Harine din Togara saß trotz des von den hohen Wellen verursachten Stampfens gerade aufgerichtet neben ihrer Schwester, ein Stück vor ihren Sonnenschirmträgern und dem Steuermann an seinem langen Ruderstock. Shalon schien begierig zu sein, die zwölf Männer und Frauen an den Rudern zu beobachten. Vielleicht war sie auch nur tief in Gedanken versunken. In letzter Zeit gab es vieles, worüber man nachdenken musste, nicht zuletzt dieses Treffen, zu dem man sie gerufen hatte, aber sie ließ ihre Gedanken umherschweifen. Bereitete sich vor. Seit ihrer Ankunft in Illian hatte sie sich jedes Mal innerlich vorbereiten müssen, wenn die Ersten Zwölf der Atha’an Miere zusammentrafen. Als sie seinerzeit Tear erreicht und Zaidas Blaue Möwe noch immer am Fluss verankert vorgefunden hatte, war sie überzeugt gewesen, dass sich die Frau in Caemlyn aufhielt oder zumindest weit hinter ihr war. Das war ein schmerzlicher Irrtum gewesen. Obwohl es in Wahrheit nur wenig verändert hätte, wäre Zaida erst Wochen später eingetroffen. Jedenfalls nicht für Harine. Nein, nicht an Zaida denken.
Die Sonne stand nur eine Faust über dem Horizont im Osten, und die Schiffe der Küstenbewohner hielten auf die langen Wellenbrecher zu, die Illians Hafen schützten. Eines trug drei Masten und war der äußeren Form nach hoch getakelt, sämtliche Hauptsegel hatten rechteckige Formen, aber das Schiff war gedrungen und schlecht gesegelt, es walzte mit aufsprühender Gischt durch die niedrige Dünung, statt sie zu durchschneiden. Die meisten der Fahrzeuge waren klein und niedrig getakelt, die Dreieckssegel beinahe alle mit einem hoch angesetzten Baum versehen. Ein paar schienen durchaus schnell zu sein, aber da die Landgebundenen selten außerhalb der Küstensicht segelten und für gewöhnlich aus Furcht vor Sandbänken nachts ankerten, brachte ihnen ihre Schnelligkeit nichts ein. Fracht, die wirklich schnell befördert werden musste, landete auf den Schiffen der Atha’an Miere. Natürlich zu einem festgesetzten Preis. Sie machte nur einen kleinen Anteil der Dinge aus, die die Atha’an Miere transportierten, teilweise wegen des Preises, teilweise weil nur wenige Dinge tatsächlich ihre Schnelligkeit benötigten. Natürlich garantierte Frachttransport einigen Profit, aber wenn der Zahlmeister für sich verhandelte, ging der ganze Profit an Schiff und Clan.
Östlich und westlich der Küste lagen Schiffe der Atha’an Miere vor Anker, soweit das Auge reichte, Springer und Wogentänzer, Gleiter und Klipper, die meisten von Bumbooten belagert, die so schlampig aussahen, dass sie wie betrunkene Küstenfestgänger aussahen. Die Bumboote wurden aus der Stadt gerudert und boten alles zum Verkauf an, von getrockneten Früchten bis hin zu geviertelten Rindern und Schafen, von Eisennägeln und Werkzeugen bis hin zu Schwertern und Dolchen, von hübschem illianischen Tand, der vielleicht das Interesse eines jeden Deckmatrosen erregte, bis hin zu Gold und Edelsteinen. Auch wenn das Gold für gewöhnlich so dünn aufgetragen war, dass nach ein paar Monaten das darunter liegende Messing zum Vorschein kam und die Edelsteine buntes Glas waren. Sie brachten auch Ratten, obwohl die nicht zum Verkauf standen. Nach so langer Ankerzeit wurde mittlerweile jedes Schiff von Ratten heimgesucht. Ratten und Verdorbenes sorgten dafür, dass es immer einen Markt für fahrende Händler gab.
Auch die massiv gebauten Seanchanerschiffe, Dutzende und Aberdutzende von ihnen, die für ›die Flucht‹ benutzt worden waren, wurden von Bumbooten umlagert. So hieß das jetzt, die Flucht aus Ebou Dar. Wenn man ›die Flucht‹ sagte, fragte keiner, welche Flucht man meinte. Es waren große Fahrzeuge mit fast senkrechtem Heck, mit fast doppelt so vielen oder gar noch mehr Rahen wie ein Klipper, dazu fähig, sich durch schwere See zu kämpfen, aber seltsam getakelt und mit merkwürdig gerippten Segeln ausgestattet, die zu steif für ein vernünftiges Ausrichten waren. Männer und Frauen waren über diese Masten und Rahen ausgeschwärmt und veränderten die Takelage, damit man sie auch ordentlich benutzen konnte. Niemand wollte diese Schiffe haben, aber die Werften würden Jahre brauchen, um all die Fahrzeuge zu ersetzen, die in Ebou Dar verloren gegangen waren. Und die Kosten! Ob sie nun zu viele Rahen hatten oder nicht, diese Schiffe würden viele Jahre benutzt werden. Keine Herrin der Segel hatte das Verlangen, sich in große Schulden zu stürzen und sich Geld aus den Clanschatztruhen zu leihen, wenn das meiste oder auch ihr ganzes Gold von den Seanchanern in Ebou Dar übernommen worden war, nicht solange sie keine andere Wahl hatte. Einigen von ihnen, die das Pech gehabt hatten, weder ihre eigenen Schiffe zurückzubekommen noch die der Seanchaner zu übernehmen, blieb keine andere Wahl.
