28 In Malden

Kurz vor Tagesanbruch befestigte Faile zum ersten mal den breiten Gürtel aus goldenen Ringen um ihre Taille. Da betrat Dairaine das kleine, bereits überfüllte Spitzzelt, in dem sie alle schliefen. Draußen würde sich der Himmel langsam warzen Haar, das ihr in Locken bis zur Taille reichte, gähnte und runzelte gleichzeitig die Stirn. Sie hatte die erste Stellung direkt unter dem Hohen Herrn ihres Hauses in Cairhien eingenommen, aber sie war mitten in der Nacht geweckt worden, weil Sevanna nicht schlafen konnte und vorgelesen haben wollte. Sevanna hörte gern Dairaines Stimme, vermutlich genauso gern wie ihre Geschichten über die angeblichen Untaten der anderen Gai'schain. Die Cairhienerin gehörte nie zu denen, die Sevanna verärgert hatten. Ihre Hände griffen nach dem goldenen Kragen, zögerten aber, als ihr bewusst wurde, dass Faile, Alliandre und Maighdin bereits angezogen und auf den Beinen waren.

»Ich habe vergessen, das Buch zurück an seinen richtigen Platz zu legen«, sagte sie mit ihrer melodischen Stimme und wandte sich zu der Zeltplane um. »Sevanna wird mich schlagen lassen, wenn sie beim Aufwachen sieht, dass es nicht dort ist.«

»Sie lügt«, knurrte Maighdin, und Dairaine schoss nach draußen.

Das reichte, um Faile zu überzeugen. Sie griff nach der Kapuze der Frau und riss sie zurück ins Zelt. Dairaine öffnete den Mund, um zu schreien, aber Alliandre hielt ihn ihr zu, und zu dritt rangen sie die Frau auf die mit Wolldecken übersäte Bodenplane. Dazu waren alle drei nötig. Dairaine war klein, aber sie wand sich wie eine Schlange, versuchte zu kratzen und zu beißen. Während die anderen beiden die Frau am Boden hielten, holte Faile das zweite Messer hervor, das sie sich hatte besorgen können, einen brauchbaren Dolch mit einem geriffelten Stahlgriff und einer mehr als handlangen Klinge, und fing an, von einer der Decken Streifen abzuschneiden.

»Wie habt Ihr das gewusst?«, fragte Alliandre und kämpfte weiter darum, einen von Dairaines Armen festzuhalten, während sie gleichzeitig ihren Mund zuhielt, ohne dabei gebissen zu werden. Maighdin hatte sich um die Beine der Frau gekümmert, indem sie sich daraufgesetzt hatte, und hielt ihren anderen Arm bis zu den Schulterblättern hochgedreht. Dairaine konnte sich trotzdem noch immer winden, auch wenn es sinnlos war.

»Sie hat die Stirn gerunzelt, aber als sie sprach, wurde ihr Gesicht ganz glatt. Ich konnte es zufällig sehen. Hätte sie sich wirklich Sorgen wegen Prügel gemacht, hätte sie stärker mit der Stirn gerunzelt und nicht damit aufgehört.« Die blonde Frau war keine besonders gute Zofe, aber zumindest eine aufmerksame.

»Aber was hat sie Verdacht schöpfen lassen?«

Maighdin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat eine von uns überrascht oder schuldig ausgesehen. Auch wenn ich keine Ahnung habe, wie sie das ohne Licht sehen konnte.«

Kurze Zeit später hatten sie Dairaine ordentlich vers chnürt, Knöchel und Handgelenke hinter dem Rücken zusammengebunden. Auf diese Weise würde sie nicht kriechen können. Ein zusammengeknülltes Stück Stoff von ihrem Unterhemd, das von einem weiteren Stück Wolldecke an Ort und Stelle gehalten wurde, diente als Knebel, mit dem sie nur ein paar Grunzlaute ausstoßen konnte. Sie verdrehte den Kopf, um böse zu ihnen hochzustarren. Faile konnte ihr Gesicht nicht gut sehen, aber ihr Gesichtsausdruck konnte nur böse oder flehend sein, und Dairaine flehte nur bei den Shaido. Sie nutzte ihre Position als eine von Sevannas Gai'schain aus, um andere Gai'schain einzuschüchtern, und mit ihren Geschichten schüchterte sie ihresgleichen ein. Das Problem war nur, sie konnten sie nicht hier lassen. Jeden Augenblick konnte jemand kommen, um eine von ihnen zum Dienst bei Sevanna zu rufen.

»Wir können sie töten und die Leiche verstecken«, schlug Alliandre vor und strich sich das lange Haar zurecht. Der Kampf hatte es durcheinander gebracht.

»Wo?«, fragte Maighdin und kämmte sich ihr sonnengoldenes Haar mit den Fingern. Sie klang nicht im mindesten wie eine Dienerin, die mit einer Königin sprach. Gefangene waren in ihrer Gefangenschaft alle gleich, oder sie machten es ihren Wärtern einfacher. Es hatte Zeit gebraucht, bis Alliandre das begriffen hatte. »Es muss eine Stelle sein, an der man sie mindestens einen Tag lang nicht findet. Sevanna könnte Galina Männer hinterherschicken, um uns zurückzuholen, wenn man uns verdächtigt, eines ihrer Besitztümer getötet zu haben.« Sie belegte das Wort mit der ganzen Verachtung, zu der sie fähig war. »Und ich vertraue Galina nicht so weit, dass sie sie daran hindern würde, uns zurückzubringen.« Dairaine fing erneut an, gegen ihre Fesseln zu kämpfen, und grunzte noch lauter als zuvor. Vielleicht hatte sie sich doch zum Betteln entschlossen.

»Wir werden sie nicht töten«, sagte Faile. Sie war weder zimperlich noch gnädig. Aber es gab einfach keinen Ort, von dem man mit Sicherheit ausgehen konnte, dass dort eine Leiche lange genug verborgen bleiben würde, jedenfalls keinen, den sie ohne gesehen zu werden erreichen konnten. »Ich fürchte, unsere Pläne haben sich etwas geändert. Wartet hier.«

Sie duckte sich hinaus, wo der Himmel langsam heller wurde, und fand heraus, was Dairaines Misstrauen erregt hatte. Bain und Chiad waren wie erwartet in ihren weißen Gewändern da, um sie bis zum Treffpunkt zu eskortieren.

