesse der Sucher an ihrem Haushalt verstärken, falls sie davon erfuhren, aber Elbar konnte ihre Leiche leicht verbergen; bei solchen Aufträgen war er sehr geschickt.
Nur genoss sie es, die ehemalige Aes Sedai zu besitzen, die sie einst so hochmütig behandelt hatte. Sie in eine in jeder Hinsicht perfekte Da'covale zu verwandeln würde ein großes Vergnügen sein. Aber es war Zeit, die Frau an die Leine zu legen. Unter den Dienern kursierten bereits ärgerliche Gerüchte über eine kragenlose Marath'damane. Es würde Aufsehen erregen, wenn die Sul'dam entdeckten, dass sie auf eine gewisse Weise von der Einen Macht abgeschirmt war, sodass sie sie nicht lenken konnte, aber das würde helfen, die Frage zu beantworten, warum man sie nicht vorher an die Leine gelegt hatte. Allerdings würde Elbar unter den Sul'dam ein paar Atha'an Shadar finden müssen. Das war nie eine einfache Aufgabe — seltsamerweise wandten sich nur wenige Sul'dam dem Großen Herrn zu —, und eigentlich vertraute sie keiner Sul'dam mehr richtig, aber vielleicht konnte man Atha'an Shadar mehr vertrauen als dem Rest.
»Entzünde zwei Lampen, dann bring mir ein Gewand und Schuhe«, sagte sie und schwang die Beine über die Bettkante.
Liandrin eilte zu dem Tisch, auf dem die zugeklappte Sandschüssel auf ihrem vergoldeten Dreifuß stand, und sog zischend die Luft ein, als sie mit sorgloser Hand dagegenstieß, aber sie holte schnell mit einer Zange eine glühende Kohle heraus, blies dagegen, bis sie aufglühte, und entzündete zwei Silberlampen, drehte an den Dochten, damit die Flammen gleichmäßig brannten und nicht qualmten. Ihre Zunge mochte den Eindruck erwecken, dass sie sich als Suroths Gleichgestellte und nicht als Besitz fühlte, aber der Riemen hatte sie gelehrt, Befehlen schnell zu gehorchen.
Sie drehte sich mit einer Lampe in der Hand um, zuckte zusammen und stieß beim Anblick von Almandaragal in der Ecke einen unterdrückten Schrei aus. Seine dunklen, von Wülsten umgebenen Augen waren auf sie fixiert. Man hätte denken können, dass sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte! Allerdings bot er einen furchterregenden Anblick, drei Meter groß und fast zweitausend Pfund schwer, die haarlose Haut wie rötlich braunes Leder; er spannte die sechsgliedrigen Vorderpfoten an, sodass seine Krallen immer wieder ausfuhren und zurückschnellten.
»Ruhig«, sagte Suroth zu dem Lopar, ein vertrauter Befehl, aber er zog den Mund auseinander und entblößte scharfe Zähne, bevor er sich wieder auf dem Boden niederließ und den großen runden Kopf wie ein Hund auf die Pranken bettete. Er schloss die Augen nicht wieder. Lopar waren recht intelligent, und offensichtlich vertraute er Liandrin nicht mehr als sie.
Trotz furchterfüllter Blicke auf Almandaragal holte die Da'covale schnell blaue Samtschuhe und ein weißes Seidengewand mit aufwändigen grünen, roten und blauen Stickereien aus dem hohen, mit Schnitzereien verzierten Kleiderschrank, und sie hielt Suroth das Gewand so hin, dass sie die Arme in die Ärmel schieben konnte, aber die lange Schärpe musste sie selbst binden und einen Fuß nach vorn strecken, bevor Liandrin daran dachte, niederzuknien und ihr die Schuhe anzuziehen. Herrje, was war diese Frau doch inkompetent!
Suroth musterte sich in dem schwachen Licht in dem vergoldeten Standspiegel an der Wand. Ihre Augen wiesen vor Müdigkeit dunkle Ringe auf, ihr Haarschopf hing in einem für die Nachtruhe lockeren Zopf herunter, und zweifellos brauchte ihre Kopfhaut die Rasierklinge. Nun gut. Zweifellos würde Galgans Bote sie wegen Tuon außer sich vor Gram halten, und das stimmte ja auch. Bevor sie jedoch die Botschaft des Generals erfuhr, musste sie noch eine kleine Sache erledigen.
»Lauf zu Rosala und bitte sie, dich tüchtig zu schlagen, Liandrin«, sagte sie.
Der angespannte kleine Mund der Da'covale öffnete sich, und ihre Augen weiteten sich entsetzt. »Aber warum?«, jammerte sie. »Ich… ich habe doch nichts gemacht.«
Suroth beschäftigte ihre Hände damit, die Schärpe enger zu knoten, um sich davon abzuhalten, die Frau zu schlagen. Ihr Blick würde einen Monat lang gesenkt sein, falls bekannt wurde, dass sie eine Da'covale selbst geschlagen hatte. Sie schuldete ihrem Besitz keine Erklärungen, aber sobald Liandrins Ausbildung vollendet war, würde sie die Gelegenheiten vermissen, es dieser Frau unter die Nase zu reiben, wie tief sie gefallen war.
»Weil du getrödelt hast, mir von dem Boten des Generals zu erzählen. Weil du dich selbst noch immer als ›Ich‹ bezeichnest statt als ›Liandrin‹. Weil du meinen Blick erwiderst.« Sie konnte nicht vermeiden, dass sie Letzteres hervorzischte. Liandrin war mit jedem Wort kleiner geworden und richtete die Augen auf den Boden, als würde das ihre Beleidigung verringern. »Weil du meine Befehle in Frage stellst, statt zu gehorchen. Und zuletzt — zuletzt, aber das ist für sich das Wichtigste —, weil ich wünsche, dass du geschlagen wirst. Und jetzt lauf und sage Rosala jeden dieser Gründe, damit sie dich auch ordentlich prügelt.«
»Liandrin hört und gehorcht, Hochlady«, wimmerte die Da'covale und machte endlich etwas richtig und warf sich so schnell auf die Tür, dass sie dabei einen ihrer weißen Schuhe verlor. Zu ängstlich, um dafür umzukehren oder es gar zu bemerken — und gut für sie, dass sie es war —, riss sie die Tür auf und rannte. Besitz zur Disziplinierung zu schicken sollte einem keine Zufriedenheit bescheren, aber das tat es. O ja, das tat es.
Suroth gestattete sich einen Augenblick, um ihre Atmung zu kontrollieren. Es war eine Sache, besorgt zu erscheinen, aber aufgeregt war eine ganz andere. Sie ärgerte sich über Liandrin, war durcheinander durch die Erinnerung an ihre Albträume, die Angst um Tuons Schicksal und noch mehr ihr eigenes, aber sie folgte der Da'covale erst, als das Gesicht im Spiegel absolute Gelassenheit zeigte.
Der Vorraum zu ihrem Schlafgemach war auf die grelle Ebou Dar-Mode dekoriert, eine himmelblau gestrichene Decke, gelbe Wände und grüne und gelbe Bodenfliesen. Nicht einmal die Möbel durch ihre eigenen hohen Wandschirme zu ersetzen — bis auf zwei waren sie von den besten Künstlern mit Vögeln oder Blumen bemalt — hatte viel geholfen, die Geschmacklosigkeit erträglich zu machen. Der Anblick der Außentür, die Liandrin bei ihrer Flucht anscheinend offen gelassen hatte, entlockte ihr ein leises Knurren, aber sie verbannte die Da'covale für den Augenblick aus ihren Gedanken und konzentrierte sich auf den Mann, der den Wandschirm mit dem Bild eines Kori, einer großen gefleckten Raubkatze aus Sen T'jore, betrachtete. Schlank und mit ergrauendem Haar trug er eine Rüstung mit blauen und gelben Streifen. Beim leisen Klang ihrer Schritte fuhr er anmutig herum und ging auf ein Knie nieder, als wäre er ein Bauer. Den Helm unter seinem Arm schmückten drei schmale blaue Federn, also musste die Nachricht wichtig sein. Natürlich war sie wichtig, wenn man sie zu dieser Stunde störte. Sie würde ihm verzeihen. Dieses eine Mal.
»Bannergeneral Mikhel Najirah, Hochlady. Generalhauptmann Galgan entbietet seinen Gruß, und er hat Nachricht aus Tarabon erhalten.«
Suroths Brauen hoben sich unwillkürlich. Tarabon? Tarabon war so sicher wie Seandar. Automatisch zuckten ihre Finger, aber sie hatte noch keinen Ersatz für Alwhin gefunden. Sie musste selbst mit dem Mann sprechen. Der Ärger darüber verhärtete ihre Stimme, und sie gab sich keine Mühe, das zu verbergen. Knien statt sich auf den Bauch zu werfen! »Was für Nachrichten? Wenn ich wegen Neuigkeiten über Aiel geweckt worden bin, werde ich nicht erfreut sein, Bannergeneral.«
Ihr Tonfall konnte den Mann nicht einschüchtern. Er hob sogar den Blick, bis er dem ihren fast begegnete. »Nicht Aiel, Hochlady«, sagte er beherrscht. »Generalhauptmann Galgan wünscht Euch das selber zu sagen, damit Ihr jede Einzelheit korrekt hören könnt.«
Einen Augenblick lang stockte Suroth der Atem. Ob Najirah einfach nur zögerte, ihr den Inhalt dieser Nachrichten mitzuteilen, oder ob man ihm befohlen hatte, es nicht zu tun, das klang nicht gut. »Geht voraus«, befahl sie, dann rauschte sie aus dem Raum, ohne auf ihn zu warten, und ignorierte die beiden Angehörigen der Totenwache, die wie Statuen im angrenzenden Korridor zu beiden Seiten der Tür standen, so gut sie konnte. Die »Ehre«, von diesen Männern in den roten und grünen Rüstungen bewacht zu werden, verschaffte ihr eine Gänsehaut. Seit Tuons Verschwinden bemühte sie sich, sie einfach zu ignorieren.
Der Korridor wurde von vergoldeten und mit Spiegeln versehenen Kandelabern gesäumt, deren Flammen durch die gelegentliche Zugluft flackerten, die auch die Wandbehänge mit den Schiffen und dem Meer bewegte. Es war niemand zu sehen außer ein paar Palastdienern in Livree, die ihren frühen Pflichten nachkamen und der Ansicht waren, dass tiefe Verbeugungen und Knickse ausreichten. Und sie sahen sie immer unverhohlen an! Vielleicht sollte sie mal ein Wort mit Beslan reden. Nein; der neue König von Altara war ihr jetzt gleichgestellt, zumindest dem Gesetz nach, und sie bezweifelte, dass er dafür sorgen würde, dass sich seine Diener korrekt benahmen. Sie starrte stur geradeaus. Auf diese Weise musste sie die Beleidigungen der Dienerschaft nicht sehen.
Najirah holte sie schnell ein, seine Stiefel dröhnten auf den viel zu hellen blauen Bodenfliesen, und setzte sich an ihre Seite. Natürlich hätte sie keinen Führer gebraucht. Sie wusste, wo sich Galgan aufhalten würde.
Ursprünglich war es ein Tanzsaal gewesen, ein Rechteck von dreißig Schritten Länge an jeder Seite, dessen Decke mit phantasievollen Fischen und Vögeln bemalt war, die auf manchmal verwirrende Art und Weise zwischen Wolken und Wellen ihre Spaße trieben. Nur die Decke erinnerte noch an den früheren Gebrauch. Jetzt säumten Kandelaber und Regale voller abgelegter Berichte in Ledermappen die hellroten Wände. Mit braunen Mänteln bekleidete Schreiber eilten zwischen den langen, mit Karten bedeckten Tischen umher, die den mit grünen Fliesen ausgelegten Tanzboden bedeckten. Ein junger weiblicher Offizier, ein Unterleutnant ohne Feder auf dem rotgelben Helm, rannte an Suroth vorbei, ohne auch nur die geringsten Anstalten zu machen, sich zu Boden zu werfen. Schreiber machten ihr lediglich den Weg frei. Galgan gab seinen Leuten zu viel Freiraum. Er behauptete, dass übertriebene Förmlichkeit, wie er es nannte, zur »falschen Zeit« die Effizienz behinderte; sie nannte es Unverfrorenheit.
Lunal Galgan, ein hochgewachsener Mann in einer roten, mit hellfederigen Vögeln reich bestickten Robe, dessen Haarschopf schneeweiß und zu einem engen, aber unordentlichen Zopf geflochten war, der bis zu den Schultern reichte, stand an einem Tisch in der Mitte des Raumes, umgeben von einer Gruppe hochrangiger Offiziere, von denen einige in Rüstungen und andere genauso zerzaust wie Suroth waren. Anscheinend war sie nicht die Einzige, der er einen Boten geschickt hatte. Sie kämpfte darum, dass sich ihre Wut nicht auf ihrem Gesicht zeigte. Galgan war mit Tuon und der Wiederkehr eingetroffen, und darum wusste sie nur wenig über ihn, abgesehen davon, dass seine Vorfahren zu den Ersten gehört hatten, die sich auf Luthair Paendrags Seite geschlagen hatten, und dass er einen guten Ruf als Soldat und General genoss. Nun, manchmal waren Ruf und Wahrheit das Gleiche. Sie mochte ihn ganz einfach nicht als Mensch.
Er wandte sich bei ihrem Näherkommen um und legte ihr formell die Hände auf die Schultern und küsste sie auf beide Wangen, sodass sie gezwungen war, die Begrüßung zu erwidern, während sie sich bemühte, die Nase nicht über den starken Moschusduft zu rümpfen, den er bevorzugte. Galgans Gesicht war so glatt, wie es seine Falten erlaubten, aber sie glaubte einen Hauch von Sorge in seinen blauen Augen zu entdecken. Einige der Männer und Frauen hinter ihm, größtenteils vom Niederen Blut und Bürgerliche, zeigten offen ihr Stirnrunzeln.
Die große Karte von Tarabon auf dem Tisch vor ihr, die von vier Lampen beschwert und offen gehalten wurde, gab genügend Anlass zur Sorge. Sie war mit Kennzeichen bedeckt, rote Keile für marschierende seanchanische Streitkräfte und rote Sterne für Besatzungstruppen; jeder davon trug einen kleinen Papierstreifen, auf dem mit Tinte ihre Zahl und Zusammensetzung geschrieben stand. Auf der Karte verteilt, auf der ganzen Karte, lagen schwarze Scheiben, die für Gefechte standen, sowie weiße Scheiben für feindliche Streitkräfte, von denen viele keine Fahnen aufwiesen. Wie konnte es in Tarabon überhaupt Feinde geben? Es war so sicher wie…
»Was ist passiert?«, verlangte sie zu wissen.
»Vor drei Stunden trafen Raken mit Berichten von Generalleutnant Turan ein«, begann Galgan im Plauderton. Erstattete bewusst keinen Bericht. Er studierte die Karte, während er sprach, blickte nie in ihre Richtung. »Sie sind nicht vollständig — jeder neue erweitert die Liste, und ich gehe davon aus, dass sich das noch eine Weile nicht ändern wird —, aber soweit ich es verstanden habe, läuft es so ab. Seit Anbruch der gestrigen Morgendämmerung sind sieben wichtige Versorgungslager überrannt und niedergebrannt worden, zusammen mit mehr als zwei Dutzend kleineren Lagern. Zwanzig Versorgungszüge wurden angegriffen, Wagen und Ladung in Brand gesteckt. Siebzehn kleine Außenposten wurden vernichtet, elf Patrouillen haben sich nicht mehr gemeldet, außerdem hat es fünfzehn zusätzliche Handgemenge gegeben. Und ein paar Angriffe gegen unsere Siedler. Nur eine Hand voll Todesopfer, hauptsächlich Männer, die ihren Besitz verteidigen wollten, aber viele gute Wagen und Vorräte sind zusammen mit zur Hälfte erbauten Häusern verbrannt, und überall die gleiche Botschaft. Verlasst Tarabon. Das alles ist von Gruppen mit einer Stärke von zweibis fünfhundert Mann angerichtet worden. Die Schätzungen belaufen sich auf ein Minimum von zehntausend, vielleicht auch doppelt so viel, fast alles Taraboner. O ja«, fügte er abschließend fast beiläufig hinzu, »und die meisten von ihnen tragen mit Streifen bemalte Rüstungen.«
Suroth wollte mit den Zähnen knirschen. Galgan befehligte die Soldaten der Wiederkehr, aber sie befehligte die Hailene, die Vorläufer, und darum nahm sie trotz seines Haarschopfes und der rotlackierten Fingernägel den höheren Rang ein. Durch ihr Eintreffen hatte die Wiederkehr die Vorläufer praktisch in sich eingegliedert, aber vermutlich bestand er nur aus einem Grund nicht darauf, den Befehl über die Vorläufer offiziell einzufordern. Sie zu verdrängen hätte bedeutet, die Verantwortung für Tuons Sicherheit zu übernehmen. Und sich dafür zu entschuldigen, sollte es nötig werden. »Abneigung« war ein zu milder Begriff. Sie verabscheute Galgan.
»Eine Meuterei?«, sagte sie, stolz auf ihre kühle Stimme.
Innerlich fing sie an zu brennen.
Galgans weißer Zopf schwankte, als er den Kopf schüttelte.
»Nein. Alle Berichte sagen aus, dass unsere Taraboner gut gekämpft haben, und wir haben ein paar Erfolge zu verbuchen, ein paar Gefangene gemacht. Nicht einer von ihnen steht in den Mannschaftslisten loyaler Taraboner. Mehrere wurden als Drachenverschworene identifiziert, die man oben in Arad Doman geglaubt hat. Und einige Male fiel der Name Rodel Ituralde als das Gehirn hinter allem, und als Anführer. Er ist angeblich einer der besten Generäle auf dieser Seite des Ozeans, und wenn er das alles geplant und durchgeführt hat« — er fuhr mit der Hand über die Karte — »dann glaube ich das.« Der Narr klang bewundernd! »Keine Meuterei. Ein Stoßtrupp im großen Rahmen. Aber er wird nicht mit annährend so vielen Männern zurückkehren, wie er mitgebracht hat.«
Drachenverschworene. Das Wort war wie eine Faust, die Suroths Hals umklammerte. »Sind Asha’man dabeigewesen?«
»Diese Kerle, die die Macht lenken können?« Galgan verzog das Gesicht und machte ein Zeichen gegen das Böse, ohne sich dessen scheinbar bewusst zu sein. »Man hat nichts davon erwähnt«, sagte er trocken, »und ich würde denken, dass das passiert wäre.«
Heiße Wut musste sich auf Galgan entladen, aber ein anderes Mitglied des Hohen Blutes anzuschreien würde ihren Blick senken. Und, was genauso schlimm war, nichts ausrichten. Aber sie musste irgendwo hingelenkt werden. Sie musste heraus. Suroth war stolz auf das, was sie in Tarabon erreicht hatte, und jetzt schien das Land auf dem halben Weg zurück in das Chaos, das sie bei ihrer Landung vorgefunden hatte. Und ein Mann trug dafür die Verantwortung. »Dieser Ituralde.« Ihr Ton war eiskalt. »Ich will seinen Kopf!«
»Keine Angst«, murmelte Galgan, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und beugte sich vor, um ein paar der kleinen Banner näher zu betrachten. »Es wird nicht lange dauern, bis Turan ihn mit dem Schwanz zwischen den Beinen zurück nach Arad Doman jagt, und mit Glück wird er einer der Banden angehören, die sie gefangen nehmen.«
»Glück?«, fauchte sie. »Ich vertraue nicht auf Glück!« Ihre Wut war jetzt offen zu sehen, und sie dachte nicht darüber nach, sie wieder zu unterdrücken. Sie studierte die Karte, als könnte sie Ituralde auf diese Weise finden. »Wenn Turan hundert Banden jagt, wie Ihr vorschlagt, wird er mehr Späher brauchen, um sie aufzuspüren, und ich will, dass man sie fängt. Jeden einzelnen von ihnen. Vor allem Ituralde. General Yulan, ich will, dass man vier von fünf — nein, neun von zehn Raken in Altara und Amadicia nach Tarabon bringt. Wenn Turan sie damit nicht finden kann, dann kann er herausfinden, ob sein eigener Kopf mich beschwichtigen kann.«
Yulan, ein dunkelhäutiger kleiner Mann in einer blauen Robe mit schwarzen Adlern, musste sich zu schnell angekleidet haben, um den Klebstoff zu benutzen, der normalerweise seine Perücke hielt, denn er berührte das Ding ständig, um sich zu vergewissern, dass es gerade saß. Er war der Lufthauptmann der Vorläufer, aber der Lufthauptmann der Wiederkehr war bloß ein Bannergeneral, da ein älterer Mann während der Reise gestorben war. Yulan würde keine Schwierigkeiten mit ihm haben.
»Ein weiser Zug, Hochlady«, sagte er und betrachtete die Karte stirnrunzelnd. »Aber darf ich vorschlagen, die Raken in Amadicia zu belassen, genau wie jene, die man Bannergeneralin Khirgan zugeteilt hat? Raken sind die beste Methode, die wir haben, um Aiel aufzuspüren, und wir haben diese Weißmäntel nach zwei Tagen noch immer nicht gefunden. General Turan wird dann noch immer über…«
»Die Aiel stellen jeden Tag ein geringeres Problem dar«, fuhr sie ihm energisch ins Wort. »Und ein paar Deserteure sind nichts.« Er neigte zustimmend den Kopf, eine Hand hielt die Perücke fest. Er war schließlich nur vom Niederen Blut.
»Ich würde siebentausend Mann kaum als ein paar Deserteure bezeichnen«, murmelte Galgan trocken.
»Es wird geschehen, wie ich es befohlen habe!«, fauchte sie. Diese so genannten Kinder des Lichts sollten verflucht sein! Sie hatte sich noch immer nicht entschieden, ob sie Asunawa und die paar tausend, die übrig geblieben waren, zu Da’covale machen sollte. Sie waren zurückgeblieben, aber wie lange würde es dauern, bevor auch sie Verrat begingen? Und Asunawa schien doch tatsächlich Damane zu hassen. Der Mann war geistig nicht richtig im Kopf!
Galgan zuckte völlig unberührt mit den Schultern. Sein rotlackierter Fingernagel zeichnete Linien auf der Karte, als würde er Truppenbewegungen planen. »Solange Ihr nicht auch noch To’raken haben wollt, erhebe ich keine Einwände. Der Plan muss fortgeführt werden. Altara fällt fast kampflos in unsere Hand, ich bin noch nicht bereit, gegen Illian zu marschieren, und wir müssen Tarabon wieder schnell befrieden. Das Volk wird sich gegen uns wenden, wenn wir ihm keine Sicherheit geben können.«
Suroth bedauerte langsam, dass sie ihre Wut gezeigt hatte.
Er hatte keine Einwände? Er war noch nicht für Illian bereit? Im Grunde sagte er, dass er ihren Befehlen nicht gehorchen musste, aber er tat es nicht offen heraus, nicht auf eine Weise, dass er zusammen mit ihrer Autorität auch ihre Verantwortung übernehmen musste.
»Ich erwarte, dass Turan diese Botschaft bekommt, General Galgan.« Ihre Stimme war ganz ruhig, durch reine Willenskraft so gehalten. »Er wird mir Rodel Ituraldes Kopf schicken, und wenn er den Mann quer durch Arad Doman bis in die Fäule hinein jagen muss. Und wenn er es nicht schafft, mir diesen Kopf zu schicken, dann werde ich den seinen nehmen.«
Galgan spannte kurz die Lippen an, er betrachtete die Karte stirnrunzelnd. »Manchmal muss man unter Turan ein Feuer entzünden«, murmelte er, »und Arad Doman war immer schon als Nächstes für ihn bestimmt. Gut. Eure Botschaft wird überbracht, Suroth.«
Sie konnte es nicht länger ertragen, mit ihm in einem Raum zu sein. Sie ging wortlos. Hätte sie gesprochen, hätte sie gebrüllt. Sie stolzierte den ganzen Weg zurück zu ihren Gemächern, ohne sich die Mühe zu machen, ihre Wut zu verbergen. Die Männer der Totenwache ließen sich natürlich nichts anmerken; sie hätten genauso gut aus Stein gemeißelt sein können. Was sie die Tür des Vorraums hinter sich zuschlagen ließ. Vielleicht bemerkten sie ja das!
Sie ging auf ihr Bett zu, schleuderte die Schuhe von den Füßen, ließ Gewand und Schärpe zu Boden fallen. Sie musste Tuon finden. Sie musste es. Wenn sie doch nur Tuons Ziel in Erfahrung hätte bringen können, herausfinden können, wo sie war. Wenn sie doch nur…
Plötzlich erstrahlten die Wände ihres Schlafgemachs, die Decke, sogar der Boden in einem silbrigen Licht. Diese Oberflächen schienen zu Licht geworden zu sein. Sie keuchte entsetzt auf, drehte sich langsam um, starrte das Rechteck aus Licht an, das sie umgab, und sah sich einer Frau gegenüber, die aus lodernden Flammen bestand, die in lodernde Flammen gekleidet war. Almandaragal war auf den Beinen, erwartete den Angriffsbefehl seiner Besitzerin.