Harines zwölf Ruderer passierten die hohe Mauer des Wellenbrechers, die dicht mit dunklem, schleimigem Tang bewachsen war, die die Wellen, die gegen den grauen Stein krachten, nicht ablösen konnten, und der breite, graugrüne Hafen der Stadt Illian öffnete sich vor ihr. Er wurde von weitläufigem Marschland umgeben, in dem an einigen Stellen das Braun des Winters durch das Frühlingsgrün ersetzt wurde und in dem Vögel mit langen Beinen umherstolzierten. Feine Nebelschwaden wehten von einer leichten Brise getrieben über das Boot und benetzten ihr Haar, bevor sie den Hafen hinaufwehten. An den Ausläufern des Marschlandes zogen kleine Fischerboote ihre Netze durchs Wasser, ein Dutzend Arten von Möwen und Seeschwalben kreiste über ihnen, um zu stehlen, was sie konnten. Was jenseits der langen, von Handelsschiffen gesäumten Steindocks lag, interess ierte sie nicht, aber der Hafen… Die breite, beinahe kreisrunde Wasserfläche war der größte bekannte Ankerplatz und mit Meeres und Flussgefährten gefüllt, von denen die meisten auf ihren Zugang zu den Docks warteten. Sie war wirklich gefüllt, mit Hunderten Schiffen jeder Größe und Form, und nicht alle diese Schiffe gehörten den Landgebundenen. Hier gab es nur Klipper, diese schlanken Dreimaster, die Tümmler ein Rennen liefern konnten. Klipper und drei der unbeholfenen seanchanischen Monstrositäten. Das waren die Schiffe der Herrinnen der Wogen sowie der Herrinnen der Segel, die die Ersten Zwölf eines jeden Clans bildeten, jedenfalls jene, die es in den Hafen geschafft hatten, bevor es dort keinen Platz mehr gab. Selbst der Ankerplatz von Illian hatte seine Grenzen, und der Rat der Neun und ganz zu schweigen diese Verwalter des Wiedergeborenen Drachen in Illian hätten Ärger gemacht, wenn die Atha’an Miere den Handel behindert hätten.
Plötzlich pfiff ein starker, eiskalter Wind aus dem Norden.
Nein, er kam nicht auf; er war einfach da mit voller Kraft, peitschte das Hafenwasser zu kabbeliger Gischt auf und trug den Geruch von Kiefern und etwas .. . Erdigem heran. Sie verstand nur wenig von Bäumen, aber viel von dem Holz, das man zum Schiffsbau benutzte. Allerdings glaubte sie nicht, dass es in der Nähe von Illian viele Kiefern gab. Dann fiel ihr die Nebelgrenze auf. Während die Schiffe durch die Gewalt der einfallenden, nach Süden peitschenden Böe schaukelten, trieb der Nebel weiterhin langsam nach Norden. Die Hände auf den Knien zu lassen kostete eine Anstrengung. Sie verspürte den dringenden Wunsch, sich die Feuchtigkeit aus dem Haar zu wischen. Sie hatte geglaubt, dass sie nach Shadar Logoth nichts mehr erschüttern könnte, aber in letzter Zeit hatte sie zu viele… Merkwürdigkeiten… gesehen, Merkwürdigkeiten, die von einer aus den Fugen geratenen Welt kündeten.
So abrupt der Wind gekommen war, so plötzlich war er auch wieder verschwunden. Gemurmel ertönte, der Ruders chlag geriet durcheinander, und das vierte Ruder auf der Backbordseite wurde durchgezogen und spritzte Wasser ins Boot. Die Mannschaft wusste, dass sich Wind nicht auf diese Weise verhielt.
»Ganz ruhig«, sagte Harine fest. »Ruhig!«
»Zieht zusammen durch, ihr Kanalratten«, schrie ihre Decksherrin vom Bug her. Drahtig und lederhäutig hatte Jadein auch Lungen wie Blasebälge. »Muss ich euch den Schlag vorgeben?« Die doppelte Beleidigung ließ einige Gesichter sich vor Wut verzerren, andere vor Scham, aber die Ruder begannen sich wieder im Gleichtakt zu bewegen.
Shalon musterte jetzt den Nebel. Sie zu fragen, was sie sah, was sie dachte, würde jetzt warten müssen. Harine war sich nicht sicher, ob sie wollte, dass ihre Mannschaft es hörte. Sie hatten bereits genug gesehen, das ihnen Angst machte.
Der Rudergänger legte nun einen Kurs auf einen der bauchigen Seanchaner an, wo jedes Bumboot, das sich in seine Nähe wagte, fortgejagt wurde, bevor die Händler auch nur zwei Worte hervorbringen konnten. Es war eines ihrer größten Schiffe, mit einem sich hoch auftürmenden Heckkastell, das drei Ebenen aufwies. Drei! Und das Ding hatte tatsächlich zwei Balkone am Heck! Harine wollte gar nicht wissen, was das von einem Cemaros oder einem Soheen des Aryth-Meeres aufgewühlte Heckwasser damit anstellen würde. Andere Zwölferboote und ein paar Achter warteten in der Reihenfolge der Wichtigkeit ihrer Passagiere darauf, längsseits zu gehen.
Jadein stand im Bug auf und brüllte: »Shodein!« Ihre Stimme trug weit, und ein Zwölfer, der sich dem Schiff näherte, schlug einen weiten Bogen ein. Die anderen warteten weiter.
Harine stand erst auf, nachdem die Mannschaft die Ruder gehoben und sie auf der Steuerbordseite eingezogen hatte und den Zwölfer direkt an der Stelle zum Stehen brachte, an der Jadein ein baumelndes Tau ergreifen und das kleine Boot längsseits halten konnte. Shalon seufzte.
»Mut, Schwester«, sagte Harine zu ihr. »Wir haben Shadar Logoth überlebt, auch wenn ich mir beim Licht allein nicht sicher bin, was wir da überlebt haben.« Sie lachte rau.
»Mehr als das, wir haben Cadsuane Melaidhrin überlebt, und ich bezweifle, dass das jemand anders geschafft hätte.«
Shalon lächelte schwach, aber immerhin war es ein Lächeln.
Harine kletterte die Strickleiter so mühelos hinauf wie vor zwanzig Jahren und wurde von dem Decksherrn, einem gedrungenen Burschen mit einer frischen Narbe unter der Lederklappe, die das bedeckte, wo sein rechtes Auge gewesen war, mit einem Signal aus seiner Pfeife begrüßt. Viele hatten bei der Flucht Verletzungen davongetragen. Viele waren gestorben. Sogar das Deck dieses Schiffes fühlte sich seltsam unter den Sohlen ihrer nackten Füße an, die Bohlen waren in einem merkwürdigen Muster verlegt. Die Ehrenformation war jedoch so gebildet, wie es sich gehörte, zwölf Männer mit bloßem Oberkörper zu ihrer Linken, zwölf Frauen in hellen Leinenblusen zu ihrer Rechten, und alle verbeugten sich, bis sie das Deck anschauten. Sie wartete auf Shalon und die Schirmträger, bevor sie sich in Bewegung setzte. Die Herrin der Segel und die Windsucherin des Schiffes am Ende der Reihe verbeugten sich weniger tief, während sie Herzen, Lippen und Stirn berührten. Beide trugen taillenlange weiße Trauerstolen, die beinahe ihre vielen Ketten verbargen, genau wie bei ihr und Shalon.