Rolan und seine Freunde waren vermutlich noch nicht mit dem Frühstück fertig — sie hoffte es aus ganzem Herzen; möglicherweise taten sie etwas Dummes und ruinierten alles — und Bain und Chiad hatten sich freiwillig gemeldet, Männer abzulenken, die sich möglicherweise an sie heranmachen würden. Faile hatte sich nicht zu der Frage überwinden können, wie sie das machen wollten. Manche Opfer verdienten einen Schleier des Stillschweigens. Und Dankbarkeit aus tiefstem Herzen. Zwei Gai'schain mit Weidenkörben hätten nicht gereicht, um die Cairhienerin Verdacht schöpfen zu lassen, aber dreißig oder vierzig Gai'schain schon, die sich auf dem schmalen lehmigen Weg zwischen den Zelten drängten. Aravines derbes Gesicht schaute aus der weißen Kapuze, genau wie Lusaras schönes. Alvon war mit seinem Sohn Theril da, und Dormin, ein stämmiger cairhienischer Schuster, und Corvila, ein schlanker Weber aus Altara, und… Sie repräsentierten nicht einmal ein Zehntel der Leute, die ihr die Treue geschworen hatten, aber eine so große Versammlung von Gai'schain hätte einen Stein misstrauisch werden lassen. Jedenfalls wenn man hinzuzählte, dass sie drei schon angezogen gewesen waren. Vermutlich hatte Dairaine mitbekommen, wer Sevanna heute Morgen dienen musste. Wie hatten sie alle erfahren, dass sie heute ging? Es war zu spät, sich darüber noch Sorgen zu machen. Hätten die Shaido Bescheid gewusst, hätte man sie alle schon längst aus den Zelten gezerrt.

»Was macht ihr hier?«, wollte sie wissen.

»Wir wollten Euch gehen sehen, meine Lady«, sagte Theril mit seinem groben, fast unverständlichen Akzent. »Wir sind sehr vorsichtig gewesen, nur allein oder zu zweit gegangen.« Lusara nickte fröhlich, und sie war nicht die Einzige.

»Nun, wir können uns jetzt verabschieden«, sagte Faile fest. Unnötig, ihnen zu sagen, dass sie um ein Haar die Flucht zunichte gemacht hatten. »Bis ich für euch zurückkomme.« Wenn ihr Vater ihr kein Heer zur Verfügung stellte, dann eben Perrin. Seine Freundschaft mit Rand al'Thor würde dafür sorgen. Beim Licht, wo blieb er bloß? Nein! Sie musste froh sein, dass er sie noch nicht gefunden hatte, dass er sich nicht bei dem Versuch, sich in das Lager zu schleichen und sie zu befreien, umgebracht hatte. Sie musste froh sein und nicht daran denken, was ihn möglicherweise aufhielt. »Und jetzt geht, bevor euch jemand hier sieht und losläuft, um Geschichten zu erzählen. Und zu niemandem auch nur ein Wort!« Ihre Gefolgsleute waren sicher, sonst hätte man sie schon längst in Ketten gelegt, aber es gab unter den Gai'schain zu viele wie Dairaine, und nicht nur unter den schon in Gefangenschaft befindlichen Cairhienern. Manche Leute leckten immer Handgelenke, wo auch immer sie waren.

Sie verneigten sich oder machten einen Knicks und führten die Knöchel zur Stirn, als könnte niemand den Kopf aus dem Zelt stecken und das sehen, und verteilten sich mit gekränkten Mienen in alle Richtungen. Sie hatten allen Ernstes erwartet, ihrem Aufbruch zusehen zu können! Also sie hatte jetzt wirklich keine Zeit, sich über so etwas aufzuregen. Sie eilte zu Bain und Chiad und erklärte schnell die Situation im Zelt.

Als sie geendet hatte, wechselten die beiden Blicke und stellten die Körbe ab, um die Hände frei für die Zeichensprache der Töchter zu haben. Faile vermied es, ihnen auf die Finger zu sehen, da sie offensichtlich Privatsphäre wollten. Außerdem hätte sie ihnen sowieso nicht folgen können. Ihre Hände bewegten sich sehr schnell. Die rothaarige Bain mit ihren dunkelblauen Augen überragte sie fast um eine halbe Handspanne, die grauäugige Chiad war nur einen Fingerbreit größer. Sie waren eng befreundet, aber die beiden hatten einander als Erstschwestern adoptiert, und das schuf eine Verbindung, die näher als jede Freundschaft war.

»Wir kümmern uns um Dairaine Saighan«, sagte Chiad schließlich. »Aber das bedeutet, dass du allein in die Stadt musst.«

Faile seufzte, aber es war nicht zu ändern. Vielleicht war Rolan ja bereits wach. Er konnte sie in diesem Augenblick beobachten. Er schien immer aus dem Nichts zu erscheinen, wenn sie ihn brauchte. Sicherlich würde er nichts dagegen unternehmen, wenn sie ging, nicht wenn er versprochen hatte, sie mitzunehmen, sollte er aufbrechen. Doch so lange sie das Weiß trug, machte er sich noch Hoffnungen. Er und seine Kussspiele! Möglicherweise wollte er sie ja noch länger in ihrem Gai'sc/zairc-Gewand sehen. Wenn Männer helfen wollten, glaubten sie immer, dass nur ihre Weise die richtige war.

Bain und Chiad duckten sich in das kleine Spitzzelt, und Alliandre und Maighdin kamen heraus. Dort drinnen war wirklich kein Platz für fünf Personen. Maighdin ging um das Zelt herum und kam mit einem Korb wie dem zurück, den die beiden anderen Frauen getragen hatten. Aus jedem von ihnen quollen schmutzige Gai'sc/iain-Gewänder, was den Eindruck von schmutziger Wäsche erweckte, aber darunter befand sich Kleidung, die fast passte, ein Beil, eine Schleuder, Schnur für Fallen, Feuerstein und Stahl, Mehl, Fleisch, getrocknete Bohnen, Salz und Hefe, ein paar Münzen, die sie hatten finden können, eben alles, was sie für den Weg nach Westen zu Perrin brauchen würden. Galina würde sie aus dem Lager bringen, aber man konnte unmöglich wissen, wohin sie ihre Aes-Sedai-Angelegenheiten führen würden. Sie mussten von Anfang an unabhängig sein. Faile hielt die Aes Sedai durchaus dazu fähig, sie bei der ersten Gelegenheit im Stich zu lassen.

Maighdin stand entschlossen über ihrem Korb, das Kinn nach vorn geschoben und in den Augen einen sturen Ausdruck, aber Alliandre strahlte übers ganze Gesicht.