»Ich bin Semirhage«, sagte die Feuerfrau mit einer Stimme wie ein hallender Totengong.
»Bauch, Almandaragal!« Dieser Befehl, den sie ihm als Kind beigebracht hatte, weil es sie amüsierte, den Lopar demütig vor sich auf dem Boden liegen zu sehen, endete mit einem Grunzen, denn sie befolgte ihn selbst, noch während sie ihn gab. Sie küsste den Teppich mit dem rotgrünen Muster und sagte: »Ich lebe, um zu dienen und zu gehorchen, Große Herrin.« Sie hatte nicht den geringsten Zweifel, dass diese Frau die war, die sie behauptete zu sein. Wer würde diesen Namen unberechtigt für sich in Anspruch nehmen? Oder als lebendes Feuer erscheinen können?
»Ich glaube, du würdest auch gern herrschen.« Der hallende Gong klang etwas amüsiert, aber dann verhärtete er sich. »Sieh mich an! Ich mag es nicht, wie ihr Seanchaner meinem Blick ausweicht. Es bringt mich auf den Gedanken, dass ihr etwas verbergt. Du wirst nichts vor mir verbergen wollen, Suroth.«
»Natürlich nicht, Große Herrin«, sagte Suroth und stemmte sich hoch, um sich auf die Fersen zu hocken. »Niemals, Große Herrin.« Sie hob den Blick bis zum Mund der Frau, aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, ihn noch höher zu heben. Sicherlich würde das reichen.
»Besser«, murmelte Semirhage. »Also. Würde es dir gefallen, dieses Land zu beherrschen? Eine Hand voll Todesfälle — Galgan und ein paar andere —, und du könntest dich mit meiner Hilfe zur Kaiserin ausrufen. Es ist eigentlich nicht wichtig, aber die Umstände bieten diese Möglichkeit, und du wärst sicher zugänglicher, als es die derzeitige Kaiserin bis jetzt gewesen ist.«
Suroths Magen verkrampfte sich. Sie hatte Angst, sich zu übergeben. »Große Herrin«, sagte sie dumpf, »die Strafe dafür ist, vor die wahre Kaiserin gebracht zu werden, möge sie ewig leben, und am ganzen Körper die Haut abgezogen musste diese Worte herauszwingen. Die Kaiserin zu töten… Allein es zu denken fiel schwer. Kaiserin zu werden. Sie hatte das Gefühl, gleich davonzuschweben. »Sie wird ihre Sul’dam und Damane bei sich haben, und einige ihrer Totenwächter.« Schwierig? Sie unter diesen Umständen zu töten würde unmöglich sein. Es sei denn, man konnte Semirhage überreden, es selbst zu tun. Sechs Damane konnten möglicherweise auch ihr gefährlich werden. Außerdem gab es im Volk ein Sprichwort. Die Mächtigen befehlen den unter ihnen Stehenden, im Schlamm zu graben, und halten ihre eigenen Hände sauber. Sie hatte es zufällig gehört und den Mann bestraft, der es gesagt hatte, aber es stimmte.
»Denk nach, Suroth!« Der Gong klang gebieterisch.
»Hauptmann Musenge und die anderen wären in derselben Nacht wie Tuon und ihre Dienerin aufgebrochen, hätten sie geahnt, was sie vorhat. Sie suchen nach ihr. Du musst jede Anstrengung unternehmen, sie zuerst zu finden, aber wenn das nicht gelingt, wird ihre Totenwache weniger Schutz bieten, als es den Anschein hat. Jeder Soldat in deinem Heer hat gehört, dass zumindest ein paar der Totenwächter etwas mit einer Hochstaplerin zu tun haben. Es scheint die allgemeine Meinung zu sein, dass man die Hochstaplerin und jeden, der sich mit ihr eingelassen hat, vierteilen und die Stücke in einem Dunghaufen begraben sollte. Und zwar ohne Aufsehen.« Feuerlippen verzogen sich zu einem kleinen, amüsierten Lächeln. »Um dem Kaiserreich Schande zu ersparen.«
Es könnte machbar sein. Eine Abteilung Totenwächter würde leicht zu entdecken sein. Sie würde herausfinden müssen, wie viele Männer Musenge genau mitgenommen hatte, und Elbar mit fünfzig Mann für jeden von ihnen losschicken. Nein, hundert, man musste die Damane mit in die Rechnung einbeziehen. Und dann… »Große Herrin, Ihr versteht, dass ich zögere, etwas zu verkünden, bevor ich sicher bin, dass Tuon tot ist?«
»Natürlich«, sagte Semirhage. Die Gongschläge klangen wieder amüsiert. »Aber vergiss nicht, sollte Tuon es schaffen, nbeschadet zurückzukehren, wird mein Interesse nicht mehr groß sein, also trödle nicht herum.«
»Das werde ich nicht, Große Herrin. Ich will Kaiserin werden, und dafür muss ich die Kaiserin töten.« Dieses Mal fiel es überhaupt nicht schwer, das zu sagen.
Tsutama Raths Räume waren mit ihrer Pracht jenseits jeder Extravaganz, fand Pevara, und ihre eigenen Anfänge als Metzgertochter hatten nichts mit dieser Meinung zu tun. Das Wohnzimmer flößte ihr einfach Unbehagen ein. An den Wänden unter dem mit fliegenden, vergoldeten Schwalben verziertem Sims hingen zwei große Wandteppiche aus reiner Seide; der eine zeigte hellrote Blutrosen, der andere einen Calmabusch mit scharlachroten Blüten, die größer als zwei ihrer Hände waren. Tische und Stühle konnte man als elegant bezeichnen, solange man bereit war, vergoldetes Schnitzwerk zu ignorieren, das für einen Thron ausgereicht hätte. Auch die Stehlampen waren übermäßig vergoldet, genau wie der mit galoppierenden Pferden geschmückte Sims des aus rotgeädertem Marmor gearbeiteten Kamins. Auf mehreren Tischen stand rotes Meervolk-Porzellan, seltene Stücke, vier Vasen und sechs Schalen, allein schon ein kleines Vermögen wert, sowie viele Jade- und Elfenbeinschnitzereien, die alle nicht klein waren, und die handgroße Statuette einer Tänzerin, die allem Anschein nach aus einem Rubin geschnitten war. Eine protzige Zurschaustellung von Reichtum, und Pevara wusste genau, dass außer der goldenen Fassuhr auf dem Kaminsims noch eine weitere in Tsutamas Schlafzimmer und eine in ihrem Ankleidezimmer stand. Drei Uhren! Das ging weit über Protz hinaus, und da spielten Gold oder Rubine keine Rolle mehr.
Und doch passte der Raum zu der Frau, die ihr und Javindhra gegenübersaß. »Auffallend« war genau die richtige Bezeichnung für ihr Erscheinungsbild. Tsutama war eine atemberaubend schöne Frau, ihr Haar wurde von einem feinen Goldnetz gehalten, an ihrem Hals und an den Ohren baumelten Feuertropfen, wie immer war sie in blutrote Seide gekleidet, die ihren vollen Busen zur Geltung brachte und ihn heute mit goldenen Rankenstickereien zusätzlich betonte. Hätte man sie nicht gekannt, hätte man auf den Gedanken kommen können, dass sie Männer anziehen wollte. Tsutama hatte ihren Abscheu vor Männern lange Zeit vor ihrem Exil allgemein bekannt gemacht; sie hätte eher einem tollwütigen Hund Gnade erwiesen als einem Mann.
Damals war sie so hart wie ein Hammer gewesen, aber viele hatten sie nach ihrer Rückkehr in die Weiße Burg für ein zerbrochenes Schilfrohr gehalten. Zumindest eine Zeit lang. Dann hatte jeder, der sich in ihrer Nähe aufhielt, erkannt, dass diese ständig umherhuschenden Augen alles andere als Nervosität verkündeten. Das Exil hatte sie verändert, aber es hatte sie nicht weicher gemacht. Diese Augen gehörten einer jagenden Raubkatze, die nach Feinden oder Beute Ausschau hielt. Der Rest von Tsutamas Gesicht zeigte keine abgeklärte Ruhe, sondern stellte eine unleserliche Maske dar. Zumindest bis man sie wütend machte. Aber selbst dann blieb ihre Stimme so ruhig wie Eis. Eine entnervende Kombination.
»Ich habe heute Morgen beunruhigende Gerüchte über die Schlacht bei den Quellen von Dumai gehört«, sagte sie unvermittelt. »Verdammt beunruhigend.« Sie hatte jetzt die Angewohnheit, lange zu schweigen, nie zu plaudern, und plötzlich unerwartete Feststellungen zu machen. Das Exil hatte auch ihre Ausdrucksweise derb gemacht. Der abgelegene Bauernhof, auf dem man sie unter Arrest gestellt hatte, musste eine… lebhafte… Erfahrung gewesen sein. »Einschließlich der Tatsache, dass drei der toten Schwestern aus unserer Ajah waren. Mutters Milch in einem Becher!« Das alles in einem völlig unbewegten Tonfall. Aber ihre Augen blickten sie anklagend an.
Pevara erwiderte den Blick ungerührt. Jeder von Tsutamas Blicken erschien anklagend, und ob Pevara nun nervös war oder nicht, sie wusste es besser, als es die Oberste ihrer Ajah sehen zu lassen. Die Frau stürzte sich wie ein Falke auf Schwächen. »Ich kann nicht verstehen, warum Katerine Euren Befehl missachten sollte, ihr Wissen für sich zu behalten, und Ihr könnt nicht glauben, dass Tarna Elaida diskreditieren würde.« Jedenfalls nicht öffentlich. Tarna hütete ihre Ansichten über Elaida so sorgfältig wie eine Katze ein Mauseloch. »Aber Schwestern erhalten Berichte von ihren Augen-und-Ohren. Wir können nicht verhindern, dass sie erfahren, was passiert ist. Ich bin überrascht, dass es so lange gedauert hat.«
»So ist es«, fügte Javindhra hinzu und glättete die Röcke.
Die kantige Frau trug außer ihrem Großen Schlangenring keinerlei Schmuck, ihr Kleid war schmucklos und in einem so dunklen Rot, dass es beinahe wie Schwarz erschien. »Früher oder später werden die Fakten bekannt werden, und wenn wir uns bemühen, bis unsere Finger bluten.« Ihr Mund war so verkniffen, dass sie etwas abzubeißen schien, dennoch klang sie beinahe zufrieden. Seltsam. Sie war Elaidas Schoßhündchen.
Tsutamas Blick richtete sich auf sie, und nach einem Moment stieg Röte in Javindhras Wangen auf. Sie trank einen großen Schluck Tee, vielleicht als Vorwand, den Blickkontakt zu brechen. Natürlich aus einer Tasse aus getriebenem Gold mit fein ziselierten Leoparden und Hirschen, so wie Tsutama nun war. Die Oberste starrte weiter stumm, aber Pevara vermochte nicht mehr zu sagen, ob sie auf Javindhra blickte oder etwas jenseits von ihr.
Als Katerine die Nachricht überbracht hatte, dass Galina zu den Toten von den Quellen von Dumai gehörte, hatte man Tsutama fast einstimmig erhoben, um sie zu ersetzen. Sie hatte einen guten Ruf als Sitzende gehabt, zumindest vor ihrer Verwicklung in die widerwärtigen Vorfälle, die zu ihrem Sturz führten, und viele der Roten waren der Ansicht, dass die Zeiten nach einer Obersten verlangten, die so hart war, wie man sie nur finden konnte. Galinas Tod hatte eine große Last von Pevaras Schultern genommen — die Oberste, eine Schattenfreundin; oh, das war eine schlimme Qual gewesen! — und doch war sie sich unsicher, was Tsutama betraf. Da war jetzt etwas… Wildes… an ihr. Etwas Unberechenbares. War sie noch geistig gesund? Andererseits konnte man diese Frage auf die ganze Weiße Burg ausdehnen. Wie viele der Schwestern waren wirklich noch geistig gesund?
Als würde Tsutama ihre Gedanken lesen können, richtete sie ihren starren Blick nun auf sie. Er ließ Pevara nicht erröten oder zusammenzucken wie so viele andere außer Javindhra, aber sie ertappte sich bei dem Wunsch, dass Duhara anwesend gewesen wäre, nur um der Obersten eine dritte Sitzende zu geben, die sie anstarren konnte. Sie wünschte sich, sie wüsste, wo die Sitzende hingereist war und warum, wo doch außerhalb von Tar Valon ein Rebellenheer sein Lager aufgeschlagen hatte. Duhara war vor über einer Woche einfach an Bord eines Schiffes gegangen und abgereist, ohne jemandem auch nur ein Wort zu sagen — soweit Pevara wusste —, und niemand schien zu wissen, ob sie nach Norden oder Süden gefahren war. In diesen Tagen stimmte fast jeder und alles Pevara misstrauisch.
»Habt Ihr uns wegen des Briefes kommen lassen, Oberste?«, sagte sie schließlich. Sie erwiderte den beunruhigenden Blick gelassen, verspürte aber langsam das Verlangen in sich aufsteigen, einen tiefen Schluck aus ihrer viel zu protzigen Tasse zu nehmen, und sie wünschte sich, sie würde Wein enthalten statt Tee. Bewusst stellte sie die Tasse auf der schmalen Stuhllehne ab. Der Blick ihres Gegenübers erweckte in ihr das Gefühl, Spinnen würden über ihre Haut krabbeln.
Nach einem sehr langen Moment fiel Tsutamas Blick auf den Brief auf ihrem Schoß. Allein ihre Hand verhinderte, dass er sich zu einem kleinen Zylinder aufrollte. Er war auf sehr dünnem Papier geschrieben worden, das man für Brieftauben benutzte, und die kleinen, mit Tinte geschriebenen Buchstaben, die deutlich durch das Papier durchschimmerten, schienen die Seite vollständig auszufüllen.
»Er kommt von Sashalle Anderly«, sagte sie, was bei Pevara ein winziges, mitleidvolles Zucken und bei Javindhra ein Grunzen hervorrief, das alles Mögliche bedeuten konnte. Die arme Sashalle. Tsutama fuhr jedoch ohne jedes äußere Zeichen von Mitgefühl fort. »Die verdammte Frau glaubt, dass Galina entkommen ist, weil er an sie adressiert ist. Vieles von dem, was sie schreibt, bestätigt lediglich, was wir bereits aus anderen Quellen wissen, Toveine eingeschlossen. Aber sie behauptet allen Ernstes, dass sie ›das Kommando über die meisten Schwestern in Cairhien‹ hat, ohne sie namentlich zu benennen.«
»Wie kann Sashalle das Kommando über irgendwelche Schwestern haben?« Javindhra schüttelte den Kopf, ihre Miene bestritt diese Möglichkeit. »Könnte sie den Verstand verloren haben?«
Pevara schwieg. Tsutama gab Antworten, wenn sie dazu Lust hatte, und nur selten, wenn man sie darum bat. Toveines früheren Briefe, die ebenfalls an Galina adressiert gewesen waren, hatten Sashalle mit keinem Wort erwähnt, oder die anderen beiden Gedämpften, was das anging, aber natürlich hätte sie das ganze Thema mehr als nur widerwärtig gefunden. Allein schon daran zu denken war, als würde man verfaulte Pflaumen essen. Die meisten ihrer Worte hatten Elaida die Schuld für die Geschehnisse gegeben, wenn allerdings auch nur indirekt.
Tsutamas Blick fuhr wie ein Dolchstoß zu Javindhra, aber sie fuhr ohne Pause fort. »Sashalle berichtet von Toveines verdammten Besuch in Cairhien mit den anderen Schwestern und den verfluchten Asha'man, obwohl sie offensichtlich nichts von dem verdammten Bund weiß. Sie fand das alles sehr seltsam, Schwestern, die auf angespannte und doch oft freundliche Weise‹ mit den Asha'man verkehren. Blut und verfluchte Asche! So drückt sie es aus, soll man mich doch zu Asche verbrennen.« Tsutamas Tonfall, der dazu gepasst hätte, den Preis von Spitze zu diskutieren, und der in direktem Gegensatz zur Intensität ihres Blickes und ihrer Ausdrucksweise stand, verriet nichts davon, was sie von der Sache hielt.
»Sashalle sagt, dass sie bei ihrer Abreise verfluchte Behüter mitgenommen haben, von denen sie glaubt, dass sie zu Schwestern gehören, die bei dem Jungen sind, also kann man wohl davon ausgehen, dass sie auf der Suche nach ihm waren und ihn mittlerweile gefunden haben dürften. Sie hat keine Ahnung, was der Grund dafür sein könnte. Aber sie bestätigt, was Toveine über Logain behauptet hat. Anscheinend ist der verfluchte Mann nicht länger gedämpft.«
»Unmöglich«, murmelte Javindhra in ihre Teetasse, aber sie tat es leise. Tsutama mochte es nicht, wenn man ihren Behauptungen widersprach. Pevara behielt ihre Meinung für sich und trank nun selbst einen Schluck. Bis jetzt schien in dem Brief nichts zu stehen, was einer Diskussion würdig gewesen wäre, ausgenommen vielleicht die Behauptung, dass Sashalle das »Kommando« über irgendetwas haben könnte, und sie würde lieber über andere Dinge nachdenken als über Sashalles Schicksal. Der Tee schmeckte nach Blaubeeren. Wie hatte Tsutama so früh im Frühling Blaubeeren heranschaffen können? Vielleicht waren sie getrocknet gewesen.
»Ich lese euch den Rest vor«, sagte Tsutama, glättete den Brief und überflog ihn stumm bis fast unten, bevor sie begann. Anscheinend war Sashalle sehr ausführlich gewesen. Was enthielt die Oberste ihnen alles vor? So viele Verdächtigungen.
»Ich habe lange keine Nachricht geschickt, weil ich nicht wusste, wie ich das sagen soll, was ich sagen muss, aber jetzt sehe ich ein, dass die einzige Möglichkeit darin besteht, einfach die Fakten zu schildern. Zusammen mit einer Zahl anderer Schwestern, denen ich die Entscheidung selbst überlasse, ob sie das enthüllen wollen, was ich jetzt enthülle, habe ich dem Wiedergeborenen Drachen den Treueid geschworen, der so lange gilt, bis Tarmon Gai'don ausgefochten ist.«
Javindhra keuchte laut auf, ihr quollen beinahe die Augen aus dem Kopf, aber Pevara flüsterte bloß: »Ta'veren.« Es konnte nicht anders sein. Ta'veren war immer ihre Erklärung für die meisten der beunruhigenden Gerüchte aus Cairhien gewesen.
Tsutama las einfach weiter.
»Was ich tue, tue ich zum Nutzen der Roten Ajah und der Weißen Burg. Solltet Ihr anderer Meinung sein, werde ich mich Eurer Disziplin unterwerfen. Nach Tarmon Gai'don. Wie Ihr vielleicht gehört habt, wurden Irgain Fatamed, Ronaille Vevanios und ich gedämpft, als der Wiedergeborene Drache bei den Quellen von Dumai entkam. Wir sind jedoch Geheilt worden, von einem Mann namens Damer Flinn, einem Asha'man, und wir scheinen alle wieder restlos hergestellt worden zu sein. So unwahrscheinlich das auch erscheint, ich schwöre beim Licht und bei meiner Hoffnung auf Errettung und Wiedergeburt, dass das die Wahrheit ist. Ich freue mich auf meine Rückkehr in die Weiße Burg, die irgendwann einmal stattfinden wird, wo ich die Drei Eide erneut ablegen werde, um meine Hingabe an meine Ajah und die Weiße Burg nochmals zu verkünden.«
Sie rollte den Brief zusammen und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Da steht noch mehr, aber es ist nur weitere Bettelei, dass das, was sie tut, für die Ajah und die Burg ist.« Ein Funkeln in ihren Augen deutete an, dass Sashalle es möglicherweise bedauern würde, die Letzte Schlacht zu überleben.
»Wenn Sashalle wirklich Geheilt wurde«, setzte Pevara an und konnte dann nicht weitersprechen. Sie befeuchtete sich die Lippen mit Tee, dann hob sie die Tasse erneut und nahm einen Mund voll. Die Möglichkeit erschien zu wundervoll, um darauf hoffen zu können, eine Schneeflocke, die bei Berührung vermutlich schmelzen würde.
»Das ist unmöglich«, knurrte Javindhra, wenn auch nicht besonders energisch. Dennoch richtete sie die Bemerkung an Pevara, damit die Oberste nicht auf den Gedanken kam, dass sie gemeint war. Ein tiefes Stirnrunzeln ließ ihre Züge noch kantiger erscheinen. »Eine Dämpfung kann nicht Geheilt werden. Eher lernen Schafe fliegen! Sashalle muss den Verstand verloren haben.«
»Toveine könnte sich irren«, sagte Tsutama in sehr energischem Tonfall, »obwohl ich dann nicht verstehe, warum die verdammten Asha'man Logain einen von ihnen sein lassen, geschweige denn ihm einen Rang verleihen, aber ich glaube kaum, dass Sashalle verdammt noch mal nicht merkt, was mit ihr geschieht. Und sie schreibt nicht wie eine Frau, die Wahnvorstellungen hat. Manchmal ist das, was verflucht unmöglich ist, nur so lange verflucht unmöglich, bis es die erste Frau tut. Also. Eine Dämpfung ist Geheilt worden. Von einem Mann. Die verfluchten seanchanischen Heuschrecken legen jede Frau an die Leine, die die Macht lenken kann, anscheinend auch ein paar Schwestern. Vor zwölf Tagen . . . Nun, ihr wisst genauso gut wie ich, was passiert ist. Die Welt ist ein viel gefährlicherer Ort geworden als seit den Trolloc-Kriegen, vielleicht sogar seit der Zerstörung der Welt selbst. Darum habe ich entschieden, dass wir Euren Plan für diese verfluchten Asha'man in die Tat umsetzen, Pevara. Widerlich und gefährlich, aber soll man mich zu Asche verbrennen, wir haben keine Wahl. Ihr und Javindhra werdet das gemeinsam arrangieren.«
Pevara zuckte zusammen. Nicht wegen der Seanchaner. Sie waren Menschen, was auch immer für seltsame Ter'angreale sie besaßen, und sie würden schließlich besiegt werden. Es war die Erwähnung dessen, was die Verlorenen vor zwölf Tagen getan hatten, das sie die Miene verziehen ließ, trotz ihrer Bemühungen, ihr Gesicht unbewegt zu halten. So viel Macht, die an einer Stelle gelenkt worden war, das konnte kein anderer gewesen sein. Sie vermied nach Möglichkeit, darüber nachzudenken, was sie damit wohl versucht hatten. Oder noch schlimmer, was sie damit möglicherweise erreicht hatten. Ein zweites Zucken rührte daher, dass der Vorschlag, mit den Asha'man den Bund einzugehen, nun ihr zugeschrieben wurde. Aber das war von dem Augenblick an unvermeidlich gewesen, in dem sie Tarnas Vorschlag Tsutama präsentiert und sich zugleich gegen die Explosion gewappnet hatte, die ihrer Überzeugung nach erfolgen musste. Sie hatte sogar das Argument benutzt, Zirkel durch Männer zu vergrößern, um der monströsen Zurschaustellung der Einen Macht entgegentreten zu können. Überraschenderweise hatte es keine Explosion gegeben, noch nicht einmal eine große Reaktion. Tsutama hatte lediglich gesagt, sie würde darüber nachdenken, und darauf bestanden, dass man ihr die relevanten Schriften über Männer und Zirkel aus der Bibliothek brachte. Das dritte und stärkste Zucken kam daher, mit Javindhra zusammenarbeiten zu müssen, dass man ihr diese Aufgabe überhaupt aufbürdete. Sie hatte im Moment mehr als genug zu tun, davon abgesehen war es immer eine Qual, mit Javindhra zusammenarbeiten zu müssen. Die Frau hatte grundsätzlich immer Einwände gegen alles, was nicht von ihr selbst kam. Fast alles.
Javindhra war vehement dagegen gewesen, mit Asha'man den Bund einzugehen, die Vorstellung, dass Rote Schwestern überhaupt mit einem Mann den Behüterbund eingehen sollten, hatte sie fast genauso entsetzt wie die Idee, den Bund mit Männern einzugehen, die die Macht lenken konnten, aber jetzt, da die Oberste es befohlen hatte, war sie matt gesetzt. »Elaida wird das niemals erlauben«, murmelte sie.
Tsutamas funkelnder Blick fixierte sie. Die knochige Frau schluckte schwer.
»Elaida wird es nicht erfahren, bevor es zu spät ist, Javindhra. Ich hüte ihre Geheimnisse, so gut ich kann, weil sie aus den Roten erhoben wurde — ob es nun die Katastrophe beim Angriff auf die Schwarze Burg ist oder die bei den Quellen von Dumai. Aber sie ist der Amyrlin-Sitz aller Ajah und keiner. Das bedeutet, dass sie nicht mehr zu den Roten gehört, und das ist Sache der Ajah und nicht ihre.« Ein gefährlicher Tonfall schlich sich in ihre Stimme ein. Und sie hatte nicht einmal geflucht. Das bedeutete, dass sie am Rand eines Wutanfalls stand. »Stimmt Ihr da nicht mit mir überein? Wollt Ihr Elaida trotz meiner ausdrücklichen Wünsche informieren?«
»Nein, Oberste«, erwiderte Javindhra schnell, dann versteckte sie das Gesicht hinter der Teetasse. Seltsamerweise schien sie ein Lächeln zu verbergen.