»Mein Schiff heißt Euch willkommen, Herrin der Wogen«, sagte die Herrin der Segel, die das Schiff kommandierte, und schnüffelte an ihrem Duftkästchen. »Und ruhe der Segen des Lichts auf Euch, bis Ihr seine Decks verlasst. Die anderen warten auf Euch in der großen Kabine.«
»Der Segen des Lichts ruhe auch auf Euch«, erwiderte Harine. Turane in ihren blauen Seidenhosen und einer roten Seidenbluse war stämmig genug, um ihre Windsucherin Serine schlanker als die Mehrheit aussehen zu lassen, und sie hatte einen stechenden Blick und einen mürrischen Zug um die Lippen, aber weder das noch das Schnüffeln sollten eine Unhöflichkeit sein. So mutig war Turane nicht. Dieser Blick galt für alle; ihr eigenes Schiff lag auf dem Grund des Hafens von Ebou Dar, und nach der Luft der offenen See stank der Hafen.
Die große Kabine nahm fast die ganze Breite des hohen Heckkastells ein, ein Raum, der abgesehen von dreizehn Stühlen und einem Tisch vor einem Bullauge mit Weinkrügen und Pokalen aus gelbem Porzellan völlig leer war, und zwei Dutzend Frauen in brokatverzierter Seide konnten ihn nicht einmal annähernd ausfüllen. Sie traf als Letzte der Ersten Zwölf der Atha’an Miere ein, und die Reaktion der anderen Herrinnen der Wogen auf ihre Ankunft war genauso, wie sie erwartet hatte. Lincora und Wallein wandten ihr wohlüberlegt den Rücken zu. Die rundgesichtige Niolle sah sie stirnrunzelnd an, dann ging sie los, um ihren Pokal nachzufüllen. Lacine, so schlank, dass ihr Busen immens erschien, schüttelte den Kopf, als würde sie sich über Harines Erscheinen wundern. Andere plauderten weiter, als wäre sie einfach nicht da. Natürlich trugen alle Trauerstolen.
Pelanna schritt über das Deck auf sie zu. Die lange rosa Narbe, die sich über die rechte Seite ihres kantigen Gesichts zog, verlieh ihr ein gefährliches Aussehen. Ihr eng gelocktes Haar war fast vollständig ergraut, die Ehrenkette, die sich über ihre linke Wange spannte, wog schwer mit den vielen goldenen Medaillons, die ihre Triumphe verkündeten, einschließlich dem für ihre Rolle bei der Flucht. Ihre Hand und Fußgelenke trugen noch immer die Spuren der seanchanischen Ketten, auch wenn sie jetzt von ihrer Seide verborgen wurde. »Ich hoffe, Ihr habt Euch erholt, Harine«, sagte sie, neigte den Kopf zur Seite und legte die tätowierten Hände in vorgetäuschtem Mitleid zusammen. »Das Sitzen geht wieder? Ich habe für alle Fälle ein Kissen auf Euren Stuhl legen lassen.«
Sie lachte schallend und sah ihre Windsucherin an, aber Caire warf ihr einen teilnahmslosen Blick zu, als hätte sie nicht zugehört, dann lachte sie verhalten. Pelanna runzelte die Stirn. Wenn sie über etwas lachte, erwartete sie, dass ihre Untergebenen ebenfalls lachten. Allerdings hatte die imposante Windsucherin ihre eigenen Sorgen, eine ihrer Töchter war bei den Landgebundenen verloren gegangen, entführt von Aes Sedai. Dafür würden sie bezahlen.
Harine schenkte den beiden ein gezwungenes Lächeln und rauschte nahe genug an Pelanna vorbei, dass die Frau zurücktreten musste, wenn sie nicht wollte, dass man ihr auf die Zehen trat. Sie runzelte dabei böse die Stirn. Tochter des Sandes, dachte Harine bitter.
Mareil entlockte ihr jedoch ein echtes Lächeln. Die hochg ewachsene schlanke Frau, deren Haar genauso viel Weiß wie Schwarz aufwies, war seit ihren Anfängen als Decksfrau auf einem alten Klipper, der von einer vom Leben verbitterten Herrin der Segel mit eiserner Hand kommandiert worden war, ihre Freundin gewesen. Es war eine freudige Nachricht gewesen, dass Mareil unbeschadet aus Ebou Dar entkommen war. Sie bedachte Pelanna und Caire mit einem Stirnrunzeln. Tebreille, ihre Windsucherin, widmete den beiden ebenfalls einen finsteren Blick, aber im Gegensatz zu ihnen tat sie es nicht, weil Mareil verlangte, dass man ihr das Handgelenk leckte. Tebreille und Caire waren Schwestern und teilten eine tiefe Sorge wegen Talaan, Caires Tochter, aber darüber hinaus hätten sie für ein Kupferstück der jeweils anderen die Kehle aufgeschlitzt. Oder — in ihrem Fall — noch lieber zugesehen, wie man ihre Schwester zum Bilgereinigen abkommandierte. Es gab keinen tieferen Hass als den Hass zwischen Geschwistern.
