Da Magla und Salita an diesem Morgen anderweitig beschäftigt waren, hatte Romanda das geflickte Zelt für sich allein, eine ersehnte Gelegenheit, einmal in Ruhe lesen zu können, auch wenn die beiden nicht zueinander passenden Messinglampen auf dem kleinen Tisch den leichten, wenn auch durchaus unerfreulichen Geruch von ranzigem Öl verbreiteten. In diesen Tagen musste man solche Dinge einfach hinnehmen. Vermutlich würde so mancher Die Flamme, die Klinge und das Herz als wenig geeignete Lektüre für jemanden von ihren Fähigkeiten und ihrem Rang halten — als Mädchen waren derartige Bücher in Far Madding für sie verboten gewesen —, aber es war eine nette Abwechslung zu trockenen historischen Texten und erschreckenden Berichten über verdorbene Nahrung. Sie hatte eine Rinderhälfte gesehen, die monatelang so frisch wie am Tag der Schlachtung gehalten worden war, aber jetzt versagte ein Frischhaltegewebe nach dem anderen. Es ging das Gerücht um, dass es einen Fehler in Egwenes Schöpfung gab, aber das war nur dummes Gerede. Wenn ein Gewebe einmal funktionierte, dann funktionierte es immer, wenn man es richtig webte, es sei denn, etwas zerstörte das Gewebe, und Egwenes neue Gewebe hatten immer so funktioniert, wie sie sollten. Das musste sie der Frau lassen. Und sosehr sie es auch versuchten, und sie hatten sich dabei alle Mühe gegeben, keiner hatte einen fremden Einfluss aufspüren können. Es war, als würde Saidar selbst versagen. Es war undenkbar! Und unausweichlich. Und am schlimmsten dabei war, dass keinem etwas einfiel, was man dagegen tun konnte! Sie konnte jedenfalls nichts dagegen unternehmen. Eine kurze Pause mit Geschichten voller Romantik und Abenteuer war dem Nachgrübeln über absolute Nutzlosigkeit und dem Versagen dessen, was von seiner Natur her nicht versagen konnte, bei weitem vorzuziehen.
Die Novizin, die das Zelt aufräumte, hatte genug Vers tand, keine Bemerkung über ihre Lektüre zu machen oder dem in Holzdeckeln eingebundenen Buch auch nur einen zweiten Blick zuzuwerfen. Bodewhin Cauthon war recht hübsch, aber sie war auch ein intelligentes Mädchen. Dennoch hatte sie etwas von ihrem Bruder um die Augen und mehr von ihm in ihrem Kopf, als sie zuzugeben bereit war. Zweifellos war sie schon auf dem Weg zu den Grünen, vielleicht auch zu den Blauen. Das Mädchen wollte Abenteuer erleben, nicht darüber lesen; als würde das Leben einer Aes Sedai ihr nicht mehr Abenteuer einbringen, als ihr lieb sein würde. Romanda verspürte kein Bedauern wegen des Mädchens und seinem Weg. Die Gelben würden eine große Auswahl bei besser geeigneten Novizinnen haben. Natürlich stellte sich nicht die Frage, welche der älteren Frauen man aufnehmen sollte, trotzdem war die Auswahl reichhaltig. Sie versuchte, sich auf die Seite zu konzentrieren. Ihr gefiel die Geschichte von Birgitte und Gaidal Cain.
Das Zelt war nicht besonders groß und ziemlich vollg estellt. Es enthielt drei harte Segeltuchpritschen, die von den dünnen, mit klumpiger Wolle gefüllten Auflagen kaum weicher gemacht wurden, drei hochlehnige Stühle, die offensichtlich aus den Werkstätten verschiedener Handwerker stammten, einen wackeligen Waschständer mit einem gesprungenen Spiegel und einer angeschlagenen blauen Wasserkanne, die in dem weißen Becken stand, der wie auch der Tisch von einem Holzkeil unter einem Bein gerade gehalten wurde, sowie mit Messingbändern versehene Truhen für die Kleidung, die Bettwäsche und persönliche Besitztümer.
Als Sitzende hätte Romanda das Zelt für sich allein beans pruchen können, aber sie behielt Magla und Salita lieber im Auge. Nur weil sie alle für die Gelben im Burgsaal saßen, war das noch lange kein Grund, ihnen zu vertrauen. Magla galt angeblich als ihre Verbündete im Saal, beschritt aber viel zu oft ihre eigenen Wege, und Salita tat nur selten überhaupt etwas. Dennoch, es war beschwerlich, und das nicht nur wegen der Enge. Bodewhin hatte viel zu tun, musste hauptsächlich die Kleider und Stoffschuhe wegräumen, die Salita auf dem zerschlissenen Teppich verteilte, nachdem sie sich gegen sie entschieden hatte. Die Frau war fast so flatterhaft wie eine Grüne. Jeden Morgen probierte sie ihre ganze Garderobe durch! Vermutlich glaubte sie, Romanda würde ihre Dienerin aufräumen lassen — sie schien stets der Meinung zu sein, dass Aelmara genauso sehr in ihren Diensten stand wie in Romandas —, aber Aelmara hatte Romanda jahrelang gedient, bevor sie in den Ruhestand gegangen war, ganz zu schweigen davon, dass sie ihr kurze Zeit später nach einem kleinen Missverständnis bei der Flucht aus Far Madding geholfen hatte. Völlig ausgeschlossen, dass sie von Aelmara verlangte, nebenher auch noch hinter einer anderen Schwester herzuräumen.
Sie schaute stirnrunzelnd auf das Buch, ohne ein Wort wahrzunehmen. Warum beim Licht hatte Magla damals in Salidar nur auf Salita bestanden? In Wahrheit hatte Magla mehrere Namen vorgeschlagen, ja, einer lächerlicher als der andere, aber sie hatte sich für Salita entschieden, sobald sie zu der Ansicht gekommen war, dass die mollige Tairenerin die besten Aussichten hatte, für einen Stuhl erhoben zu werden. Romanda hatte Dagdara unterstützt, eine weitaus geeignetere Kandidatin, ganz zu schweigen davon, dass sie geglaubt hatte, sie sich ohne große Mühe hinbiegen zu können. Aber sie hatte selbst für einen Stuhl kandidiert, während Magla bereits einen besetzte. Das hatte Gewicht, und dabei spielte es keine Rolle, dass Romanda davor länger als sonst jemand zuvor einen Stuhl besetzt hatte. Nun, das war Vergangenheit. Was man nicht ändern konnte, musste man erdulden.
Nisao duckte sich ins Zelt, das Licht Saidars, das sie einhüllte, erlosch. In dem kurzen Moment, in dem die Eingangsplane zurückfiel, war Sarin draußen zu sehen, ihr kleiner kahler Behüter, der mit der Hand auf dem Schwertgriff offensichtlich Wache hielt.
»Kann ich allein mit Euch sprechen?«, sagte die winzige Schwester. Klein genug, um Sarin groß erscheinen zu lassen, erinnerte sie Romanda immer an einen Spatz mit großen Augen. Aber weder ihre Beobachtungsgabe noch ihr Intellekt waren winzig. Sie war eine selbstverständliche Wahl für den Rat gewesen, den die Ajahs gegründet hatten, um Egwene im Auge zu behalten, und es war bestimmt nicht ihr Fehler, dass dieser Rat keinen oder nur geringen Einfluss auf die Frau gehabt hatte.
»Natürlich, Nisao.« Romanda schloss unauffällig das Buch und erhob sich ein Stück, um es unter das mit gelben Quasten versehene Kissen auf dem Stuhl zu schieben. Das fehlte noch, dass allgemein bekannt wurde, dass sie ausgerechnet so etwas las. »Es muss fast Zeit für Eure nächste Klasse sein, Bodewhin. Ihr wollt nicht zu spät kommen.«
»O nein, Aes Sedai! Sharina wäre darüber sehr aufgebracht.« Die Novizin zog ihre Röcke für einen sehr tiefen Knicks auseinander und schoss aus dem Zelt.
Romanda presste die Lippen zusammen. Sharina wäre sehr aufgebracht. Diese Frau war die Personifizierung all dessen, was daran verkehrt war, alles über achtzehn in die Ränge der Novizinnen aufzunehmen. Ihr Potenzial war mehr als nur unglaublich, aber darum ging es nicht. Sharina Melloy war ein Störenfried. Aber wie sollten sie sie loswerden? Sie und all die anderen Frauen, die zu alt waren, um ihre Namen überhaupt ins Novizinnenbuch eintragen zu lassen. Die Bestimmungen, nach denen man eine Frau wegschicken konnte, sobald ihr Name im Buch stand, waren streng begrenzt. Leider war es so, dass im Laufe der Jahre viele Frauen über ihr Alter gelogen hatten, um Zugang zur Burg zu bekommen. Meistens nur wenige Jahre, aber ihnen das Bleiben zu gestatten hatte Präzedenzfälle geschaffen. Und Egwene al’Vere hatte einen weiteren, viel schlimmeren geschaffen. Es musste eine Möglichkeit geben, das wieder umgehen zu können.
»Darf ich uns privat machen?«, fragte Nisao.