Pevara beschränkte sich darauf, den Kopf zu schütteln.
Wenn es getan werden musste, und sie war davon überzeugt, dass es so war, dann musste man Elaida im Dunkeln lassen. Was gab es da zu lächeln? Zu viele Verdächtigungen.
»Ich bin sehr froh, dass ihr beide mir zustimmt«, sagte Tsutama trocken und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück.
»Und jetzt lasst mich allein.«
Sie blieben nur noch lange genug, um die Tassen abzustellen und einen Knicks zu machen. Bei den Roten gehorchte jeder, wenn die Oberste sprach, die Sitzenden eingeschlossen. Gemäß dem Ajah-Gesetz gab es als einzige Ausnahme lediglich die Abstimmung im Saal, obwohl einige der Frauen in dieser Position es geschafft hatten, dass jede Abstimmung so nahe an ihren Herzenswunsch herankam, wie sie wünschten. Pevara war davon überzeugt, dass Tsutama eine von ihnen sein wollte. Dieser Kampf würde ausgesprochen unerfreulich werden. Sie hoffte nur, dass sie genauso gut austeilen wie einstecken konnte.
Draußen auf dem Korridor murmelte Javindhra etwas von Korrespondenz und schoss über die weißen, mit der roten Flamme von Tar Valon markierten Fliesen, bevor Pevara auch nur ein Wort sagen konnte. Nicht dass sie etwas hatte sagen wollen, aber diese Frau würde so gut wie nichts tun, so sicher Pfirsiche giftig waren, und ihr die ganze Sache überlassen. Beim Licht, das war das Letzte, was sie brauchte, zum schlechtestmöglichen Zeitpunkt.
Sie blieb nur lange genug in ihrem Gemach, um die Stola mit den langen Fransen zu holen und nach der Zeit zu sehen — eine Viertelstunde vor Mittag; sie war beinahe enttäuscht, dass ihre Uhr mit Tsutamas übereinstimmte; Uhren taten das häufig nicht —, dann verließ sie das Quartier der Roten und eilte tiefer in die Burg hinein, nach unten in die für die Allgemeinheit zugänglichen Räume. Die breiten Korridore wurden von den mit Spiegeln versehenen Kandelabern hell erleuchtet, waren aber fast menschenleer, was sie höhlenartig und die mit Simsen geschmückten Wände nackt erscheinen ließ. Das gelegentliche Aufwallen eines hellen Wandbehangs durch einen Luftzug wirkte unheimlich, als hätten die Seide oder Wolle ein Eigenleben entwickelt. Die wenigen Menschen, die ihr begegneten, waren Diener und Dienerinnen mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust, die eilig ihren Pflichten nachkamen und kaum lange genug für ihre Ehrenbezeugungen stehen blieben. Sie hielten den Blick gesenkt. Da die Ajah fast zu im Krieg befindlichen Lagern geworden waren, herrschten Spannungen und Feindseligkeit in der Burg, und die Stimmung hatte die Dienerschaft angesteckt. Zumindest ängstigte es sie.
Pevara wusste es nicht genau, aber sie glaubte, dass weniger als zweihundert Schwestern in der Weißen Burg geblieben waren, und die meisten verweilten in den Quartieren ihrer Ajah, solange sie nicht anderswo hinmussten, also rechnete sie nicht damit, einer Spaziergängerin zu begegnen. Als Adelorna Bastine beinahe direkt vor ihr die kurze Treppe aus einem angrenzenden Korridor herunterrauschte, war sie so überrascht, dass sie unwillkürlich zusammenzuckte. Adelorna ging weiter, ohne Pevara auch nur eines Blickes zu würdigen. Die Saldaeanerin trug ebenfalls ihre Stola mit den Fransen, die ihre Ajah auswiesen — keine Schwester verließ zurzeit ohne Stola das Quartier ihrer Ajah —, und wurde von ihren drei Behütern begleitet. Klein und groß, breit und sehnig trugen sie ihre Schwerter, und ihre Blicke waren unablässig in Bewegung. Behüter, die in der Weißen Burg ihre Schwerter trugen und offensichtlich ihre Aes Sedai beschützten. Das war allzu verbreitet, aber Pevara hätte deswegen weinen können. Doch es gab zu viele Gründe, um weinen zu können; stattdessen machte sie sich daran, so viele Dinge zu klären, wie sie konnte.
Tsutama konnte Roten befehlen, mit Asha'man den Behüterbund einzugehen, sie konnte ihnen befehlen, nicht zu Elaida zu rennen, aber es erschien besser, mit Schwestern anzufangen, die möglicherweise bereit waren, den Gedanken in Betracht zu ziehen, ohne dass man es ihnen befahl, vor allem da sich das Gerücht verbreitete, dass Asha'man drei Rote Schwestern umgebracht hatten. Tarna Fair hatte bereits darüber nachgedacht, also war ein sehr privates Gespräch mit ihr angebracht. Sie kannte vielleicht welche, die ähnlich dachten. Das größte Problem würde sein, den Asha'man mit der Idee gegenüberzutreten. Es war sehr unwahrscheinlich, dass sie einfach so zustimmten, nur weil sie gerade selbst einundfünfzig Schwestern an sich gebunden hatten. Beim Licht der Welt, einundfünfzig! Um das Thema anzuschneiden, würde man eine Schwester brauchen, die über Diplomatie verfügte und redegewandt war. Und eiserne Nerven besaß. Sie sann noch immer über Namen nach, als sie die Frau erblickte, die sie treffen wollte, die bereits an der verabredeten Stelle stand und anscheinend einen großen Wandteppich betrachtete.
Klein gewachsen und gertenschlank, majestätisch in ihrer hell silbrigen Seide mit etwas dunklerem Spitzenbesatz an Hals und Handgelenken, erschien Yukiri völlig in ihre Betrachtung versunken und völlig gelassen. Pevara konnte sich nur an eine Gelegenheit erinnern, bei der sie etwas aufgeregt gewesen war, und Talene der Befragung zu unterziehen war für alle Anwesenden enervierend gewesen. Yukiri war natürlich allein, allerdings hatte man sie in letzter Zeit sagen hören, sie würde darüber nachdenken, sich wieder einen Behüter zu erwählen. Zweifellos lag das zu gleichen Teilen an der Zeit und ihrer augenblicklichen Situation. Pevara hätte selbst einen Behüter oder zwei gebrauchen können.
»Steckt da irgendwelche Wahrheit drin, oder ist das alles der Phantasie des Künstlers entsprungen?«, fragte sie und gesellte sich zu der kleineren Frau. Der Wandbehang zeigte eine vor langer Zeit geschlagene Schlacht gegen Trollocs oder sollte es zumindest. Die meisten Dinge dieser Art entstanden lange nach dem Ereignis, und die Entwürfe beruhten gewöhnlich auf Hörensagen. Dieser Teppich hier war alt genug, um den Schutz eines Machtgewebes zu brauchen, damit er nicht auseinander fiel.
»Ich weiß so viel übe Wandbehänge wie ein Schwein über Schmiedearbeit, Pevara.« Trotz ihrer ganzen Eleganz ließ Yukiri nur selten lange Zeit verstreichen, ohne ihre Herkunft vom Land zu enthüllen. Die silbergrauen Fransen ihrer Stola gerieten in Schwung, als sie sie enger um sich zog. »Ihr kommt spät, also lasst es uns kurz machen. Ich fühle mich wie eine Henne, die von einem Fuchs beobachtet wird. Heute Morgen haben wir Marris' Widerstand gebrochen, und ich habe ihr den Gehorsamseid selbst abgenommen, aber wie bei den anderen ist ihre ›Andere‹ nicht in der Burg. Ich glaube, sie ist bei den Rebellen.« Sie verstummte, als zwei Dienerinnen im Gang erschienen, die einen Wäschekorb trugen, aus dem oben sauber gefaltete Bettwäsche hervorlugte.
Pevara seufzte. Am Anfang hatte es so vielversprechend ausgesehen. Auch furchteinflößend und beinahe überwältigend, aber es hatte nach einem guten Anfang ausgesehen. Talene hatte nur den Namen einer anderen Schwarzen Schwester gewusst, die sich gegenwärtig in der Weißen Burg befand, aber sobald Atuan entführt worden war — Pevara hätte es gern als Gefangennahme betrachtet, aber sie konnte es nicht, wenn es die Hälfte der Burggesetze verletzte und obendrein eine Menge tief verwurzelter Bräuche —, sobald man sie sicher in Gewahrsam hatte, war sie schnell dazu verleitet worden, die Namen ihres »Herzens« zu verraten: Karale Sanghir, eine Graue und Domani, und Marris Thornhill, eine Braune aus Andor. Nur Karale hatte von ihnen einen Behüter, allerdings hatte er sich auch als Schattenfreund entpuppt. Glücklicherweise hatte er sich in dem Kellerraum vergiftet, in den man ihn gesperrt hatte, während man Karale der Befragung unterzog; kurz nachdem er erfahren hatte, dass seine Aes Sedai ihn verraten hatte. Seltsam, das als glücklich zu bezeichnen, aber der Eidstab funktionierte nur bei denen, die die Macht lenken konnten, und sie waren zu wenig, um Gefangene bewachen und versorgen zu können.
Es war ein so furioser Anfang gewesen, wenn auch gefahrvoll, aber jetzt steckten sie in einer Sackgasse, solange keine der »Anderen« in die Burg zurückkehrten, fingen wieder damit an, nach Diskrepanzen zu suchen bei dem, was Schwestern behaupteten getan zu haben und was bewiesen werden konnte, dass sie es getan hatten. Was durch die Neigung der meisten Schwestern erschwert wurde, in fast allem undurchschaubar zu sein. Natürlich würden Talene und die anderen drei alles weiterleiten, was sie erfuhren, was auch immer ihnen in die Hände fiel — dafür sorgte der Gehorsamsschwur —, aber jede Botschaft, die wichtiger war als »nimm das und bring es dorthin« würde auf eine Weise verschlüsselt sein, die nur Absender und Empfänger bekannt war. Einige wurden von einem Gewebe geschützt, das die Tinte verschwinden ließ, wenn die falschen Hände das Siegel brachen; das funktionierte mit so wenig Macht, dass es nicht auffiel, sofern man nicht danach Ausschau hielt, und es schien keinen Weg zu geben, das Schutzgewebe zu umgehen. Wenn nicht in der Sackgasse, war ihr Erfolg bestenfalls zu einem tröpfelnden Rinnsal geworden. Und immer bestand die Gefahr, dass die Gejagten von ihnen erfuhren und zu den Jägern wurden. Und zwar unsichtbaren Jägern, so wie sie jetzt unsichtbares Wild zu sein schienen.
Und dennoch, sie hatten vier Namen und vier Schwestern in ihrer Hand, die zugaben, dass sie Schattenfreunde waren. Auch wenn Marris genauso schnell wie die anderen jetzt behaupten würde, dem Schatten abzuschwören, ihre Sünden zu bereuen und das Licht wieder anzunehmen. Und das ehrlich genug, um jeden zu überzeugen. Angeblich wusste die Schwarze Ajah über alles Bescheid, das in Elaidas Arbeitsgemach passierte, aber vielleicht war es das Risiko trotzdem wert. Pevara weigerte sich, Talenes Behauptung zu glauben, Elaida sei eine Schattenfreundin. Schließlich hatte sie die Jagd in Gang gesetzt. Der Amyrlin-Sitz konnte die ganze Weiße Burg aufrütteln. Vielleicht konnte die Enthüllung, dass es die Schwarze Ajah tatsächlich gab, das erreichen, was der Aufmarsch der Rebellen mit einem Heer nicht vollbracht hatte, konnte die Ajahs abhalten, sich wie streunende Katzen anzufauchen und sie wieder zusammenschweißen. Die Wunden der Burg verlangten nach verzweifelten Heilkuren.
Die Dienerinnen waren außerhalb der Hörweite, und Pevara wollte den Vorschlag machen, da ergriff Yukiri wieder das Wort.
»Vergangene Nacht hat Talene den Befehl erhalten, vor ihrem ›Hohen Rat‹ zu erscheinen.« Bei diesen Worten verzog sich ihr Mund vor Abscheu. »Anscheinend passiert das nur, wenn man geehrt wird oder eine ganz besonders wichtige Aufgabe erhält. Oder wenn man der Befragung unterzogen wird.« Ihre Lippen zuckten beinahe. Was sie über die Vorgehensweise der Schwarzen Ajah erfahren hatten, jemanden der Befragung zu unterwerfen, war so übelkeiterregend wie unglaublich. Eine Frau gegen ihren Willen in einen Zirkel zu zwingen? Einen Zirkel zu lenken, um jemanden zu foltern? Pevaras Magen verkrampfte sich. »Talene glaubt nicht, dass sie geehrt werden oder eine Aufgabe bekommen soll«, fuhr Yukiri fort, »also bettelt sie darum, versteckt zu werden. Saerin hat sie in einem Raum im untersten Keller untergebracht. Vielleicht irrt sich Talene, aber ich stimme Saerin zu. Dieses Risiko einzugehen wäre so, als würde man einen Hund auf den Hühnerhof lassen und auf das Beste hoffen.«
Pevara starrte den Wandteppich an, der sich hoch über ihre Köpfe erstreckte. Männer in Rüstungen hieben mit Schwertern und Äxten und stachen mit Speeren und Hellebarden auf gewaltige, menschenähnliche Kreaturen mit Eberschnauzen und Wolfsrachen, Ziegenhörnern und Schafsgeweihen ein. Der Künstler hatte Trollocs gesehen. Oder akkurate Bilder. Es kämpften auch Männer an der Seite der Trollocs. Schattenfreunde. Manchmal musste man Blut vergießen, wenn man den Schatten bekämpfte. Oder verzweifelte Heilkuren anwenden.
»Lasst Talene zu diesem Treffen gehen«, sagte sie. »Wir gehen alle. Sie werden uns nicht erwarten. Wir können sie töten oder gefangen nehmen und die Schwarze Ajah mit einem Streich enthaupten. Dieser Hohe Rat muss die Namen von allen kennen. Wir können die ganze Schwarze Ajah vernichten.«
Yukiri hob ein paar von Pevaras Fransen mit einer schlanken Hand hoch und bedachte sie mit einem demonstrativen Stirnrunzeln. »Ja, rot. Ich dachte schon, sie wären grün geworden, während ich wegschaute. Es werden dreizehn von ihnen sein, wisst Ihr. Selbst wenn ein paar Angehörige dieses ›Rates‹ nicht in der Burg sind, wird der Rest Schwestern mitbringen, um auf diese Zahl zu kommen.«
»Ich weiß«, erwiderte Pevara ungeduldig. Talene war eine wahre Informationsquelle gewesen, das meiste davon nutzlos und vieles erschreckend, beinahe mehr, als sie ertragen konnten. »Wir nehmen jeden mit. Wir können Zerah und den anderen befehlen, an unserer Seite zu kämpfen, sogar Talene und ihren Haufen. Sie werden tun, was man ihnen sagt.« Anfangs hatte ihr die Sache mit dem Gehorsamseid Unbehagen eingeflößt, aber im Laufe der Zeit konnte man sich an alles gewöhnen.
»Hm, neunzehn von uns gegen dreizehn von ihnen«, dachte Yukiri laut nach und klang viel zu geduldig. »Und wen auch immer sie als Wächter haben, um dafür zu sorgen, dass ihr Treffen nicht gestört wird. Diebe passen immer besonders gut auf ihre Geldbeutel auf.« Das klang nervtötend nach einem alten Sprichwort. »Am besten sagen wir, dass die Zahl ausgeglichen ist, vielleicht sogar zu ihrem Vorteil. Wie viele von uns werden sterben, um wie viele von ihnen zu töten oder gefangen zu nehmen? Und was noch wichtiger ist, wie viele von ihnen werden entkommen? Vergesst nicht, sie treffen sich mit Kapuzen verhüllt. Wenn nur eine entkommt, dann werden wir nicht wissen, wer sie ist, aber sie wird uns kennen, und damit auch bald die ganze Schwarze Ajah. In meinen Ohren klingt das weniger danach, ein Huhn zu köpfen, als vielmehr mit einem Leoparden in der Dunkelheit ringen zu wollen.«
Pevara öffnete den Mund, dann schloss sie ihn wieder wortlos. Yukiri hatte Recht. Sie hätte die Zahlen zusammenzählen und zu demselben Schluss kommen müssen. Aber sie wollte zuschlagen, egal worauf oder auf wen, und das war auch kein Wunder. Das Oberhaupt ihrer Ajah war möglicherweise wahnsinnig; sie hatte die Aufgabe erhalten, sich darum zu kümmern, dass Rote, die uralten Bräuchen zufolge mit niemanden den Behüterbund eingingen, nicht nur mit Männern den Bund schlossen, sondern mit Asha'man; und die Jagd nach Schattenfreunden in der Burg steckte in einer Sackgasse. Zuschlagen? Sie wollte Löcher in Ziegelsteine beißen.
Sie glaubte ihr Treffen beendet — sie war nur gekommen, um zu erfahren, wie die Sache mit Marris vorangegangen war, und das hatte sich als bittere Ernte erwiesen —, aber Yukiri berührte ihren Arm. »Begleitet mich ein Stück. Wir stehen hier zu lange, und ich möchte Euch etwas fragen.« Sitzende verschiedener Ajahs, die heutzutage zu lange beieinander standen, ließen Gerüchte über Verschwörungen so schnell wie Pilze nach einem Regenschauer sprießen. Unterhaltungen bei einem Spaziergang verursachten aus irgendeinem Grund weniger. Es ergab keinen Sinn, aber so war es nun einmal.
Yukiri ließ sich Zeit mit ihrer Frage. Aus grünen und blauen Fliesen wurden während ihres Spaziergangs durch einen der Hauptkorridore der Burg, der eine sanfte Spirale beschrieb, gelbe und braune, und sie passierten fünf Stockwerke, bevor sie sprach. »Haben die Roten irgendetwas von jemandem gehört, der Toveine begleitet hat?«
Pevara wäre beinahe über ihre Schuhe gestolpert. Allerdings hätte sie das erwarten müssen. Unwahrscheinlich, dass Toveine als Einzige aus Cairhien schrieb. »Nur von Toveine selbst«, sagte sie und berichtete fast alles, was in Toveines Brief gestanden hatte. Unter diesen Umständen konnte sie nicht anders handeln. Sie hielt die Anschuldigungen gegen Elaida zurück und verriet auch nicht, wann der Brief eingetroffen war. Das eine war noch immer Sache der Ajah — hoffte sie zumindest —, und das andere hätte unangenehme Erklärungen erfordert.
»Wir haben von Akoure Vayet gehört.« Yukiri schwieg die nächsten Schritte, dann murmelte sie: »Verdammte und verfluchte Asche!«
Pevara hob schockiert die Brauen. Yukiri war oft sehr bodenständig, aber sie war noch nie zuvor vulgär gewesen. Pevara entging auch nicht, dass sie ebenfalls für sich behielt, wann Akoures Brief eingetroffen war. Hatten die Grauen andere Briefe aus Cairhien bekommen, von Schwestern, die dem Wiedergeborenen Drachen den Treueid geschworen hatten? Sie konnte nicht danach fragen. Bei dieser Jagd vertrauten sie sich gegenseitig ihr Leben an, aber Angelegenheiten der eigenen Ajah waren noch immer Angelegenheiten der eigenen Ajah. »Was wollt Ihr mit dieser Information machen?«
»Wir werden zum Wohl der Burg schweigen. Nur die Sitzenden und die Anführerin unserer Ajah wissen Bescheid. Evanellein ist dafür, Elaida deswegen zu stürzen, aber das darf man jetzt nicht zulassen. Da die Burg wieder zusammenwachsen und man sich um die Seanchaner und die Asha'man kümmern muss, vielleicht sogar nie.« Es hörte sich nicht so an, als würde sie das freudig stimmen.
Pevara unterdrückte ihre Gereiztheit. Sie konnte Elaida nicht leiden, aber man musste den Amyrlin-Sitz auch nicht mögen. Viele ausgesprochen unsympathische Frauen hatten die Stola der Amyrlin getragen und die Burg gut geführt. Aber konnte man es gute Führung nennen, wenn man einundfünfzig Schwestern in die Gefangenschaft schickte? Oder die Quellen von Dumai, was das anging, mit vier toten Schwestern und mehr als zwanzig, die in eine andere Art Gefangenschaft geraten waren, bei einem Ta'verent Egal. Elaida war eine Rote — eine ehemalige Rote —, und es war viel zu viel Zeit vergangen, seit eine Rote Stola und Stab errungen hatte. Seit dem Aufmarsch der Rebellen schienen alle übereilten Aktionen und schlecht durchdachten Entscheidungen Dinge der Vergangenheit zu sein, und die Weiße Burg vor der Schwarzen Ajah zu retten würde ihre Fehlschläge wieder gutmachen.
Natürlich sagte sie das so nicht. »Sie hat die Jagd in Gang gesetzt, Yukiri, sie verdient, sie auch zu beenden. Beim Licht, alles, was wir jetzt entdeckt haben, ist durch reinen Zufall ans Tageslicht gekommen, und wir stecken in einer Sackgasse. Wir brauchen die Autorität der Amyrlin im Rücken, wenn wir weiterkommen wollen.«
»Ich weiß nicht«, erwiderte Yukiri wenig überzeugt. »Alle vier behaupten, dass die Schwarzen über alles Bescheid wissen, was in Elaidas Arbeitsgemach passiert.« Sie biss sich auf die Lippe und zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Wenn wir vielleicht allein mit ihr sprechen könnten, außerhalb ihres Arbeitsgemachs…«
»Da seid ihr ja. Ich habe überall nach euch gesucht.«
Pevara drehte sich unbewegt zu der plötzlich hinter ihr ertönenden Stimme um, aber Yukiri zuckte zusammen und murmelte fast unhörbar etwas Unfreundliches. Wenn sie so weitermachte, würde sie genauso schlimm sein wie Doesine. Oder Tsutama.
Seaine eilte mit wehenden Fransen auf sie zu; ihre dichten schwarzen Augenbrauen hoben sich überrascht, als sie Yukiris bösen Blick bemerkte. Wie typisch für eine Weiße, logisch in allem und oft so blind für die Welt um sie herum. Seaine schien sich die Hälfte der Zeit nicht bewusst zu sein, dass sie in Gefahr schwebten.
»Ihr habt nach uns gesucht?« Yukiri stieß es beinahe knurrend hervor, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Trotz ihrer mangelnden Größe bot sie eine überzeugende Darstellung grimmigen Überragens. Zweifellos lag das zum Teil daran, weil man sie überrascht hatte, aber sie vertrat noch immer die Ansicht, dass man Seaine zu ihrer eigenen Sicherheit lückenlos bewachen sollte, ganz egal, was Saerin entschieden hatte — und da stand die Frau, völlig allein und unterwegs.
»Nach Euch, nach Saerin, nach irgendjemandem«, erwiderte Seaine ruhig. Ihre Befürchtung, dass die Schwarze Ajah wusste, welche Aufgabe Elaida ihr übertragen hatte, war so gut wie verschwunden. In ihren blauen Augen lag Wärme, ansonsten war sie wieder die typische Weiße, eine Frau von eisiger gelassener Ruhe. »Ich habe dringende Neuigkeiten«, sagte sie in einem Tonfall, der das genaue Gegenteil besagte. »Zuerst das weniger Wichtige. Heute Morgen habe ich einen Brief von Ayako Norsoni gelesen, der vor mehreren Tagen eingetroffen ist. Aus Cairhien. Sie und Toveine und all die anderen sind von den Asha'man gefangen genommen worden und…« Sie legte den Kopf schief und musterte sie nacheinander. »Ihr seid nicht im Mindesten überrascht. Natürlich. Ihr habt auch Briefe gelesen. Nun, daran kann man im Augenblick sowieso nichts ändern.«
Pevara tauschte einen Blick mit Yukiri aus. Dann sagte sie: »Und das ist das weniger wichtige, Seaine?«
Die Selbstbeherrschung der Weißen Sitzenden wich Sorge, ihre Lippen spannten sich an, und in ihren Augenwinkeln traten Falten zum Vorschein. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten und klammerten sich um die Stola. »Für uns ja. Ich war gerade bei Elaida. Sie wollte wissen, welche Fortschritte ich mache.« Seaine holte tief Luft. »Bei der Entdeckung von Beweisen, dass Alviarin eine verräterische Korrespondenz mit dem Wiedergeborenen Drachen begonnen hat. Sie war am Anfang so vage, so indirekt, dass es kein Wunder ist, dass ich ihre Wünsche falsch verstanden habe.«
»Ich glaube, gerade ist ein Fuchs über mein Grab gelaufen«, murmelte Yukiri.
Pevara nickte. Die Idee, Elaida auf die Schwarzen anzusprechen, war wie Morgentau verschwunden. Die einzige Sicherheit, dass Elaida keine Schwarze Ajah war, hatte darin bestanden, dass sie die Jagd auf sie eröffnet hatte, aber da sie das gar nicht getan hatte… Wenigstens wussten die Schwarzen Ajah nichts von ihnen. Wenigstens war es so gewesen. Aber wie lange noch?