»Versucht, nicht zu glücklich auszusehen«, sagte Faile zu ihr. Feuchtländer-Gai'schairc lächelten nur selten, und niemals so fröhlich.

Alliandre versuchte es, aber jedes Mal, wenn sie das Lächeln unterdrückt hatte, schlich es sich zurück. »Wir flüchten heute«, sagte sie. »Es fällt schwer, nicht zu lächeln.«

»Ihr werdet schon damit aufhören, wenn Euch eine Weise Frau sieht und herausfinden will, warum Ihr glücklich seid.«

»Wir werden kaum eine Weise Frau bei den Gai'schain-Zelten oder in Maiden finden«, sagte die Frau und lächelte. Entschlossen oder nicht, Maighdin nickte.

Faile gab es auf. Ehrlich gesagt verspürte sie selbst trotz Daigian so etwas wie Ubermut. Heute war der Tag der Flucht.

Bain kam aus dem Zelt, hielt den Eingang für Chiad zurück, die ein in Decken gehülltes Bündel auf dem Rücken trug, das gerade groß genug war, um eine kleine, gekrümmte Frau sein zu können. Chiad war stark, aber sie musste sich etwas nach vorn beugen, um das Gewicht besser zu verteilen.

»Warum ist sie so still?«, fragte Faile. Sie hegte nicht die Befürchtung, dass sie Dairaine getötet hatten. Sie folgten eisern den Regeln der Gai'schain, und Gewalt war verboten. Aber die Decke hätte genauso gut voller Holz sein können, so reglos war sie.

Bain sprach leise, ein amüsiertes Funkeln in den Augen.

»Ich habe ihr übers Haar gestreichelt und ihr gesagt, dass es mich sehr aufbringen würde, wenn ich ihr wehtun müsste. Die schlichte Wahrheit, wenn man bedenkt, wie viel toh es mich kosten würde, wenn ich sie bloß schlagen würde.« Chiad kicherte. »Ich glaube, Dairaine Saighan dachte, wir würden ihr drohen. Ich glaube, sie wird sehr still sein, bis wir sie gehen lassen.« Sie schüttelte sich vor lautlosem Gelächter. Aiel-Humor war Faile noch immer so gut wie unverständlich. Aber ihr war klar, dass die beiden dafür später streng bestraft werden würden. Beihilfe bei einem Fluchtversuch war genauso schlimm wie ein Fluchtversuch selbst.

»Ich danke euch von ganzem Herzen«, sagte sie, »dir und Chiad, jetzt und für alle Zeiten. Ich habe ein großes toh.« Sie küsste Bain auf die Wange, was die Frau natürlich so rot werden ließ wie ihr Haar. Aiel waren in der Öffentlichkeit beinahe prüde zurückhaltend. Jedenfalls in gewissen Dingen.

Bain sah Chiad an, und ein schmales Lächeln trat auf ihre Lippen. »Wenn du Gaul siehst, dann sag ihm, dass Chiad die Gai'schain eines Mannes mit starken Händen ist, eines Mann es, dessen Herz aus Feuer ist. Er wird es verstehen. Ich muss ihr helfen, unsere Last an einen sicheren Ort zu bringen. Mögest du immer Wasser und Schatten finden, Faile Bashere.« Sie strich leicht mit den Fingerspitzen über Failes Wange. »Eines Tages werden wir uns wiedersehen.«

Sie ging zu Chiad hinüber und nahm das andere Ende der Decke, und sie eilten fort. Gaul mochte es verstehen, aber Faile konnte es nicht. Jedenfalls nicht das mit dem Herzen aus Feuer, und sie bezweifelte, dass Manderics Hände Chiad auch nur im mindesten interessierten. Der Mann stank aus dem Mund, und solange er nicht auf die Jagd oder einen Raubzug ging, fing er sofort nach dem Aufwachen an, sich zu betrinken. Aber sie verdrängte Gaul und Manderic aus ihren Gedanken und stemmte ihren Korb auf die Schulter. Sie hatten bereits zu viel Zeit verschwendet.

Der Himmel fing an, nach Tageslicht auszusehen, und Gai'schain bewegten sich zwischen den unterschiedlichen Zelten des Lagers in der Nähe von Maldens Mauern, eilten los, um eine Arbeit zu erledigen oder zumindest etwas zu tragen, um den Anschein zu erwecken, sie würden arbeiten, aber niemand schenkte drei Frauen in Weiß, die Wäschekörbe in Richtung der Stadttore trugen, auch nur die geringste Aufmerksamkeit. Anscheinend gab es immer Wäsche zu erledigen, selbst für Sevannas Gai'schain. Es gab viel zu viele Feuchtländer-Gaf'sc/zain, als dass Faile jeden hätte kennen können, und sie sah auch kein bekanntes Gesicht, bis sie Arrela und Lacile begegneten, die mit Körben auf den Schultern von einem Fuß auf den anderen traten. Arrela war größer als die meisten Aielfrauen und dunkelhäutig; sie trug das schwarze Haar so kurz wie jede der Töchter und ging wie ein Mann. Lacile war klein und blass und schlank und trug rote Schleifen im Haar, das nicht viel länger war. Sie bewegte sich in dem Gewand ausgesprochen anmutig; in Reithosen hatte ihr Hüftschwung sogar skandalös ausgesehen. Aber ihre erleichterten Seufzer waren beinahe identisch.

»Wir glaubten schon, etwas wäre passiert«, sagte Arrela.

»Nichts, mit dem wir nicht fertig geworden wären«, erwiderte Faile.

»Wo sind Bain und Chiad?«, fragte Lacile nervös.

»Sie haben eine andere Aufgabe«, sagte Faile. »Wir gehen allein.«

Sie tauschten einen Blick aus, und diesmal war ihr Seufzen alles andere als erleichtert. Natürlich würde sich Rolan nicht einmischen. Nicht bei ihrer Flucht. Natürlich nicht.

Die eisenbeschlagenen Tore von Maiden standen weit offen, bis zu den Granitmauern geschoben, wie seit dem Tag, an dem die Stadt gefallen war. Rost hatte die breiten Eisenbeschläge braun verfärbt, und die Angeln waren so verrostet, dass es vermutlich unmöglich war, die Tore je wieder zu schließen. Tauben nisteten jetzt in den grauen Steintürmen, die sie flankierten.

Sie waren die Ersten, die eintrafen. Jedenfalls konnte Faile niemanden voraus auf der Straße sehen. Als sie durch das Tor schritten, zog sie den Dolch aus der Ärmeltasche und hielt die Klinge gegen das Handgelenk gedrückt, die Spitze nach oben.