»Wenn Ihr wollt. Habt Ihr etwas über die Verhandlungen in Erfahrung bringen können?« Trotz Egwenes Gefangennahme gingen die Gespräche in dem Pavillon am Fuß der Brücke von Darein weiter. Beziehungsweise die vorgetäuschten Gespräche. Es war eine Farce, eine dämliche Zurschaustellung reiner Halsstarrigkeit, und doch war es erforderlich, die Verhandlungsführer genau im Auge zu behalten. Varilin hatte den größten Teil dieser Arbeit an sich gerissen und das Vorrecht der Grauen geltend gemacht, aber Magla fand Wege, sich in die Angelegenheit hineinzudrängen, wann immer sie konnte, genau wie Saroiya und Takima und Faiselle. Aber viel schlimmer als die Tatsache, dass manchmal keine von ihnen den anderen zutraute, die Verhandlungen vernünftig zu führen, war der Eindruck, dass sie manchmal für Elaidas Seite zu verhandeln schienen. Nun gut, so schlimm war es vermutlich nicht. Immerhin hatten sie der lächerlichen Forderung der Frau standgehalten, dass man die Blaue Ajah auflöste, und — wenn auch nicht nachdrücklich genug — verlangt, dass Elaida von ihrem Amt zurücktrat, aber wenn Romanda und zugegebenermaßen Lelaine ihnen nicht gelegentlich den Rücken gestärkt hätten, würden sie möglicherweise einigen von Elaidas anderen abscheulichen Bedingungen zustimmen. Beim Licht, manchmal war es so, als hätten sie den Grund für ihren Marsch auf Tar Valon vergessen! »Gießt uns Tee ein«, fuhr sie fort und zeigte auf ein bemaltes Holztablett auf zwei aufeinander gestellten Truhen mit einer Silberkanne und mehreren abgenutzten Zinntassen, »und sagt mir, was Ihr gehört habt.«
Kurz umgab der Schimmer Nisao, während sie das Zelt mit einer Abschirmung umgab und das Gewebe verknotete.
»Ich weiß nichts über die Verhandlungen«, sagte sie und füllte zwei Tassen. »Ich möchte Euch bitten, mit Lelaine zu sprechen.«
Romanda nahm die angebotene Tasse entgegen und nutzte einen langsamen Schluck dafür aus, Zeit zum Nachdenken zu gewinnen. Wenigstens war dieser Tee nicht verdorben. Lelaine? Was konnte es über Lelaine geben, das eine Abschirmung gegen Lauschangriffe erforderte? Aber alles, was ihr ein Druckmittel gegen die andere Frau gab, würde nützlich sein. Lelaine schien in letzter Zeit viel zu selbstgefällig zu sein, als dass sie das so ohne weiteres hätte ignorieren können. Sie rutschte auf dem Kissen herum. »Weswegen? Warum sprecht ihr nicht selbst mit ihr? Wir sind nicht so tief gefallen wie anscheinend die Weiße Burg unter Elaida.«
»Ich habe mit ihr gesprochen. Das heißt, sie hat zu mir gesprochen, und zwar sehr energisch.« Nisao setzte sich und stellte die Tasse auf dem Tisch ab, um dann ihre gelb geschlitzten Röcke mit übertriebener Sorgfalt zu richten. Sie zeigte ein leichtes Stirnrunzeln. Anscheinend wollte auch sie Zeit gewinnen. »Lelaine verlangt, dass ich aufhöre, Fragen über Anaiya und Kairen zu stellen«, sagte sie schließlich. »Ihr zufolge sind ihre Ermordung Sache der Blauen Ajah.«
Romanda schnaubte, setzte sich erneut zurecht. Der Holzd eckel des Buches war ein harter Buckel unter ihr. »Das ist doch völliger Unsinn. Aber warum habt Ihr Fragen gestellt? Ich kann mich nicht erinnern, dass Ihr Euch für solche Dinge interessiert habt.«
Die winzige Frau führte die Tasse an den Mund, aber falls sie trank, war es weniger als ein Nippen. Sie senkte die Tasse und schien dabei beinahe größer zu werden, so gerade setzte sie sich hin. Ein Spatz, der zum Falken wurde. »Weil die Mutter es mir befohlen hat.«
Nur mühsam konnte Romanda verhindern, dass sich ihre Brauen hoben. Aha. Zu Beginn hatte sie Egwene aus dem gleichen Grund akzeptiert wie vermutlich alle Sitzenden. Jedenfalls wie Lelaine, sobald sie begriffen hatte, dass sie nicht Stola und Stab erringen würde. Ein willfähriges junges Mädchen würde eine Marionette in den Händen des Saals sein, und Romanda hatte auf jeden Fall beabsichtigt, diejenige zu sein, die an den Fäden zog. Später dann schien es offensichtlich gewesen zu sein, dass Siuan die wahre Puppenspielerin war, und es hatte keine Möglichkeit gegeben, das zu behindern, ohne gegen eine zweite Amyrlin rebellieren zu müssen, was die Rebellion gegen Elaida zunichte gemacht hätte. Romanda hatte nur die Hoffnung gehabt, dass Lelaine deshalb genauso sehr mit den Zähnen knirschte, wie sie es getan hatte. Jetzt war Egwene in Elaidas Hand, doch in mehreren Besprechungen war sie kühl und beherrscht geblieben, entschieden in ihrem Kurs und dem der Schwestern außerhalb der Mauern Tar Valons. Romanda hatte einen widerwilligen Respekt für das Mädchen empfunden. Ausgesprochen widerwillig, aber sie konnte ihn nicht verneinen. Es musste sich um Egwene selbst handeln. Der Saal hielt die Traum-Ter’angreale mit eiserner Faust unter Kontrolle, und auch wenn keiner das Exemplar finden konnte, das sich Leane vor jener schlimmen Nacht ausgeliehen hatte, war es undenkbar, dass sie es an Siuan weitergegeben hatte; sie und Siuan waren spinnefeind gewesen. Es war daher unmöglich, dass Siuan ins Tel’aran’rhiod schlüpfte, um der Frau vorzubeten, was sie zu sagen hatte. War es möglich, dass Nisao zu dem gleichen Schluss über Egwene gekommen war, ohne sie in der Unsichtbaren Welt erlebt zu haben? Dieser Rat hatte viel Zeit mit Egwene verbracht.
»Das reicht Euch, Nisao?« Sie konnte das Buch kaum vers chwinden lassen, ohne dass ihre Besucherin es bemerkte. Sie rutschte wieder herum, aber auf dem Ding gab es einfach keine bequeme Position. Wenn das so weiterging, würde sie einen blauen Fleck haben.
Nisao schob ihre Zinntasse auf dem Tisch herum, aber sie schaute noch immer nicht weg. »Das ist der hauptsächliche Grund. Am Anfang glaubte ich, sie würde als Euer Schoßtier enden. Oder Lelaines. Später, als sich herausstellte, dass sie euch beiden entgangen war, glaubte ich, Siuan würde die Leine halten, aber mir ist bald klar geworden, dass das ein Irrtum war. Siuan ist eine Lehrerin gewesen, da bin ich mir sicher, vielleicht sogar eine Freundin, aber ich habe erlebt, wie Egwene sie zurückgepfiffen hat. Niemand führt Egwene al’Vere an der Leine. Sie ist intelligent, aufmerksam, geschickt und lernt schnell. Sie wird vielleicht eine große Amyrlin.« Plötzlich lachte die vogelähnliche Schwester auf.
»Ist Euch bewusst, dass sie die Amyrlin mit der längsten Amtszeit in der Geschichte sein wird? Niemand wird jemals lange genug leben, um sie zu überholen, es sei denn, sie tritt von sich aus frühzeitig zurück.« Das Lächeln wich Ernst, vielleicht auch Sorge. Nicht weil sie beinahe die Bräuche verletzt hätte. Nisao hatte ihre Züge ausgezeichnet unter Kontrolle, aber ihr Blick war angespannt. »Natürlich nur, falls wir es schaffen, Elaida zu stürzen.«
Mit den eigenen Gedanken konfrontiert zu werden, auch wenn sie weitergedacht worden waren, war entnervend. Eine große Amyrlin? Nun! Es würden viele Jahre vergehen, damit man sehen konnte, ob sich das so entwickelte. Aber ob Egwene dieses beträchtliche und unwahrscheinliche Kunststück nun vollbringen würde oder nicht, sie würde feststellen, dass der Saal bedeutend weniger zugänglich sein würde, sobald es ihre Kriegsbefugnisse nicht länger gab. Romanda Cassin würde es jedenfalls mit Sicherheit nicht mehr sein. Respekt war eine Sache, ein Schoßhündchen zu werden eine ganz andere. Unter dem Vorwand, ihre dunkelgelben Röcke glätten zu wollen, stand sie kurz auf und zog das Buch unter dem Kissen hervor, dann setzte sie sich wieder und versuchte, es unauffällig fallen zu lassen. Es landete mit einem dumpfen Geräusch auf dem Teppich, und Nisaos Brauen zuckten. Romanda ignorierte es und zog das Buch mit der Fußspitze unter den Tisch.
