30 Vor den Toren

Faile bemühte sich anhand der schrägen Lichtstrahlen, die durch die Löcher des zerstörten Hauses fielen, die Zeit zu schätzen, aber es schien noch kurz vor Mittag zu sein. Bis jetzt war nur eine kleine Stelle ganz oben auf der Kellertreppe frei geräumt. Jede von ihnen wäre daran vorbeigekommen, hätte sie es gewagt, über den schiefen Haufen geschwärzter Trümmer nach oben zu klettern, aber der sah noch immer aus, als könnte er jeden Augenblick in die Tiefe poltern. Gelegentlich ächzte er bedrohlich. Das einzig Gute an ihm war, dass er noch nicht angefangen hatte, ihnen auf den Kopf zu fallen. Wie lange das so bleiben würde, war eine andere Frage. Seit einiger Zeit hatte Faile Donnerschläge gehört, sogar ziemlich viele, und sie kamen langsam näher. Sie ertönten beinahe ununterbrochen. Ein so starker Sturm reichte womöglich aus, um das Haus endgültig einstürzen zu lassen. Beim Licht, war sie durstig.

Plötzlich erschien Rolan in der Öffnung und legte sich auf den steinernen Treppenabsatz. Er hatte das Geschirr mit seinem Bogenfutteral abgelegt. Behutsam schob er sich auf die Trümmer. Der Haufen ächzte leise unter seinem Gewicht. Kinhuin, ein Mann mit grünen Augen, der eine gute Handspanne kürzer als er war, kniete nieder, um seine Knöchel zu ergreifen. Anscheinend waren da oben nur drei der Bruderlosen, aber das waren drei zu viel.

Kopf und Schultern über den Rand der Trümmer geschoben, senkte Rolan einen Arm. »Wir haben keine Zeit mehr, Faile Bashere. Nimm meine Hand.«

»Zuerst Maighdin«, sagte Faile mit belegter Stimme und wischte die zaghaften Proteste der blonden Frau fort. Beim Licht, ihr Mund war voller Mörtelstaub und zu trocken, um ihn auszuspucken. »Dann Arrela und Lacile. Ich gehe als Letzte.« Alliandre nickte beipflichtend, aber auch Arrela und Lacile wollten protestieren. »Seid still und tut, was ich euch sage«, rief sie energisch. Ununterbrochen donnerte es. Der Sturm, der so viel Donner produzierte, würde eine Überschwemmung bringen, nicht bloß einen Regenschauer.

Rolan lachte. Wie konnte er in so einem Augenblick lachen? Er hörte erst auf, als das verkohlte Holz unter ihm durch seine Bewegungen erneut ächzte. »Du trägst noch immer Weiß, Frau. Also sei still und tu, was ich dir sage.« Da lag ein Hauch von Spott in seiner Stimme, aber der war verschwunden, als er hinzufügte: »Hier wird keine vor dir rausgeholt.« Das klang wie ein Stück Eisen.

»Meine Lady«, sagte Alliandre leise und heiser. »Ich glaube, er meint es wirklich ernst. Ich schicke die anderen in der Reihenfolge raus, die Ihr festgelegt habt.«

»Hör auf zu schmollen und gibt mir deine Hand«, befahl Rolan.

Sie schmollte nicht! Dieser Mann konnte genauso unverschämt stur wie Perrin sein. Nur, bei Perrin war das interessant und nicht unbedingt unverschämt. Sie hob die rechte Hand, so weit sie konnte, ließ sie von Rolans Hand umschließen. Er hob sie mühelos nach oben, bis ihr Gesicht mit seinem fast auf einer Höhe war.

»Halte dich an meinem Mantel fest.« Trotz des ungünstigen Winkels seines Armes war seiner Stimme keinerlei Anstrengung anzuhören. »Du musst über mich klettern.«

Sie schwang die linke Hand nach oben und erwischte eine Faust voll rauer Wolle, hielt mit aller Kraft fest. Die Schmerzen in ihrer Schulter verrieten ihr, dass sie so schlimm geprellt war, wie sie befürchtet hatte. Als er ihre andere Hand losließ, ließ der stechende Schmerz sie aufstöhnen, und sie griff schnell mit den nun frei gewordenen Fingern nach seinem Mantel. Er packte ihre Taille mit beiden Händen und schob sie höher, sodass sie auf seinem breiten Rücken lag. Es donnerte ununterbrochen. Bald musste der Regen fallen. Das würde es noch schwerer machen, die anderen hier rauszuschaffen.

»Mir gefällt es, dein Gewicht auf mir zu spüren, Faile Bashere, aber vielleicht könntest du etwas schneller klettern, damit ich die anderen rausschaffen kann.« Er kniff sie in den Hintern, und sie lachte wider Willen. Dieser Mann konnte es einfach nicht lassen!

Über ihn hinwegzuklettern ging langsamer, als sie gehofft hatte. Sie glaubte zwar nicht, dass etwas in ihrer Schulter gebrochen war, aber es tat verflucht weh. Einmal glaubte sie, Rolan vor den Kopf getreten zu haben. Er kniff sie?