Die anderen beiden machten ähnliche Bewegungen, wenn auch nicht so energisch. Ohne Bain und Chiad und in der Hoffnung, dass Rolan und seine Freunde anderweitig beschäftigt waren, mussten sie selbst für ihren Schutz sorgen. Maiden war nicht für Frauen gefährlich — höchstens für Gai'schain-Frauen; Shaido, die ihresgleichen nachstellten, bekamen eine Abfuhr —, nicht so gefährlich wie das Shaido-Lager, aber es hatte hier schon Übergriffe auf Frauen gegeben, manchmal von Gruppen von Männern. Mochte das Licht dafür sorgen, dass sie nur von einem oder zweien angesprochen werden würden. Einen oder zwei Männer konnten sie überraschen und töten, bevor ihnen klar wurde, dass diese Gai'schain Zähne hatten. Sollten es mehr sein, würden sie tun, was in ihrer Macht stand, aber ein Aiel-Töpfer oder Weber war so gefährlich wie die meisten Waffenmänner. Trotz ihrer Körbe gingen sie wie auf Zehenspitzen, mit umherschweifenden Blicken, bereit, in jede Richtung zu springen.

Dieser Teil der Stadt war nicht niedergebrannt, aber er sah verlassen aus. Zerbrochenes Geschirr knirschte unter ihren weichen weißen Stiefeln. Noch immer lagen Kleiderfetzen auf dem Pflaster; man hatte sie Männer und Frauen vom Leib geschnitten, die man zu Gai'schain gemacht hatte. Die traurigen Fetzen hatten zuerst im Schnee und dann über einen Monat lang im Regen gelegen, und Faile bezweifelte, dass sie selbst ein Lumpensammler jetzt noch genommen hätte. Hier und da lag Kinderspielzeug, ein Holzpferd oder eine Puppe, deren Farbe abblätterte, fallen gelassen von den ganz Jungen, die hatten fliehen dürfen, genau wie die ganz Alten und Kranken und Versehrten. Schiefergedeckte Gebäude aus Holz oder Stein wiesen klaffende Löcher auf, wo Türen und Fenster gewesen waren. Die Stadt war zusammen mit allem, was die Shaido als nützlich betrachtet hatten, von jedem leicht entfernbaren Stück Holz befreit worden, und allein die Tatsache, dass Häuser abzureißen weniger effizient war, als in den umgebenden Wäldern Feuerholz zu schlagen, hatte die Gebäude gerettet. Diese Öffnungen erinnerten Faile an die Augenhöhlen von Totenschädeln. Sie war diese Straße zahllose Male entlanggegangen, aber an diesem Morgen hatte es den Anschein, als würden sie sie beobachten. Sie verschafften ihr eine Gänsehaut.

Nach dem halben Weg durch die Stadt schaute sie zurück zu den Toren, die sich nicht weiter als hundertfünfzig Schritte hinter ihnen befanden. Im Augenblick war die Straße noch immer leer, aber bald würden die ersten weiß gekleideten Männer und Frauen mit ihren Wassereimern auftauchen. Wasserholen war eine Arbeit, die früh begann und den ganzen Tag lang dauerte. Sie mussten sich jetzt beeilen. Faile bog in eine schmalere Seitenstraße ab und schritt schneller aus, auch wenn es schwierig war, den Korb in der Balance zu halten. Die anderen mussten das gleiche Problem haben, aber niemand beschwerte sich. Sie mussten aus der Sicht sein, bevor die Gai'schain kamen. Es gab keinen Grund für einen Gai'schain, die Hauptstraße zu verlassen, bevor er die Zisterne unterhalb der Festung erreichte. Der Versuch, einen Gefallen zu erbitten, oder auch nur ein achtloses Wort konnte die Shaido in die Stadt holen, die sie jagen würden, und es gab nur einen Weg nach draußen, solange man nicht auf die Mauer stieg und zehn Schritte in die Tiefe sprang und dabei hoffte, sich nicht das Bein zu brechen.

An einem mittlerweile schildlosen Gasthaus, drei Stockw erke Stein und leere Fenster, schoss Faile in den Gemeinschaftsraum, gefolgt von den anderen. Lacile stellte den Korb ab und drückte sich gegen den Türrahmen, um die Straße zu beobachten. Der Raum mit der hohen Holzdecke war bis auf die staubigen Bodendielen leer, und bei den Steinkaminen fehlten die Feuerböcke und die Feuergerätschaften. Eine Treppe im hinteren Teil des Raums hatte man ihres Geländers beraubt, und auch die Tür zur Küche war fort. Die Küche war genauso leer. Faile hatte es überprüft. Töpfe und Messer und Löffel waren nützlich. Sie stellte ihren Korb auf dem Boden ab und eilte zur Treppe. Es war eine solide Konstruktion, aus schwerem Holz und dazu geschaffen, Generationen zu halten. Sie abzureißen wäre genauso schwer gewesen wie das ganze Haus abzureißen. Faile tastete darunter, unter die breite Außenverkleidung, und ihre Hand schloss sich um den handgelenkdicken, nicht ganz glasigen Stab. Dieses Versteck war genauso gut erschienen wie alle anderen, die sie finden konnte, ein Ort, an dem niemand einen Grund hatte nachzusehen, aber sie war überrascht, als ihr klar wurde, dass sie die Luft angehalten hatte.

Lacile blieb an der Tür, aber die anderen eilten ohne ihre Körbe zu Faile.

»Endlich«, sagte Alliandre und berührte den Stab vorsichtig mit den Fingerspitzen. »Der Preis unserer Freiheit. Was ist das?«

»Ein Angreal«, sagte Faile, »vielleicht auch ein Ter'angreal. Ich weiß es nicht genau, nur dass Galina es verzweifelt haben will, also muss es das eine oder das andere sein.«

Maighdin legte unerschrocken die Hand auf den Stab. »Es könnte beides sein«, murmelte sie. »Sie fühlen sich oft seltsam an. Das hat man mir jedenfalls erzählt.« Sie behauptete, nie in der Weißen Burg gewesen zu sein, aber Faile war sich da nicht mehr so sicher. Maighdin konnte die Macht lenken, aber so schwach und mit solchen Problemen, dass die Weisen Frauen keine Gefahr darin sahen, sie unbehelligt gehen zu lassen. Nun, jedenfalls so unbehelligt, wie das für eine Gai'schain möglich war. Ihr Leugnen mochte auch nur aus Scham erfolgen. Faile hatte gehört, dass Frauen, die man aus der Burg fortgeschickt hatte, weil sie keine Aes Sedai werden konnten, manchmal leugneten, je dort gewesen zu sein, um ihr Versagen zu verschleiern.