»Das werden wir.« Sie legte mehr Überzeugung hinein, als sie verspürte. Diese seltsamen Verhandlungen und Egwenes Gefangenschaft machten sie nachdenklich, ganz zu schweigen von der Behauptung des Mädchens, sie könnte Elaidas Posit ion im Inneren der Burg unterminieren. Obwohl es den Anschein hatte, dass die Hälfte ihrer Arbeit von anderen erledigt worden war, falls ihre Berichte über die Situation in der Burg stimmten. Aber Romanda glaubte es, weil sie es glauben musste. Sie hatte nicht die Absicht, von ihrer Ajah getrennt zu leben, Elaidas Buße zu akzeptieren, bis sie sie wieder für geeignet hielt, wieder eine Aes Sedai mit allen Rechten zu sein; sie hatte nicht die Absicht, Elaida a’Roihan als Amyrlin zu akzeptieren. Besser Lelaine als das, und eines der Argumente für Egwenes Erhebung, die sie sich in ihrem Kopf zurechtgelegt hatte, war gewesen, dass sie Lelaine von Stola und Stab ferngehalten hatte. Zweifellos hatte Lelaine das Gleiche über sie gedacht. »Und ich werde Lelaine auf unzweifelhafte Weise darüber informieren, dass Ihr jede Frage stellen könnt, die Ihr wollt. Wir müssen die Morde aufklären, und der Mord an einer Schwester geht alle Schwestern an. Was habt Ihr bis jetzt herausgefunden?« Keine angemessene Frage vielleicht, aber die Stellung als Sitzende verlieh einem gewisse Privilegien. Zumindest hatte sie das immer geglaubt.
Nisao schien die Frage nicht zu stören, sie zögerte nicht mit einer Antwort. »Sehr wenig, fürchte ich«, sagte sie voller Reue und blickte stirnrunzelnd in ihre Teetasse. »Allem Anschein nach muss es eine Verbindung zwischen Anaiya und Kairen geben, einen Grund, warum es die beiden getroffen hat, aber bis jetzt habe ich nur erfahren, dass die beiden seit vielen Jahren befreundet gewesen waren. Blaue haben sie und eine weitere Schwester namens Cabriana Mecandes als ›die Drei‹ bezeichnet, weil sie sich so nahestanden. Aber sie waren auch alle sehr zurückhaltend. Niemand kann sich daran erinnern, dass eine von ihnen je über ihre Angelegenheiten gesprochen hätte, es sei denn untereinander. Wie dem auch sei, Freundschaft scheint ein schwaches Motiv für Mord zu sein. Ich hoffe, ich kann einen Grund finden, warum sie jemand ermorden sollte, vor allem ein Mann, der die Macht lenken kann, aber ich muss gestehen, dass es nur eine schwache Hoffnung ist.«
Romanda runzelte die Stirn. Cabriana Mecandes. Sie schenkte anderen Ajahs nur wenig Aufmerksamkeit — allein die Gelben hatten eine wirklich nützliche Funktion; keine der anderen Interessen kam an das Heilen heran — aber der Name ließ in ihrem Hinterkopf einen leisen Gong ertönen. Warum? Es würde ihr wieder einfallen oder auch nicht. Es konnte nicht wichtig sein. »Aus kleinen Hoffnungen können überraschende Früchte erwachsen, Nisao. Das ist in Far Madding ein altes Sprichwort, und es stimmt. Führt Eure Untersuchung weiter. In Egwenes Abwesenheit dürft Ihr Eure Erkenntnisse mir mitteilen.«
Nisao blinzelte, und kurz spannte sich ihr Mund an, aber ob es ihr nun gefiel, Romanda Bericht zu erstatten, oder nicht, es blieb ihr wenig anderes übrig, als zu gehorchen. Sie konnte kaum behaupten, dass man sich in ihre Angelegenheiten einmischte. Mord konnte nicht allein die Angelegenheit einer Schwester sein. Davon abgesehen, Magla hatte vielleicht ihre lächerliche Wahl für die dritte Sitzende der Gelben durchgesetzt, aber Romanda hatte sich die Position der Ersten Weberin mühelos gesichert. Schließlich war sie vor ihrem Ruhestand die Anführerin der Gelben gewesen, und selbst Magla war nicht bereit gewesen, sich gegen sie zu stellen. Die Position verlieh bedeutend weniger Macht, als ihr lieb war, aber wenigstens konnte sie sich in den meisten Fällen auf den Gehorsam der anderen Gelben Schwestern verlassen, wenn schon nicht auf den der Sitzenden.
Als Nisao ihre Abschirmung gegen Lauscher aufknüpfte und sich auflösen ließ, trat Theodrin ins Zelt. Sie trug ihre Stola über Schultern und Arme gelegt, sodass die langen Fransen sofort ins Auge fielen. Das taten viele frisch erhobene Schwestern. Die sehnige Domani hatte das Braun gewählt, nachdem Egwene ihr die Stola zugebilligt hatte, aber die Braunen hatten nicht gewusst, was sie mit ihr anfangen sollten, obwohl sie sie schließlich aufgenommen hatten. Anscheinend waren sie bereit gewesen, sie größtenteils zu ignorieren, genau die falsche Entscheidung, also hatte sich Romanda ihrer angenommen. Theodrin versuchte sich zu verhalten wie eine richtige Aes Sedai, aber sie war ein kluges, vernünftiges Mädchen. Sie breitete die braunen Wollröcke für einen Knicks aus. Einen kleinen Knicks, aber immerhin einen Knicks. Sie war sich durchaus bewusst, dass sie eigentlich vor ihrer bestandenen Prüfung kein Recht auf ihre Stola hatte. Es wäre grausam gewesen, nicht dafür zu sorgen, dass ihr das klar war.
»Lelaine hat eine Sitzung des Saals einberufen«, sagte sie atemlos. »Ich konnte den Anlass nicht herausfinden. Ich bin losgerannt, um Euch Bescheid zu geben, aber ich wollte nicht hereinkommen, solange die Abschirmung bestand.«
»Und das war auch richtig so«, sagte Romanda. »Nisao, wenn Ihr mich entschuldigen wollt, ich muss sehen, was Lelaine will.« Sie holte ihre mit gelben Fransen versehene Stola von einer der Truhen, die ihre Garderobe enthielten, drapierte sie über ihren Armen und überprüfte die Frisur in dem gesprungenen Spiegel, bevor sie die anderen herausdrängte und ihrer Wege schickte. Es war nicht so, dass sie glaubte, Nisao würde nach der Ursache des dumpfen Aufpralls suchen, falls sie das Zelt allein verließ, aber es war besser, kein Risiko einzugehen. Aelmara würde das Buch dort verstauen, wo es hingehörte, zu den diversen ähnlichen Bänden in der Truhe, in der sich Romandas persönliche Besitztümer befanden. Die wies ein sehr stabiles Schloss mit nur zwei Schlüsseln auf, von denen der eine in ihrer Gürteltasche und der andere in Aelmaras ruhte.
Der Morgen war kühl, aber der Frühling war plötzlich eing etroffen. Die dunklen Wolken, die sich hinter dem zerschmetterten Gipfel des Drachenbergs zusammenballten, würden eher Regen statt Schnee bringen, aber hoffentlich nicht im Lager. Viele Zelte waren undicht, und die Lagerstraßen hatten sich bereits in Morast verwandelt. Pferdekarren, die ihre Lieferungen brachten, verspritzten Schlamm von ihren hohen Rädern, während sie neue Spuren machten; sie wurden größtenteils von Frauen gelenkt und ein paar grauh aarigen Männern. Für Männer war der Zugang ins Lager der Aes Sedai nun streng begrenzt. Trotzdem war fast jede der Schwestern, die sie die unebenen Holzstege entlangrauschen sah, in das Licht Saidars gehüllt und wurde von ihrem Behüter begleitet, sofern sie einen hatte. Romanda weigerte sich, die Quelle zu umarmen, wenn sie hinausging — jemand musste ja in einem Lager nervöser Schwestern ein Beispiel für das angebrachte Benehmen geben —, aber sie war sich des Mangels sehr bewusst. Genau wie des fehlenden Behüters. Es war ja schön und gut, die meisten Männer aus dem Lager fernzuhalten, aber ein Mörder würde sich kaum davon abhalten lassen.
Voraus ritt Gareth Bryne aus einer Seitenstraße, ein stämm iger Mann mit größtenteils grauem Haar, der den Brustharnisch über einen braunen Mantel geschnallt hatte und dessen Helm am Sattelknauf hing. Siuan war bei ihm. Sie schwankte auf einer dicken, zotteligen Stute und sah so hübsch aus, dass man beinahe vergessen konnte, was für eine hartgesottene und spitzzüngige Amyrlin sie gewesen war. Beinahe vergessen konnte, dass sie noch immer eine erfahrene Ränkeschmiedin war. Das waren alle Blauen. Die Stute trottete daher, aber Siuan fiel beinahe herunter, bevor Bryne zugriff und sie stützte. Am Rand des Quartiers der Blauen Ajah — das Lager entsprach in seinem Grundriss grob den Ajah-Quartieren in der Burg — stieg er lange genug ab, um ihr herunterzuhelfen, dann stieg er wieder in den Sattel und ließ sie dort stehen, wie sie die Zügel ihrer Stute hielt und ihm nachsah. Warum sollte sie das wohl tun? Die Stiefel des Mannes putzen, seine Wäsche zu besorgen. Diese Beziehung war ekelhaft. Die Blaue sollte dem ein Ende machen, und in den Krater des Verderbens mit den Bräuchen. Ganz egal, wie tief verwurzelt Bräuche auch waren, sie sollten nicht dazu missbraucht werden, um alle Aes Sedai lächerlich zu machen.