»Lass dich von diesen Schlammenten nicht beißen, Harin e.« Für eine Frau hatte Mareil eine tiefe Stimme, aber sie war melodisch. Sie reichte Harine einen der beiden Pokale, die sie hielt. »Du hast getan, was du für richtig gehalten hast, und wenn es das Licht so will, wird alles gut.«
Unwillkürlich sah Harine zu dem Ringbolzen in einem der Deckenbalken. Man hätte ihn mittlerweile entfernen könn en. Sie war davon überzeugt, dass man ihn dort nur hatte hängen lassen, um sie zu provozieren. Diese seltsame junge Frau namens Min hatte Recht behalten. Ihr Abkommen mit dem Coramoor war als unzulänglich beurteilt worden, zu viel für zu wenig. In genau dieser Kabine war sie unter den Augen der Ersten Zwölf und der neuen Herrin der Schiffe nackt ausgezogen und an den Fußknöcheln an diesem Ringbolzen aufgehängt worden, die Handgelenke waren an einen Eisenring im Boden gebunden worden, dass sie straff dort hing, und dann hatte man sie mit dem Tauende geschlagen, bis sie sich die Lungen aus dem Leib schrie. Die Striemen und blauen Flecke waren verschwunden, aber die Erinnerung blieb, ganz egal, wie sehr sie sich bemühte, sie zu verdrängen. Immerhin hatte sie nicht um Gnade gewinselt oder gefleht, dass man aufhörte. Das war unmöglich gewesen, denn sonst wäre ihr keine andere Wahl geblieben, als zur Seite zu treten und wieder zur einfachen Herrin der Segel zu werden, während eine andere zur Herrin der Wogen vom Clan Shodein erhoben wurde. Die meisten der hier Anwesenden vertraten ohnehin die Ansicht, dass sie das nach einer solchen Bestrafung hätte tun sollen, vielleicht tat das auch Mareil. Aber da war der zweite Teil von Mins Vorhersage gewesen, der ihr Mut gemacht hatte. Eines Tages würde sie die Herrin der Schiffe sein. Dem Gesetz zufolge konnten die Ersten Zwölf der Atha’an Miere jede beliebige Herrin der Segel zur Herrin der Schiffe erheben, aber in einem Zeitraum von mehr als dreitausend Jahren hatten sie nur fünfmal außerhalb ihrer eigenen Ränge gesucht. Die Aes Sedai behaupteten, dass sich Mins seltsame Visionen immer bewahrheiteten, aber Harine hatte nicht vor, sich auf ein Glücksspiel einzulassen.
»Alles wird gut, wenn das Licht es will, Mareil«, sagte sie.
Eines Tages. Sie musste nur den Mut haben, das abzusegeln, was auch immer vorher auf sie zukam.
Wie gewöhnlich kam Zaida ohne jeden Pomp, sie rauschte einfach herein, gefolgt von ihrer Windsucherin Shielyn — hochgewachsen, schlank und reserviert — und Amylia, der vollbusigen, hellhaarigen Aes Sedai, die sie aus Caemlyn mitgebracht hatte. Das alterslose Gesicht der Aes Sedai sah ständig überrascht aus, die blauen Augen immer weit aufgerissen, und aus irgendeinem Grund atmete sie schwer. Alle verneigten sich, aber Zaida ignorierte das. Sie war klein und in grünen Brokat gekleidet — die weiße Trauerstola fehlte natürlich nicht —, ihre grau werdenden Locken waren kurz geschnitten, aber es gelang ihr, genauso groß wie Shielyn zu erscheinen. Eine Sache der Ausstrahlung, wie Harine zugeben musste. Die hatte Zaida, und sie konnte mit einer Ruhe nachdenken, die nicht einmal ein Cemaros an einer Leeküste erschüttern konnte.
Abgesehen davon, dass sie mit der ersten der Aes Sedai zurückgekehrt war, wie man bei dem Handel für die Benutzung der Schale der Winde vereinbart hatte, hatte sie auch ihren eigenen Vertrag mitgebracht, ein Stück Land in Andor, das den Gesetzen der Atha’an Miere unterlag, und wo man Harines Handel als mangelhaft betrachtet hatte, war Zaidas begeistert aufgenommen worden. Das und die Tatsache, dass sie durch eines dieser seltsamen Wegetore direkt nach Illian gekommen wargewoben von ihrer eigenen Windsucherin —, waren nicht die einzigen Gründe für ihre Wahl zur Herrin der Schiffe, aber beides hatte ihrer Sache bestimmt nicht geschadet. Harine hielt das Schnelle Reisen für überbewertet. Shalon konnte jetzt auch ein Wegetor erschaffen, aber es war sehr schwierig, es ohne jeden Schaden auf einem Schiffsdeck zu öffnen, selbst in so ruhigen Gewässern wie diesen hier, vor allem vom Deck eines fremden Schiffes, und niemand konnte das Tor groß genug machen, damit ein Schiff hindurchsegeln konnte. Völlig überbewertet.
»Der Mann ist noch nicht eingetroffen«, verkündete Zaid a, wählte den Stuhl aus, der mit dem Rücken zu den großen Heckfenstern stand, und zupfte die lange, fransenverzierte rote Schärpe zurecht und richtete den mit Smaragden übersäten Dolch, der darin steckte. Sie war eine Frau, die es mit solchen Dingen besonders genau nahm. Es war nur natürlich, dass man wollte, dass an Bord eines Schiffes alles an seinem Platz war — Ordentlichkeit wurde einem zur Gewohnheit und zur Notwendigkeit —, aber sie war selbst nach den üblichen Maßstäben pingelig. Die übrigen Stühle waren nicht am Deck befestigt, so wie es sich gehörte, und sie bildeten zwei Reihen. Die Herrinnen der Wogen nahmen ihre Plätze ein, während die Windsucherinnen dahinter Aufstellung nahmen. »Anscheinend will er uns warten lassen. Amylia, seht zu, dass die Pokale gefüllt bleiben.« Aha. Anscheinend war die Frau wieder ins Fettnäpfchen getreten.