Arrela schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Sie war Tairenerin, und obwohl sie mit Aes Sedai reiste, erfüllte sie alles, was mit der Macht zu tun hatte, mit Unbehagen. Sie sah den glatten weißen Stab an, als wäre es eine tote Natter, und befeuchtete sich die Lippen. »Galina könnte auf uns warten. Sie könnte ärgerlich werden, wenn wir sie zu lange warten lassen.«

»Ist der Weg noch immer frei, Lacile?«, fragte Faile, während sie den Stab tief unten in ihrem Korb versteckte. Arrela atmete hörbar aus, offensichtlich genauso erleichtert, das Ding nicht mehr sehen zu müssen, wie sie zuvor der Anblick Failes erleichtert hatte.

»Ja«, sagte die Cairhienerin, »aber ich verstehe nicht, warum das so ist.« Sie stand noch immer so, dass sie mit einem Auge am Rahmen vorbeisehen konnte. »Die ersten Gai'schain müssten mittlerweile zum Wasserholen da sein.«

»Vielleicht ist etwas im Lager passiert«, sagte Maighdin. Plötzlich trug ihr Gesicht einen grimmigen Ausdruck, und sie hielt ihr Messer mit Holzgriff und eingekerbter Klinge in der Hand.

Faile nickte langsam. Vielleicht hatte man Dairaine bereits gefunden. Sie konnte nicht verraten, wo Faile und die anderen hingegangen waren, aber möglicherweise hatten sie ein paar der wartenden Gai'schain erkannt. Wie lange würden sie durchhalten, wenn man sie der Befragung unterzog? Wie lange würde Alvon durchhalten, wenn man Theril folterte?

»Wir können nichts daran ändern. Galina wird uns hier rausschaffen.«

Trotzdem rannten sie, als sie das Gasthaus verließen, hielten die Körbe an die Körper gedrückt und versuchten gleichzeitig, die Gewänder hochzuhalten, um nicht zu stolpern. Faile war nicht die Einzige, die oft über die Schulter sah und stolperte. Sie vermochte nicht zu sagen, ob es sie erleichterte, als sie endlich Gai'schain mit Stangen auf den Schultern auf der Hauptstraße sah. Sie wurde nicht langsamer.

Sie mussten nicht mehr weit laufen. Wenige Augenblicke später wurde der Geruch nach verbranntem Holz stärker, der im Rest der Stadt bereits verblichen war. Das Südende von Maiden war eine Ruine. Sie blieben am Rand der Zerstörung stehen und schoben sich vorsichtig um eine Ecke, sodass sie keiner entdecken konnte, als sie die Straße entlangspähten. Die südliche Stadtmauer war fast zweihundert Schritte von ihrem Standort entfernt, dazwischen gab es nur Ruinen mit geschwärzten Steinmauern, aus denen hier und da verbrannte Balken herausragten, von denen der Regen die Asche abgewaschen hatte. An manchen Stellen war nicht einmal das härteste Holz übrig geblieben. Nur auf der Südseite der Straße gab es noch halbwegs intakte Gebäude. Hier hatten die Brände, die nach der Eroberung der Stadt durch die Shaido gewütet hatten, schließlich aufgehört. Ein halbes Dutzend Häuser hatte keine Dächer mehr, aber die unteren Stockwerke sahen unversehrt aus, während doppelt so viele schiefe Trümmerhaufen aus rußgeschwärzten Balken und halb verbrannten Bodenplanken dastanden, die kurz vor dem Einsturz zu stehen schienen.

»Da«, sagte Maighdin und zeigte nach Osten. Ein langes Stück roter Stoff flatterte in der Brise. Es war an ein Haus gebunden, das einsturzgefährdet aussah. Sie gingen langsam darauf zu und stellten ihre Körbe auf dem Kopfsteinpflaster ab. Das rote Tuch erhob sich wieder.

»Warum sollte sie uns hier treffen wollen?«, murmelte Alliandre. »Das könnte einstürzen, wenn jemand niest.« Sie rieb sich die Nase, als würde allein das Wort sie jucken lassen.

»Es ist stabil genug. Ich habe mich vergewissert.« Galinas Stimme hinter ihnen ließ Faile den Kopf herumreißen. Die Frau schritt auf sie zu, kam offensichtlich aus einem der unversehrten Häuser auf der Nordseite der Straße. Nachdem man sie so lange mit diesem Gürtel, dem goldenen Kragen und den Feuertropfen gesehen hatte, sah sie ohne irgendwie merkwürdig aus. Sie trug noch immer ihr weißes Seidengewand, aber der fehlende Schmuck war überzeugend. Galina hatte es nicht irgendwie geschafft, die Wahrheit zu verdrehen. Sie reiste heute ab.

»Warum nicht in einem der Häuser?«, wollte Faile wissen.

»Oder direkt hier?«

»Weil ich nicht will, dass ihn jemand in meinen Händen sieht«, sagte Galina und ging an ihr vorbei. »Weil niemand in diese Ruine hineinsehen wird. Weil ich es so sage.« Sie trat über das hinweg, was einst die Türschwelle gewesen war, duckte sich unter einem schweren, verkohlten Deckenbalken hindurch, der quer über dem Eingang lag, und wandte sich sofort nach rechts und stieg die Treppe nach unten hinunter. »Trödelt nicht.«

Faile wechselte einen Blick mit den anderen Frauen. Das entwickelte sich mehr als nur seltsam.

»Wenn sie uns hier rausschafft«, knurrte Alliandre und riss ihren Korb in die Höhe, »bin ich bereit, ihr das Ding auf dem Abort zu übergeben.« Trotzdem wartete sie, bis Faile ihren Korb nahm und vorausging.

Verkohlte Balken und geschwärzte Deckentäfelung hingen niedrig über der Steintreppe, aber Galinas unbeschwertes Eintreten beruhigte Faile. Die Frau würde es nicht riskieren, sich in dem Augenblick, in dem sie endlich den Stab bekam, lebendig begraben oder erschlagen zu lassen. Lichtstrahlen drangen durch Spalten in den Trümmern und sorgten für genug Helligkeit, um sehen zu können, dass der Keller trotz des trügerischen Erdgeschosses so gut wie unversehrt war.