Sie wandte Siuan den Rücken zu und hielt auf den Pavill on zu, der als ihr zeitweiliger Burgsaal diente. So angenehm es auch war, sich in dem echten Saal zu treffen, ganz zu schweigen davon direkt unter Elaidas Nase, gelang es nur wenigen Schwestern, zu jeder beliebigen Stunde einzuschlafen, also musste der Pavillon auch weiterhin zur Verfügung stehen. Sie rauschte ohne Hast über den Gehweg. Sie würde nicht dabei gesehen werden, wie sie wegen Lelaines Ruf rannte. Was konnte die Frau bloß wollen?
Ein Gong ertönte, verstärkt von der Macht, sodass er deutl ich im ganzen Lager zu hören war — ein weiterer von Sharinas Vorschlägen —, und plötzlich drängten sich Novizinnen auf dem eiligen Weg zu ihren nächsten Klassen oder ihren Pflichten auf den Gehwegen, alle in ihrem Familienverbund versammelt. Diese aus sechs oder sieben Angehörigen bestehenden Familien begaben sich immer gemeinsam in die Klassen, genau wie sie ihre Pflichten gemeinsam erledigten; tatsächlich taten sie alles gemeinsam. Es war eine effektive Methode, so viele Novizinnen zu organisieren — allein in den letzten beiden Wochen waren fast fünfzig weitere ins Lager gekommen, was die Gesamtzahl trotz der Ausreißerinnen auf fast eintausend erhöhte, und fast ein Viertel waren jung genug, um vernünftige Novizinnen zu sein, mehr, als die Burg seit Jahrhunderten aufgenommen hatte! —, und doch wünschte sie sich, es wäre nicht Sharinas Werk gewesen. Die Frau hatte es nicht einmal der Oberin der Novizinnen vorgeschlagen. Sie hatte die ganze Sache selbst organisiert und sie Tiana völlig fertig präsentiert! Die Novizinnen, von denen einige graue Haare oder faltige Gesichter hatten, sodass es schwer fiel, sie trotz der weißen Gewänder als Kinder zu betrachten, drängten sich an den Rand des Gehwegs, um die Schwestern passieren zu lassen, während sie ihre Knickse machten, aber keine trat auf die schlammige Straße, um mehr Platz zu machen. Wieder Sharina. Sharina hatte verbreitet, dass sie nicht sehen wollte, dass die Mädchen ihre schönen weißen Wollgewänder unnötigerweise schmutzig machten. Das reichte aus, um Romanda mit den Zähnen knirschen zu lassen. Die Novizinnen, die vor ihr einen Knicks machten, richteten sich schnell wieder auf und rannt en förmlich weiter.
Ein Stück voraus entdeckte sie Sharina selbst, die mit der in den Schein Saidars gehüllten Tiana sprach. Sie besorgte das Sprechen, während Tiana nur gelegentlich nickte. An Sharinas Benehmen war nichts Respektloses, aber trotz ihres Novizinnenweiß sah sie mit ihrem faltigen Gesicht und dem engen grauen Haarknoten auf dem Hinterkopf genau wie das aus, was sie auch war. Eine Großmutter. Und Tiana bot unglücklicherweise ein jugendliches Erscheinungsbild. Etwas an ihrem Knochenbau und die großen braunen Augen überragten das alterslose Aussehen einer Aes Sedai. Angebrachter Respekt oder nicht, das sah viel zu sehr nach einer Frau aus, die ihre Enkelin instruierte. Als sie auf sie zutrat, machte Sharina einen angebrachten Knicks — einen sehr angebrachten Knicks, wie Romanda zugeben musste, — und eilte in die andere Richtung, um sich zu ihrer eigenen Familie zu gesellen, die auf sie wartete. Waren da in ihrem Gesicht weniger Falten als noch zuvor gewesen? Nun, wer vermochte schon zu sagen, was geschehen konnte, wenn eine Frau in ihrem Alter mit der Macht anfing. Siebenundsechzig und Novizin!
»Macht sie Euch Ärger?«, fragte sie, und Tiana zuckte zusammen, als hätte ihr jemand einen Eiszapfen in den Kragen geschoben. Der Frau fehlten einfach die Würde und die Gesetztheit, die bei einer Oberin der Novizinnen nötig waren. Manchmal erschien sie auch von der Zahl ihrer Schützlinge wie erdrückt. Darüber hinaus war sie viel zu nachsichtig, akzeptierte Entschuldigungen, wo es keine geben konnte.
Sie fasste sich aber schnell und ging neben Romanda her, obwohl sie unnötigerweise ihre dunkelgrauen Röcke glättete.
»Ärger? Natürlich nicht. Sharina ist eine vorbildliche Novizin. Um die Wahrheit zu sagen, die meisten benehmen sich ausgezeichnet. Der größte Teil derer, die man in mein Arbeitszimmer schickt, sind Mütter, die aufgebracht sind, weil ihre Töchter schneller als sie lernen oder ein höheres Potenzial haben, oder Tanten, die die gleichen Beschwerden über ihre Nichten vorbringen. Sie scheinen zu glauben, man könnte das irgendwie ungeschehen machen. Sie können erstaunlich beharrlich darin sein, bis ich ihnen klarmache, was es heißt, einer Schwester gegenüber beharrlich zu sein. Obwohl ich fürchte, dass man eine Menge von ihnen mehr als nur einmal zu mir schicken muss. Eine Hand voll scheint es noch immer zu überraschen, dass sie den Rohrstock zu spüren bekommen können.«
»Ist das so?«, sagte Romanda abwesend. Sie hatte Delana entdeckt, die in die gleiche Richtung eilte, die mit grauen Fransen versehene Stola über die Arme gelegt und ihre sogenannte Sekretärin an ihrer Seite. Delana trug ein relativ dunkles Grau, aber die Schlampe neben ihr war in blaugeschlitzte grüne Seide gekleidet, die ihren halben Busen zur Schau stellte und viel zu eng an ihren Hüften anlag, mit denen sie eklatant wackelte. In letzter Zeit schienen die beiden auf die Geschichte zu verzichten, dass Halima bloß Delanas Dienerin war. Tatsächlich gestikulierte die Frau energisch, während Delana bloß auf die unterwürfigste Weise nickte, die man sich vorstellen konnte. Unterwürfig! Es war immer ein Fehler, sich eine Kopfkissenfreundin auszusuchen, die keine Stola trug. Vor allem, wenn man dumm genug war, ihr die Führung zu überlassen.
»Sharina verhält sich nicht nur vorbildlich«, fuhr Tiana fröhlich fort, »sie zeigt auch großes Geschick in Nynaeves neuer Heilungsmethode. Wie einige der älteren Novizinnen. Die meisten waren auf die eine oder andere Weise Dorfseherinnen, auch wenn mir nicht klar ist, wieso das von Bedeutung sein sollte. Eine war Adlige in Murandy.«
Romanda stolperte über die eigenen Füße, ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzufinden, fing sich wieder. Tiana ergriff ihren Arm, um sie zu stützen, murmelte etwas über die unebenen Gehwege, aber Romanda schüttelte sie ab. Sharina hatte ein Talent für die neue Heilung? Und einige der älteren Frauen auch? Sie selbst hatte die neue Methode gelernt, aber obwohl sie sich so weit von der alten unterschied, dass die Einschränkung, nach der man dasselbe Gewebe, das man später in abgewandelter Form erlernte, nicht anwenden konnte, hier nicht zuzutreffen schien, hatte sie kein großes Talent dafür. Nicht einmal annähernd so viel, wie sie für die alte Methode hatte.
»Und warum dürfen Novizinnen das üben, Tiana?«
Tiana errötete, wie es sich auch gehörte. Solche Gewebe waren zu kompliziert für Novizinnen, ganz zu schweigen davon, dass sie gefährlich waren, wenn sie falsch angewandt wurden. Auf die falsche Weise angewandt, konnte das Heilen töten statt helfen. Die Machtlenkerin genauso wie den Patienten. »Ich kann sie wohl kaum davon abhalten, nicht zuzusehen, wenn eine Heilung vollzogen wird, Romanda«, rechtfertigte sie sich und bewegte die Arme, als würde sie eine Stola richten, die sie nicht trug. »Es gibt immer gebrochene Knochen oder einen Narren, der sich schlimm geschnitten hat, ganz zu schweigen von den vielen Krankheiten, mit denen wir in letzter Zeit zu tun haben. Die meisten der älteren Frauen brauchen ein Gewebe nur einmal zu sehen, um es zu beherrschen.« Für einen kurzen Augenblick lang kehrte plötzlich die Röte in ihre Wangen zurück. Sie brachte ihre Miene wieder unter Kontrolle, nahm die Schultern zurück, und das Entschuldigende verschwand aus ihrer Stimme. »Wie dem auch sei, Romanda, ich sollte Euch nicht daran erinnern müssen, dass die Novizinnen und Aufgenommenen mir unterstehen. Als Oberin der Novizinnen entscheide ich, was sie lernen dürfen und was nicht. Einige dieser Frauen könnten heute die Prüfung zur Aufgenommenen ablegen, nach nur wenigen Monaten. Jedenfalls, soweit es die Macht angeht. Wenn ich entscheide, dass sie keine Däumchen drehen sollen, dann ist das meine Entscheidung.«
»Vielleicht solltet Ihr schnell nachsehen, ob Sharina noch weitere Anweisungen für Euch hat«, sagte Romanda kalt.