Amylia zuckte zusammen, dann schürzte sie die bronzefarb enen Röcke bis zu den Knien und rannte zu dem Tisch mit den Weinkrügen. Anscheinend in ein tiefes Fettnäpfchen. Harine fragte sich, wie lange Zaida ihr noch erlauben würde, Kleider statt Hosen zu tragen, die an Bord so viel praktischer waren. Sie würde sicherlich schockiert sein, wenn sie außer Sichtweite der Küste waren und man die Blusen ablegen würde. Amylia gehörte der Braunen Ajah an und hatte die Atha’an Miere studieren wollen, aber man ließ ihr nur wenig Zeit für ihre Studien. Sie sollte arbeiten, und Zaida sorgte dafür, dass sie es auch tat. Sie war da, um allen Windsucherinnen das Wissen der Aes Sedai zu vermitteln. Damit haderte sie immer noch, aber Küstenlehrer — so selten es sie auch gab — standen vom Rang her kaum über einfachen Deckmatrosen, und die Neunschwänzige Katze der Decksherrin, die mit einiger Häufigkeit auf ihrem Hintern landete, sorgte angeblich dafür, dass sie ihre Ansichten änderte — wenn auch nur langsam. Am Anfang hatte die Frau allen Ernstes geglaubt, Zaida mindestens gleichgestellt zu sein, wenn nicht sogar über ihr zu stehen! Und sie hatte tatsächlich dreimal versucht zu desertieren ! Seltsamerweise wusste sie nicht, wie man ein Wegetor erschuf, ein Wissen, das ihr sorgfältig vorenthalten wurde, und ihr hätte klar sein müssen, dass man sie viel zu genau beobachtete, als dass sie sich einen Platz auf einem Bumboot hätte erkaufen können. Nun, es war unwahrscheinlich, dass sie es noch einmal versuchte. Berichten zufolge hatte man sie darüber informiert, dass ein vierter Versuch diesmal ein öffentliches Auspeitschen nach sich ziehen würde, danach würde man sie an den Füßen in die Takelage hängen. Sicherlich würde niemand eine solche Schande riskieren. Danach hatte man Herrinnen der Segel und sogar Herrinnen der Wogen zu Deckmatrosen degradiert, und sie hatten es bereitwillig akzeptiert, begierig, mit ihrer Schande in den Massen der Männer und Frauen unterzutauchen, die Taue zogen und sich um die Segel kümmerten.
Harine nahm das Kissen von ihrem Stuhl und ließ es verä chtlich zu Boden fallen, dann nahm sie ihren Platz am Ende der linken Reihe ein, während sich Shalon hinter sie stellte. Abgesehen von Mareil, die ihr gegenübersaß, war sie die Dienstjüngste hier. Aber hätte Zaida sich nicht den sechsten fetten goldenen Ohrring an jedem Ohr verdient und die Kettchen, die sie verbanden, hätte sie auch bloß einen Platz weiter höher gesessen. Vermutlich schmerzten ihre Ohrläppchen noch immer vom Durchstechen. Eine erfreuliche Vorstellung. »Da er uns warten lässt, sollten wir vielleicht ihn warten lassen, wenn er endlich auftaucht.«
Mit einem unberührten Pokal in der Hand winkte Harine die nervöse Aes Sedai fort, die dann weiter zu Mareil eilte. Diese dumme Frau. Wusste sie denn nicht, dass man zuerst die Herrin der Schiffe und dann die Herrinnen der Wogen bediente, und zwar nach dem Dienstalter?
Zaida spielte mit ihrem Duftkästchen, das an einer sehr schweren Goldkette um ihren Hals hing. Sie trug auch eine breite, eng anliegende Kette aus schweren Goldgliedern, ein Geschenk von Elayne von Andor. »Er kommt vom Coramoor«, sagte sie trocken, »an dem Ihr wie eine Muschel kleben solltet.« Ihre Stimme nahm keinen härteren Ton an, aber jedes Wort traf Harine wie ein Schnitt. »Ich werde nie näher mit dem Coramoor sprechen können als mit diesem Mann, außer in extremen Notfällen, da Ihr eingewilligt habt, dass er nicht mehr als dreimal in einem Zeitraum von zwei Jahren vor mir erscheinen muss. Euretwegen muss ich die Unhöflichkeiten dieses Mannes hinnehmen, falls er sich als dreckiger Trunkenbold erweist, der nach jedem zweiten Satz zur Reling rennen und seinen Magen ausleeren muss. Die Botschafterin, die ich zum Coramoor schicke, wird jemand sein, die weiß, wie man Befehlen gehorcht.« Pelanna schnalzte mit der Zunge und grinste hämisch. Sie glaubte, alle anderen wären so wie sie.
Shalon tätschelte beruhigend Harines Schulter, aber das brauchte sie gar nicht. Beim Coramoor bleiben? Es war ihr einfach nicht gelungen, den anderen — nicht einmal Shalon — die groben Methoden der Aes Sedai Cadsuane, ihren Willen durchzusetzen, zu erklären, oder ihren völligen Mangel an Respekt für Harines Ehre. Sie war nur dem Namen nach die Botschafterin der Atha’an Miere gewesen, gezwungen, zu jeder Melodie zu tanzen, welche die Aes Sedai pfiff. Sie war bereit zuzugeben — wenn auch nur vor sich selbst —, dass sie beinahe vor Erleichterung geweint hatte, als ihr klar geworden war, dass diese verfluchte Frau sie gehen lassen würde. Davon abgesehen trafen die Visionen dieses Mädchens immer ein. Das hatte die Aes Sedai gesagt, und sie konnten nicht lügen. Es reichte aus.
Turane schlüpfte in die Kabine und verbeugte sich vor Zaida. »Der Botschafter des Coramoors ist eingetroffen, Herrin der Schiffe. Er… er ist auf dem Achterdeck aus einem Wegetor getreten.« Das ließ die Windsucherinnen murmeln, und Amylia zuckte zusammen, als hätte sie schon wieder die Neunschwänzige Katze der Decksherrin gespürt.
»Ich hoffe, er hat Euer Deck nicht zu sehr beschädigt, Tur ane«, sagte Zaida. Harine trank einen Schluck Wein, um ihr Lächeln zu verbergen. Anscheinend würde man den Mann wenigstens etwas warten lassen.
»Überhaupt nicht, Herrin der Schiffe.« Turane klang überrascht. »Das Wegetor öffnete sich einen Fuß über dem Deck, und er kam von einem der Docks in der Stadt.«
»Ja«, flüsterte Shalon. »Mir wird klar, wie man das schaffen kann.« Sie glaubte, dass alles an der Macht wunderbar war.