Die großen Fässer an der einen Steinwand, die größtenteils angesengt waren und bei denen die Hitze die Dauben hatte herausspringen lassen, kündeten davon, dass hier eine Schenke oder ein Gasthaus gewesen war. Vielleicht auch der Laden eines Weinhändlers. Die Gegend um Maiden herum hatte viel mittelmäßigen Wein hervorgebracht.

In einem schmalen Lichtstrahl in der Mitte des geröllb edeckten Steinbodens blieb Galina stehen. Ihr Gesicht bot jetzt die personifizierte Aes-Sedai-Ruhe, die Aufregung des Vortages war völlig unterdrückt. »Wo ist er?«, fragte sie kühl. »Gebt ihn mir.«

Faile setzte ihren Korb ab und griff tief hinein. Als der weiße Stab zum Vorschein kam, zuckten Galinas Hände. Faile streckte ihr den Stab entgegen, und sie griff beinahe zögernd danach. Hätte Faile es nicht besser gewusst, hätte sie gesagt, sie würde sich davor fürchten, ihn zu berühren. Galinas Finger schlossen sich um den Stab, und sie atmete tief aus. Sie riss Faile den Stab förmlich aus den Fingern. Die Aes Sedai schien zu zittern, aber ihr Lächeln war… triumphierend.

»Wie wollt Ihr uns aus dem Lager schaffen?«, fragte Faile.

»Sollen wir uns jetzt umziehen?«

Galina wollte etwas sagen, dann hob sie plötzlich die freie Hand. Ihr Kopf neigte sich der Treppe zu, als würde sie lauschen. »Vermutlich ist es nichts«, sagte sie leise, »aber ich sollte besser nachsehen. Wartet hier und seid leise.« Faile wollte etwas sagen, und sie zischte: »Still.« Die Aes Sedai hob den Saum ihres Seidengewands, eilte zu den Stufen und schlich sich wie eine Frau nach oben, die sich vor dem fürchtete, was sie oben möglicherweise entdeckte. Ihre Füße verschwanden hinter den sich durchbiegenden Deckenbrettern und losen Balken aus der Sicht.

»Hat eine von euch etwas gehört?«, flüsterte Faile. Alle schüttelten den Kopf. »Vielleicht hält sie die Macht. Ich habe gehört, dass das die Sinne…«

»Das hat sie nicht«, unterbrach Maighdin. »Ich habe nie gesehen, dass sie die Macht…«

Plötzlich ächzte das Holz über ihren Köpfen, die verbrannten Balken und Bretter zersplitterten, schickten die sichtverhüllenden schwarzen Staub und Mörtelschwaden in die Tiefe, die Faile würgend husten ließen. Auf einmal lag der Brandgeruch so dicht in der Luft wie an dem Tag, an dem Maiden in Flammen gestanden hatte. Etwas fiel aus der Höhe herab und landete hart auf ihrer Schulter, und sie duckte sich zusammen, versuchte den Kopf zu schützen. Jemand schrie auf. Andere herabstürzende Objekte trafen den Kellerboden, ganze Deckendielen oder Dielenstücke. Nichts machte genug Lärm, um ein Dachbalken oder ein schwerer Deckenträger sein zu können.

Schließlich hörte der Trümmerregen auf — er war wie Stunden erschienen, aber er konnte nur Minuten gedauert haben. Der Staub wurde weniger. Schnell sah sie sich nach ihren Gefährtinnen um und fand sie alle auf dem Boden kauernd vor, mit den Armen die Köpfe schützend. Es schien jetzt mehr Licht als zuvor da zu sein. Ein wenig mehr. Einige der Lücken in der Höhe waren jetzt breiter. Ein schmaler Blutstrom rann Alliandre vom Kopf das Gesicht herunter. Jeder war von Kopf bis Fuß mit schwarzem Staub gepudert.

»Ist jemand verletzt?«, fragte Faile und endete mit einem Husten. Der Staub hatte sich noch nicht völlig gesetzt, und ihre Kehle und ihr Mund fühlten sich an, als wären sie mit einer Schicht davon überzogen. Das Zeug schmeckte wie Holzkohle.

»Nein«, sagte Alliandre und berührte vorsichtig ihren Kopf. »Ein Kratzer, das ist alles.« Auch die anderen waren angeblich unverletzt, obwohl Arrela den rechten Arm nur vorsichtig zu bewegen schien. Zweifellos hatten alle blaue Flecken davongetragen, und Faile vermutete, dass ihre linke Schulter bald schwarz und blau sein würde, aber das zählte nicht als richtige Verletzung.

Dann fiel ihr Blick auf die Treppe, und sie hätte heulen können. Wo vorhin noch die Stufen gewesen waren, füllten nun Trümmer den ganzen Platz aus. Möglicherweise hätten sie sich durch eine der Spalten in der Decke quetschen können. Faile glaubte, sie erreichen zu können, wenn sie sich auf Arrelas Schulter stellte, aber sie bezweifelte, sich mit nur einem guten Arm nach oben ziehen zu können. Oder dass Arrela es schaffen würde. Und selbst wenn eine von ihnen es schaffte, würde sie mitten in einer ausgebrannten Ruine stehen und den Rest des Hauses vermutlich auch noch zum Einsturz bringen.

»Nein!«, stöhnte Alliandre. »Nicht jetzt! Nicht, wenn wir so nahe dran waren!« Sie erhob sich, eilte so dicht an die Trümmer heran, wie sie nur konnte, drückte sich fast gegen sie, und fing an zu rufen. »Galina! Helft uns! Wir sitzen hier fest! Lenkt die Macht und hebt die Balken weg! Räumt uns einen Weg frei, damit wir herauskönnen! Galina! Galina! Galina!« Sie sackte mit bebenden Schultern gegen das Balkengewirr. »Galina«, schluchzte sie. »Galina, helft uns.«

»Galina ist fort«, sagte Faile bitter. Die Frau hätte geantw ortet, stände sie noch immer da oben oder hätte die Absicht, ihnen zu helfen. »Da wir hier unten gefangen oder möglicherweise tot sind, hat sie die perfekte Entschuldigung, uns zurückzulassen. Davon abgesehen weiß ich gar nicht, ob eine Aes Sedai diese Trümmer überhaupt allein bewegen könnte.« Sie wollte nicht die Möglichkeit erwähnen, dass Galina diese Entschuldigung selbst arrangiert hatte. Beim Licht, sie hätte diese Frau niemals schlagen dürfen. Aber jetzt war es zu spät für Selbstvorwürfe.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Arrela.