»Über meins auch«, sagte sie leise.
Alviarin schritt äußerlich völlig gelassen durch die Korridore der unteren Burg, aber es kostete sie eine große Anstrengung. Trotz der Kandelaber schien die Nacht an den Wänden zu kleben, die Geister von Schatten tanzten dort, wo keine hätten sein dürfen. Sicherlich Einbildung, aber sie tanzten am Rand des Blickfeldes. Die Gänge waren so gut wie leer, obwohl die Zweite Essensausgabe des Abends gerade geendet hatte. Heutzutage zogen die meisten Schwestern es vor, sich das Essen in ihre Gemächer bringen zu lassen, aber die zäheren und stureren begaben sich von Zeit zu Zeit in die Speisesäle, und eine Hand voll nahmen noch immer viele ihrer Mahlzeiten unten ein. Sie würde nicht riskieren, dass Schwestern sie durcheinander oder hektisch sahen; sie weigerte sich, in ihnen den Eindruck zu erwecken, dass sie verstohlen umherhuschte. In Wahrheit verabscheute sie es, dass sie überhaupt jemand ansah. Nach außen ganz ruhig scheinend, kochte sie innerlich. Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass sie die Stelle auf ihrer Stirn befingerte, an der Schaidar Haran sie berührt hatte. Wo der Große Herr selbst sie als sein Eigentum gezeichnet hatte. Bei diesem Gedanken stieg Hysterie beinahe bis zur Oberfläche auf, aber mit schierer Willenskraft behielt sie ein unbewegtes Gesicht bei und hob ihre weißen Seidenröcke ein kleines Stück an. Das sollte ihre Hände beschäftigen. Der Große Herr hatte sie gezeichnet. Besser, nicht daran zu denken. Aber wie sollte sie das vermeiden?
Der Große Herr…
Nach außen hin zeigte sie absolute Gelassenheit, aber innerlich war da ein brodelndes Gewirr aus Demütigung und Hass und beinahe wimmerndem Terror. Aber es war die äußerliche Ruhe, auf die es ankam. Und da war ein Funken Hoffnung. Auch das war wichtig. Eine seltsame Sache, um sie als hoffnungsvoll zu betrachten, aber sie würde sich an allem festklammern, das sie womöglich am Leben halten würde.
Sie blieb vor einem Wandteppich stehen, der eine Frau mit einer aufwändigen Krone zeigte, die vor einer längst vergangenen Amyrlin kniete, und tat so, als würde sie ihn studieren, während sie unauffällig nach links und rechts schaute. Abgesehen von ihr blieb der Korridor so leblos wie eine vergessene Gruft. Ihre Hand schoss hinter den Rand des Wandteppichs, und im nächsten Augenblick umklammerte sie eine zusammengefaltete Nachricht und ging weiter. Ein Wunder, dass sie sie so schnell erreicht hatte. Das Papier schien ihre Hand zu verbrennen, aber sie konnte sie nicht hier lesen. Mit gesetzten Schritten stieg sie zögernd zum Quartier der Weißen Ajah hinauf. Von allem unberührt, jedenfalls nach außen hin.
Der Große Herr hatte sie gez eichnet.
Andere Schwestern würden sie ansehen. Die Weißen waren die kleinste der Ajahs, im Moment hielten sich kaum mehr als zwanzig Schwestern in der Burg auf, und doch hatte es den Anschein, dass sich fast alle im Durchgangskorridor aufhielten. Der Weg über die weißen Fliesen erschien wie ein Spießrutenlauf.
Seaine und Ferane gingen trotz der späten Stunde aus, die Stolen über die Arme drapiert, und Seaine schenkte ihr ein kleines bedauerndes Lächeln, das in ihr das Verlangen aufsteigen ließ, die Sitzende zu töten, die immer ihre spitze Nase in Dinge steckte, die sie nichts angingen.
Ferane zeigte kein Mitgefühl. Ihr Stirnrunzeln verriet mehr offene Wut, als eine Schwester jemals hätte zeigen dürfen. Alviarin konnte nur versuchen, die kupferhäutige Frau zu ignorieren, ohne es zu offensichtlich aussehen zu lassen. Klein und stämmig, mit einem ungewöhnlich sanften runden Gesicht und einem Tintenklecks auf der Nase, entsprach Ferane keinesfalls dem allgemeinen Bild einer Domani, aber die Erste Denkerin verfügte über das hitzige Temperament einer Domani. Sie war durchaus dazu in der Lage, für die geringste Geringschätzung eine Buße zu verhängen, vor allem bei einer Schwester, die sowohl sich wie auch die Weißen »entehrt« hatte.
Die Ajah bekam die Schande, dass man sie der Behüterinnenstola entkleidet hatte, empfindlich zu spüren. Die meisten waren auch wütend über den Verlust an Einfluss. Es gab viel zu viele finstere Blicke, einige davon von Schwestern, die weit genug unter ihr standen, dass sie bei einem Befehl von ihr hätten springen sollen. Andere wandten ihr demonstrativ den Rücken zu.
Sie bahnte sich mit gleichmäßigem Schritt einen Weg durch das Stirnrunzeln und die Anfeindungen, ohne jede Eile, aber sie fühlte, wie Hitze in ihren Wangen aufstieg. Sie versuchte sich in die besänftigende Natur des Weißen Quartiers zu versenken. Die schlichten weißen Wände, die von Silberspiegeln gesäumt wurden, wiesen nur ein paar einfache Wandteppiche auf, Bilder von schneebedeckten Bergen, schattige Wälder, Bambushaine, durch die schräg das Sonnenlicht fiel. Seit sie zur Aes Sedai geworden war, hatte sie diese Bilder benutzt, um in Zeiten von Anspannung Ruhe zu finden. Der Große Herr hatte sie gezeichnet. Sie verkrallte die Fäuste im Stoff ihrer Röcke, um die Hände an den Seiten zu halten. Die Nachricht schien ihre Hand zu verbrennen. Ein ruhiger, gesetzter Schritt.
Zwei der Schwestern, an denen sie vorbeiging, ignorierten sie einfach, weil sie sie nicht sahen. Astrelle und Tesan diskutierten über verdorbene Speisen. Eigentlich stritten sie, die Gesichter unbewegt, aber die Augen lebhaft und die Stimmen am Rande der Erregung. Sie waren sinnigerweise Rechenmeister, als könnte man Logik auf Zahlen reduzieren, und sie schienen darüber zu debattieren, wie diese Zahlen zu benutzen waren.
»Rechnet man mit Raduns Standard der Abweichung, ist die Rate elfmal so hoch, wie sie sein sollte«, sagte Astrelle angespannt. »Außerdem muss das auf den Einfluss des Schattens hinweisen…«
Tesan unterbrach sie, die mit Holzperlen geschmückten Zöpfe klickten, als sie den Kopf schüttelte. »Der Schatten, ja, aber Raduns Standard, der ist veraltet. Ihr müsst Covanens Erste Regel der Mittellinie benutzen und bereits verdorbenes und verderbendes Fleisch separat berechnen. Die korrekte Antwort ist, wie ich gesagt habe, dreizehn und neun. Ich habe sie noch nicht auf Mehl oder Bohnen oder Linsen angewendet, aber es erscheint intuitiv offensichtlich…«
Astrelle plusterte sich auf, und da sie eine mollige Frau mit einer formidablen Oberweite war, konnte sie sich auf beeindruckende Weise aufplustern. »Covanens Erste Regel?«, sprudelte sie hervor. »Das ist noch nicht richtig bewiesen worden. Korrekte und bewiesene Methoden sind immer schlampigen vorzuziehen…«
Beinahe hätte Alviarin gelächelt, während sie weiterging. Also war endlich jemandem aufgefallen, dass der Große Herr seine Hand auf die Burg gelegt hatte. Aber das Wissen würde ihnen nicht helfen, die Dinge zu ändern. Vielleicht hätte sie gelächelt, aber sie unterdrückte es, als jemand sprach.
»Ihr würdet auch das Gesicht verziehen, Ramesa, wenn man Euch jeden Morgen vor dem Frühstück den Riemen zu spüren geben würde«, sagte Norine viel zu laut, damit Alviarin es auch ja hören konnte. Ramesa, eine hochgewachsene schlanke Frau, deren Kleiderärmel mit silbernen Glöckchen verziert waren, wirkte überrascht, dass sie angesprochen wurde, und vermutlich war sie es auch. Norine hatte wenige Freunde, vielleicht auch gar keine. Sie fuhr fort, ihr Blick huschte zu Alviarin, um zu sehen, ob sie es gehört hatte.
»Es ist irrational, eine Bestrafung privat zu nennen und dann so zu tun, als würde nichts geschehen, wenn die Amyrlin sie angeordnet hat. Andererseits ist ihre Rationalität meiner Meinung nach immer überschätzt worden.«
Glücklicherweise hatte es Alviarin nur noch ein kurzes Stück bis zu ihrem Gemach. Sorgfältig verschloss sie die Außentür und legte den Riegel vor. Nicht dass jemand sie stören würde, aber sie hatte nicht überlebt, indem sie Risiken einging, wenn sie es nicht unbedingt musste. Die Lampen waren entzündet, ein kleines Feuer brannte in dem weißen Marmorkamin, um die Kühle eines frühen Frühlingstages fern zu halten. Wenigstens die Diener erfüllten noch immer ihre Pflichten. Aber selbst die Diener wussten Bescheid.
Stumme Tränen der Demütigung fingen an, ihr die Wangen hinunterzuströmen. Sie wollte Silviana umbringen, aber das hätte nur bedeutet, dass eine neue Oberin der Novizinnen sie jeden Morgen mit dem Riemen schlug, bis sich Elaida erweichen ließ. Aber Elaida würde sich niemals erweichen lassen. Sie zu töten wäre sinnvoller gewesen, aber solche Morde mussten sorgfältig rationiert werden. Zu viele unerklärte Todesfälle würden Fragen aufwerfen, möglicherweise gefährliche Fragen.
Und dennoch, sie hatte gegen Elaida getan, was sie konnte.
Katerines Mitteilungen über diese Schlacht verbreiteten sich in der ganzen Schwarzen Ajah und darüber hinaus. Alviarin hatte gehört, wie Schwestern, die nicht zu den Schwarzen gehörten, detailliert über die Quellen von Dumai sprachen, und wenn die Einzelheiten bei der Verbreitung ausführlicher geworden waren, umso besser. Bald würde sich auch die Nachricht über die Schwarze Burg hier verbreitet haben, vermutlich auf die gleiche Weise. Eine Schande, dass beides nicht ausreichen würde, damit Elaida entehrt und abgesetzt wurde, standen diese verfluchten Rebellen doch praktisch vor den Brücken, aber die Quellen von Dumai und die Katastrophe in Andor, die über ihr schwebten, würden sie davon abhalten, das wieder rückgängig zu machen, was Alviarin geschafft hatte. Sie hatte den Befehl erhalten, die Weiße Burg von innen zu vernichten. In jeder Ecke der Burg Chaos und Unfrieden zu stiften. Einen Teil von ihr hatte dieser Befehl geschmerzt, tat es immer noch, aber der größere Teil ihrer Loyalität lag bei dem Großen Herrn. Elaida selbst hatte die erste Bresche in die Burg geschlagen, aber sie hatte die Hälfte so zerschlagen, dass sie nicht mehr zu reparieren war.
Unvermittelt wurde ihr bewusst, dass sie wieder ihre Stirn berührte, und sie riss die Hand nach unten. Dort war kein Zeichen, nichts, das man sehen oder fühlen konnte. Bei jedem Blick in den Spiegel kontrollierte sie es, obwohl sie es besser wusste. Und doch, manchmal glaubte sie, dass die Leute ihre Stirn anstarrten, etwas sahen, das sie selbst nicht sehen konnte. Das war unmöglich, irrational, doch der Gedanke schlich sich immer wieder bei ihr ein, ganz egal, wie oft sie ihn verjagte. Mit der Hand, die die Nachricht von dem Wandteppich hielt, wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht, dann holte sie die anderen beiden Nachrichten, die sie eingesammelt hatte, aus ihrer Gürteltasche und begab sich zu dem Schreibtisch an der Wand.
Es war ein einfacher Tisch, schmucklos wie alle ihre Möbel; vermutlich hatten die Handwerker einige davon ohne großen Einsatz gezimmert. Eine triviale Sache, solange Möbel die ihnen zugedachte Aufgabe erfüllten, spielte nichts weiter eine Rolle. Sie warf die drei Nachrichten neben einer kleinen gehämmerten Kupferschale auf den Tisch, holte einen Schlüssel aus der Gürteltasche, schloss eine mit Messingbändern beschlagene Truhe auf, die neben dem Tisch auf dem Boden stand, stöberte in den mit Leder eingebundenen Büchern darin herum, bis sie die drei gefunden hatte, die sie brauchte; jedes davon war beschützt, sodass die Tinte auf ihren Seiten verschwinden würde, wenn eine andere Hand außer der ihren sie berührte. Es wurden viel zu viele Chiffren benutzt, als dass sie sie sich hätte merken können. Diese Bücher zu verlieren wäre ausgesprochen unerfreulich gewesen, sie zu ersetzen sehr mühsam, daher die stabile Truhe und das Schloss. Ein sehr gutes Schloss. Gute Schlösser waren keine Trivialität.
Hastig wickelte sie die dünnen Papierstreifen ab, in die die Nachrichten eingewickelt waren, die sie hinter den Wandteppichen hervorgeholt hatte, hielt sie an eine Lampenflamme und warf sie in die Schüssel, damit sie dort verbrennen konnten. Das waren bloß Anweisungen, wo die Nachricht hinterlassen werden sollte, eine für jede Frau in der Kette. Die zusätzlichen Streifen sollten lediglich verschleiern, durch wie viele Hände die Nachricht ging, um ihre eigentliche Empfängerin zu erreichen. Es war unmöglich, zu viele Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Nur drei Schwestern des Hohen Rates kannten ihre Identität; sie hätte das lieber vermieden, wäre das möglich gewesen. Man konnte nie vorsichtig genug sein, vor allem jetzt.
Die Botschaft war, nachdem sie sie entschlüsselt und auf ein anderes Blatt übertragen hatte, so ziemlich das, was sie erwartet hatte, seit Talene am vergangenen Abend nicht gekommen war. Die Frau hatte das Quartier der Grünen früh am Vortag mit ausgebeulten Satteltaschen und einer kleinen Truhe verlassen. Sie hatte sie keinem Diener übergeben, sondern sie selbst getragen. Niemand schien zu wissen, wo sie hin war. Nun stellte sich die Frage, ob der Ruf vor den Hohen Rat sie in Panik versetzt hatte oder etwas anderes dahintersteckte? Alviarin war davon überzeugt, dass es Letzteres war. Talene hatte Yukiri und Doesine angesehen, als würde sie etwas erwarten… konnten es Anweisungen sein? Sie war überzeugt, es sich nicht eingebildet zu haben. Oder doch? Ein sehr kleiner Hoffnungsfunke. Da musste es mehr geben. Sie brauchte eine Bedrohung der Schwarzen, oder der Große Herr würde seinen Schutz zurücknehmen. Wütend riss sie die Hand von der Stirn. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, das kleine Ter'angreal zu benutzen, das sie versteckt hatte, um Mesaana zu rufen. Zum einen, sehr wichtig, die Frau wollte sie bestimmt töten, und das vermutlich trotz des Schutzes des Großen Herrn. Auf der Stelle, sobald es diesen Schutz nicht länger gab. Sie hatte Mesaanas Gesicht gesehen, wusste über ihre Demütigung Bescheid. Keine Frau würde das einfach übergehen, vor allem keine der Auserwählten. Jede Nacht träumte sie davon, Mesaana zu töten, hatte Tagträume darüber, wie sie das schaffen sollte, aber das musste warten, bis sie ihre Identität herausgefunden hatte, ohne dass die Auserwählte es bemerkte. In der Zwischenzeit brauchte sie mehr Beweise. Es war durchaus möglich, dass weder Mesaana noch Schaidar Haran Talenes Verhalten als Bestätigung reichten. Schwestern waren auch schon in der Vergangenheit in Panik geraten und geflohen, auch wenn das nur selten vorkam, und die Annahme, dass Mesaana und der Große Herr das nicht wussten, war gefährlich.
Sie führte die chiffrierte Nachricht und die Übersetzung nacheinander an die Lampenflamme und hielt jede an der Ecke fest, bis sie ihr beinahe die Finger verbrannten, bevor sie sie auf die Asche in der Schale fallen ließ. Mit einem glatten schwarzen Stein, der ihr als Briefbeschwerer diente, zerrieb sie die Asche. Sie bezweifelte, dass jemand Worte aus Asche herauslesen konnte, trotzdem…
Noch immer stehend dechiffrierte sie die beiden anderen Nachrichten und erfuhr, dass sowohl Yukiri und Doesine in Zimmern schliefen, die mit Schutzgeweben gegen Eindringlinge versehen waren. Das war wenig überraschend — zurzeit schlief kaum eine Frau in der Burg ohne Schutzgewebe —, aber das bedeutete, dass eine Entführung schwierig werden würde. Das war immer am einfachsten, wenn es Schwestern aus der Ajah der Frau im Schutz der Nacht taten. Es mochte sich noch herausstellen, dass diese Blicke zufällig erfolgt waren oder sie sich diese nur eingebildet hatte. Sie musste diese Möglichkeit bedenken.
Mit einem Seufzen holte sie weitere der kleinen Bücher aus der Truhe und ließ sich langsam auf das mit Gänsefedern gefüllte Kissen auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch nieder. Nicht sanft genug, um eine Grimasse zu vermeiden, als sie ihr Gewicht dorthin platzierte. Sie unterdrückte ein Wimmern. Zuerst war sie der Ansicht gewesen, dass die Demütigung durch Silvianas Riemen weitaus schlimmer als die Schmerzen war, aber die Schmerzen gingen nie mehr ganz weg. Ihr Hinterteil war eine Masse aus Schwellungen. Und morgen würde die Oberin der Novizinnen weitere hinzufügen. Und am darauf folgenden Tag und am übernächsten… Eine düstere Zukunftsperspektive, endlose Tage, die sie unter Silvianas Riemen schrie und jammerte, die Anstrengung, die Blicke der Schwestern zu erwidern, die alle über die Besuche in Silvianas Arbeitszimmer Bescheid wussten.
Sie versuchte die Gedanken zu verjagen, tauchte eine gute Feder mit Stahlspitze in die Tinte und fing an, chiffrierte Befehle auf dünne Seiten zu schreiben. Talene musste natürlich aufgespürt und zurückgebracht werden. Zur Bestrafung und Hinrichtung, wenn sie bloß in Panik geraten war, und wenn nicht, falls sie eine Möglichkeit gefunden hatte, ihre Eide zu verraten… Alviarin klammerte sich an diese Hoffnung, während sie befahl, Yukiri und Doesine unter scharfe Beobachtung zu stellen. Es musste eine Möglichkeit gefunden werden, sie zu entführen. Und sollte sich alles nur als Zufall und Einbildung herausstellen, würde man noch immer etwas aus dem fabrizieren können, was sie gesagt hatten. Sie würde die Ströme des Zirkels leiten. Man würde etwas machen können.
Sie schrieb wie wild, sich nicht bewusst, dass ihre freie Hand zur Stirn gewandert war, auf der Suche nach dem Zeichen.
Nachmittägliches Sonnenlicht fiel schräg an den hohen Bäumen auf dem Kamm über dem Shaido-Lager vorbei, Singvögel trällerten auf den Zweigen. Sommertangare und Blauhäher schössen farbigen Blitzen gleich durch die Luft, und Galina lächelte. Am Morgen hatte es heftig geregnet, und die Luft unter den langsam dahintreibenden weißen Wolken hatte noch immer einen kühlen Biss. Sicherlich war ihre graue Stute mit dem geschwungenen Hals und munteren Schritt der Besitz einer Adligen gewesen, oder zumindest eines reichen Kaufmanns. Niemand sonst hätte sich ein so prächtiges Tier leisten können, mit Ausnahme einer Schwester vielleicht. Sie genoss die Ausritte auf dem Pferd, das sie Schnell genannt hatte, weil es sie eines Tages schnell in die Freiheit bringen würde; genau wie sie diese Zeit für sich genoss, in der sie darüber nachdenken konnte, was sie tun würde, sobald sie ihre Freiheit zurückerlangt hatte. Sie hatte Pläne, es allen heimzuzahlen, die sie im Stich gelassen hatten, und beginnen würde sie mit Elaida. Über diese Pläne nachzudenken, darüber, wenn sie endlich in die Tat umgesetzt werden würden, machte sehr viel Spaß.
Das hieß, diese Ausritte machten ihr Spaß, solange sie vergessen konnte, dass dieses Privileg genauso sehr ein Zeichen dessen war, wie unerschütterlich sie Theravas Besitz war, wie das dicke weiße Seidengewand und der Gürtel und der Kragen, die mit Feuertropfen besetzt waren. Ihr Lächeln verwandelte sich in eine Grimasse. Schmuck für ein Schoßtier, das sich amüsieren durfte, wenn es nicht seine Besitzerin zu amüsieren hatte. Und sie konnte die juwelenbesetzten Herrschaftszeichen nicht entfernen, nicht einmal hier draußen. Jemand konnte sie sehen. Sie ritt hier, um den Aiel aus dem Weg zu gehen, aber sie konnten auch im Wald sein. Therava konnte womöglich davon erfahren. So schwer es auch fiel, das vor sich selbst zuzugeben, sie fürchtete die falkenäugige Weise Frau bis in die Knochen. Therava erfüllte ihre Träume, und sie waren niemals angenehm. Sie wachte oft schweißgebadet und weinend auf. Aus diesen Albträumen zu erwachen war immer eine Erleichterung, ob sie nun den Rest der Nacht Schlaf fand oder nicht.
Diese Ausritte beinhalteten nie den Befehl, nicht zu fliehen, ein Befehl, dem sie hätte gehorchen müssen, und sein Fehlen brachte seine eigene Bitterkeit. Therava wusste, dass sie zurückkehren würde — ganz egal, wie sehr man sie auch misshandelte —, von der Hoffnung getrieben, dass die Weise Frau eines Tages den verfluchten Gehorsamseid wieder zurücknahm. Sie würde die Macht wieder lenken können, wann und wie sie es wollte. Sevanna ließ sie manchmal die Macht lenken, um unwichtige Aufgaben zu erledigen oder um einfach nur zu demonstrieren, dass sie es befehlen konnte, aber das geschah so selten, dass Galina förmlich selbst nach diesen Gelegenheiten hungerte, um Saida r umarmen zu können. Therava weigerte sich, sie auch nur die Macht berühren zu lassen, es sei denn, sie flehte und bettelte, aber selbst dann verweigerte sie die Erlaubnis, einen Strang zu lenken. Und sie hatte gebettelt und sich völlig erniedrigt, nur um dieses Almosen zu bekommen. Ihr wurde bewusst, dass sie mit den Zähnen knirschte, und sie zwang sich, damit aufzuhören.
Vielleicht würde der Eidstab in der Weißen Burg sie von diesem Eid genauso befreien können wie der fast identische Eidstab in Theravas Besitz, aber sie konnte da nicht sicher sein. Die beiden waren nicht identisch. Der Unterschied bestand nur in der Zeichnung, aber was, wenn das ein Hinweis darauf war, dass ein darauf geleisteter Eid allein an diesen Stab gebunden war? Sie konnte es einfach nicht wagen, ohne Theravas Eidstab zu gehen. Die Weise Frau ließ ihn oft offen in ihrem Zelt herumliegen, aber sie hatte gesagt: Du wirst ihn niemal s ho chheben.
Oh, Galina konnte den weißen Stab mit dem Umfang eines Handgelenks berühren, seine glatte Oberfläche streicheln, aber sie konnte nicht die Finger darum schließen, es sei denn, jemand gab ihr den Stab. Zumindest hoffte sie, dass das nicht dasselbe sein würde, wie ihn hochzuheben. Es musste einfach so sein. Allein der Gedanke, es könnte sich anders verhalten, erfüllte sie mit Verzweiflung. Das Verlangen in ihren Augen, wenn sie den Stab ansah, rief bei Therava ein seltenes Lächeln hervor.
Will meine k leine Lina von ihrem Ei d befreit werden?, pflegte sie dann spöttisch zu sagen. Dann m uss Li na ei n ganz bra ves Scho ßtier sein, denn ich werde nur darüber nachdenk en, dich zu befreien, wenn du mich davo n überzeugst, dass du auch da nn mein Schoßtier bleibst.
Auf Lebenszeit Theravas Spielzeug und das Ziel ihrer Launen sein? Jemand, den man als Ersatz prügeln konnte, wann immer Therava wütend auf Sevanna war? Das Wort Verz weifl ung war nicht stark genug, um ihre Gefühle bei dieser Aussicht zu beschreiben. Entsetzen traf es schon eher. Sie befürchtete wahnsinnig zu werden, sollte das geschehen. Gleichzeitig befürchtete sie, dass es keine Flucht in den Wahnsinn geben würde.