»Das muss ein Schock gewesen sein, ein steinernes Dock über Eurem Achterdeck zu sehen«, sagte Zaida. »Nun gut. Ich werde sehen, ob mir der Coramoor einen dreckigen Trunkenbold geschickt hat. Schickt ihn rein, Turane. Aber beeilt Euch nicht. Amylia, bekomme ich meinen Wein noch vor Einbruch der Dunkelheit?«
Die Aes Sedai keuchte auf, gab ein leises Wimmern von sich, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und eilte los, um einen Pokal zu holen, während sich Turane verbeugte und ging. Beim Licht, was hatte Amylia getan? Augenblicke vergingen, und Zaida hatte ihren Wein, lange bevor ein Mann mit Locken, die bis zu seinen breiten Schultern reichten, die Kabine betrat. Er war keinesfalls verdreckt, und er erschien auch nicht betrunken. Am hohen Kragen seines schwarzen Mantels war auf der einen Seite eine Anstecknadel in Form eines Schwertes befestigt, während auf der anderen Seite eine rot-goldene Nadel steckte, die wie eine der Kreaturen geformt war, die sich um die Unterarme des Coramoors schlängelten. Ein Drache. Ja, so hießen sie. Ein rundes Abzeichen auf seiner linken Schulter zeigte drei goldene Kronen auf blauem Emaillegrund. Vielleicht ein Siegel? War er ein Adliger der Landgebundenen? Hatte der Coramoor Zaida tatsächlich eine Ehre erwiesen, indem er diesen Mann schickte? So wie sie Rand al’Thor kannte, bezweifelte sie, dass das absichtlich geschehen war. Es war nicht so, dass er versuchte, jeden zu brüskieren, aber er interessierte sich nur wenig für die Ehre von anderen.
Der Mann verbeugte sich vor Zaida, aber er berührte weder Herz noch Lippen und Stirn. Nun ja, manche Unzulänglichkeiten musste man Landgebundenen eben nachsehen. »Ich entschuldige mich für mein Zuspätkommen, Herrin der Schiffe«, sagte er, »aber es erschien unnötig zu kommen, bevor ihr alle versammelt seid.« Er musste ein sehr gutes Fernglas haben, um das von den Docks aus zu beobachten.
Zaida musterte ihn stirnrunzelnd von oben bis unten und trank ihren Wein. »Ihr habt einen Namen?«
»Ich bin Logain«, sagte er schlicht.
Die Hälfte der in dem Raum anwesenden Frauen atmete scharf aus, und den restlichen blieb größtenteils der Mund offen stehen. Mehr als eine verschüttete Wein. Nicht Zaida und auch nicht Harine, aber andere. Logain. Das war ein Name, den selbst die Atha’an Miere kannten.
»Darf ich sprechen, Herrin der Schiffe?«, fragte Amylia atemlos. Sie umklammerte den Porzellankrug so hart, dass Harine befürchtete, er könnte in ihren Händen zerbrechen, aber die Frau hatte genug Verstand eingebläut bekommen, um nicht mehr zu sagen, bevor Zaida nickte. Dann sprudelten die Worte atemlos aus ihr hervor. »Dieser Mann war ein falscher Drache. Er wurde deshalb gedämpft. Ich weiß nicht, wieso er wieder die Macht lenken kann, aber er lenkt Saidin. Saidin! Er ist beschmutzt, Herrin der Schiffe. Wenn Ihr Euch mit ihm abgebt, werdet Ihr den Zorn der Weißen Burg erregen. Ich weiß…«
»Schluss damit«, unterbrach Zaida sie. »Ihr solltet mittlerw eile doch genau wissen, wie sehr ich den Zorn der Weißen Burg fürchte.«
»Aber…!« Zaida hielt einen Finger hoch, und die Aes Sedai ließ den Mund zuschnappen, und ihre Lippen verzogen sich gequält. Das eine Wort konnte möglicherweise dazu führen, dass sie die Schwester der Decksherrin erneut küssen musste, und das wusste sie.
»Was sie sagt, stimmt zum Teil«, sagte Logain ruhig. »Ich bin ein Asha’man, aber es gibt keinen Makel mehr. Saidin ist sauber. Anscheinend ist der Schöpfer bereit, uns Gnade zu erweisen. Ich möchte sie etwas fragen. Wem dient Ihr, Aes Sedai? Egwene al’Vere oder Elaida a’Roihan?« Amylia hielt klugerweise den Mund.
»Für das nächste Jahr dient sie mir, Logain«, sagte Zaida energisch. Die Aes Sedai kniff einen Moment lang die Augen fest zusammen, und als sie sie wieder öffnete, waren sie weiter aufgerissen als zuvor, so unmöglich das auch erschien, und in ihnen lag ein Ausdruck des Entsetzens.
Hatte sie allen Ernstes geglaubt, Zaida würde einlenken und sie früher gehen lassen? »Ihr könnt mir Eure Fragen stellen«, fuhr die Herrin der Schiffe fort, »aber zuerst habe ich zwei für Euch. Wo ist der Coramoor? Ich muss ihm einen Botschafter schicken, und er muss sie in seiner Nähe behalten, so wie es das Abkommen bestimmt. Erinnert ihn daran. Und welche Nachricht von ihm bringt Ihr? Sicher irgendeine Bitte, schätze ich.«
»Ich kann nicht sagen, wo er ist.« Der Mann lächelte schmal, als hätte er einen Witz gemacht. Er lächelte!
»Ich verlange«, fing Zaida an, aber er unterbrach sie, was bei den anderen Frauen heißblütige Blicke und wütendes Gemurmel hervorrief. Der Narr schien zu glauben, der Herrin der Schiffe gleichgestellt zu sein!
»Er will seinen Aufenthaltsort für den Augenblick geheim halten, Herrin der Schiffe. Die Verlorenen haben versucht, ihn zu töten. Ich bin jedoch bereit, Harine din Togara mitzunehmen. Soweit ich gehört habe, glaube ich, dass er sie akzeptabel findet.«
Harine zuckte so zusammen, dass sie sich Wein über den Handrücken goss, dann nahm sie noch einen großen Schluck. Aber… nein, Zaida würde sich eher von Amel scheiden lassen und einen Steinballast heiraten, bevor sie Harine din Togara als ihre Botschafterin schickte. Andererseits reichte allein die Vorstellung, dass ihre Zunge am Gaumen kleben blieb. Selbst Herrin der Schiffe zu werden reichte vermutlich nicht als Entschädigung dafür, Cadsuane noch länger ertragen zu müssen.