Mit blutroten Flecken auf den Wangen drehte sich Tiana auf dem Absatz um und schritt wortlos davon. Es kam nicht ganz an unter Schwestern nicht zu tolerierende Unverschämtheit heran, aber es war nahe dran. Selbst von hinten bot sie das Abbild perfekter Empörung, den Rücken so starr wie eine Eisenstange, die Schritte schnell. Nun, Romanda war bereit zuzugeben, dass sie selbst beinahe unverschämt gewesen war. Aber nicht grundlos.
Sie versuchte die Oberin der Novizinnen aus den Gedanken zu verbannen und hielt wieder auf den Pavillon zu, aber sie musste sich zusammenreißen, nicht genauso schnell wie Tiana auszuschreiten. Sharina. Und mehrere der älteren Frauen. Sollte sie ihre Position überdenken? Nein. Natürlich nicht. Ihre Namen hätten niemals in das Novizinnenbuch aufgenommen werden dürfen. Doch ihre Namen standen da, und anscheinend hatten sie dieses wunderbare neue Heilen gemeistert. Oh, was für ein schrecklich kompliziertes Durcheinander. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Nicht jetzt.
Der Pavillon stand in der Lagermitte, ein mit zahllosen Flicken versehenes Gebilde aus schwerem Segeltuch, das von einem dreimal so breiten Gehweg wie alle anderen Zelte umgeben wurde. Sie schürzte die Röcke, um sie vor dem Schlamm zu schützen, und eilte auf die andere Seite. Eile störte sie nicht, wenn es darum ging, schnell aus dem Schlamm zu kommen. Trotzdem würde Aelmara einige Arbeit haben, ihre Schuhe sauber zu machen. Und ihre Unterröcke, dachte sie, als sie die Röcke fallen ließ und ihre Knöchel wieder anständig bedeckte.
Die Nachricht von einer Sitzung des Saals zog immer Schwestern an, die auf Neuigkeiten über die Verhandlungen oder über Egwene warteten, und etwa fünfzig oder mehr versammelten sich bereits mit ihren Behütern um den Pavillon oder standen bereits drinnen, hinter den Plätzen ihrer Sitzenden. Selbst hier leuchteten die meisten mit dem Licht der Macht. Als wären sie hier umgeben von anderen Aes Sedai in Gefahr. Romanda verspürte das starke Bedürfnis, einmal um den Pavillon zu gehen und Ohrfeigen zu verteil en. Das war natürlich unmöglich. Selbst wenn man die Bräuche vergessen könnte, wozu sie kein Verlangen verspürte, verlieh einem ein Sitz im Saal nicht die Autorität, um so etwas zu tun.
Sheriam trug die schmale blaue Stola der Behüterin um den Hals und stach aus der Menge heraus, was teilweise daran lag, dass um sie herum Platz war. Andere Schwestern vermieden es, sie anzusehen, und gesellten sich erst recht nicht zu ihr. Die flammenhaarige Frau brachte viele der Schwestern in Verlegenheit, weil sie jedes Mal auftauchte, wenn der Saal zusammengerufen wurde. Das Gesetz war eindeutig. Jede Schwester konnte an einer Sitzung des Saals teilnehmen, sofern sie nicht geschlossen war, aber die Amyrlin konnte den Saal der Burg nicht betreten, ohne von der Behüterin vorher angekündigt worden zu sein, und die Behüterin wiederum durfte nicht ohne Amyrlin hinein. Wie gewöhnlich waren Sheriams grüne Augen zusammengekniffen, und sie trat auf ungehörige Weise nervös von einem Fuß auf den anderen, wie eine Novizin, der ein Besuch bei der Oberin bevorstand. Wenigstens hielt sie nicht die Quelle umarmt, und ihr Behüter war nirgendwo in Sicht.
Bevor Romanda unter den Pavillon trat, warf sie einen Blick über die Schulter und seufzte. Die Masse der dunklen Wolken hinter dem Drachenberg war verschwunden. Nicht auseinander getrieben, sondern einfach weg. Sicherlich würde es unter den Pferdeknechten und Tagelöhnern und Dienerinnen neue Panik entfachen. Überraschenderweise schienen die Novizinnen diese seltsamen Vorgänge viel gelassener zu nehmen. Vielleicht weil sie die Schwestern nachahmen wollten, aber sie vermutete darin erneut Sharinas Einfluss. Was konnte sie bloß wegen dieser Frau unternehmen?
Drinnen dienten achtzehn mit in den Farben der sechs im Lager vertretenen Ajahs gehaltenen Decken verkleidete Kästen als Plattform für polierte Bänke. Sie standen in einer V-förmigen Formation, die sich auf einen einzelnen Kasten hin öffnete. Er wurde von einem Tuch mit Streifen in allen sieben Farben verhüllt. Trotz heftiger Proteste hatte Egwene auf das Rot bestanden. Wo Elaida entschlossen schien, alle Ajahs voneinander zu entzweien, war Egwene entschlossen, sie alle zusammenzuhalten, einschließlich der Roten. Auf der Holzbank auf dieser Plattform lag die siebenfach gestreifte Stola der Amyrlin. Niemand beanspruchte die Verantwortung dafür, sie dort hingelegt zu haben, aber es hatte sie auch niemand entfernt. Romanda war sich unsicher, ob es eine Erinnerung an Egwene al’Vere war, an den Amyrlin-Sitz, ein Echo ihrer Anwesenheit, oder eine Erinnerung daran, dass sie abwesend und eine Gefangene war. Die Sichtweise kam zweifellos auf die betreffende Schwester an.
Sie war nicht die einzige Sitzende, die sich Zeit gelassen hatt e, Lelaines Ruf zu folgen. Delana war natürlich da, hockte zusammengesunken auf ihrer Bank und rieb sich die Nasenseite, einen nachdenklichen Blick in den wässrigen blauen Augen. Einst hatte Romanda sie für vernünftig gehalten. Ungeeignet für einen Sitz, aber vernünftig. Wenigstens hatte sie Halima nicht erlaubt, ihr in den Saal zu folgen und sie weiter zu belästigen. Oder Halima hatte es nicht gewollt. Niemand, der je gehört hatte, wie diese Frau Delana anbrüllte, hatte auch nur den geringsten Zweifel, wer hier die Befehle gab.
Lelaine saß bereits auf ihrer Bank, die direkt unter der Bank der Amyrlin stand, eine schlanke Frau mit harten Augen in blau geschlitzter Seide, die ihr Lächeln streng rationierte. Was es doppelt seltsam machte, dass sie gelegentlich zu der siebenfarbigen Stola hinsah und kurz lächelte. Dieses Lächeln bereitete Romanda Unbehagen, und das schafften nur wenige Dinge. Moria in ihrer silbern verzierten blauen Wolle ging vor der blau verhüllten Plattform auf und ab. Runzelte sie die Stirn, weil sie wusste, warum Lelaine den Saal einberufen hatte und dagegen war, oder weil sie sich sorgte, weil sie es nicht wusste?
»Ich habe Myrelle an Llyws Seite gesehen«, sagte Malind und zog die grünfransige Stola hoch, als Romanda den Pavillon betrat, »und ich glaube nicht, jemals eine so gequälte Schwester gesehen zu haben.« Trotz des Mitleids in ihrem Ton lag ein Funkeln in ihren Augen, und ihre vollen Lippen zuckten vor Heiterkeit. »Wie habt Ihr sie nur jemals dazu überreden können, mit ihm den Bund einzugehen? Ich war dabei, als ihr das jemand einmal vorgeschlagen hat, und ich schwöre, sie wurde leichenblass. Der Mann könnte doch fast als Ogier durchgehen.«
»Ich habe nachdrücklich auf die Pflicht hingewiesen.« Die stämmige Faiselle mit ihrem kantigen Gesicht war in allem energisch; ehrlich gesagt ähnelte sie einem Hammer. Sie ließ jede Geschichte von verführerischen Domani lächerlich aussehen. »Ich habe darauf hingewiesen, dass Llyw seit Kairens Tod immer gefährlicher für sich selbst und andere wurde, und ich habe ihr gesagt, dass das nicht so weitergehen darf. Ich habe ihr klargemacht, dass sie als einzige Schwester, die unter gleichen Umständen zwei andere Behüter gerettet hat, die einzige Person ist, die es noch einmal versuchen konnte. Ich muss zugeben, ich habe sie da etwas unter Druck gesetzt, aber schließlich hat sie es eingesehen.«
»Wie beim Licht habt Ihr es geschafft, Myrelle unter Druck zu setzen?« Malind beugte sich begierig vor.
Romanda ging an ihnen vorbei. Wie hatte man bloß Myrelle unter Druck setzen können? Nein. Keinen Klatsch.
Janya saß auf der Bank der Braunen und dachte offensichtlich nach. Jedenfalls hatte sie die Augen zusammengekniffen, andererseits schien die Frau immer damit beschäftigt zu sein, über etwas nachzudenken, selbst wenn sie mit einem sprach. Vielleicht hatte sie auch einfach nur schlechte Augen. Die restlichen Bänke waren allerdings noch verwaist. Romanda wünschte sich, sich mehr Zeit gelassen zu haben. Sie wäre viel lieber als Letzte eingetroffen statt als eine der Ersten.