Die Stimmung war ihr gründlich verdorben, sie beschattete die Augen, um nach dem Stand der Sonne zu sehen. Therava hatte lediglich gesagt, dass sie sie vor Einbruch der Dunkelheit wiedersehen wollte, und es blieben noch zwei gute Stunden Tageslicht, aber sie seufzte bedauernd und wandte Schnell hangabwärts, um zwischen den Bäumen zurück zum Lager zu reiten. Die Weise Frau genoss es, Möglichkeiten zu finden, Gehorsam ohne direkten Befehl zu erzwingen. Tausend Möglichkeiten, sie kriechen zu lassen. Um sicher zu sein, musste die geringste Andeutung dieser Frau als Befehl gedeutet werden. Ein paar Minuten der Verspätung hatten Bestrafungen zur Folge, die Galina bei der Erinnerung zusammenzucken ließen — zusammenzucken und die Stute zu einem schnelleren Schritt antreiben. Therava akzeptierte keine Entschuldigungen.
Ein Aielmann trat hinter einem breiten Baum hervor und versperrte ihr den Weg, ein sehr großer Mann im Cadin'sor, der seine Speere in das Geschirr geschoben hatte, das sein Bogenfutteral auf dem Rücken hielt. Sein Schleier hing auf seiner Brust. Wortlos ergriff er ihr Zaumzeug.
Sie starrte ihn einen Augenblick lang an, dann richtete sie sich empört zu ihrer vollen Größe auf. »Narr!«, fauchte sie.
»Ihr müsst mich mittlerweile kennen. Lasst mein Pferd los, oder Sevanna und Therava werden sich darin abwechseln, Euch die Haut abzuziehen!«
Für gewöhnlich zeigten diese Aiel nur wenig von ihren Gesichtern, aber sie glaubte zu sehen, dass sich seine grünen Augen ein Stück weiteten. Und dann schrie sie auf, als er seine gewaltige Faust in die Brust ihres Gewandes verkrallte und sie aus dem Sattel riss.
»Sei ruhig, Gai'schain«, sagte er, aber auf eine Weise, als wäre es ihm egal, ob sie gehorchte oder nicht.
Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie gehorchen müssen, aber sobald ihnen klar geworden war, dass sie jedem Befehl von wem auch immer gehorchen musste, hatte es zu viele gegeben, die sich einen Spaß daraus gemacht hatten, sie alberne Besorgungen erledigen zu lassen, während Therava oder Sevanna ihre Dienste brauchten. Jetzt musste sie nur noch bestimmten Weisen Frauen und Sevanna gehorchen, also trat und wand und schrie sie in der verzweifelten Hoffnung, jemanden auf sich aufmerksam zu machen, der wusste, dass sie Therava gehörte. Hätte sie doch bloß ein Messer tragen dürfen. Selbst das wäre eine Hilfe gewesen. Wie konnte dieser Mann sie nicht erkennen, oder nicht wissen, was ihr juwelenbesetzter Gürtel und der Kragen bedeuteten? Das Lager war riesig, mit so vielen Leuten gefüllt, wie manche Städte Einwohner hatten, und doch hatte es den Anschein, als könnte jeder Theravas gefangene Feuchtländerin erkennen. Die Frau würde diesen Burschen häuten lassen, und Galina hatte vor, zuzusehen und jede Minute zu genießen.
Nur zu schnell wurde ersichtlich, dass ein Messer völlig nutzlos gewesen wäre. Trotz ihrer Gegenwehr kam der Riese mühelos mit ihr zurecht, zog ihr die Kapuze über den Kopf und raubte ihre Sicht, dann stopfte er so viel er konnte davon in ihren Mund, bevor er sie knebelte. Er warf sie mit dem Gesicht nach unten zu Boden und band Handgelenke und Knöchel fest zusammen. So mühelos, als wäre sie ein Kind gewesen! Sie wand sich noch immer, aber es war vergebene Mühe.
»Er wollte eine Gai'schain, die keine Aiel ist, Gaul, aber eine Gai'schain in Seide und Schmuck, die ausreitet?«, sagte ein Mann, und Galina erstarrte. Das war kein Aielmann. Dieser Akzent kam aus Murandy! »Das entspricht doch sicher keinem eurer Bräuche, oder?«
»Shaido!« Das Wort wurde wie ein Fluch ausgespuckt.
»Nun, wir müssen noch ein paar andere finden, wenn er etwas Nützliches erfahren soll. Vielleicht mehr als nur ein paar. Da unten gibt es Tausende von Leuten in Weiß, und sie könnte überall dort sein.«
»Ich glaube, die hier könnte Perrin Aybara sagen, was er wissen muss, Fager Neald.«
Hatte sie zuvor ihre Gegenwehr eingestellt, erstarrte sie jetzt förmlich. In ihrem Bauch und ihrem Herzen schien sich ein Eisklumpen gebildet zu haben. Perrin Aybara hatte diese Männer geschickt? Wenn er die Shaido angriff, um zu versuchen, seine Frau zu retten, würde er getötet werden und ihre Macht über Faile zerstören. Sollte ihr Mann sterben, würde es der Frau egal sein, was man über sie enthüllte, und die anderen hatten keine Geheimnisse, deren Aufdeckung sie fürchteten. Entsetzt sah Galina ihre Hoffnungen, den Eidstab zu bekommen, dahinschwinden. Sie musste ihn aufhalten. Aber wie?
»Und wie kommt Ihr auf den Gedanken, Gaul?«
»Sie ist Aes Sedai. Und anscheinend eine Freundin Sevannas.«
»Ist sie das?«, sagte der Murandianer nachdenklich. »Tatsächlich?«
Seltsamerweise schien es keinem der Männer auch nur das geringste Unbehagen zu bereiten, Hand an eine Aes Sedai zu legen. Und der Aielmann hatte es anscheinend getan, obwohl er genau wusste, was sie darstellte. Selbst wenn er ein abtrünniger Shaido war, konnte er nicht wissen, dass sie ohne Erlaubnis nicht die Macht lenken konnte. Das wussten nur Sevanna und eine Hand voll Weise Frauen. Das alles wurde mit jedem verstreichenden Augenblick verwirrender.
Plötzlich wurde sie hochgehoben und auf den Bauch gelegt. Über den eigenen Sattel, wie ihr klar wurde, und im nächsten Augenblick wurde sie auf hartem Leder gewiegt; einer der Männer verhinderte mit einer Hand, dass sie herunterfiel, als ihre Stute sich in Bewegung setzte.
»Lasst uns an eine Stelle gehen, an der Ihr eines Eurer Löcher machen könnt, Fager Neald.«
»Direkt auf der anderen Seite des Hügels, Gaul. Ich bin hier so oft gewesen, ich kann fast überall ein Wegetor machen. Lauft ihr Aiel überall hin?«
Ein Wegetor? Was plapperte der Mann da? Sie verwarf seinen Unsinn, sann über ihre Möglichkeiten nach und befand keine davon für gut. Zusammengeschnürt wie ein Lamm auf dem Weg zum Markt und geknebelt, sodass man sie keine zehn Schritte weit entfernt hören würde, selbst wenn sie sich die Lungen aus dem Leib schrie, waren ihre Chancen zu entkommen nicht existent, falls nicht ein paar Shaido-Wachtposten ihre Entführer abfingen. Aber wollte sie das überhaupt? Solange sie Aybara nicht erreichte, konnte sie ihn auch nicht davon abhalten, alles zu ruinieren. Andererseits, wie viele Tagesmärsche entfernt befand sich sein Lager? Er konnte nicht in der Nähe sein, andernfalls hätten ihn die Shaido mittlerweile gefunden. Sie wusste, dass Späher in einem Umkreis von zehn Meilen ausgeschwärmt waren. So viele Tage man brauchen würde, ihn zu erreichen, so viele würde auch die Rückreise in Anspruch nehmen. Nicht nur Minuten zu spät, sondern gleich Tage.
Therava würde sie deshalb nicht töten. Sie nur wünschen lassen, sie wäre tot. Sie konnte es erklären. Eine Geschichte, wie sie von Räubern gefangen worden war. Nein, nur von zweien; es war schwer genug zu glauben, dass zwei Männer so nahe an das Lager herangekommen waren, geschweige denn eine Bande. Unfähig, die Macht zu lenken, hatte sie Zeit zur Flucht gebraucht. Sie konnte die Geschichte überzeugend darlegen. Sie würde Therava vielleicht erweichen. Wenn sie sagte, dass…
Es war sinnlos. Als Therava sie das erste Mal wegen Unpünktlichkeit bestraft hatte, war ihr Sattelgurt gerissen, und sie hatte das Pferd zu Fuß zurückführen müssen. Die Weise Frau hatte dies nicht als Entschuldigung akzeptiert, und sie würde auch eine Entführung nicht akzeptieren. Galina hätte heulen können. Tatsächlich wurde ihr bewusst, dass sie weinte, Tränen der Hoffnungslosigkeit, die sie nicht aufhalten konnte.
Das Pferd blieb stehen, und sie bäumte sich einfach auf, versuchte sich aus dem Sattel zu stürzen, schrie so laut es der Knebel gestattete. Sie mussten versuchen, den Wachtposten aus dem Weg zu gehen. Sicherlich würde Therava es verstehen, wenn die Wachtposten mit ihr und ihren Entführern zurückkamen, selbst wenn sie sich verspätete. Sicherlich würde sie eine Möglichkeit finden, Faile zu zwingen, selbst wenn ihr Ehemann tot war.
Eine harte Hand traf sie grob. »Sei still«, sagte der Aielmann, und sie wurde weitergeschaukelt.
Auch ihre Tränen flössen wieder, und die Seidenkapuze, die ihr Gesicht verhüllte, wurde feucht. Therava würde sie zum Schreien bringen. Aber noch während sie schluchzte, fing sie an, sich zurechtzulegen, was sie Aybara sagen würde.
Wenigstens konnte sie ihre Chancen retten, den Stab in die 4 Hände zu bekommen. Therava würde… Nein, Nein! Sie musste sich auf das konzentrieren, was sie tun konnte. Bilder der Weisen Frau mit den grausamen Augen, die einen Stock oder einen Riemen oder Fesseln hielt, schössen in ihr hoch, aber sie verdrängte sie jedes Mal, während sie jede Frage durchging, die Aybara möglicherweise stellen würde, und jede Antwort, die sie geben würde. Was sie ihm sagen würde, damit er ihr die Sicherheit seiner Frau anvertraute.
In keiner ihrer Überlegungen hatte sie damit gerechnet, kaum mehr als eine Stunde nach ihrer Gefangennahme vom Pferd gehoben und aufrecht hingestellt zu werden.
»Sattle ihr Pferd ab, Noren, und binde es bei den anderen an«, sagte der Murandianer.
»Sofort, Meister Neald«, kam die Erwiderung. Es war ein cairhienischer Akzent.
Die Fesseln um ihre Knöchel verschwanden, ein Messer glitt zwischen ihre Handgelenke und durchtrennte das Seil, dann wurde das gelöst, das ihren Knebel an Ort und Stelle hielt. Sie spuckte von ihrem Speichel durchtränkte Seide aus und riss die Kapuze zurück.
Ein kleiner Mann in einem dunklen Mantel führte Schnell durch eine sich unregelmäßig ausbreitende Ansammlung aus großen, geflickten braunen Zelten und kleinen primitiven Hütten, die aus Zweigen konstruiert zu sein schienen, einschließlich Kiefernzweigen mit braunen Nadeln. Wie lange dauerte es, bis sich Kiefern braun verfärbten? Tage sicherlich, vielleicht sogar Wochen. Die sechzig oder siebzig Männer, die sich um Herdfeuer bemühten oder auf Hockern saßen, sahen in ihren groben Mänteln wie Bauern aus, aber einige von ihnen schärften Schwerter, und an einem halben Dutzend Stellen standen Bündel aus Speeren und Hellebarden. Durch die Lücken zwischen den Zelten und Hütten konnte sie noch mehr Männer entdecken, einige von ihnen mit Helmen und Brustharnischen, die auf Pferden saßen und lange, mit Wimpeln versehene Lanzen hielten. Soldaten, die auf Patrouille ritten. Wie viele gab es noch außerhalb ihrer Sicht? Egal. Was sich da vor ihren Augen erstreckte, war unmöglich! Die Shaido hatten Wachtposten in einer Entfernung vom Lager aufgestellt, die weiter als das hier war. Davon war sie überzeugt!
»Würde das Gesicht nicht schon ausreichen«, murmelte Neald, »dann würde mich diese kühle, berechnende Musterung überzeugen. Als würde sie Würmer untersuchen, die sie unter einem umgedrehten Stein entdeckt hat.« Er war ein schlanker Bursche in einem schwarzen Mantel, und er fuhr sich amüsiert über den gewachsten Schnurrbart, wobei er sorgfältig darauf achtete, die Spitzen nicht durcheinander zu bringen. Er trug ein Schwert, aber er sah keineswegs wie ein Soldat oder ein Waffenmann aus. »Nun, dann komm mit, Aes Sedai«, sagte er und ergriff ihren Oberarm. »Lord Perrin wird dir ein paar Fragen stellen wollen.« Sie riss sich los, und er fasste ruhig fester zu. »Schluss mit dem Unsinn.«
Gaul, der große Aielmann, nahm den anderen Arm, und sie konnte mit ihnen gehen oder geschleift werden. Sie ging mit hoch erhobenem Kopf und tat so, als wären sie bloß eine Eskorte, aber jeder, der sah, wie sie ihre Arme hielten, würde die Wahrheit erkennen. Sie starrte stur geradeaus und war sich bewusst, dass die bewaffneten Bauernburschen — die meisten waren sehr jung — sie anschauten. Sie starrten sie nicht erstaunt an, sondern beobachteten sie nur nachdenklich. Wie konnten sie bei einer Aes Sedai nur so hochmütig sein? Einige der Weisen Frauen, die nicht über den Eid Bescheid wussten, der sie gefangen hielt, hatten ihre Zweifel zum Ausdruck gebracht, dass sie überhaupt eine Aes Sedai war, weil sie Therava so widerspruchslos gehorchte, aber diese beiden wussten, was sie war. Und es war ihnen einerlei. Sie vermutete, dass diese Bauern es ebenfalls wussten, aber keiner zeigte auch nur die geringste Überraschung über ihre Behandlung. Es verursachte ihr eine Gänsehaut.
Als sie sich dem großen, rot-weiß gestreiften Zelt näherten, dessen Eingangsbahnen zurückgebunden waren, hörte sie aus dem Inneren Stimmen ertönen.
»… sagte, er sei bereit, sofort zu kommen«, sagte ein Mann.
»Ich kann es mir nicht leisten, auch nur noch ein Maul zu füttern, wenn ich nicht weiß, für wie lange«, erwiderte ein anderer Mann. »Blut und Asche! Wie lange dauert es denn, mit diesen Leuten ein Treffen zu arrangieren?«
Gaul musste sich ducken, um das Zelt zu betreten, aber Galina schritt hinein, als würde sie ihre Gemächer in der Burg betreten. Sie mochte ja eine Gefangene sein, aber sie war eine Aes Sedai, und diese einfache Tatsache war ein mächtiges Werkzeug. Und eine Waffe. Mit wem wollte er ein Treffen arrangieren? Bestimmt nicht mit Sevanna. Bitte mit jedem außer Sevanna.
Im scharfen Kontrast zu dem zusammengewürfelten Lager draußen lag hier ein guter Teppich auf dem Boden, und von den Dachstangen hingen zwei Seidenbehänge, die nach cairhienischer Mode mit Blumen und Vögeln bestickt waren. Galina konzentrierte sich auf einen großen, breitschultrigen Mann in Hemdsärmeln, der ihr den Rücken zukehrte und sich mit den Fäusten auf einen Tisch mit schmalen Beinen stützte, der mit vergoldeten Schlangenlinien verziert und mit Karten und Papieren überhäuft war. Sie hatte Aybara in Cairhien nur aus der Ferne gesehen, aber sie war sich sicher, dass das trotz des Seidenhemds und der auf Hochglanz polierten Stiefel der Bauernjunge aus Rand al'Thors Heimatdorf war. Auf jeden Fall schien jeder im Zelt ihn anzusehen.
Als sie das Zelt betrat, legte eine große Frau in bis zum Hals geschlossener Seide mit leichtem Spitzenbesatz an Ärmeln und Kragen, deren schwarzes Haar wellenförmig auf ihre Schultern fiel, auf vertrauliche Weise eine Hand auf Aybaras Arm. Galina erkannte sie. »Sie scheint vorsichtig zu sein, Perrin«, sagte Berelain.
»Meiner Meinung nach wittert sie eine Falle, Lord Perrin«, warf ein ergrauender, hart aussehender Mann ein, der einen verzierten Harnisch über einem scharlachroten Mantel trug. Ein Ghealdaner, dachte Galina. Wenigstens erklärten er und Berelain die Anwesenheit der Soldaten, wenn auch nicht die Tatsache, wie sie dort sein konnten, wo es unmöglich war.
Galina war sehr froh, dass sie der Frau in Cairhien nicht begegnet war. Das hätte die Dinge hier jetzt mehr als nur schwierig gemacht. Sie wünschte sich, ihre Hände wären frei gewesen, um sich die Tränenspuren vom Gesicht wischen zu können, aber die beiden Männer hielten ihre Arme fest. Daran konnte man nichts ändern. Sie war eine Aes Sedai. Das war alles, was eine Rolle spielte. Das war alles, was sie zulassen würde, dass es eine Rolle spielte. Sie öffnete den Mund, um die Initiative zu ergreifen…
Plötzlich sah Aybara sie über die Schulter an, und seine goldenen Augen ließen ihre Zunge erstarren. Sie hatte die Geschichten nicht geglaubt, dass der Mann Wolfsaugen hatte, aber die hatte er tatsächlich. Die harten Augen eines Wolfes in einem Gesicht so hart wie Stein. Er ließ den Ghealdaner beinahe weich erscheinen. Und es war ein trauriges Gesicht mit dem kurz geschnittenen Bart. Zweifellos wegen seiner Frau. Das konnte sie sich zunutze machen.
»Eine Aes Sedai im Weiß einer Gai'schain«, sagte er ausdruckslos und wandte sich ihr zu. Er war ein großer Mann, wenn auch nicht ganz so groß wie der Aielmann, aber er überragte alle, indem er einfach bloß so dastand und mit diesen goldenen Augen alles aufnahm. »Und eine Gefangene, wie es scheint. Sie wollte nicht mitkommen?«
»Sie zappelte wie eine Forelle am Ufer, als Gaul sie zusammenschnürte, mein Lord«, erwiderte Neald. »Ich musste bloß dastehen und zusehen.«
Eine seltsame Bemerkung, und in einem so bedeutsamen Tonfall. Was konnte er… Plötzlich wurde sie sich eines weiteren Mannes in einem schwarzen Mantel bewusst, einem stämmigen Burschen mit einer silbernen Anstecknadel in Form eines Schwertes am hohen Kragen. Und ihr fiel wieder ein, wo sie Männer in schwarzen Mänteln zuletzt gesehen hatte. Wie sie aus Löchern in der Luft sprangen, bevor sich bei den Quellen von Dumai alles in eine schreckliche Katastrophe verwandelte. Neald und seine Löcher, seine Wegetore. Diese Männer konnten die Macht lenken.
Sie brauchte ihre ganze Kraft, um sich nicht aus dem Griff des Murandianers losreißen zu wollen, um von ihm fortzuweichen. Allein die Nähe zu ihm drehte ihr den Magen um. Von ihm berührt zu werden… Sie wollte wimmern, und das überraschte sie. Sicher war sie wohl zäher als das! Sie konzentrierte sich darauf, ein gelassenes Erscheinungsbild zu präsentieren, während sie versuchte, ihren plötzlich ganz trockenen Mund zu befeuchten.
»Sie behauptet, mit Sevanna befreundet zu sein«, fügte Gaul hinzu.
»Eine Freundin von Sevanna«, sagte Aybara mit einem Stirnrunzeln. »Aber im Gewand einer Gai'schain. Ein seidenes Gewand und Schmuck, trotzdem… Ihr wolltet nicht mitkommen, aber Ihr habt nicht die Macht gelenkt, um Gaul und Neald davon abzuhalten, Euch herzubringen. Und Ihr habt schreckliche Angst.« Er schüttelte den Kopf. Wie konnte er wissen, dass sie Angst hatte? »Ich finde es überraschend, nach den Quellen von Dumai eine Aes Sedai bei den Shaido zu sehen. Oder wisst Ihr darüber nicht Bescheid? Lasst sie los, lasst sie los. Ich bezweifle, dass sie flüchtet, wo sie euch so weit gefolgt ist.«
»Dumai spielt keine Rolle«, sagte sie kalt, als die Hände der Männer sich von ihr lösten. Aber die beiden blieben wie Wächter an ihrer Seite stehen, und sie war stolz, wie unbewegt ihre Stimme war. Ein Mann, der die Macht lenken konnte. Zwei von ihnen, und sie war allein. Allein und nicht dazu in der Lage, einen Strang zu lenken. Sie stand mit hoch erhobenem Kopf da. Wie konnte er nur wissen, dass sie Angst hatte? In ihren Worten schwang nicht einmal ein Hauch von Furcht mit. Ihr Gesicht hätte genauso gut aus Stein gemeißelt sein können, so wenig ließ sie sich etwas anmerken. »Die Weiße Burg verfolgt Absichten, die allein Aes Sedai wissen oder verstehen können. Ich bin im Auftrag der Weißen Burg unterwegs, und Ihr behindert mich. Für keinen Mann eine kluge Entscheidung.« Der Ghealdaner nickte traurig, als hätte er diese Lektion persönlich gelernt, aber Aybara sah sie bloß ausdruckslos an.
»Ich habe diesen beiden nur aus einem einzigen Grund nichts Drastisches angetan«, fuhr sie fort. »Weil ich Euren Namen gehört habe.« Falls der Murandianer und der Aielmann verrieten, wie lange das gedauert hatte, wollte sie behaupten, zuerst verblüfft gewesen zu sein, aber sie schwiegen, und sie sprach schnell und energisch. »Eure Frau Faile steht unter meinem Schutz, genau wie Königin Alliandre, und wenn ich mit Sevanna fertig bin, werde ich sie mit mir nehmen, in Sicherheit bringen und ihnen helfen, an den von ihnen gewünschten Ort zu kommen. In der Zwischenzeit gefährdet Eure Anwesenheit hier jedoch meine Angelegenheiten, die Angelegenheiten der Weißen Burg, was ich nicht zulassen kann. Sie gefährdet auch Euch und Eure Frau und Alliandre. In diesem Lager halten sich Zehntausende Aiel auf. Wenn sie sich auf Euch stürzen, und ihre Späher werden Euch bald finden, wenn das nicht schon geschehen ist, werden sie Euch vom Antlitz der Welt fegen. Möglicherweise werden sie darum auch Eurer Frau und Alliandre etwas antun. Vielleicht werde ich es nicht schaffen, Sevanna davon abzuhalten. Sie ist eine grausame Frau, und viele ihrer Weisen Frauen können die Macht lenken, es sind fast vierhundert von ihnen, alle bereit, die Macht zu gewalttätigen Zwecken einzusetzen, während ich nur eine Aes Sedai und durch meine Eide eingeschränkt bin. Wenn Ihr Eure Frau und die Königin beschützen wollt, reitet Ihr so schnell weg, wie Ihr könnt. Vielleicht greifen sie Euch nicht an, da Ihr offensichtlich auf dem Rückzug seid. Das ist die einzige Hoffnung, die Ihr oder Eure Frau habt.« So. Wenn nur etwas von der Saat, die sie gesät hatte, aufging, sollte das reichen, damit er verschwand.
»Wenn Alliandre in Gefahr schwebt, Lord Perrin«, fing der Ghealdaner an, aber Aybara brachte ihn mit erhobener Hand zum Schweigen. Das war alles, was es dazu brauchte.
Der Kiefer des Soldaten spannte sich an, bis sie glaubte, er würde gleich brechen, aber er schwieg.
»Ihr habt Faile gesehen?«, sagte der junge Mann. In seinem Tonfall schwang Aufregung mit. »Geht es ihr gut? Hat man ihr wehgetan?« Der Narr schien außer den Worten über seine Frau nichts gehört zu haben.
»Es geht ihr gut, und sie steht unter meinem Schutz, Lord Perrin.« Wenn dieser Emporkömmling vom Bauernhof als Lord angesprochen werden wollte, würde sie es für den Augenblick tolerieren. »Sie und Alliandre.« Der Soldat starrte Aybara finster an, ergriff aber nicht die Gelegenheit, um etwas zu sagen. »Ihr müsst mir zuhören. Die Shaido werden Euch alle töten…«
»Kommt her und seht Euch das an«, schnitt Aybara ihr das Wort ab, wandte sich dem Tisch zu und zog ein großes Blatt heran.