Zaida studierte Logain mit steinerner Miene und befahl Amylia, ihm Wein zu bringen. Die Aes Sedai zuckte zusammen, und als sie den Tisch erreichte, zitterte sie so sehr, dass die Tülle des Kruges gegen den Pokalrand stieß. Fast genauso viel Wein landete auf dem Boden wie in dem Pokal. Seltsamerweise ging Logain zu ihr und legte seine Hände auf die ihren, um sie zu beruhigen. Gehörte er zu jenen, die anderen nicht ihre Arbeit überlassen konnten?
»Ihr habt nichts von mir zu befürchten, Aes Sedai«, sagte er. »Es ist lange her, dass ich jemanden zum Frühstück verspeist habe.« Sie starrte mit offen stehendem Mund zu ihm hoch, als wäre sie sich nicht sicher, ob er nun einen Scherz gemacht hatte oder nicht.
»Und welchen Dienst erbittet er?«, fragte Zaida.
»Keine Bitte, Herrin der Schiffe.« Er musste den Krug wieder aufrichten, damit der Pokal nicht überlief. Er nahm den Pokal und trat von Amylia weg, aber sie konnte ihm bloß nachstarren. Beim Licht, die Frau fand kein Ende, wenn es darum ging, sich in Schwierigkeiten zu bringen. »Einen Dienst von Eurer Seite gemäß dem Abkommen mit dem Coramoor. Ihr habt ihm unter anderem Schiffe versprochen, und er braucht Schiffe, um Lebensmittel und andere Ausrüstung von Illian und Tear nach Bandar Eban zu bringen.«
»Das kann erledigt werden«, sagte Zaida, ohne ihre Erl eichterung besonders gut zu verbergen, obwohl sie Harine mit einem Stirnrunzeln bedachte. Pelanna warf ihr natürlich ebenfalls einen finsteren Blick zu, aber das taten auch Lacine und Niolle und mehrere andere. Harine unterdrückte ein Seufzen.
Einige Einzelheiten des Handels waren ziemlich lästig, wie sie zugeben musste, etwa die Forderung, dass die Herrin der Schiffe bereit sein musste, ihm im Verlauf von zwei Jahren dreimal die Aufwartung zu machen. Die Jendai-Prophezeiung besagte, dass die Atha’an Miere dem Coramoor dienen würden, aber nur wenige Auslegungen, wie sie dienen sollten, schlossen ein, dass die Herrin der Schiffe angerannt kam, wenn er pfiff. Aber die anderen waren nicht dabei gewesen, hatten nicht mit Aes Sedai verhandeln müssen, die davon überzeugt gewesen waren, dass sie gar keine andere Wahl gehabt hatte, als in jedes Abkommen einfach einzuwilligen. Beim Licht der Wahrheit, es war ein Wunder, dass sie so viel herausgeholt hatte!
»Waren für mehr als eine Million Menschen, Herrin der Schiffe«, fügte Logain so beiläufig hinzu, als würde er um einen weiteren Pokal Wein bitten. »Wie viele mehr, das kann ich nicht sagen, aber Bandar Eban leidet Hunger. Die Schiffe müssen so schnell wie möglich dort eintreffen.«
Ein Schock ging durch die Kabine. Harine war nicht die Einzige, die einen Schluck Wein trank. Selbst Zaidas Augen weiteten sich vor Erstaunen. »Das könnte mehr Klipper erfordern, als wir besitzen«, sagte sie schließlich, unfähig, den Unglauben aus ihrer Stimme zu halten.
Logain zuckte mit den Schultern, als würde das nicht zählen. »Trotzdem, das fordert er von Euch. Nehmt andere Schiffe, wenn es sein muss.«
Zaida versteifte sich. Forderte? Ob sie nun ein Abkommen hatten oder nicht, solche Worte durfte man bei ihr nicht benutzen.
Turane schlüpfte wieder in die Kabine und rannte — obwohl es gegen jedes Protokoll verstieß — zu Zaida; ihre nackten Füße klatschten auf die Planken. Sie beugte sich vor und flüsterte der Herrin der Schiffe ins Ohr. Langsam stahl sich Entsetzen in Zaidas Miene. Sie hob ihr Duftkästchen an, dann erbebte sie und ließ es auf ihren Busen fallen.
»Schickt sie rein«, sagte sie. »Schickt sie sofort herein. Es gibt eine Neuigkeit, die selbst einen Anker weinen lassen würde«, fuhr sie fort, als Turane aus der Kabine raste. »Ich werde sie euch allen von der Person mitteilen lassen, die sie überbracht hat. Ihr müsst warten«, fügte sie hinzu, als Logain den Mund öffnete. »Ihr müsst warten.« Er hatte genug Verstand, den Mund zu halten, aber nicht, um seine Ungeduld zu verbergen; er ging auf die andere Seite der Kabine und stand mit angespanntem Mund und gerunzelter Stirn da.
Die junge Frau, die eintrat und sich tief vor Zaida verbeugte, war groß und schlank, und man hätte sie als hübsch bezeichnen können, wäre ihr Gesicht nicht so eingefallen gewesen. Ihre blaue Leinenbluse und die grünen Hosen sahen aus, als würden sie seit Tagen getragen, und sie schwankte vor Müdigkeit. Ihre Ehrenkette hielt nur eine Hand voll Medaillons, wie es sich bei ihrer Jugend auch gehörte, aber Harine entging keinesfalls, dass nicht weniger als drei von ihnen für Taten von großem Mut verliehen worden waren.
»Ich bin Cemeille din Selaan Große Augen, Herrin der Schiffe«, sagte sie heiser, »Herrin der Segel des Springers Windläufer. Ich bin so schnell gesegelt, wie ich konnte, aber ich fürchte, es ist zu spät, um noch etwas tun zu können. Ich habe bei jeder Insel zwischen Tremaiking und hier angehalten, aber ich kam immer zu spät.« Tränen liefen ihr über die Wangen, aber sie schien sich dessen nicht bewusst zu sein.