Nach kurzem Zögern trat sie zu Lelaine hin. »Würdet Ihr mir vielleicht einen Hinweis geben, warum Ihr den Saal einb erufen habt?«
Lelaine lächelte zu ihr herunter, ein amüsiertes Lächeln, das trotzdem unangenehm war. »Ihr könnt genauso gut warten, bis genug Sitzende da sind, um anfangen zu können. Ich wiederhole mich nicht gern. Aber so viel will ich Euch verraten: Es wird dramatisch sein.« Ihr Blick glitt wieder zu der gestreiften Stola, und Romanda fröstelte.
Aber sie ließ es sich nicht anmerken, sondern setzte sich auf die Lelaine gegenüberliegende Bank. Sie konnte es nicht vermeiden, selbst unbehaglich zur Stola zu blicken. War das ein Manöver, um Egwene ihres Amtes zu entheben? Es erschien unwahrscheinlich, dass diese Frau auch nur irgendetwas sagen konnte, das sie dazu bewegen würde, sich dem großen Konsens anzuschließen. Oder viele der anderen Sitzenden, denn das würde sie alle wieder zu dem Machtkampf zwischen ihr und Lelaine zurückwerfen und ihre Position gegenüber Elaida schwächen. Aber Lelaines selbstbewusste Ausstrahlung machte einen nervös. Sie setzte eine ruhige Miene auf und wartete. Sie konnte nichts anderes tun.
Kwamesa schoss förmlich in den Pavillon hinein, das Gesicht mit der scharf geschnittenen Nase von Reue erfüllt, nicht die Erste sein zu können, und gesellte sich zu Delana. Salita kam, dunkelhäutig und mit kühlem Blick, in gelb geschlitztes Grün gekleidet, das auf dem Busen mit gelben Ranken verziert war, und plötzlich kam es zu einem Ansturm. Lyrelle rauschte hinein, anmutig und elegant in mit Brokat abgesetzter blauer Seide, um ihren Platz bei den Blauen einzunehmen, dann kamen Saroiya und Aledrin, die die Köpfe zusammengesteckt hatten; die stämmige Domani wirkte neben der korpulenten Tarabonerin beinahe schlank. Während sie ihre Plätze auf der Bank der Weißen einnahmen, gesellte sich die fuchsgesichtige Samalin zu Faiselle und Malind, und die kleine Escaralde eilte herein. Sie eilte! Die Frau kam auch aus Far Madding. Sie hätte es doch wohl besser wissen müssen, wie man sich benahm.
»Ich glaube, Varilin ist in Darein«, sagte Romanda, als Escaralde zu Janya hochstieg, »aber selbst wenn einige der anderen später eintreffen, wir sind jetzt mehr als elf. Wollt Ihr anfangen, Lelaine, oder wollt Ihr warten?«
»Ich will anfangen.«
»Wünscht Ihr eine formelle Sitzung?«
Lelaine lächelte wieder. Damit war sie heute Morgen sehr großzügig. Aber es ließ ihr Gesicht keinesfalls wärmer aussehen. »Das wird nicht nötig sein, Romanda.« Sie zupfte an ihren Röcken herum. »Aber ich bitte darum, dass das, was hier gesagt wird, für den Augenblick im Saal Versiegelt bleibt.« Von der wachsenden Menge der Schwestern, die hinter den Bänken und außerhalb des Pavillons standen, erhob sich ein Murmeln. Selbst einige der Sitzenden zeigten Überraschung. Wenn es keine formelle Sitzung sein sollte, warum sollte es dann notwendig sein, das Wissen über das, was gesagt wurde, so streng zu begrenzen?
Romanda nickte jedoch, als wäre es die vernünftigste Bitte auf der Welt. »Lasst alle gehen, die keinen Sitz innehaben. Aledrin, würdet Ihr uns privat machen?«
Trotz ihrer dunkelblonden seidenen Haare und den großen, feuchten braunen Augen war die tarabonische Weiße keine Schönheit, aber sie hatte einen vernünftigen Kopf auf den Schultern, was viel wichtiger war. Sie stand auf, schien sich unsicher zu sein, ob sie die formellen Worte aufsagen sollte oder nicht, und gab sich schließlich damit zufrieden, ein Gewebe gegen Lauscher um den Pavillon zu weben und es zu halten. Das Murmeln verstummte, als Schwestern und Behüter das Gewebe durchschritten, bis die letzte gegangen war und Stille einkehrte. Allerdings standen sie Schulter an Schulter in mehreren Reihen auf dem Gehweg, die Behüter alle hinten, damit jeder sehen konnte.
Lelaine richtete die Stola und stand auf. »Man brachte eine Grüne Schwester zu mir, die nach Egwene gefragt hatte.« In die Grünen Sitzenden kam Bewegung, sie tauschten Blicke aus und fragten sich sicherlich, warum die Schwester stattdessen nicht zu ihnen gebracht worden war. Lelaine schien es nicht zu sehen. »Nicht nach dem Amyrlin-Sitz, sondern nach Egwene al’Vere. Sie hat einen Vorschlag, der einige unserer Anliegen löst, obwohl sie zögerte, mir die Einzelheiten zu erklären. Moria, würdet Ihr sie holen, damit sie ihren Vorschlag dem Saal unterbreiten kann?« Sie setzte sich wieder.
Moria verließ den Pavillon, noch immer stirnrunzelnd, und die Menge machte gerade Platz genug, damit sie hindurchkonnte. Romanda konnte Schwestern sehen, die versuchten, ihr Fragen zu stellen, aber sie ignorierte sie und verschwand in den Quartieren der Blauen Ajah. Romanda lagen Dutzende von Fragen auf der Zunge, die sie während dieser Pause gern gestellt hätte, aber ob es nun eine zwanglose Sitzung war oder nicht, Fragen zu diesem Zeitpunkt wären ungehörig gewesen. Allerdings warteten die Sitzenden nicht schweigend. Die Blauen ausgenommen, stiegen von jeder Ajah Frauen von den Kästen, damit sie zusammenkommen und mit gesenkten Stimmen miteinander reden konnten. Ausgenommen die Blauen und die Gelben. Salita stieg herunter und ging zu Romanda hinüber, aber Romanda hob nur ein Stück die Hand, als sie den Mund öffnete.
»Was gibt es zu diskutieren, bevor wir diesen Vorschlag gehört haben, Salita?«
Das Gesicht der tairenischen Sitzenden war so unleserlich wie ein Stein, aber sie nickte nach einem Moment und ging zu ihrem Sitz zurück. Sie war nicht einfältig, im Gegenteil. Nur einfach nicht geeignet.
Schließlich kehrte Moria mit einer hochgewachsenen Frau in sattem Grün zurück. Ihr dunkles Haar war aus dem strengen, elfenbeinfarbenen Gesicht gekämmt und wurde von einem Silberkamm gehalten. Jeder stieg wieder auf seine Bank. Drei Männer mit Schwertern gingen durch die Menge der wartenden Schwestern hinter ihr her und betraten den Pavillon. Das war ungewöhnlich. Sehr ungewöhnlich, wenn die Sitzung Versiegelt war. Zuerst brachte Romanda ihnen keine große Aufmerksamkeit entgegen. Seit dem Tod ihres letzten Behüters vor vielen Jahren hatte sie kein großes Inter esse für sie. Aber jemand unter den Grünen keuchte auf, und Aledrin stieß einen spitzen Schrei aus. Einen spitzen Schrei! Und sie starrte die Behüter an. Das mussten sie sein, und nicht nur, weil sie der Grünen folgten. Die tödliche Anmut eines Behüters war unverkennbar.
Romanda sah genauer hin und hätte beinahe selbst ein Keuchen ausgestoßen. Es waren unterschiedliche Männer, die sich lediglich auf die Weise ähnelten, wie ein Leopard einem Löwen ähnelt, aber einer von ihnen, ein hübscher, von der Sonne dunkel gebräunter Junge mit Glöckchen in den Zöpfen und von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet, trug zwei Anstecknadeln an dem hohen Kragen seines schwarzen Mantels. Ein Silberschwert und eine sich windende Kreatur in Rot und Gold. Romanda hatte genug Beschreibungen gehört, um zu wissen, dass sie einen Asha’man ansah. Einen Asha’man, der offensichtlich einen Bund eingegangen war. Malind raffte die Röcke, sprang von der Bank und eilte hinaus in die Menge der Schwestern. Sie konnte doch wohl sicherlich keine Angst haben? Auch wenn Romanda zugeben musste, jedenfalls tief im Inneren, dass sie selbst eine Spur Unbehagen verspürte.
»Ihr seid keine von uns«, sagte Janya und meldete sich wie immer dort zu Wort, wo sie hätte schweigen sollen. Sie beugte sich vor und starrte die soeben eingetroffene Schwester mit zusammengekniffenen Augen an. »Soll ich das so verstehen, dass Ihr nicht gekommen seid, um Euch uns hier anzuschließen?«
Der Mund der Grünen verzog sich in offensichtlichem Abscheu. »Das seht Ihr ganz richtig«, sagte sie in einem starken tarabonischen Akzent. »Mein Name ist Merise Haindehl, und ich werde nicht an der Seite einer Schwester stehen, die sich gegen andere Schwestern stellt, während es um das Schicksal der Welt geht. Unser Feind ist der Schatten, nicht Frauen, die wie wir die Stola tragen.« Gemurmel ertönte in dem Pavillon, zum Teil wütend, zum Teil auch beschämt, wie Romanda fand.