»Ihr müsst seine mangelnden Manieren entschuldigen, Aes Sedai«, murmelte Berelain und reichte ihr einen ziselierten Silberbecher mit dunklem Wein. »Er steht unter beträchtlichem Druck, wie Ihr unter diesen Umständen vielleicht verstehen könnt. Ich habe mich nicht vorgestellt. Ich bin Berelain, die Erste von Mayene.«
»Ich weiß. Ihr dürft mich Alyse nennen.«
Die Frau lächelte, als wüsste sie, dass es ein falscher Name war, ihn aber dennoch akzeptierte. Die Erste von Mayene war alles andere als unkultiviert. Bedauerlich, dass sie sich stattdessen mit dem Jungen abgeben musste; kultivierte Leute, die glaubten, mit Aes Sedai tanzen zu können, waren leicht zu führen. Landvolk konnte aus reiner Unwissenheit stur sein. Aber der Kerl musste mittlerweile wenigstens etwas über Aes Sedai Bescheid wissen. Wenn man ihn ignorierte, vielleicht würde ihn das veranlassen, darüber nachzudenken, wer und was sie war.
Der Wein schmeckte wie Blumen auf ihrer Zunge. »Das ist sehr gut«, sagte sie mit ehrlicher Dankbarkeit. Sie hatte seit Wochen keinen vernünftigen Wein mehr bekommen.
Therava erlaubte ihr kein Vergnügen, das die Weise Frau sich selbst versagte. Wüsste die Frau, dass sie in Maiden mehrere Fässer gefunden hatte, würde sie nicht einmal mittelmäßigen Wein haben. Und mit Sicherheit geschlagen werden.
»Im Lager sind noch andere Schwestern, Alyse Sedai. Masuri Sokawa und Seonid Traighan, und meine eigene Beraterin, Annoura Larisen. Möchtet Ihr gern mit ihnen sprechen, wenn Ihr mit Perrin fertig seid?«
Mit vorgespielter Lässigkeit zog Galina die Kapuze hoch, bis ihr Gesicht im Schatten lag, und nahm noch einen Schluck Wein, um Zeit zum Nachdenken zu haben. Annouras Anwesenheit war verständlich, bedachte man Berelains Gegenwart, aber was taten die anderen beiden hier? Sie hatten zu denen gehört, die nach Siuans Sturz und Elaidas Erhebung aus der Burg geflohen waren. Sicher, keine von ihnen würde über ihre Beteiligung an der Entführung des al'Thor-Jungen für Elaida Bescheid wissen, dennoch…
»Ich glaube nicht«, murmelte sie. »Ihre Angelegenheiten gehen nur sie etwas an, und meine nur mich.« Sie hätte viel dafür gegeben, ihre Pläne zu kennen, aber nicht, wenn der Preis dafür war, erkannt zu werden. Jeder Freund des Wiedergeborenen Drachens mochte… Ideen… haben, was eine Rote betraf. »Berelain, helft mir, Aybara zu überzeugen. Eure Geflügelten Wachen sind dem nicht gewachsen, was die Shaido gegen Euch aufbieten werden. Was für Ghealdaner ihr auch immer bei Euch habt, sie werden nicht den geringsten Unterschied machen. Eine Armee wird keinen Unterschied machen. Die Shaido sind zu viele, und sie verfügen über Hunderte von Weisen Frauen, die bereit sind, die Eine Macht als Waffe zu benutzen. Ich habe sie dabei gesehen. Ihr könntet auch sterben, und selbst wenn Ihr nur gefangen genommen werdet, kann ich Euch nicht versprechen, dass ich Sevanna dazu bringe, Euch freizulassen, wenn ich gehe.«
Berelain lachte, als würden Tausende Shaido und Hunderte Weise Frauen, die die Macht lenken konnten, nicht zählen. »Oh, habt keine Furcht, dass sie uns finden. Dieses Lager befindet sich einen guten Drei-Tages-Ritt weit entfernt, vielleicht sogar vier. Das Gelände wird nicht weit von hier unwegsam.«
Drei Tage, vielleicht vier. Galina fröstelte. Es hätte ihr früher klar sein müssen. Eine Entfernung von drei oder vier Tagen in weniger als einer Stunde zurückgelegt. Durch ein Loch in der Luft erschaffen mit der männlichen Hälfte der Macht. Sie war nahe genug gewesen, dass Saidin sie berühren konnte. Aber sie hielt ihre Stimme völlig unter Kontrolle. »Trotzdem müsst Ihr mir helfen, ihn davon zu überzeugen, nicht anzugreifen. Es wäre katastrophal, für ihn, für seine Frau, für jeden Beteiligten. Darüber hinaus ist meine Arbeit wichtig für die Weiße Burg. Ihr habt die Burg immer unterstützt.« Schmeicheleien für die Herrscherin einer einzigen Stadt und über ein paar Meilen Land, aber Schmeicheleien machten die Unbedeutenden genau wie die Mächtigen gefälliger.
»Perrin ist stur, Alyse Sedai. Ich bezweifle, dass Ihr ihn umstimmen könnt. Das ist nicht so einfach, sobald er sich einmal entschieden hat.« Aus irgendeinem Grund zeigte die Frau ein Lächeln, das geheimnisvoll genug war, um einer Schwester zu stehen.
»Berelain, könntet Ihr Eure Ansprache später halten?«, sagte Aybara ungeduldig, und es war keine Bitte. Er tippte mit einem dicken Finger auf das Blatt. »Alyse, würdet Ihr Euch das ansehen?« Auch das war keine Bitte. Wer glaubte dieser Mann zu sein, dass er eine Aes Sedai herumkommandierte?
Aber zum Tisch zu gehen brachte sie ein kleines Stück von Neald fort. Es brachte sie näher an den anderen heran, der sie eindringlich musterte, aber er stand auf der anderen Seite des Tisches. Eine lachhafte Barriere, aber sie konnte ihn ignorieren, indem sie das Blatt unter Aybaras Finger betrachtete. Es fiel schwer, eine unbewegte Miene zu bewahren. Dort zeichneten sich die Umrisse von Maiden ab, einschließlich des Aquädukts, das von dem fünf Meilen entfernten See Wasser transportierte; das Lager der Shaido, das die Stadt umgab, war ebenfalls grob eingezeichnet. Die wahre Überraschung war, dass die Markierungen die Septimen zu bezeichnen schienen, die eingetroffen waren, seit die Shaido Maiden erreicht hatten, und die Zahl bedeutete, dass seine Männer das Lager seit einiger Zeit beobachteten. Eine weitere Karte schien in groben Strichen die Stadt selbst genauer darzustellen.
»Wie ich sehe, habt Ihr erfahren, wie groß ihr Lager ist«, sagte sie. »Ihr müsst wissen, dass ein Rettungsversuch hoffnungslos ist. Selbst wenn Ihr hundert solcher Männer habt« — sie zu erwähnen fiel nicht leicht, und sie konnte die Verachtung nicht gänzlich aus ihrer Stimme heraushalten — »reicht das nicht. Diese Weisen Frauen werden sich wehren. Hunderte von ihnen. Es wäre ein Gemetzel, mit Tausenden von Toten, Eure Frau unter ihnen. Ich habe Euch gesagt, sie und Alliandre stehen unter meinem Schutz. Wenn meine Angelegenheiten erledigt sind, werde ich sie in Sicherheit bringen. Ihr habt meine Worte gehört, also wisst Ihr, dass sie bei den Drei Eiden die Wahrheit sind. Macht nicht den Fehler zu glauben, dass Euch Eure Verbindung zu al’Thor schützen wird, wenn Ihr Euch in Dinge der Weißen Burg einmischt. Ja, ich weiß, wer Ihr seid. Glaubt Ihr, Eure Frau hätte es mir nicht gesagt? Sie vertraut mir, und wenn Ihr ihre Sicherheit bewahren wollt, müsst Ihr mir auch vertrauen.«
Der Narr sah sie an, als wären ihre Worte an ihm vorbeigegangen, ohne seine Ohren berührt zu haben. Diese Augen flößten einem wirklich Unbehagen ein. »Wo schläft sie? Sie und alle anderen, die zusammen mit ihr gefangen genommen wurden. Zeigt es mir.«
»Ich kann es nicht«, erwiderte sie leichthin. »Gai’schain schlafen nur selten zwei Nächte hintereinander am gleichen Ort.« Mit dieser Lüge schwand die letzte Chance, dass sie Faile und die anderen am Leben lassen konnte. Oh, sie hatte niemals vorgehabt, das Risiko ihrer eigenen Flucht zu erhöhen, indem sie ihnen half, aber das hätte man später immer noch durch veränderte Umstände erklären können. Sie konnte die Möglichkeit nicht riskieren, dass ihnen eines Tages tatsächlich die Flucht gelang und ihre offensichtliche Lüge aufgedeckt wurde.
»Ich werde sie befreien«, knurrte er, beinahe zu leise, dass sie es hören konnte. »Egal, was es auch kostet.«
Ihre Gedanken rasten. Es schien keine Möglichkeit zu geben, ihn davon abzubringen, aber vielleicht konnte sie ihn hinhalten. Zumindest das musste sie schaffen. »Könntet Ihr mit Eurem Angriff wenigstens warten? Ich könnte meine Mission möglicherweise in ein paar Tagen abschließen, vielleicht in einer Woche.« Eine Frist sollte Failes Anstrengungen fördern. Zuvor wäre es gefährlich gewesen; eine leere Drohung verlor alle Macht, und das Risiko, dass es die Frau nicht schaffen würde, den Eidstab zu besorgen, war zu groß gewesen. Jetzt war dieses Risiko notwendig geworden. »Wenn ich das tun kann und Eure Frau und andere dort raushole, wird es keine Notwendigkeit mehr geben, dass Ihr sinnloserweise sterbt. Eine Woche.«
Auf Aybaras Gesicht zeichnete sich Frustration ab, er hieb hart genug mit der Faust auf den Tisch, dass er einen Satz machte. »Ihr könnt ein paar Tage haben«, knurrte er, »vielleicht sogar eine Woche oder mehr, wenn…« Er unterbrach sich. Diese seltsamen Augen richteten sich auf sie. »Aber ich kann nicht versprechen, wie viele Tage es sein werden«, fuhr er fort. »Könnte ich, wie ich will, würde ich jetzt angreifen. Ich werde Faile keinen Tag länger eine Gefangene sein lassen, als ich muss, weil ich darauf warte, dass Aes Sedai-Pläne für die Shaido Früchte tragen. Ihr behauptet, sie steht unter Eurem Schutz, aber für welchen Schutz könnt Ihr wirklich in diesem Gewand sorgen? Im Lager gibt es Anzeichen für Trunkenheit. Sogar einige ihrer Wachtposten trinken. Sind die Weisen Frauen auch dafür anfällig?«
Der plötzliche Themenwechsel hätte sie beinahe blinzeln lassen. »Die Weisen Frauen trinken nur Wasser, also braucht Ihr Euch nicht einbilden, sie alle im Rausch vorzufinden«, sagte sie trocken. Und ziemlich ehrlich. Es amüsierte sie immer, wenn die Wahrheit ihren Zwecken nutzte. Nicht, dass das Beispiel der Weisen Frauen viel Erfolg hatte. Unter den Shaido war Trunkenheit weit verbreitet. Jeder Raubzug brachte sämtlichen Wein, den sie finden konnten. Dutzende kleiner Destillen produzierten widerwärtiges Gebräu aus Getreide, und jedes Mal, wenn die Weisen Frauen eine Destille zerstörten, gab es an ihrer Stelle zwei neue. Aber ihn das wissen zu lassen würde ihn nur noch mehr ermutigen.
»Was die anderen angeht, bin ich zuvor schon bei anderen Heeren gewesen und habe dort mehr Trunkenheit erlebt als bei den Shaido. Wenn von Zehntausenden hundert betrunken sind, was bringt Euch das? Wirklich, es wird besser sein, wenn Ihr mir eine Woche versprecht. Zwei wären allerdings besser.«
Sein Blick fuhr zur Karte, seine rechte Hand ballte sich wieder zur Faust, aber in seiner Stimme lag keine Wut. »Begeben sich die Shaido oft in die Stadt?«
Sie stellte den Weinbecher auf dem Tisch ab und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Diesen gelben Blick zu erwidern erforderte Mühe, aber sie schaffte es, ohne zu schwanken. »Ich glaube, es wird höchste Zeit, dass Ihr den nötigen Respekt zeigt. Ich bin eine Aes Sedai, keine Dienerin.«
»Begeben sich die Shaido oft in die Stadt?«, wiederholte er in genau demselben Tonfall. Sie hätte am liebsten mit den Zähnen geknirscht.
»Nein«, fauchte sie. »Sie haben sich dort alles geholt, was sich zu stehlen lohnt, und einige Dinge, die es nicht tun.« Sie bedauerte die Worte in dem Moment, in dem sie sie ausgesprochen hatte. Sie waren ihr unverfänglich erschienen, bis ihr wieder die Männer einfielen, die durch Löcher in der Luft springen konnten. »Das heißt nicht, dass sie sie niemals betreten. An den meisten Tagen gehen ein paar hinein. Zu jeder Zeit halten sich dort zwanzig oder dreißig von ihnen auf, gelegentlich auch mehr, in Gruppen aus zwei oder drei Männern.« War er schlau genug, um zu verstehen, was das zu bedeuten hatte? Es war besser, dafür zu sorgen, dass er es tat. »Ihr könntet sie nicht alle erwischen. Einige werden unweigerlich entkommen können, um das Lager zu warnen.«
Aybara nickte bloß. »Wenn Ihr Faile seht, dann sagt Ihr, dass sie und die anderen sich an dem Tag, an dem sie Nebel auf dem Kamm sieht und Wölfe bei Tageslicht heulen hört, in Lady Cairens Festung am nördlichen Ende der Stadt begeben und dort verstecken sollen. Sagt ihr, dass ich sie liebe. Sagt ihr, dass ich sie holen komme.«
Wölfe? War der Mann verrückt? Wie wollte er erreichen, dass Wölfe… ? Plötzlich war sie sich nicht länger sicher, ob sie es wissen wollte, nicht mit diesen auf sie gerichteten Wolfsaugen.
»Ich richte es ihr aus«, log sie. Vielleicht wollte er nur die Männer in den schwarzen Mänteln benutzen, um seine Frau zu holen? Aber warum dann überhaupt warten? Diese gelben Augen verbargen Geheimnisse, die sie gern erfahren hätte. Mit wem wollte er zusammentreffen? Offensichtlich nicht mit Sevanna. Dafür hätte sie dem Licht gedankt, hätte sie mit diesem Unsinn nicht schon vor langer Zeit aufgehört. Wer war bereit, sofort zu ihm zu kommen? Ein Mann war erwähnt worden, aber das bedeutete vermutlich ein König mit einem Heer. Oder handelte es sich um al’Thor selbst? Sie betete, ihm niemals wieder zu begegnen.
Ihr Versprechen schien den jungen Mann von einer Last zu befreien. Er atmete langsam aus, eine Anspannung, die ihr gar nicht aufgefallen war, wich aus seinem Gesicht. »Das Problem mit einem schmiedeeisernen Rätselspiel ist immer, das Schlüsselstück an den richtigen Platz zu setzen«, sagte er leise und tippte auf die Umrisse von Maiden. »Nun, das ist erledigt. Oder wird es bald sein.«
»Bleibt Ihr zum Abendessen?«, fragte Berelain. »Die Stunde ist nah.«
Das Licht im Türeingang wurde schwächer. Eine schlanke Dienerin in dunkler Wolle, die das weiße Haar in einem Knoten trug, trat ein und fing an, die Lampen zu entzünden.
»Werdet Ihr mir zumindest eine Woche versprechen?«, verlangte Galina zu wissen, aber Aybara schüttelte den Kopf.
»In diesem Fall zählt jede Stunde.« Sie hatte nie vorgehabt, einen Moment länger als nötig zu bleiben, aber die nächsten Worte musste sie hervorzwingen. »Lasst Ihr mich von einem Eurer… Männer… zurückbringen, so nahe ans Lager heran wie möglich?«
»Neald, erledigt das«, befahl Aybara. »Und versucht wenigstens, höflich zu sein.« Das musste ausgerechnet er sagen!
Sie holte tief Luft und schlug die Kapuze zurück. »Ich möchte, dass Ihr mich schlagt, hierhin.« Sie berührte ihre Wange. »Hart genug, damit es Spuren hinterlässt.«
Endlich hatte sie etwas gesagt, das zu dem Mann durchdrang. Diese gelben Augen weiteten sich, und er steckte die Daumen hinter den Gürtel, als wollte er seine Hände sichern.
»Das werde ich nicht«, sagte er und klang, als wäre sie verrückt.
Dem Ghealdaner stand der Mund offen, und die Dienerin starrte sie an; der brennende Span in ihrer Hand hing in gefährlicher Nähe zu ihren Röcken.
»Ich brauche das«, sagte Galina fest. Bei Therava würde sie jeden Fetzen Glaubwürdigkeit brauchen, den sie beibringen konnte. »Tut es!«
»Ich glaube nicht, dass er das tun wird«, sagte Berelain und kam mit gerafften Röcken heran. »Er kann seine Herkunft vom Lande nicht verleugnen. Erlaubt Ihr?«
Galina nickte ungeduldig. Es ließ sich nicht ändern, obwohl die Frau vermutlich keine sehr überzeugende…
Alles wurde schwarz, und als sie wieder sehen konnte, schwankte sie leicht. Sie schmeckte Blut. Sie tastete nach ihrer Wange, und sie zuckte zusammen.
»Zu hart?«, fragte Berelain besorgt.
»Nein«, nuschelte Galina und kämpfte darum, keine Miene zu verziehen. Hätte sie die Macht lenken können, hätte sie der Frau den Kopf abgerissen! Andererseits, hätte sie die Macht lenken können, wäre nichts hiervon nötig gewesen. »Jetzt die andere Wange. Und lasst mein Pferd holen.«
Sie ritt mit dem Murandianer in den Wald, an eine Stelle, an der mehrere große Bäume umgestürzt und seltsam zerteilt lagen, bestimmt würde es ihr schwer fallen, dieses Loch in der Luft zu benutzen, aber als der Mann einen senkrechten silberblauen Riss produzierte, der sich zu einem Ausblick auf steiles Gelände vergrößerte, dachte sie überhaupt nicht an das verschmutzte Saidin, als sie Schnell durch die Öffnung trieb. Da war nur der Gedanke an Therava.
Sie hätte fast geschrien, als sie erkannte, dass sie auf der dem Lager gegenüberliegenden Seite des Hügelkamms stand. Wild raste sie der untergehenden Sonne entgegen. Und verlor.
Unglücklicherweise behielt sie Recht. Therava akzeptierte keine Entschuldigungen. Sie war vor allem über die blauen Flecken aufgebracht. Sie verletzte niemals Galinas Gesicht. Was folgte, kam ihren Albträumen sehr nahe. Und es dauerte viel länger. Manchmal, wenn sie am lautesten schrie, vergaß sie beinahe ihr verzweifeltes Verlangen, den Eidstab zu erlangen. Aber sie klammerte sich daran. Sie musste den Eidstab bekommen und Faile und ihre Freundinnen töten, und sie würde frei sein.
Egwene kam langsam zu Bewusstsein, und so benommen wie sie war, hatte sie kaum die Geistesgegenwart, die Augen geschlossen zu halten. Ihr Kopf lag schwer auf der Schulter einer Frau, und sie hätte ihn nicht heben können, selbst wenn sie gewollt hätte. Die Schulter einer Aes Sedai; sie konnte die Fähigkeiten der Frau spüren. Ihr Kopf fühlte sich wie mit Wolle ausgestopft an, das Denken fiel schwer, ihre Gliedmaßen waren so gut wie taub. Ihre wollene Reitkleidung und der Umhang waren trocken, wie ihr auffiel, obwohl sie in den Fluss gefallen war. Nun, das war mit der Macht schnell zu machen. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass sie die Kleidung zu ihrer Bequemlichkeit getrocknet hatten. Sie saß zwischen zwei Schwestern eingeklemmt, von denen eine blumiges Parfüm trug. Beide stützten sie mit einer Hand, um sie mehr oder weniger aufrecht zu halten. Dem Schaukeln und dem Klappern der Hufe eines Gespanns auf Pflastersteinen nach zu urteilen, saßen sie in einer Kutsche. Vorsichtig öffnete sie die Augen einen Spalt breit.
Die Vorhänge der Kutschenfenster waren zurückgebunden, aber bei dem Gestank verfaulenden Mülls hätte man sie besser zugezogen. Müll, der verfaulte! Wie konnte das in Tar Valon passieren? Eine derartige Vernachlässigung der Stadt war allein schon Grund genug, um Elaida aus ihrem Amt zu entfernen. Die Fenster ließen genügend Mondlicht ein, dass sie mühsam drei Aes Sedai ausmachen konnte, die ihr gegenüber im rückwärtigen Teil der Kutsche saßen. Selbst wenn sie nicht gewusst hätte, dass sie die Macht lenken konnten, ihre mit Fransen besetzten Stolen hätten keinen Zweifel daran gelassen. In Tar Valon konnte es für eine Frau, die keine Aes Sedai war, unerfreuliche Konsequenzen haben, eine Stola mit Fransen zu tragen. Seltsamerweise schien sich die Schwester auf der linken Seite an die Kutschenwand zu drängen, weg von den anderen beiden — und die schmiegten sich zwar nicht gerade aneinander, saßen aber zumindest sehr eng zusammen, als würden sie den Kontakt mit der dritten Aes Sedai vermeiden. Sehr seltsam.
Plötzlich wurde sich Egwene bewusst, dass sie nicht abgeschirmt war. So benommen sie auch war, es ergab keinen Sinn. Die Schwestern konnten ihre Stärke fühlen, so wie sie die ihre fühlen konnte, und obwohl keine von ihnen schwach war, glaubte sie dennoch, alle fünf überwältigen zu können, wenn sie schnell genug war. Die Wahre Quelle war eine gewaltige Sonne direkt am Rand ihres Blickfeldes, die sie lockte. Die erste Frage war, konnte sie es schon wagen? In dem Zustand, in dem ihr Kopf war, in dem die Gedanken durch knietiefen Schlamm zu waten schienen, war es unsicher, ob sie Saidar umarmen konnte, und ob es ihr nun gelang oder sie dabei scheiterte, sie würden es in dem Moment wissen, in dem sie es versuchte. Es war besser, sich erst etwas zu erholen. Die zweite Frage, die sich stellte, war, wie lange sie es wagen konnte, damit zu warten. Sie würden sie nicht ewig ohne Abschirmung herumlaufen lassen. Versuchsweise probierte sie, die Zehen in dem festen Schuhwerk zu krümmen, und war entzückt, als sie sich gehorsam bewegten. Langsam schien Leben in ihre Arme und Beine zurückzukehren. Sie glaubte, den Kopf heben zu können, wenn auch mühsam. Was auch immer sie ihr gegeben hatten, ließ in seiner Wirkung nach. Wie lange noch?
Die dunkelhaarige Schwester auf der Mitte der Rückbank nahm ihr die Entscheidung ab. Sie beugte sich vor und schlug sie so hart, dass sie auf den Schoß der Frau kippte, an die sie sich angelehnt hatte. Unwillkürlich tastete ihre Hand nach der brennenden Wange. So viel dazu, eine Ohnmacht vorzutäuschen.
»Das war überflüssig, Katerine«, sagte eine heisere Stimme über ihr, während ihre Besitzerin sie wieder aufrecht hinsetzte. Egwene konnte den Kopf oben halten, auch wenn es schwer fiel. Katerine. Das musste Katerine Alruddin sein, eine Rote. Aus irgendeinem Grund erschien es ihr wichtig, ihre Entführer zu identifizieren, auch wenn sie nicht mehr über Katerine wusste als ihren Namen und ihre Ajah. Die Schwester, auf deren Schoß sie gefallen war, hatte blondes Haar, aber ihr vom Mondlicht in Schatten gehülltes Gesicht gehörte einer Fremden. »Ich glaube, Ihr habt ihr zu viel Spaltwurzel gegeben«, fuhr die Frau fort.
Ein eisiger Schrecken durchfuhr Egwene. Das also hatte man ihr eingeflößt! Sie zermarterte sich das Hirn, was ihr Nynaeve über diesen widerlichen Tee erzählt hatte, aber ihre Gedanken flössen noch immer träge. Auch wenn es anscheinend besser ging. Nynaeve hatte gesagt, dass es eine Zeit lang dauerte, bis die Wirkung völlig abgeklungen war. Da war sie sich sicher.
»Ich habe ihr genau die richtige Dosis gegeben, Felaana«, erwiderte die Schwester, die sie geschlagen hatte, trocken.
»Und wie Ihr sehen könnt, versetzt sie sie in genau den gewünschten Zustand. Ich will, dass sie allein gehen kann, wenn wir in der Burg eintreffen. Ich habe nicht vor, sie noch einmal zu tragen«, endete sie mit einem bösen Blick auf die Schwester, die zu Egwenes Linken saß, die aber lediglich den Kopf schüttelte. Das war Pritalle Nerbaijan, eine Gelbe, die sich stets nach Kräften bemüht hatte, sich vor dem Unterricht mit Novizinnen oder Aufgenommenen zu drücken, und die ihren Abscheu vor dieser Aufgabe nie besonders verschleiert hatte, wenn man sie dazu zwang.
»Sie von meinem Harril tragen zu lassen wäre äußerst unschicklich gewesen«, sagte sie kalt. Sogar eisig, wenn man es genau nahm. »Ich werde froh sein, wenn sie gehen kann, aber wenn nicht, ist es auch in Ordnung. Auf jeden Fall kann ich es kaum erwarten, sie den anderen zu übergeben. Wenn Ihr sie nicht wieder tragen wollt, Katerine, ich will sie nicht die halbe Nacht in der Zelle bewachen müssen.« Katerine warf abschätzig den Kopf in den Nacken.