»Erzählt den Ersten Zwölf Eure traurige Geschichte auf Eure Weise, so wie Ihr es für richtig haltet«, sagte Zaida sanft. »Amylia, gebt Ihr Wein!« Das kam nicht sanft heraus. Die Aes Sedai sprang.
»Es ist fast drei Wochen her«, sagte Cemeille, »da fingen die Amayar auf Tremaiking an, das Geschenk der freien Überfahrt auf jede Insel zu erbitten. Immer ein Mann und eine Frau zu jeder Insel. Die, die nach Aile Somera baten, verlangten, dass man sie außer Sichtweite vom Land in Booten aussetzte, als sie erfuhren, dass die Seanchaner ganz Somera besetzt halten.« Sie nahm von Amylia einen vollen Pokal entgegen, nickte dankend und trank.
Harine warf Mareil einen fragenden Blick zu, die kaum merklich den Kopf schüttelte. Soweit Harine sich erinnern konnte, hatte kein Amayar jemals um das Geschenk der freien Überfahrt gebeten, obwohl es für sie wirklich ein Geschenk darstellte, ohne dass ein Gegengeschenk erwartet wurde. Und sie mieden das Salz, entfernten sich mit ihren kleinen Fischerbooten nie von der Küste, darum war die Bitte, sie außerhalb der Sichtweite vom Land auszusetzen, genauso seltsam wie die Bitte um Überfahrt. Aber was konnte daran so schlimm sein?
»Alle Amayar in den Häfen gingen, selbst jene, die noch von den Werften oder den Seilmachereien Geld bekamen, aber zwei oder drei Tage lang hat sich keiner etwas dabei gedacht.« Der Wein hatte Cemeilles Kehle nicht genug befeuchtet, um ihre Heiserkeit zu lindern. Sie rieb sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen. »Nicht, bis uns auffiel, dass keiner zurückgekommen war. Der Gouverneur schickte Leute in die Amayar-Dörfer, und sie fanden…« Sie kniff die Augen zusammen. »Die Amayar waren alle tot oder lagen im Sterben. Männer, Frauen…« — ihre Stimme brach — »… Kinder.«
Trauerklagen erhoben sich in der Kabine, und Harine ertappte sich überrascht dabei, dass der schrille Laut auch aus ihrem Mund kam. Traurig genug, um einen Anker weinen zu lassen? Das sollte den Himmel schluchzen lassen. Kein Wunder, dass die Herrin der Segel heiser war. Wie viele Stunden, wie viele Tage hatte sie geweint, seit sie von dieser Katastrophe erfahren hatte?
»Wie?«, wollte Pelanna wissen, als die Klage erstarb. Sie lehnte sich mit bestürzter Miene auf ihrem Gesicht vor. Sie hielt sich das Duftkästchen vor die Nase, als könnte der Duft den Gestank dieser Nachricht irgendwie abhalten.
»Eine Krankheit? Sprecht, Frau!«
»Gift, Herrin der Wogen«, erwiderte Cemeille. Sie kämpfte um Beherrschung, trotzdem liefen die Tränen weiter.
»Wo ich auch war, es war überall das Gleiche. Sie gaben ihren Kindern ein Gift, das sie in einen tiefen Schlaf versetzte, aus dem sie nicht mehr erwachten. Anscheinend hatten sie nicht genug davon für alle, also nahmen viele der Erwachsenen ein langsamer wirkendes Gift. Einige lebten noch lange genug, um gefunden zu werden und die Geschichte zu erzählen. Die Große Hand auf Tremaiking ist geschmolzen. Der Hügel, auf dem sie stand, ist jetzt Berichten zufolge eine tiefe Senke. Anscheinend hatten die Amayar Prophezeiungen, die von der Hand sprachen, und als sie zerstört wurde, glaubten sie, das würde das Ende der Zeit bedeuten, was sie als das Ende der Illusion bezeichneten. Sie glaubten, die Zeit sei gekommen, diese… diese Illusion…« — dieses Wort ließ sie bitter lachen — »… die wir Welt nennen, zu verlassen.«
»Ist keiner gerettet worden?«, fragte Zaida. »Nicht einer?« Auch auf ihren Wangen funkelten Tränen, aber das konnte Harine ihr nicht zum Vorwurf machen. Ihre Wangen waren ebenfalls feucht.
»Keiner, Herrin der Schiffe.«
Zaida stand auf, und Tränen oder nicht, sie hatte eine befehlsgewohnte Ausstrahlung, und ihre Stimme war beherrscht. »Die schnellsten Schiffe müssen zu jeder Insel geschickt werden. Selbst jene von Aile Somera. Ein Weg muss gefunden werden. Als sich das Salz nach der Zerstörung der Welt glättete, erbaten die Amayar unseren Schutz vor Gesetzlosen und Seeräubern, und wir schulden ihnen diesen Schutz noch immer. Und wenn wir nur eine Hand voll von ihnen noch lebend finden, wir schulden es ihnen noch immer.«
»Das ist eine wirklich traurige Geschichte.« Logains Stimme klang nicht übermäßig laut, als er sich wieder in Bewegung setzte und vor Zaida trat. »Aber Eure Schiffe sind für Bandar Eban bestimmt. Wenn Ihr nicht genug Schiffe habt, dann müsst Ihr eben auch Eure anderen schnellen Schiffe benutzen. Sie alle, falls das nötig wird.«
»Seid Ihr nicht nur herzlos, sondern auch noch verrückt?«, wollte Zaida wissen. Die Fäuste in die Hüften gestemmt und die Beine gespreizt, schien sie auf dem Achterdeck zu stehen. Ihr Blick wollte Logain durchbohren. »Wir müssen trauern. Wir müssen retten, wen auch immer wir können, und wir müssen um die zahllosen Tausende trauern, die wir nicht retten können.«
Sie hätte genauso gut lächeln können, so viel Wirkung hatten ihre Blicke bei Logain. Er fing an zu sprechen, und Harine kam es so vor, als würde es kalt im Raum und das Licht dunkler. Sie war nicht die einzige Frau, die sich wegen dieser Kälte selbst umarmte. »Trauert, wenn Ihr das tun müsst«, sagte er, »aber trauert auf dem Weg nach Tarmon Gai’don.«