»Wenn Ihr das missbilligt, was wir tun«, fuhr Janya fort, als hätte sie das Recht, vor Romanda zu sprechen, »warum überbringt Ihr uns dann überhaupt einen Vorschlag?«
»Weil der Wiedergeborene Drache Cadsuane gefragt hat, und Cadsuane hat mich gefragt«, erwiderte Merise. Der Wiedergeborene Drache? Die Spannung im Saal war plötzlich deutlich zu spüren, aber die Frau fuhr fort, als würde sie sie nicht bemerken. »Im Grunde ist es nicht mein Vorschlag. Jahar, sprecht zu ihnen.«
Der sonnenverbrannte Junge trat vor, und als er an Merise vorbeiging, klopfte sie ihm aufmunternd auf die Schulter. Romandas Respekt vor ihr stieg. Den Bund mit einem Asha’man einzugehen war schon eine Leistung. Um einen so zu tätscheln, wie man einen Jagdhund tätschelte, da brauchte man schon Mut und ein Selbstbewusstsein, von dem sie nicht wusste, ob sie es aufgebracht hätte.
Der Junge schlenderte bis in die Mitte des Pavillons und starrte die Bank mit der Stola der Amyrlin an, dann drehte er sich langsam um und musterte alle Sitzenden mit einem Blick, der etwas Herausforderndes an sich hatte. Romanda wurde klar, dass auch er keine Angst hatte. Eine Aes Sedai bestimmte seinen Bund, er war allein und von Schwestern umgeben, doch falls er auch nur einen Funken Furcht verspürte, hatte er sie fest unter Kontrolle. »Wo ist Egwene al’Vere?«, wollte er wissen. »Man hat mir befohlen, ihr das Angebot zu unterbreiten.«
»Manieren, Jahar«, murmelte Merise, und seine Wangen röteten sich.
»Die Mutter ist im Moment unabkömmlich«, sagte Romanda glatt. »Ihr könnt es uns sagen, und wir werden es an sie weitergeben, so schnell wir können. Dieses Angebot kommt vom Wiedergeborenen Drachen?« Und von Cadsuane. Aber zu erfahren, was diese Frau in der Gesellschaft des Wiedergeborenen Drachen tat, war zweitrangig.
Statt zu antworten, fuhr er herum und sah Merise an.
»Gerade wollte ein Mann lauschen«, sagte er. »Oder viell eicht einer der Verlorenen, die Eben getötet haben.«
»Er hat Recht.« Aledrins Stimme klang unsicher. »Auf jeden Fall hat etwas mein Gewebe berührt, und es war nicht Saidar.«
»Er lenkt die Machtl«, stieß jemand ungläubig hervor. Unruhe brach unter den Sitzenden aus, und um einige flammte das Licht der Macht auf.
Delana erhob sich hastig. »Ich brauche frische Luft«, verkündete sie und starrte Jahar an, als wollte sie ihm die Kehle herausreißen.
»Es gibt keinen Grund zum Unbehagen«, sagte Romanda, obwohl sie sich da nicht so sicher war, aber Delana eilte in ihre Stola gehüllt aus dem Pavillon.
Malind passierte sie beim Eintreten, genau wie Nacelle, eine hochgewachsene, schlanke Malkieri, eine von der Hand voll, die in der Burg geblieben waren. Viele waren gestorben in den Jahren, nachdem Malkier an den Schatten gefallen war, sie hatten sich in Pläne verstricken lassen, ihre Heimat zu rächen, und seitdem hatte es nur selten Ersatz für sie gegeben. Nacelle war nicht besonders intelligent, andererseits brauchten Grüne auch keine Intelligenz, sondern bloß Mut.
»Diese Sitzung des Saals ist Versiegelt worden«, sagte Romanda scharf.
»Nacelle braucht bloß einen Augenblick«, erwiderte Malind und rieb sich die Hände. Sie machte sich unverschämterweise nicht einmal die Mühe, Romanda anzusehen, sondern hielt ihren Blick auf die andere Grüne gerichtet.
»Das ist ihre erste Gelegenheit, ein neues Gewebe zu testen. Los, Nacelle, versucht es.«
Das Leuchten Saidars hüllte die schlanke Grüne ein. Schoc kierend! Die Frau fragte weder um Erlaubnis noch sagte sie ihnen, welches Gewebe sie weben wollte, dabei gab es genaue Vorschriften, welche Anwendungen der Macht im Saal erlaubt waren. Sie lenkte alle Fünf Mächte und webte etwas um den Asha’man herum, das dem Gewebe für das Aufspüren von Machtrückständen ähnelte, etwas, für das Romanda kein großes Talent hatte. Nacelles blaue Augen weiteten sich. »Er lenkt die Macht«, hauchte sie. »Oder hält zumindest Saidin.«
Romandas Brauen hoben sich. Selbst Lelaine keuchte auf. Einen Mann zu finden, der die Macht lenken konnte, hing immer davon ab, die Rückstände aus dem zu lesen, was er getan hatte, dann mühsam die Verdächtigen nacheinander auszuschalten, bis man den wahren Schuldigen gefunden hatte. Zumindest war es so gewesen. Das hier war wirklich wunderbar. Oder wäre es gewesen, bevor die Männer, die die Macht lenken konnten, angefangen hatten, schwarze Mäntel zu tragen und in aller Öffentlichkeit herumzustolzieren. Immerhin glich es einen Vorteil aus, den diese Männer immer gegenüber den Aes Sedai gehabt hatten. Den Asha’man schien das nicht zu kümmern. Seine Lippen verzogen sich zu etwas, das möglicherweise ein hämisches Grinsen hätte sein können.
»Könnt Ihr sagen, was er lenkt?«, fragte sie, und Nacelle schüttelte enttäuschenderweise den Kopf.
»Ich dachte, ich müsste es können, aber nein. Andererseits .. . Ihr da, Asha’man. Lenkt einen Strom auf eine der Sitzenden zu. Nichts Gefährliches, natürlich, und berührt sie nicht.« Merise warf ihr einen finsteren Blick zu, die Hände in die Hüften gestemmt. Vielleicht war Nacelle gar nicht klar, dass er einer ihrer Behüter war. Auf jeden Fall gestikulierte sie befehlend.
Jahar öffnete den Mund, einen sturen Ausdruck in den Augen.
»Tut es, Jahar«, sagte Merise. »Er gehört mir, Nacelle, aber ich erlaube, dass Ihr ihm einen Befehl gebt. Dieses eine Mal.« Nacelle sah schockiert aus. Anscheinend hatte sie es nicht begriffen.
Der sture Ausdruck des Asha’mans blieb, aber er musste gehorcht haben, weil Nacelle entzückt in die Hände klatschte und lachte.
»Saroiya«, sagte sie aufgeregt. »Ihr habt einen Strom auf Saroiya gelenkt. Die Weiße Domani. Habe ich Recht?«
Saroiyas kupferfarbene Haut wurde blass, sie schlang die Stola mit den weißen Fransen enger um sich und rutschte hastig so weit auf ihrer Bank nach hinten, wie sie konnte. Was das anging, rückte Aledrin ebenfalls zurück.
»Sagt es ihr«, befahl Merise. »Jahar kann stur sein, aber er ist ein guter Junge.«
»Die Weiße Domani«, stimmte Jahar zögernd zu. Saroiya schwankte, als würde sie umkippen, und er sah sie verächtlich an. »Es war nur Geist, und er ist weg.« Saroiyas Gesicht verfinsterte sich, aber es war unmöglich zu sagen, ob aus Wut oder Verlegenheit.
»Eine bemerkenswerte Entdeckung«, sagte Lelaine, »und ich bin sicher, dass Euch Merise weitere Tests erlauben wird, aber der Saal hat etwas zu erledigen. Ich bin sicher, Ihr stimmt mir zu, Romanda.«
Romanda schaffte es gerade noch, sich davon abzuhalten, sie böse anzustarren. Lelaine überschritt ihre Grenzen einfach zu oft. »Wenn Eure Demonstration zu Ende ist, dürft Ihr Euch zurückziehen, Nacelle«, sagte sie. Die Malkieri zögerte, vielleicht weil sie Merises Miene entnehmen konnte, dass es keine weiteren Experimente mehr geben würde — eigentlich hätte man doch annehmen sollen, dass ausgerechnet eine Grüne vorsichtig mit einem Mann umgehen würde, der möglicherweise der Behüter einer anderen Schwester war —, aber natürlich hatte sie keine Wahl. »Welchen Vorschlag hat der Wiedergeborene Drache für uns, Junge?«, fragte Romanda, sobald Nacelle auf der anderen Seite der Abschirmung war.
»Das Folgende«, sagte er und sah sie stolz an. »Jede Schwester, die treu zu Egwene al’Vere steht, darf mit einem Asha’man den Bund eingehen, insgesamt siebenundvierzig. Ihr könnt nicht um den Wiedergeborenen Drachen bitten und auch nicht um einen Mann, der das Drachenabzeichen trägt, aber jeder Soldat und Geweihte, den ihr fragt, darf nicht ablehnen.« Romanda hatte das Gefühl, dass man ihr jeglichen Atem aus den Lungen gepresst hatte.
»Ihr müsst zugeben, dass das unseren Bedürfnissen entg egenkommt«, sagte Lelaine ruhig. Die Frau musste von Anfang an gewusst haben, worum es ging, sollte sie doch zu Asche verbrennen.