Die Zellen. Natürlich, sie war für einen dieser kleinen, dunklen Räume auf der ersten Ebene der Burggewölbe bestimmt. Elaida würde sie beschuldigen, sich fälschlicherweise als Amyrlin-Sitz ausgegeben zu haben. Darauf stand die Todesstrafe. Seltsamerweise erfüllte sie dieser Gedanke nicht mit Angst. Vielleicht lag das an den Kräutern. Würden Romanda oder Lelaine nachgeben und sich damit einverstanden erklären, dass man eine von ihnen nach ihrem Tod zur Amyrlin erhob? Oder würden sie sich weiter bekämpfen, bis die ganze Rebellion scheiterte und die Schwestern eine nach der anderen bei Elaida angekrochen kamen? Eine traurige Vorstellung. Bis ins Mark traurig. Aber wenn sie Trauer fühlen konnte, dann unterdrückte die Spaltwurzel keine Gefühle. Doch warum verspürte sie dann keine Angst? Sie tastete mit dem Daumen nach ihrem Großen Schlangenring. Zumindest versuchte sie es und entdeckte, dass er verschwunden war. Glühendheißer Zorn flammte in ihr auf. Sie konnten sie töten, aber sie würden nicht leugnen können, dass sie eine Aes Sedai war.
»Wer hat mich verraten?«, fragte sie, erfreut, dass ihr Tonfall beherrscht und kühl klang. »Da ich Eure Gefangene bin, kann es ja nicht schaden, mir das zu sagen.« Die Schwestern starrten sie an, als würde es sie überraschen, dass sie eine Stimme hatte.
Katerine beugte sich zwanglos vor und hob die Hand. Die Rote kniff die Augen zusammen, als die blonde Felaana nach vorn schnellte, um den Schlag abzufangen, bevor er Egwene treffen konnte.
»Sie wird zweifellos hingerichtet werden«, sagte die Frau mit der heiseren Stimme ruhig, »aber sie wurde von der Burg aufgenommen, und keine von uns hat das Recht, sie zu schlagen.«
»Weg mit der Hand, Braune«, fauchte Katerine, und schockierenderweise hüllte das Licht Saidars sie ein.
Einen Augenblick später umgab das Licht jede Frau in der Kutsche mit Ausnahme von Egwene. Sie betrachteten einander wie streunende Katzen, die kurz davor standen, sich anzufauchen, kurz davor standen, mit den Krallen zuzuschlagen. Nein, nicht jede: Katerine und die hochgewachsene Schwester neben ihr sahen sich nicht einmal an. Dafür warfen sie den anderen genügend finstere Blicke zu. Was beim Licht ging hier vor? Die gegenseitige Feindseligkeit lag so dick in der Luft, dass Egwene sie wie Brot hätte schneiden können.
Schließlich ließ Felaana Katerines Handgelenk los und lehnte sich zurück, aber keine ließ die Quelle los. Egwene hatte plötzlich den Verdacht, dass keine bereit war, den ersten Schritt zu tun. Ihre Gesichter wiesen im bleichen Mondlicht alle einen gelassenen Ausdruck auf, aber die Braune hatte die Fäuste in die Stola gekrallt, und die Schwester, die mit Katerine nicht in Berührung kommen wollte, glättete ununterbrochen ihre Röcke.
»Ich finde, es ist endlich Zeit hierfür«, sagte Katerine und webte eine Abschirmung. »Wir wollen doch nicht, dass Ihr etwas… Sinnloses tut.« Ihr Lächeln war bösartig. Egwene seufzte bloß, als sich das Gewebe um sie legte; sie bezweifelte ohnehin, dass sie es geschafft hätte, Saidar zu umarmen, und gegen fünf Schwestern, die bereits von der Macht erfüllt waren, hätte sie sich ohnehin nur wenige Augenblicke behaupten können. Ihre nachgiebige Reaktion schien die Rote zu enttäuschen. »Das ist vielleicht Eure letzte Nacht auf der Welt«, fuhr sie fort. »Es würde mich nicht im Mindesten überraschen, wenn Elaida Euch morgen dämpfen und enthaupten lässt.«
»Oder möglicherweise sogar noch heute Nacht«, fügte ihre schlanke Gefährtin hinzu und nickte. »Ich glaube, Elaida könnte so begierig auf Euer Ende sein.« Im Gegensatz zu Katerine stellte sie lediglich eine Tatsache fest, aber sie gehörte mit Sicherheit auch zu den Roten. Und beobachtete die anderen Schwestern, als hätte sie den Verdacht, dass eine von ihnen den Versuch unternehmen könnte, etwas zu versuchen. Das war schon sehr seltsam!
Egwene behielt ihre Beherrschung bei, verweigerte ihnen die Erwiderung, auf die sie warteten. Die Erwiderung, auf die zumindest Katerine wartete. Sie war entschlossen, ihre Würde bis zum Richtblock zu bewahren. Ob sie nun eine gute Amyrlin gewesen war oder nicht, sie würde auf eine Art sterben, wie es sich für den Amyrlin-Sitz gehörte.
Die Frau, die sich von den beiden Roten fern hielt, ergriff das Wort, und der deutliche Akzent von Arafel in ihrer Stimme erlaubte es Egwene, dem kantigen, schmalen Gesicht, das in dem schwachen Mondlicht kaum zu sehen war, einen Namen zuzuordnen. Berisha Terakuni, eine Graue mit dem Ruf, das Gesetz auf die strikteste und oft härteste Weise zu interpretieren. Immer natürlich nach dem Buchstaben des Gesetzes, aber niemals auch nur mit einem Hauch von Gnade.
»Nicht heute Nacht oder morgen, Barasine, solange Elaida nicht bereit ist, die Sitzenden in der Nacht zusammenzurufen und sie bereit sind zu kommen. Das erfordert ein Hohes Gericht, keine Sache von Minuten oder gar Stunden, und der Saal scheint nicht bereit zu sein, Elaida so zu unterstützen, wie sie es gern hätte, was auch kein Wunder ist. Das Mädchen wird verurteilt werden, aber ich glaube, der Saal wird sich in der Angelegenheit zusammensetzen, wann er es für richtig hält.«
»Der Saal wird zusammentreten, wenn Elaida ihn ruft, oder sie wird ihnen allen Bußen auferlegen, dass sie sich wünschen, es getan zu haben.« Katerine verzog höhnisch die Lippen. »So wie Jala und Merym losgaloppiert sind, als wir sahen, was wir da gefangen haben, weiß sie es mittlerweile, und ich wette, dass Elaida für die da die Sitzenden mit eigenen Händen aus dem Bett zerrt, wenn es sein muss.« Ihre Stimme wurde selbstgefällig und scharf, und das gleichzeitig. »Vielleicht wird sie Euch als Stuhl der Begnadigung benennen. Würde Euch das nicht gefallen?«
Berisha richtete indigniert die Stola auf ihren Armen. In einigen Fällen sah sich der Stuhl der Begnadigung derselben Strafe gegenüber wie die Person, die er verteidigte. Vielleicht war das hier der Fall; trotz Siuans unablässigen Anstrengungen, ihre Ausbildung zu beenden, wusste Egwene es nicht.
»Was ich wissen will«, sagte die Graue nach einem Moment und ignorierte die Frau neben ihr, »was habt Ihr mit der Hafenkette gemacht? Wie kann man das ungeschehen machen?«
»Man kann es nicht ungeschehen machen«, erwiderte Egwene. »Ihr müsst wissen, sie ist jetzt Cuendillar. Nicht einmal die Macht kann sie brechen, sondern sie höchstens stärker machen. Ich schätze, Ihr könntet sie verkaufen, falls Ihr genug von der Hafenmauer abreißen könnt, um sie zu entfernen. Falls sich jemand ein so großes Stück Cuendillar leisten kann. Oder es haben wollte.«
Diesmal versuchte niemand, Katerine davon abzuhalten, sie zu schlagen, und das sehr hart. »Haltet den Mund!«, fauchte die Rote.
Das schien ein guter Rat zu sein, wenn sie nicht bewusstlos geprügelt werden wollte. Sie konnte bereits Blut im Mund schmecken. Also blieb Egwene stumm, und Stille senkte sich über die fahrende Kutsche, während alle anderen mit Saidar leuchteten und sich gegenseitig misstrauisch im Auge behielten. Es war unglaublich! Warum hatte Elaida nur Frauen für die nächtliche Mission ausgesucht, die sich offensichtlich verabscheuten? Als Machtdemonstration, einfach weil sie es konnte? Es spielte keine Rolle. Falls Elaida erlaubte, dass sie die Nacht überlebte, würde sie immerhin Siuan wissen lassen können, was ihr zugestoßen war — und vermutlich auch Leane. Sie konnte Siuan wissen lassen, dass sie verraten worden waren. Und beten, dass Siuan den Verräter aufspüren konnte. Beten, dass die Rebellion nicht auseinander brach. Dafür sandte sie ein kleines Gebet auf der Stelle. Das war viel wichtiger als die anderen Dinge.
Als der Kutscher die Pferde zügelte, hatte sie sich genug erholt, um Katerine und Pritalle ohne Hilfe aus der Kutsche zu folgen, auch wenn sich ihr Kopf noch immer geschwollen anfühlte. Sie konnte stehen, aber sie bezweifelte, die Kraft zu einem längeren Lauf zu haben, nicht dass sie mit dem Versuch etwas anderes erreicht hätte, als nach ein paar Schritten aufgehalten zu werden. Also stand sie ruhig neben der dunkel lackierten Kutsche und wartete so geduldig wie das vierköpfige Gespann in seinem Geschirr. Schließlich steckte sie im übertragenen Sinn auch in einem Geschirr. Die Weiße Burg stieg über ihnen auf, ein gewaltiger bleicher Schaft, der in die Nacht hineinragte. Nur wenige Fenster waren erhellt, aber ein paar davon befanden sich in der Nähe der Spitze, vielleicht in den Räumen, die Elaida bewohnte. Alles war sehr seltsam. Sie war eine Gefangene, und es war unwahrscheinlich, dass sie noch lange lebte, und doch fühlte sie sich, als würde sie nach Hause kommen. Die Burg schien ihr neue Kraft zu verleihen.
Zwei Diener mit der Flamme von Tar Valon auf der Brust ihrer Livreen waren vom rückwärtigen Teil der Kutsche abgestiegen, um die Treppe auszuklappen, und sie boten jeder aussteigenden Frau eine weiß behandschuhte Hand, aber nur Berisha nahm sie, und das auch nur, weil es sie das Hofpflaster schnell erreichen ließ, während sie die anderen Frauen im Auge behalten konnte, wie Egwene vermutete. Barasine warf den Burschen solche Blicke zu, dass einer von ihnen deutlich hörbar schluckte und der andere erbleichte. Felaana, die eifrig damit beschäftigt war, die anderen zu beobachten, winkte die Männer lediglich gereizt fort. Alle fünf hielten noch immer Saidar, selbst hier.
Sie befanden sich am hinteren Haupteingang; mit steinernen Geländern versehene Marmorstufen führten erhellt von vier massiven Bronzelaternen, die einen breiten Kreis aus flackerndem Licht schufen, von der zweiten Ebene nach unten. Zu Egwenes Überraschung stand eine einzelne Novizin allein am Fuß der Treppe und hielt ihren weißen Umhang gegen die leichte Kühle der Nachtluft zusammen. Sie hatte eigentlich fest damit gerechnet, dass Elaida sie persönlich empfing, um sich zusammen mit einer Gefolgschaft ihrer Speichellecker an ihrer Gefangennahme zu ergötzen. Dass es sich bei der Novizin um Nicola handelte, war eine zweite Überraschung. Die Weiße Burg war der letzte Ort, an dem sie die Ausreißerin zu finden geglaubt hätte.
Nach der Art und Weise zu urteilen, wie Nicola die Augen aufriss, als Egwene die Kutsche verließ, war die Novizin noch erstaunter als sie, aber sie machte einen ordentlichen, wenn auch hastigen Knicks vor den Schwestern. »Die Amyrlin sagt, sie .. . sie soll der Oberin der Novizinnen übergeben werden, Katerine Sedai. Sie sagt, dass Silviana Sedai ihre Instruktionen hat.«
»So, anscheinend werdet Ihr heute Nacht zumindest noch mit der Rute gezüchtigt«, murmelte Katerine mit einem Lächeln. Egwene fragte sich, ob die Frau sie persönlich hasste, ob sie das hasste, was sie repräsentierte, oder ob sie einfach nur jeden hasste. Mit der Rute gezüchtigt zu werden. Sie hatte es nie gesehen, aber sie hatte eine Beschreibung gehört. Es hatte außerordentlich schmerzhaft geklungen. Sie erwiderte Katerines Blick ruhig, und nach einem Moment erlosch das Lächeln. Die Aes Sedai sah aus, als wollte sie sie erneut schlagen. Die Aiel hatten eine Methode, mit Schmerz umzugehen. Sie umarmten ihn, überließen sich ihm kampflos, verzichteten sogar auf den Versuch, Schreie zurückzuhalten. Vielleicht würde das helfen. Die Weisen Frauen behaupteten, dass man den Schmerz auf diese Weise abschütteln konnte, ohne dass er seine Macht über einen behielt.
»Wenn Elaida das hier unnötigerweise in die Länge ziehen will, werde ich daran heute Nacht nicht mehr teilnehmen«, verkündete Felaana und starrte jeden in Sichtweise finster an, Nicola eingeschlossen. »Wenn das Mädchen gedämpft und hingerichtet wird, sollte das reichen.« Die blonde Schwester raffte ihre Röcke und schoss an Nicola vorbei die Treppe hinauf. Sie rannte tatsächlich! Als sie in der Burg verschwand, wurde sie noch immer vom Licht Saidars eingehüllt.
»Der Meinung bin ich auch«, sagte Pritalle kühl. »Harril, ich glaube, ich leiste dir Gesellschaft, während du Blutlanze in den Stall bringst.« Ein dunkelhäutiger, stämmiger Mann, der mit einem großen Braunen am Zügel aus der Dunkelheit trat, verneigte sich vor ihr. Er trug den Chamäleonumhang eines Behüters, der ihn nicht da zu sein scheinen ließ, wenn er stillstand, und in allen Farben schillerte, wenn er sich bewegte. Lautlos folgte er Pritalle in die Nacht hinein, aber er blickte ständig über die Schulter und beschützte ihren Rücken. Auch um sie blieb das Licht bestehen. Hier ging etwas vor, das Egwene nicht verstand.
Plötzlich breitete Nicola ihre Röcke zu einem weiteren Knicks aus, der diesmal aber tiefer ausfiel, und die Worte sprudelten aus ihr heraus. »Es tut mir Leid, dass ich ausgerissen bin, Mutter. Ich dachte, sie würden mich hier schneller vorankommen lassen. Areina und ich dachten .. .«
»Nennt sie nicht so!«, brüllte Katerine, und ein Strang Luft peitschte hart genug über das Hinterteil der Novizin, dass sie aufschrie und einen Satz machte. »Wenn Ihr der Amyrlin heute Nacht dient, Kind, dann geht zurück zu ihr und richtet ihr aus, dass ich gesagt habe, ihre Befehle werden ausgeführt. Jetzt lauft!«
Mit einem letzten verzweifelten Blick auf Egwene raffte Nicola Umhang und Röcke und eilte die Treppe so schnell hinauf, dass sie zweimal stolperte und beinahe gestürzt wäre. Arme Nicola. Ihre Hoffnungen waren sicherlich enttäuscht worden, und wenn die Burg ihr Alter entdeckte… Sie musste darüber gelogen haben, um aufgenommen zu werden; lügen war nur eine ihrer mehreren schlechten Gewohnheiten. Egwene strich das Mädchen aus ihren Gedanken. Nicola war nicht länger ihre Sorge.
»Es war unnötig, das Mädchen so zu ängstigen«, sagte Berisha überraschenderweise. »Novizinnen müssen geführt werden, nicht genötigt.« Weit entfernt von ihren Ansichten über das Gesetz.
Katerine und Barasine fuhren beide zu der Grauen herum und starrten sie eindringlich an. Jetzt waren es nur noch zwei Katzen, aber statt einer anderen Katze sahen sie eine Maus.
»Wollt Ihr uns allein zu Silviana begleiten?«, fragte Katerine mit einem entschieden unerfreulichen Lächeln.
»Habt Ihr Angst, Graue?«, sagte Barasine mit einem Hauch von Spott in der Stimme. Aus irgendeinem Grund schwang sie einen Arm ein bisschen, sodass die langen Fransen ihrer Stola hin und her baumelten. »Nur eine von euch, und zwei von uns?«
Die beiden Diener standen wie Statuen da, wie Männer, die sich nichts sehnlicher wünschten, als anderswo zu sein, und hofften, nicht bemerkt zu werden, wenn sie nur reglos genug waren.
Berisha war nicht größer als Egwene, aber sie nahm die Schultern zurück und zog die Stola enger. »Drohungen werden vom Burggesetz ausdrücklich verboten…«
»Hat Barasine Euch bedroht?«, unterbrach Katerine sie sanft. Sanft und doch voller scharfem Stahl. »Sie hat Euch nur gefragt, ob Ihr Angst habt. Solltet Ihr?«
Berisha befeuchtete sich unbehaglich die Lippen. Sie war schneeweiß geworden, ihre Augen schienen immer größer zu werden, als würde sie Dinge sehen, die sie nicht sehen wollte. »Ich… ich glaube, ich werde einen Spaziergang auf dem Gelände machen«, sagte sie schließlich mit erstickter Stimme und schlich sich davon, ohne die beiden Roten auch nur einen Augenblick lang aus dem Sichtfeld zu lassen. Katerine stieß ein kurzes, zufriedenes Lachen aus.
Das war absoluter Wahnsinn! Selbst Schwestern, die einander abgrundtief hassten, benahmen sich nicht auf diese Weise. Keine Frau, die Furcht so schnell nachgab wie Berisha, wäre jemals Aes Sedai geworden. In der Burg ging etwas vor. Etwas Schlimmes.
»Bringt sie her«, sagte Katerine und stieg die Stufen hinauf.
Barasine ließ Saida r endlich los, packte Egwene fest am Arm und folgte ihr. Ihr blieb keine Wahl, als den Reitrock zu raffen und ihr friedlich zu folgen. Aber ihre Stimmung war seltsam heiter.
Die Burg zu betreten fühlte sich wirklich wie eine Heimkehr an. Die weißen Wände mit ihren Friesen und Wandteppichen und die bunt leuchtenden Bodenfliesen erschienen ihr so vertraut wie die Küche ihrer Mutter. In gewisser Weise sogar noch mehr; es war viel länger her, dass sie die Küche ihrer Mutter gesehen hatte statt diese Korridore. Jeder Atemzug flößte ihr die Kraft ein, die einem sein Zuhause verleihen konnte. Aber es gab auch Seltsames. Alle Kandelaber brannten, und es konnte noch nicht so spät sein, aber sie sah niemanden. Es rauschten immer ein paar Schwestern durch die Gänge, selbst mitten in der Nacht. Sie erinnerte sich lebhaft daran, wie sie Schwestern gesehen hatte, wenn sie zu später Stunde auf irgendeinem Botengang durch die Burg geeilt und daran verzweifelt war, dass sie niemals so anmutig und majestätisch aussehen würde. Aes Sedai hatten ihren eigenen Tagesablauf, und ein paar Braune verabscheuten es regelrecht, am Tag wach sein zu müssen. Nachts gab es weniger Ablenkungen von ihren Studien, weniger Unterbrechungen beim Lesen. Aber es war keiner zu sehen. Weder Katerine noch Barasine machten eine Bemerkung, während sie durch einsame Korridore schritten. Offensichtlich war die stumme Leere nun üblich.
Als sie zu einer hellen Steintreppe in einem Alkoven kamen, erschien endlich eine Schwester, die von unten kam. Eine mollige Frau in einem rotgeschlitzten Reitkleid. Ihr Mund schien gern zu lächeln, und sie trug ihre Stola mit den langen roten Seidenfransen über die Arme drapiert. Katerine und die anderen hatten die ihren vermutlich getragen, damit sie am Hafen klar zu erkennen waren — in Tar Valon würde niemand eine Frau mit einer fransenbesetzten Stola belästigen; die meisten gingen so jemandem aus dem Weg, vor allem die Männer-, aber warum hier?
Beim Anblick Egwenes hoben sich die dicken schwarzen Augenbrauen der Frau, und sie stemmte die Fäuste in ihre üppigen Hüften. Egwene glaubte nicht, die Schwester schon einmal gesehen zu haben, aber anscheinend galt das nicht für ihr Gegenüber. »Was denn, das ist ja al'Vere. Sie haben sie zum Nordhafen geschickt? Elaida wird euch eine hübsche Belohnung für die Bemühungen dieser Nacht geben; ja, das wird sie. Aber seht sie euch an. Seht nur, wie sie dasteht. Man könnte meinen, ihr beiden seid eine Ehrenwache zur Eskorte. Ich hätte gedacht, dass sie heult und um Gnade bettelt.«
»Ich glaube, die Kräuter benebeln noch immer ihre Sinne«, murmelte Katerine und warf Egwene einen unwirschen Blick zu. »Sie scheint ihre Situation nicht zu erkennen.« Barasine, die noch Egwenes Arm hielt, schüttelte sie kräftig, aber nach einem kurzen Stolpern erlangte sie das Gleichgewicht zurück, behielt eine reglose Miene bei und ignorierte die Blicke der größeren Frauen.
»Unter Schock«, sagte die mollige Rote und nickte. Sie hörte sich nicht unbedingt verständnisvoll an, aber nach Katerine kam sie dem doch sehr nahe. »Ich habe so etwas schon zuvor gesehen.«
»Wie ist es am Südhafen gelaufen?«, fragte Barasine.
»Anscheinend nicht so erfolgreich wie bei euch. Alle haben beim Anblick von uns beiden wie Schweine beim Metzger gequiekt. Ich fürchte, wir haben die verjagt, die wir einfangen wollten. Es war gut, dass da zwei von uns waren, die miteinander reden. Wir haben bloß eine Wilde gefangen, aber nicht, bevor sie die halbe Hafenkette in Cuendillar verwandeln konnte. Wir haben beinahe die Pferde zu Tode gehetzt, weil wir so schnell zurückgaloppiert sind, als hätten wir, nun, euren Fang gemacht. Zanica hat darauf bestanden und sogar den Kutscher durch ihren Behüter ersetzt.«
»Eine Wilde«, sagte Katerine verächtlich.
»Nur die Hälfte?« Barasine war deutlich ihre Erleichterung anzuhören. »Dann ist der Südhafen nicht blockiert.«
Melares Brauen hoben sich erneut, als ihr die Bedeutung klar wurde. »Wir werden am Morgen sehen, wie weit er frei ist«, sagte sie langsam, »wenn sie die Hälfte senken, die noch aus Eisen besteht. Der Rest ist stocksteif wie, nun, wie eine Stange Cuendillar. Ich persönlich bezweifle, dass größere Schiffe da durchkommen.« Sie schüttelte mit einem verblüfften Gesichtsdruck den Kopf. »Aber da war etwas Seltsames. Sogar mehr als seltsam. Wir konnten die Wilde zuerst nicht finden. Wir konnten sie die Macht nicht lenken fühlen. Kein Glühen hüllte sie ein, und wir konnten ihre Gewebe nicht sehen. Die Kette fing einfach an, sich weiß zu verfärben. Hätte Arebis' Behüter nicht das Boot entdeckt, hätte sie ihr Werk vollenden und entkommen können.«
»Die kluge Leane«, murmelte Egwene. Einen Augenblick lang kniff sie die Augen fest zusammen. Leane hatte beizeiten alles vorbereitet, bevor der Hafen in Sicht kam; sie hatte ihre Fähigkeiten verschleiert. Wäre sie so klug gewesen, hätte sie vermutlich entkommen können. Aber im Nachhinein war man immer klüger.
»Das ist der Name, den sie angegeben hat«, sagte Melare. Sie runzelte die Stirn. Ihre Augenbrauen, die an dunkle Raupen erinnerten, waren sehr ausdrucksstark. »Leane Sharif. Von der Grünen Ajah. Zwei sehr dumme Lügen. Desala prügelt sie in der Zelle von oben bis unten, aber sie will nicht nachgeben. Ich bin nach oben gekommen, um Luft zu schnappen. Ich konnte Prügel noch nie leiden, nicht einmal für so etwas. Kennt Ihr ihre Tricks, Kind? Wie man Gewebe verbirgt?«
Oh, beim Licht! Sie glaubten, Leane sei eine Wilde, die sich als Aes Sedai ausgab. »Sie sagt die Wahrheit. Die Dämpfung kostete sie das alterslose Aussehen und ließ sie jünger erscheinen. Sie ist von Nynaeve al'Meara Geheilt worden, und da sie nicht länger zu den Blauen gehörte, hat sie eine neue Ajah gewählt. Stellt ihr Fragen, die nur Leane Sharif beantworten kann…« Ihre Worte wurden abgeschnitten, als eine Kugel Luft ihren Mund ausfüllte und ihren Kiefer so weit aufzwang, dass er knackte.