»Uns den Weg freigraben«, sagten Faile und Maighdin gleichzeitig. Faile sah die andere Frau überrascht an. Das schmutzige Gesicht ihrer Dienerin trug die Entschlossenheit einer Königin.

»Ja«, sagte Alliandre und richtete sich wieder auf. Sie drehte sich um, und auch wenn sich Tränenbahnen durch den Staub auf ihrem Gesicht gruben, kamen doch keine frischen Tränen mehr. Sie war wirklich eine Königin, und es konnte ihr nicht gefallen, durch den Mut einer Dienerin beschämt zu werden. »Wir graben uns allein aus. Und wenn wir es nicht schaffen… Wenn wir es nicht schaffen, werde ich nicht hiermit sterben!« Sie nahm den goldenen Gürtel ab und schleuderte ihn verächtlich in eine Kellerecke. Der goldene Kragen folgte ihm.

»Wir brauchen sie, um durch das Shaido-Lager zu komm en«, sagte Faile sanft. »Galina bringt uns vermutlich nicht aus dem Lager, aber ich habe vor, heute zu verschwinden.« Dairaine machte das unumgänglich. Bain und Chiad konnten sie nicht lange verstecken. »Jedenfalls sobald wir uns ausgegraben haben. Wir behaupten, zum Beerenpflücken losgeschickt worden zu sein.« Dennoch wollte sie die mutige Geste ihrer Lehnsfrau nicht herabwürdigen. »Aber wir brauchen sie jetzt nicht zu tragen.« Sie nahm Gürtel und Kragen ab, rückte den Korb zurecht und legte sie auf die schmutzigen Gai'schain-Gewänder. Die anderen taten es ihr nach. Alliandre holte ihren Gürtel und Kragen mit einem reuevollen Lachen zurück. Immerhin konnte sie wenigstens wieder lachen. Faile wünschte sich, sie hätte es auch gekonnt.

Das Chaos aus verkohlten Balken und zur Hälfte verbrannten Dielen, das die Treppe füllte, ähnelte einem der Geschicklichkeitsspiele, die ihr Perrin so sehr liebte. Fast alles schien etwas anderes zu stützen. Und was noch schlimmer war, die schwereren Balken lagen möglicherweise jenseits ihrer gemeinsamen Kräfte. Aber wenn sie genug wegräumen konnten, dass sie sich an den dicken Balken vorbeiwinden konnten… Das würde gefährlich sein. Aber wenn ein gefährlicher Pfad der einzige Weg in die Sicherheit war, dann musste man ihn nehmen.

Ein paar Dielen lösten sich leicht und wurden weiter hinten aufgestapelt, aber danach mussten sie jedes Holzstück mit Sorgfalt auswählen, mussten es untersuchen, um zu sehen, ob etwas nachrutschen würde; sollten sie es entfernen, mussten sie so weit in die Trümmer hineintasten, wie es ging, nach Nägeln tasten, die möglicherweise hängen blieben, durften nicht daran denken, dass der ganze Berg in sich zusammenfall en und einen Arm einklemmen und zerquetschen konnte. Erst dann konnten sie mit dem Herausziehen beginnen, manchmal zu zweit, zogen immer stärker, bis das Holz plötzlich nachgab. Die Arbeit ging nur langsam voran, und die Masse ächzte gelegentlich oder verlagerte sich etwas. Wenn das geschah, schössen alle zurück, hielten den Atem an. Niemand bewegte sich, bis sie sicher waren, dass das ineinander verkantete Holz nicht zusammenbrechen würde. Die Arbeit wurde zum Mittelpunkt ihrer Welt. Einmal glaubte Faile Wolfsgeheul zu hören. Wölfe ließen sie immer an Perrin denken, aber diesmal nicht. Diesmal gab es nur die Arbeit.

Dann riss Alliandre ein verbranntes Dielenbrett frei, und alles verlagerte sich mit einem lauten Ächzen. Auf sie zu. Jeder rannte auf den hinteren Teil des Kellers zu, während die Trümmer mit einem ohrenbetäubenden Krachen in sich zusammenfielen und weitere Staubwolken emporwallten.

Als sie aufhörten zu husten und wieder sehen konnten, jedenfalls etwas, da der Staub noch immer dicht in der Luft hing, war etwa ein Viertel des Kellers mit Trümmern gefüllt. Ihre ganze Arbeit war zunichte gemacht worden, und was noch schlimmer war, die Trümmermasse beugte sich ihnen bedrohlich entgegen. Sie ächzte, sackte noch ein Stück in ihre Richtung und kam zur Ruhe. Alles daran verkündete, dass die Trümmer bei der ersten gezogenen Diele auf sie herabregnen würden. Arrela fing leise an zu weinen. Quälend lockende Lücken ließen Sonnenlicht herein und gestatteten ihnen den Blick auf die Straße und den Himmel, aber keine war groß genug, um hindurchkriechen zu können, nicht einmal für Lacile. Faile konnte das rote Tuch sehen, mit dem Galina das Haus markiert hatte. Es flatterte einen Augenblick lang im Wind.

Sie starrte das Tuch an und ergriff Maighdins Schulter.

»Ich will, dass Ihr versucht, das Tuch etwas machen zu lassen, das der Wind nicht schaffen kann.«

»Ihr wollt die Aufmerksamkeit auf uns lenken?«, sagte Alliandre heiser. »Das dürften doch wohl zuerst Shaido sein.«

»Besser, als hier unten zu verdursten«, erwiderte Faile gröber als beabsichtigt. Wenn das geschah, würde sie Perrin niemals wiedersehen. Wenn Sevanna sie in Ketten legen ließ, würde sie immerhin noch am Leben sein, und er konnte sie retten. Er würde sie retten; das wusste sie. Ihre Pflicht bestand nun darin, die Frauen, die ihr folgten, am Leben zu halten. Und wenn das Gefangenschaft bedeutete, dann sollte es eben so sein. »Maighdin?«

»Ich könnte den ganzen Tag versuchen, die Quelle zu umarmen, und es nie schaffen«, sagte die blonde Frau dumpf. Sie stand mit hängenden Schultern da, starrte ins Leere. Ihrer Miene war abzulesen, dass sie zu ihren Füßen nur einen Abgrund sah. »Wenn ich es schaffe, sie zu umarmen, kann ich fast nie etwas weben.«

Faile ließ Maighdin los und strich ihr stattdessen über das Haar. »Ich weiß, dass es schwierig ist«, sagte sie beruhigend.