»Das tue ich«, erwiderte Romanda. Mit siebenundvierzig Männern, die die Macht lenken konnten, würden sie ihre Zirkel so weit ausdehnen können, wie das möglich war. Vielleicht sogar einen Zirkel, der sie alle mit einschloss. Falls es Grenzen gab, würde man die in Erfahrung bringen müssen.
Faiselle sprang auf die Füße, als wäre das hier eine formelle Sitzung. »Das muss besprochen werden. Ich verlange eine formelle Sitzung.«
»Dafür sehe ich keine Notwendigkeit«, sagte Romanda und blieb sitzen. »Das ist viel besser als… als das, auf das wir uns zuvor geeinigt hatten.« Es machte keinen Sinn, zu viel vor dem Jungen zu sagen. Oder vor Merise. Was war ihre Verbindung zu dem Wiedergeborenen Drachen? Konnte sie eine der Schwestern sein, die ihm angeblich den Treueid geschworen hatten?
Saroiya stand bereits, bevor Romanda zu Ende gesprochen hatte. »Da ist noch immer die Frage der Vereinbarungen, um sicherzugehen, dass wir die Kontrolle haben. Darauf haben wir uns noch immer nicht geeinigt.«
»Ich glaube, der Behüterbund wird sämtliche Vereinb arungen überflüssig machen«, sagte Lyrelle trocken.
Faiselle erhob sich hastig, und sie und Saroiya sprachen fast gleichzeitig. »Der Makel…« Sie verstummten, starrten sich gegenseitig misstrauisch an.
»Saidin ist sauber«, sagte Jahar, obwohl ihn niemand ang esprochen hatte. Merise hätte dem Jungen wirklich Benehmen beibringen können, wenn sie ihn schon in den Saal brachte.
»Sauber?«, sagte Saroiya verächtlich.
»Es ist seit mehr als dreitausend Jahren beschmutzt«, warf Faiselle scharf ein. »Wie kann es da sauber sein?«
»Ruhe!«, fauchte Romanda und versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen. »Ruhe!« Sie starrte Saroiya und Faiselle so lange an, bis sie wieder ihre Sitze einnahmen, dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit erneut Merise zu. »Kann ich davon ausgehen, dass Ihr Euch mit ihm verknüpft habt?« Die Grüne nickte bloß. Sie mochte ihre gegenwärtige Gesellschaft wirklich nicht und wollte kein Wort mehr als nötig sagen. »Könnt Ihr bestätigen, dass Saidin vom Makel befreit ist?«
Die Frau zögerte nicht. »Das kann ich. Ich habe lange gebraucht, bis ich davon überzeugt war. Die männliche Hälfte der Macht ist viel fremder, als ihr euch vorstellen könnt. Nicht die unerbittliche und dennoch sanfte Macht Saidars, sondern eher ein wildes Meer aus Feuer und Eis, das von einem Wirbelsturm aufgepeitscht wird. Und doch bin ich überzeugt. Es ist sauber.«
Romanda atmete tief aus. Ein Wunder, um wenigstens einige der Schrecken auszugleichen. »Wir haben keine formelle Sitzung, aber ich stelle die Frage. Wer steht auf, um dieses Angebot zu akzeptieren?« Sie stand, bevor sie zu Ende gesprochen hatte, aber Lelaine war noch schneller als sie, und Janya schlug sie beide. Augenblicke später waren bis auf Saroiya und Faiselle alle auf den Beinen. Außerhalb der Abschirmung drehten sich Köpfe, als Schwestern zweifellos darüber zu diskutieren begannen, was möglicherweise gerade beschlossen worden war. »Der geringere Konsens ist getroffen, das Angebot, mit siebenundvierzig Asha’man den Bund einzugehen, ist angenommen.« Saroiya ließ die Schultern hängen, und Faiselle atmete heftig aus.
Romanda rief im Namen der Einheit nach dem großen Konsens, aber es überraschte sie nicht, dass die beiden stur auf ihren Plätzen sitzen blieben. Schließlich hatten sie vehement gegen eine Annäherung an die Asha’man gekämpft, hatten sich trotz Gesetz und Brauchtum darum bemüht, sie zu verhindern, selbst nachdem man sie beschlossen hatte. Aber nun war es vollbracht, und das sogar ohne die Notwendigkeit einer zeitweiligen Allianz. Der Bund würde natürlich ein Leben lang halten, und doch würde es besser als jede Allianz sein. Sie hätte zu viel Gleichheit impliziert.
»Eine seltsame Zahl, siebenundvierzig«, meinte Janya nachdenklich. »Darf ich Eurem Behüter eine Frage stellen, Merise ? Danke. Jahar, wie ist der Wiedergeborene Drache auf diese Zahl gekommen?« Eine sehr gute Frage, dachte Romanda. Durch den Schock, das erreicht zu haben, was sie brauchten, ohne auch nur im mindesten eine Partnerschaft eingehen zu müssen, war sie selbst gar nicht darauf gekommen.
Jahar nahm die Schultern zurück, als hätte er mit dieser Frage gerechnet und würde eine Antwort fürchten. Aber sein Gesicht blieb hart und kalt. »Es sind bereits einundfünfzig Schwestern von Asha’man gebunden worden, und vier von uns sind mit Aes Sedai verbunden. Es waren fünf von uns, aber einer starb, als er seine Aes Sedai verteidigte. Haltet seinen Namen in Erinnerung. Eben Hopwil. Haltet ihn in Erinnerung!«
Auf den Bänken herrschte verblüfftes Schweigen. Romanda kam sich vor, als hätte sie einen Eisklumpen im Leib. Einundfünfzig Schwestern? Von Asha’man gebunden? Das war abscheulich!
»Manieren, Jahar!«, fauchte Merise. »Ich will Euch das nicht noch einmal sagen müssen!«
Schockierenderweise ging er jetzt auf sie los. »Sie müssen es wissen, Merise. Sie müssen es wissen!« Er drehte sich wieder um und ließ die Blicke über die Bänke schweifen. In seinen Augen loderte es. Er hatte sich nicht gefürchtet. Er war wütend gewesen und war es immer noch. »Eben war mit seiner Daigian und Beldeine verknüpft, und Daigian kontrollierte die Verknüpfung, und als sie sich einer der Verlorenen gegenübersahen, konnte er nur noch rufen ›Sie lenkt Säidirk und sie mit dem Schwert angreifen. Und trotz allem, was sie ihm angetan hat, so zerstört er war, er schaffte es, sich am Leben festzuklammern, an Saidin festzuklammern, lange genug, dass Daigian sie vertreiben konnte. Also haltet seinen Namen in Erinnerung! Eben Hopwil. Er hat noch für seine Aes Sedai gekämpft, lange nachdem er hätte tot sein müssen!«
Nachdem er verstummt war, sagte keiner ein Wort, bis Escaralde schließlich ganz leise sagte: »Wir werden ihn in Erinnerung behalten, Jahar. Aber wie konnten einundfünfzig Schwestern von Asha’man… gebunden werden?« Sie beugte sich vor, als würde seine Antwort genauso leise erfolgen.
Der Junge zuckte mit den Schultern, noch immer wütend. Asha’man, die Aes Sedai an sich banden, das kümmerte ihn nicht. »Elaida hat sie geschickt, um uns zu vernichten. Der Wiedergeborene Drache hat einen Befehl erlassen, dass keine Aes Sedai verletzt werden darf, es sei denn, sie versucht zuerst, einen von uns zu verletzen, also entschied sich Taim, sie gefangen zu nehmen und zu binden, bevor sie Gelegenheit dazu hatten.«
Aha. Sie waren Elaidas Anhängerinnen. Sollte das einen Unterschied machen? Irgendwie tat es das, jedenfalls ein kleines bisschen. Aber jede Schwester, die von einem Asha’man gebunden wurde, brachte das Thema Gleichheit erneut zur Sprache, und das war nicht zu tolerieren.
»Ich habe eine andere Frage an ihn, Merise«, sagte Moria und wartete, bis die Grüne nickte. »Ihr habt Euch jetzt zweimal so ausgedrückt, als hätte eine Frau Saidin gelenkt. Warum? Das ist unmöglich.« Zustimmendes Gemurmel ertönte im Pavillon.
»Das mag unmöglich sein«, erwiderte der Junge kühl, »aber das hat sie getan. Daigian hat uns erzählt, was Eben gesagt hat, und sie konnte nicht das Geringste fühlen, nicht einmal, als die Frau die Macht lenkte. Es muss Saidin gewesen sein.«
Abermals ertönte der leise Gong in Romandas Hinterkopf, und sie wusste wieder, wo sie den Namen Cabriana Mecandes gehört hatte. »Wir müssen sofort die Festnahme von Delana und Halima anordnen«, sagte sie.
Natürlich musste sie das erklären. Nicht einmal der Amyrlin-Sitz konnte ohne Erklärung die Festnahme einer Sitzenden anordnen. Die Ermordung von zwei Schwestern mit Hilfe von Saidin, die enge Freundinnen Cabrianas gewesen waren, eine Frau, mit der Halima angeblich ebenfalls befreundet gewesen war. Eine Verlorene, die die männliche Hälfte der Macht lenkte. Die anderen waren nicht überzeugt, vor allem nicht Lelaine, nicht bevor eine gründliche Durchsuchung des Lagers keine der Frauen zum Vorschein brachte. Man hatte gesehen, wie sie zum Reisegrund gingen, Delana und ihre Dienerin mit schweren Bündeln und hinter Halima her eilend, aber sie waren weg.