»Wir müssen uns diesen Unsinn nicht anhören«, knurrte Katerine.
Aber Melare starrte Egwene in die Augen. »Es hört sich sinnlos an, das stimmt«, sagte sie nach einem Augenblick, »aber ich schätze, es kann nicht schaden, ein paar andere Fragen als ›Wie heißt du‹ zu stellen. Schlimmstenfalls macht es die Antworten der Frau weniger langweilig. Sollen wir sie runter in die Zellen bringen, Katerine? Ich wage es nicht, Desala zu lange mit der anderen allein zu lassen. Sie verabscheut Wilde, und sie hasst Frauen, die sich als Aes Sedai ausgeben, abgrundtief.«
»Sie kommt noch nicht in die Zelle«, erwiderte Katerine.
»Elaida will, dass sie zu Silviana gebracht wird.«
»Nun, solange ich von diesem Kind oder der anderen diesen Trick erfahre.« Melare holte tief Luft und ging die Treppe wieder hinunter, eine Frau, auf die eine Arbeit wartete, auf die sie sich nicht freute. Aber sie gab Egwene Hoffnung für Leane. Leane war jetzt »die andere«, und nicht mehr »die Wilde«.
Katerine setzte sich mit schnellen Schritten in Bewegung, stumm, aber Barasine stieß Egwene vor sich her und murmelte kaum hörbar etwas in dem Sinn, wie albern die Ansicht doch war, dass eine Schwester etwas von einer Wilden lernen konnte, oder von einer hochnäsigen Aufgenommenen, die dumme Lügen erzählte.
Es fiel schwer, wenigstens einen Funken Würde zu bewahren, wenn man von einer Frau mit langen Beinen einen Korridor entlanggeschubst wurde, während einem der Mund so weit aufklaffte, wie es gerade ging, und einem der Speichel das Kinn hinuntertropfte, aber Egwene schaffte es, so gut sie konnte. In Wahrheit dachte sie kaum darüber nach. Melare hatte ihr zu viel verraten, über das sie nachdenken musste. Wenn man Melare zu den Schwestern in der Kutsche hinzurechnete. Eigentlich konnte das unmöglich bedeuten, was es schien, aber wenn doch…
Bald wechselten sich die blauweißen Fliesen mit rotgrünen ab, und sie näherten sich einer schmucklosen Holztür zwischen zwei Wandteppichen mit blühenden Bäumen und spitzschnäbeligen Vögeln, die so bunt waren, dass sie wohl kaum in der Realität existierten. Schmucklos, aber auf Hochglanz poliert und jedermann in der Weißen Burg bekannt. Katerine klopfte, und sie tat es auf eine Weise, die man beinahe als zögerlich hätte bezeichnen können, und als eine durchdringende Stimme drinnen »Herein« rief, holte sie tief Luft, bevor sie die Tür aufstieß. Hatte sie schlimme Erinnerungen an die Zeit, in der sie als Novizin oder Aufgenommene hier eingetreten war, oder war es die Frau, die sie erwartete, die sie zögern ließ?
Das Arbeitszimmer der Oberin der Novizinnen war genauso, wie Egwene es in Erinnerung hatte, ein kleiner, mit dunklem Holz getäfelter Raum mit nüchternen, stabilen Möbeln. An der Tür stand ein schmaler Teetisch, dessen Beine mit einem seltsamen Muster verziert waren, und an einer Wand hing ein Spiegel, dessen Rahmen noch verblichene Überreste seiner Vergoldung aufwies, aber sonst war nichts auf irgendeine Weise verziert. Die Kandelaber und die beiden Lampen auf dem Schreibtisch bestanden aus einfachem Messing. Die Frau, die das Amt bekleidete, wechselte für gewöhnlich, wenn eine neue Amyrlin erhoben wurde, aber Egwene wäre jede Wette eingegangen, dass eine Frau, die diesen Raum vor zweihundert Jahren als Novizin betreten hatte, jede Holzbohle und vielleicht auch alles andere wiedererkannt hätte.
Die derzeitige Oberin der Novizinnen — zumindest die in der Weißen Burg — erwartete sie stehend, eine stämmige Frau, die beinahe Barasines Größe hatte; ihr Haar war im Nacken zu einem Knoten gebunden, und sie hatte ein kantiges, entschlossenes Kinn. Silviana Brehon verfügte über eine Ausstrahlung, die keinen Unsinn duldete. Sie war eine Rote, und die kohlenfarbenen Röcke wiesen diskrete rote Schlitze auf, aber ihre Stola lag über der Stuhllehne hinter dem Schreibtisch. Ihre großen Augen flößten einem jedoch Unbehagen ein. Sie schienen alles an Egwene mit einem Blick zu erfassen, als würde die Rote nicht nur jeden Gedanken in ihrem Kopf kennen, sondern auch das, was sie morgen denken würde.
»Lasst sie bei mir und wartet draußen«, sagte Silviana mit leiser, ruhiger Stimme.
»Sie hier lassen?«, erwiderte Katerine ungläubig.
»Welche Worte habt Ihr nicht verstanden, Katerine? Muss ich mich wiederholen?«
Anscheinend nicht. Katerine errötete, sagte aber nichts mehr. Das Leuchten Saidars hüllte Silviana ein, und sie übernahm geschickt die Abschirmung, ohne sich dabei eine Blöße zu geben, hätte Egwene die Macht selbst ergreifen können. Sie war überzeugt, es wieder zu schaffen. Aber Silviana war alles andere als schwach; es bestand keine Hoffnung, die Abschirmung der Frau durchbrechen zu können. Der Knebel aus Luft verschwand zur gleichen Zeit, und sie gab sich damit zufrieden, ein Taschentuch aus der Gürteltasche zu kramen und sich ruhig das Kinn abzuwischen. Die Gürteltasche war durchsucht worden — sie legte das Taschentuch immer oben drauf, nie unter alles andere —, aber herauszufinden, ob man ihr außer ihrem Ring etwas abgenommen hatte, würde warten müssen. Es war sowieso nichts darin gewesen, was einer Gefangenen nutzen konnte. Ein Kamm, eine Schachtel Nähnadeln, eine kleine Schere, Krimskrams. Die schmale Stola der Amyrlin. Sie hatte keine Ahnung, wie viel sie von ihrer Würde aufrechterhalten würde, wenn man sie mit der Rute schlug, aber das lag in der Zukunft. Jetzt stand ihr erst das hier bevor.
Silviana musterte sie mit unter der Brust verschränkten Armen, bis sich die Tür hinter den anderen beiden Roten geschlossen hatte. »Wenigstens seid Ihr nicht hysterisch«, sagte sie dann. »Das erleichtert die Sache, aber warum seid Ihr nicht hysterisch?«
»Würde das irgendetwas bringen?«, erwiderte Egwene und steckte das Taschentuch zurück in die Gürteltasche.
»Ich wüsste nicht wie.«
Silviana begab sich zu dem Schreibtisch und las im Stehen ein Blatt Papier, blickte gelegentlich auf. Ihr Gesichtsausdruck bot die perfekte Maske von Aes Sedai-Gelassenheit. Unleserlich. Egwene wartete geduldig, die Hände in Hüfthöhe gefaltet. Selbst verkehrt herum konnte sie Elaidas Handschrift auf dem Papier erkennen, auch wenn sie nicht lesen konnte, was dort stand. Die Oberin brauchte nicht zu glauben, dass Warten sie nervös machte. Geduld war eine der wenigen Waffen, die ihr im Augenblick noch blieben.
»Wie es scheint, hat die Amyrlin schon längere Zeit darüber nachgedacht, was mit Euch geschehen soll«, sagte Silviana schließlich. Wenn sie damit gerechnet hatte, dass Egwene nun damit beginnen würde, von einem Fuß auf den anderen zu treten oder die Hände zu wringen, zeigte sie zumindest keine Enttäuschung. »Sie hat einen kompletten Plan erstellt. Sie will nicht, dass die Burg Euch verliert. Und ich auch nicht. Elaida hat entschieden, dass andere Euch als Marionette benutzt haben und man Euch dafür nicht verantwortlich machen sollte. Also wird man Euch nicht anklagen, sich als Amyrlin ausgegeben zu haben. Sie hat Euren Namen aus der Rolle der Aufgenommenen gestrichen und ihn wieder ins Novizinnenbuch eingetragen. Ehrlich gesagt, stimme ich dieser Entscheidung zu, auch wenn man das noch nie zuvor gemacht hat. Wie stark auch immer Eure Fähigkeiten in der Macht sein mögen, Ihr habt fast alles andere versäumt, was Ihr als Novizin hättet lernen sollen. Aber Ihr braucht keine Angst zu haben, dass Ihr die Prüfung zur Aes Sedai erneut ablegen müsst. Ich würde niemanden dazu zwingen, das zweimal durchzumachen.«
»Ich bin Aes Sedai kraft meiner Erhebung zum Amyrlin-Sitz«, erwiderte Egwene ruhig. Es lag kein Widerspruch darin, um einen Titel zu kämpfen, wenn seine Beanspruchung immer noch zu ihrem Tod führen konnte. Ihr Verzicht würde ein genauso harter Schlag für die Rebellion sein wie ihre Hinrichtung. Vielleicht sogar noch härter. Wieder Novizin zu sein? Das war lächerlich! »Ich kann den relevanten Absatz im Gesetz zitieren, falls Ihr es wünscht.«
Silviana hob eine Braue und setzte sich, um ein großes, in Leder gebundenes Buch aufzuschlagen. Das Bestrafungsbuch. Sie tauchte ihre Feder in das einfache Glastintenfässchen und machte eine Notiz. »Ihr habt Euch gerade Euren ersten Besuch bei mir verdient. Ich lasse Euch die Nacht Zeit, darüber nachzudenken, statt Euch sofort übers Knie zu legen. Wollen wir hoffen, dass Meditation den heilsamen Effekt noch verstärkt.«
»Glaubt Ihr, Ihr könnt mich durch Schläge dazu bringen, das zu verleugnen, was ich bin?« Egwene hatte Mühe, den Unglauben aus ihrer Stimme herauszuhalten. Sie war sich nicht sicher, dass es ihr gelungen war.
»Es gibt Schläge, und es gibt Schläge«, erwiderte die Oberin. Sie wischte die Federspitze auf einem Papierfetzen sauber, steckte die Feder zurück in ihren Glashalter und betrachtete Egwene. »Ihr seid an Sheriam Bayanar als Oberin der Novizinnen gewöhnt.« Silviana schüttelte verächtlich den Kopf.
»Ich habe ihre Bestrafungsbücher durchgeblättert. Sie hat den Mädchen viel zu viel durchgehen lassen, und sie war viel zu nachsichtig bei ihren Favoriten. Das hat dann dazu geführt, dass sie gezwungenermaßen viel öfter Strafen verhängen musste, als nötig gewesen wäre. Ich trage im Monat nur ein Drittel von Sheriams Bestrafungen ein, weil ich dafür sorge, dass jede, die ich bestrafe, hier vor allem mit dem Wunsch rausgeht, nie wieder zu mir geschickt zu werden.«
»Was auch immer Ihr tut, Ihr werdet mich niemals dazu bringen, mich selbst zu verleugnen«, sagte Egwene fest.
»Wie könnt Ihr nur glauben, Ihr könntet das schaffen? Will man mich zu den Klassen eskortieren, die ganze Zeit abgeschirmt?«
Silviana lehnte sich gegen ihre Stola, die Hände auf den Schreibtischrand gelegt. »Ihr wollt so lange widerstehen, wie Ihr könnt, oder?«
»Ich werde tun, was ich tun muss.«
»Und ich werde tun, was ich tun muss. Den Tag über werdet Ihr gar nicht abgeschirmt. Aber Ihr bekommt zu jeder Stunde eine schwache Dosis Spaltwurzel.« Silviana verzog bei dem Wort die Lippen. Sie ergriff das Blatt mit Elaidas Notizen, als wollte sie es lesen, dann ließ sie es wieder auf den Tisch fallen und rieb sich die Finger, als würde etwas Giftiges daran kleben. »Ich kann dieses Zeug nicht gutheißen. Es scheint nur für Aes Sedai gemacht zu sein. Jemand, der die Macht nicht lenken kann, kann fünfmal so viel davon trinken, wie man braucht, um eine Schwester zu betäuben, und ihm wird nicht einmal schwindelig davon. Ein widerwärtiges Gebräu. Aber anscheinend doch nützlich. Vielleicht kann man es für diese Asha'man benutzen. Die Tinktur wird Euch nicht schwindelig machen, aber Ihr werdet nicht genug Macht lenken können, um Ärger zu bereiten. Nur ein Rinnsal. Weigert Euch, es zu trinken, und man wird es Euch mit Gewalt einflößen. Man wird Euch auch ständig überwachen, also versucht erst gar nicht, zu Fuß zu fliehen. Nachts wird man Euch abschirmen, denn wenn man Euch genug Spaltwurzel geben würde, damit Ihr durchschlaft, würdet Ihr Euch am nächsten Tag vor Magenkrämpfen krümmen… Ihr seid eine Novizin, Egwene, und Ihr werdet eine Novizin sein. Viele Schwestern betrachten Euch noch immer als Ausreißerin, ganz egal, welche Befehle Siuan Sanche auch erteilt hat, und andere werden es mit Sicherheit für falsch halten, dass Elaida Euch nicht enthaupten lässt. Sie werden auf jede Übertretung achten, auf jeden Fehler. Ihr mögt eine Prügelstrafe verächtlich abtun, jetzt, bevor Ihr sie empfangen habt, aber wenn man Euch fünf-, sechs-, siebenmal am Tag zu mir schickt? Wir werden sehen, wie lange es dauert, bis Ihr Eure Ansicht ändert.«
Egwene überraschte sich selbst, indem sie kurz auflachte.
Silvianas Brauen schössen in die Höhe. Ihre Hand zuckte, als wollte sie nach der Feder greifen.
»Habe ich etwas Witziges gesagt, Kind?«
»Nicht im Mindesten«, erwiderte Egwene ehrlich. Ihr war eingefallen, dass sie dem Schmerz mit der Aiel-Methode beikommen konnte, aber damit schwand jede Hoffnung auf Würde. Zumindest während sie bestraft wurde. Was die übrige Zeit anging, konnte sie nur tun, was in ihrer Macht stand.
Silviana sah ihre Feder an, stand aber schließlich auf, ohne sie zu berühren. »Dann bin ich fertig mit Euch. Für heute Nacht. Ich werde Euch jedoch vor dem Frühstück sehen. Kommt mit.«
Sie ging zur Tür, zuversichtlich, dass Egwene ihr folgen würde, und Egwene gehorchte. Ein körperlicher Angriff auf die Oberin würde ihr nur einen weiteren Eintrag in das Buch einbringen. Spaltwurzel. Nun, sie würde einen Weg finden, wie sie das umgehen konnte. Und wenn nicht… Sie weigerte sich, darüber nachzudenken.
Katerine und Barasine waren gelinde gesagt überrascht, als sie von Elaidas Plänen für Egwene erfuhren, und wenig erfreut, als sie hörten, dass sie sie beobachten und während des Schlafens abschirmen sollten, auch wenn ihnen Silviana versicherte, sie nach ein paar Stunden von anderen Schwestern ablösen zu lassen.
»Warum wir beide?«, wollte Katerine wissen, was ihr einen trockenen Blick von Barasine einbrachte. Wenn man nur eine schickte, dann sicherlich nicht Katerine, die eine höhere Position einnahm.
»Erstens, weil ich es sage.« Silviana wartete, bis die beiden Roten zustimmend nickten. Sie taten es mit offensichtlichem Zögern, das aber nicht lange genug dauerte, um sie wirklich warten zu lassen. Sie hatte ihre Stola nicht angelegt, bevor sie den Korridor betrat, und auf seltsame Weise schien sie diejenige zu sein, die nicht hierher passte. »Und zweitens, weil ich glaube, dass dieses Kind durchtrieben ist. Ich will, dass sie ständig aufmerksam überwacht wird, ob sie nun schläft oder wacht. Wer von euch hat ihren Ring?«
Nach einem Moment zog Barasine den goldenen Ring aus der Gürteltasche und murmelte: »Ich wollte ihn nur als Erinnerungsstück behalten. Dass man die Rebellen zur Räson gebracht hat. Sie sind nun erledigt, ganz bestimmt.« Ein Erinnerungsstück? Das war Diebstahl, da gab es keinen Zweifel!
Egwene griff nach dem Ring, aber Silviana war schneller, und der Ring wanderte in ihre Gürteltasche. »Ich werde ihn verwahren, bis Ihr wieder das Recht habt, ihn zu tragen, Kind. Jetzt bringt sie ins Quartier der Novizinnen. Mittlerweile müsste ein Zimmer vorbereitet sein.«
Katerine übernahm die Abschirmung, und Barasine griff nach Egwenes Arm, aber Egwene streckte eine Hand nach Silviana aus. »Wartet. Da gibt es etwas, das ich Euch sagen muss.« Sie hatte sich damit gequält. Das Risiko war groß, weitaus mehr zu enthüllen, als sie wollte. Aber sie musste es tun. »Ich habe das Talent des Träumens. Ich habe gelernt, die wahren Träume zu erkennen und ein paar davon zu interpretieren. Ich habe von einer Glaslampe geträumt, in der eine weiße Flamme brannte. Zwei Raben kamen aus dem Nebel geflogen, stießen gegen die Lampe und flogen weiter. Die Lampe wackelte, versprühte brennende Öltropfen. Einige davon verbrannten in der Luft, andere landeten überall, und die Lampe wackelte weiter, kurz vor dem Umkippen. Es bedeutet, dass die Seanchaner die Weiße Burg angreifen und großen Schaden anrichten werden.«
Barasine schniefte. Katerine stieß ein verächtliches Schnauben aus.
»Eine Träumerin«, sagte Silviana tonlos. »Gibt es jemanden, der Eure Behauptung bestätigen kann? Und wenn es ihn gibt, wie könnt Ihr sicher sein, dass mit dem Traum die Seanchaner gemeint sind? Meiner Meinung nach würden Raben auf den Schatten hindeuten.«
»Ich bin eine Träumerin, und wenn eine Träumerin etwas weiß, dann weiß sie es. Nicht der Schatten. Die Seanchaner. Und wer weiß, was ich kann…?« Egwene zuckte mit den Schultern. »Die Einzige, zu der Ihr Zugang habt, ist Leane Sharif, die unten in den Zellen festgehalten wird.« Sie sah keine Möglichkeit, wie sie die Weisen Frauen ins Spiel bringen sollte, nicht, ohne einfach zu viel zu enthüllen.
»Diese Frau ist eine Wilde und nicht…«, setzte Katerine wütend an, aber ihr Mund schloss sich schnappend, als Silviana die Hand hob.
Die Oberin der Novizinnen musterte Egwene sorgfältig, das Gesicht noch immer eine nicht zu deutende Maske der Ruhe. »Ihr glaubt wirklich das, was Ihr da sagt«, bemerkte sie schließlich. »Ich hoffe, Eure Träume werden nicht so viele Probleme verursachen wie die Vorhersagen der jungen Nicola. Falls Ihr wirklich Träumen könnt. Nun, ich werde Eure Warnung weitergeben. Ich kann mir zwar nicht vorstellen, wie uns die Seanchaner hier in Tar Valon angreifen sollten, aber Wachsamkeit hat noch nie geschadet. Und ich werde die Frau befragen, die man unten festhält. Sorgfältig. Und wenn sie Eure Geschichte nicht bestätigt, wird Euer morgendlicher Besuch noch denkwürdiger ausfallen.« Sie gab Katerine ein Zeichen. »Bringt sie weg, bevor sie mir noch ein Bröckchen hinwirft und mich davon abhält, in dieser Nacht wenigstens etwas Schlaf zu finden.«
Diesmal murmelte Katerine genauso viel wie Barasine. Aber beide warteten, bis sie außer Silvianas Hörweite waren. Diese Frau würde eine außergewöhnliche Gegnerin sein. Egwene hoffte, dass den Schmerz zu umarmen so gut funktionierte, wie es die Weisen Frauen behauptet hatten. Sonst… Es war besser, über das »Sonst« nicht weiter nachzudenken.
Eine dünne, grauhaarige Dienerin wies ihnen die Richtung zu dem Raum, den sie gerade vorbereitet hatte, und eilte los, nachdem sie vor den beiden Roten schnell einen Knicks gemacht hatte. Für Egwene hatte sie keinen Blick übrig. Was bedeutete ihr schon eine weitere Novizin? Egwene biss die Zähne zusammen. Sie würde dafür sorgen müssen, dass die Leute sie nicht bloß als eine weitere Novizin betrachteten.
»Seht Euch ihr Gesicht an«, sagte Barasine. »Ich glaube, sie fängt endlich an zu begreifen.«
»Ich bin, wer ich bin«, erwiderte Egwene ruhig. Barasine stieß sie auf die Stufen zu, die sich in der hohlen Säule einer Galerie befand und von dem abnehmenden Mond beleuchtet wurde. Ein Luftzug wehte, der einzige Laut. Alles erschien so friedlich. Unter keiner Tür drang Lichtschein durch. Die Novizinnen würden mittlerweile schlafen, ausgenommen jene, die späte Pflichten zu erledigen hatten. Für sie war es friedlich. Aber nicht für Egwene.
Der winzige, fensterlose Raum hätte beinahe derselbe sein können, den sie bei ihrem ersten Aufenthalt in der Weißen Burg bewohnt hatte, mit seinem schmalen Bett an der Wand und dem kleinen Feuer, das in dem kleinen Ziegelkamin brannte. Die Lampe auf dem kleinen Tisch war entzündet, aber sie erhellte kaum mehr als die Tischplatte, und das Öl musste verdorben sein, denn es verbreitete einen schwachen, ranzigen Gestank. Ein Waschständer vervollständigte die Möblierung, abgesehen von dem dreibeinigen Hocker, auf dem sich Katerine augenblicklich niederließ und wie auf einem Thron die Röcke richtete. Barasine wurde klar, dass es für sie keinen Sitzplatz gab, also verschränkte sie die Arme unter der Brust und sah Egwene finster an.
Mit drei Frauen war es in dem Zimmer ziemlich eng, aber Egwene tat so, als würde es die anderen beiden nicht geben, als sie sich zum Schlafen bereitmachte und Umhang, Gürtel und Kleid an drei der Haken an einer der weißen Wände aufhängte. Sie bat nicht um Hilfe bei ihren Knöpfen. Als sie ihre ordentlich zusammengerollten Strümpfe auf den Schuhen ablegte, hatte es sich Barasine im Schneidersitz auf dem Boden bequem gemacht und sich in ein kleines Buch vertieft, das sie in ihrer Gürteltasche verstaut gehabt haben musste. Katerine ließ Egwene keinen Augenblick lang aus den Augen, als erwartete sie, dass sie einen Fluchtversuch zur Tür versuchen würde.
Egwene kroch in ihrem Unterhemd unter die dünne Wolldecke, bettete den Kopf auf das kleine Kopfkissen — kein mit Gänsedaunen gefülltes Kissen, so viel stand fest! — und vollzog die Übungen, die sie einschlafen lassen würden, entspannte einen Teil ihres Körpers nach dem anderen. Sie hatte das schon so oft gemacht, dass es den Anschein hatte, sie würde einschlafen, kaum dass sie damit begonnen hatte…
… und sie schwebte körperlos in einer Finsternis, die sich zwischen der wachenden Welt und Tel'aran'rhiod befand, der schmale Spalt zwischen dem Traum und der Realität, eine gewaltige Leere, gefüllt mit unzähligen funkelnden Lichtpunkten, die Träume sämtlicher Schläfer auf der Welt. Sie reichten so weit man sehen konnte an diesem Ort, wo es kein oben oder unten gab, schwebten um sie herum, verloschen, sobald ein Traum endete, flammten auf, sobald ein neuer begann. Sie konnte ein paar von ihnen auf Anhieb erkennen, dem Träumer einen Namen zuordnen, aber sie fand nicht denjenigen, den sie brauchte.
Es war Siuan, mit der sie sprechen musste, Siuan, die vermutlich mittlerweile wusste, dass eine Katastrophe geschehen war, die vermutlich nicht schlafen konnte, bis die Erschöpfung ihren Tribut forderte. Sie richtete sich auf Warten ein. Hier gab es kein Zeitgefühl, das Warten würde sie nicht langweilen. Aber sie musste überlegen, was sie sagen wollte. So vieles hatte sich seit ihrem Aufwachen in der Kutsche verändert. Sie hatte so vieles erfahren. Seinerzeit war sie davon überzeugt gewesen, dass sie bald sterben würde, überzeugt, dass die Schwestern in der Burg wie eine Armee hinter Elaida standen. Jetzt…
Elaida betrachtete sie als hilflose Gefangene. Dieses Gerede, sie wieder zur Novizin zu machen; selbst wenn Elaida wirklich daran glaubte, Egwene al'Vere tat es nicht. Sie betrachtete sich auch nicht als Gefangene. Sie trug die Schlacht in das Herz der Burg. Hätte sie an diesem Ort Lippen gehabt, dann hätte sie gelächelt.