»Nun, eigentlich weiß ich es nicht. Ich habe das nie getan. Aber Ihr schon. Und Ihr könnt es wieder schaffen. Unser Leben hängt von Euch ab, Maighdin. Ich kenne die Kraft, die Ihr habt. Ich habe sie immer wieder gesehen. Ihr gebt niemals auf. Ich weiß, dass Ihr es schaffen könnt, und Ihr wisst das auch.«

Maighdin richtete sich langsam auf, die Verzweiflung vers chwand aus ihrem Gesicht. Möglicherweise sah sie noch immer den Abgrund, aber wenn sie schon hineinstürzte, würde sie es ohne eine Miene zu verziehen tun. »Ich versuche es«, sagte sie.

Sie starrte eine lange Weile zu dem Tuch hoch, dann schüttelte sie deprimiert den Kopf. »Die Quelle ist da, als wäre sie die Sonne, die man aus dem Augenwinkel sieht«, flüsterte sie, »aber jedes Mal, wenn ich versuche, sie zu umarmen, ist das wie der Versuch, Rauch mit den Fingern fangen zu wollen.«

Faile zog schnell die Gafsc/iam-Gewänder aus ihrem Korb und einem anderen, und es war ihr egal, dass der Goldgürtel und der Kragen zu Boden fielen. »Setzt Euch«, sagte sie und legte die Gewänder übereinander. »Macht es Euch bequem. Ich weiß, dass Ihr es schaffen könnt, Maighdin.« Sie drückte die Dienerin nach unten, dann setzte sie sich mit überkreuzten Beinen neben sie.

»Ihr könnt es schaffen«, sagte Alliandre leise und setzte sich auf Maighdins andere Seite.

»Ja, Ihr könnt es«, flüsterte Lacile und gesellte sich zu ihnen.

»Ich weiß, dass Ihr es könnt«, sagte Arrela, als sie sich setzte. Zeit verging; Maighdin starrte das Tuch an. Faile flüsterte ihr aufmunternd zu und klammerte sich an der Hoffnung fest. Plötzlich wurde das Tuch ganz steif, als hätte es jemand straff gezogen. Ein erstauntes Lächeln erschien auf Maighdins Gesicht, als das Tuch wie ein Pendel hin und herschwang. Es pendelte sieben, acht Mal. Dann flatterte es wieder im Wind und fiel schlaff herunter.

»Das war wunderbar«, sagte Faile.

»Wunderbar«, sagte Alliandre. »Ihr werdet uns retten, Maighdin.«

»Ja«, murmelte Arrela, »Ihr werdet uns retten, Maighdin.«

Es gab viele verschiedene Arten von Kampf. Sie saßen auf dem Boden, flüsterten Ermunterungen, Maighdin kämpfte darum, das zu finden, was sie selten finden konnte; sie kämpften um ihr Leben, während das Tuch pendelte, dem Wind zum Opfer fiel, flatterte und schlaff nach unten sackte. Aber sie kämpften weiter.

Galina hielt den Kopf gesenkt und zwang sich dazu, nicht zu laufen, während sie sich einen Weg aus Maiden heraus suchte, vorbei an den Strömen weiß gekleideter Männer und Frauen, die leere Eimer in die Stadt trugen und volle wieder hinaus. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erregen, nicht ohne den verfluchten Gürtel und Kragen. Sie hatte sie angelegt, als sie sich nachts, während Therava noch schlief, angekleidet hatte, aber es war eine solche Freude gewesen, sie wieder abzunehmen und bei der Kleidung und den anderen Dingen zu verbergen, die sie für ihre Flucht versteckt hatte, dass sie nicht hatte widerstehen können. Außerdem würde Therava ärgerlich gewesen sein, als sie sie beim Aufwachen vermisst hatte. Sie würde befohlen haben, nach ihrer »kleinen Lina« Ausschau zu halten, und jeder erkannte sie an diesem Schmuck. Nun, er würde helfen, ihre Rückkehr in die Burg zu finanzieren, die Rückkehr an den Ort, an den sie gehörte. Diese arrogante Faile und die anderen Närrinnen waren tot oder würden es bald sein, und sie war frei. Sie strich über den Stab, der in ihrem Ärmel verborgen war, und erbebte vor Entzücken. Frei!

Sie hasste es, Therava am Leben lassen zu müssen, aber hätte jemand das Zelt betreten und sie mit einem Messer im Herzen vorgefunden, wäre sie die erste Verdächtige gewesen. Davon abgesehen… In ihrem Kopf stiegen Bilder auf, wie sie sich verstohlen über die schlafende Therava beugte, das Gürtelmesser der Frau in der Hand, wie Theravas Augen sich weiteten, ihren Blick in der Dunkelheit erwiderten, wie sie aufschrie, sich ihre Hand wie gelähmt öffnete, um das Messer fallen zu lassen, wie sie bettelte, wie Therava… Nein! Nein! So wäre es nicht abgelaufen. Mit Sicherheit nicht! Sie hatte Therava aus reiner Notwendigkeit am Leben gelassen, nicht weil sie… Nicht aus irgendwelchen anderen Gründen.

Plötzlich heulten Wölfe, aus allen Richtungen, ein Dutzend oder mehr. Ihre Füße blieben aus eigenem Antrieb stehen. Eine bunt zusammengewürfelte Sammlung aus Zelten umgab sie, eingezäunte Zelte, Spitzzelte, niedrige Aielzelte. Sie war direkt durch den Gai'schain-Tei\ des Lagers marschiert, ohne es zu bemerken. Ihr Blick hob sich zu dem Hügelkamm westlich von Maiden, und sie zuckte zusammen. Dichter Nebel hüllte seine ganze Länge ein, verbarg die Bäume, so weit sie in jede Richtung sehen konnte. Die Stadtmauer verbarg den Hügel im Osten, aber sie war davon überzeugt, dass auch dort dichter Nebel wogen würde. Der Mann war eingetroffen! Beim großen Herrn, sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Nun, er würde seine dämliche Frau nicht finden, selbst wenn es ihm gelang, das zu überleben, was auch immer er vorhatte, genauso wenig, wie er Galina Casban finden würde.

Sie dankte dem Großen Herrn, dass Therava ihr nicht verboten hatte auszureiten — die Frau hatte sie lieber mit der möglichen Erlaubnis geködert, solange sie nur genügend vor ihr kroch — und eilte auf ihr Versteck zu. Sollten die Narren, die hier sterben wollten, doch sterben. Sie war frei. Frei!

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