Schließlich war sie draußen und an Kinhuin vorbei, wied er auf den Füßen unter freiem Himmel. Ihr erster Blick auf das Haus von außen ließ sie schlucken und dann heftig husten, als sie Mörtel in den Hals bekam. Die verbrannten Balken standen auf alarmierende Weise schräg, bereit, in den Keller zu stürzen. Jhoradin, der dritte Bruderlose, ein blauäugiger Mann mit rotblondem Haar und einem Gesicht, das man fast hübsch hätte nennen können, behielt Kinhuin und Rolan im Blick, aber immer wieder schaute er das Gebäude an, als würde er erwarten, es einstürzen zu sehen. Für einen Aiel war er stämmig, nicht ganz so groß wie Perrin, dafür aber fast doppelt so breit. In der Straße mussten mindestens hundert ihrer Leute sein, die sie alle nervös anstarrten; bei einigen waren die weißen Gewänder rußverschmiert, weil sie sich bemüht hatten, sie auszugraben. Hundert! Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden, sie zu tadeln. Vor allem nachdem Aravine ihr einen prallen Wasserschlauch in die Hände drückte. Der erste wieder ausgespuckte Schluck nahm Mörtel und Staub mit sich, obwohl sie ihn so gern trotzdem heruntergeschluckt hätte, aber danach hielt sie den Schlauch hoch und schüttete sich das Wasser beinahe die Kehle hinunter. Ihre angeschlagene Schulter protestierte. Sie ignorierte sie und trank weiter.

Plötzlich wurde sie sich der Blitze bewusst, die im Westen vor der Stadt einschlugen, und sie senkte den Wasserschlauch, um dorthin zu starren. Nahe außerhalb der Stadt. Aus einem wolkenlosen Himmel. Und manchmal schlugen sie gar nicht ein. Viele der silbrigen, verästelten Blitze explodierten donnernd weit über dem Boden. Feuerbälle schössen über den Himmel, platzten manchmal mitten im Flug mit einem Getöse wie Gewitterdonner. Jemand kämpfte eine Schlacht mit der Macht! Aber wer? Konnte Perrin genügend Aes Sedai oder Asha'man aufgetrieben haben, um das Lager anzugreifen? Aber etwas war sehr seltsam. Sie wusste, wie viele der Weisen Frauen im Lager die Macht lenken konnten, und es schienen bei weitem nicht genug Feuerbälle und Blitze zu sein. Vielleicht war es gar nicht Perrin. Unter den Weisen Frauen gab es Fraktionen. Nicht nur bei denen, die für oder gegen Sevanna waren, sondern auch zwischen Septimen mit alten Bündnissen oder Animositäten. Vielleicht bekämpften sich ja zwei solche Fraktionen. Das erschien zwar sehr unwahrscheinlich, aber die Vorstellung, dass Perrin genug Aes Sedai für einen Angriff gefunden hatte und die Weisen Frauen nicht mit allem zurückschlugen, was sie hatten, war nicht minder albern.

»Als die Blitze anfingen, sagte Rolan, es würde eine Schlacht geben«, erwiderte Aravine, als Faile sie fragte.

»Das ist alles. Keiner wollte hingehen und mehr herausfinden, bevor wir wussten, dass Ihr in Sicherheit seid.«

Faile knirschte frustriert mit den Zähnen. Selbst wenn sie sich nicht mit Rolan hätte auseinandersetzen müssen, was sich auch immer da vor den Stadtmauern abspielte, machte jede Flucht noch schwieriger. Wenn sie nur gewusst hätte, worum es da ging, wäre ihr eine Möglichkeit eingefallen, wie sie die Schlacht hätte meiden können. Oder sie benutzen.

»Niemand geht irgendwohin, Aravine. Es könnte gefährlich sein.« Und sie könnten bei ihrer Rückkehr unabsichtlich Shaido mitbringen. Beim Licht, was ging dort bloß vor?

Maighdin stolperte an Kinhuin vorbei und rieb sich das Hinterteil. »Er hat mich gekniffen!« Ihre Stimme war belegt, aber ihr war deutlich ihre Empörung anzuhören. Faile verspürte einen Stich der… Nein, keine Eifersucht. Bestimmt nicht. Der verdammte Kerl konnte kneifen, wen er wollte. Er war nicht Perrin.

Mit einer Grimasse gab sie der blonden Frau den Wassers chlauch, und Maighdin spülte sich schnell den Mund aus, bevor sie durstig mit großen Schlucken trank. Im Augenblick war sie nicht so blond, ihre Locken waren schweißverklebt und genau wie ihr erhitztes Gesicht voller Staub. Im Augenblick war sie nicht einmal hübsch.

Arrela kam aus der Ruine, rieb sich den Hintern und schaute so grimmig wie der Tod aus, aber sie griff dankbar nach dem Wasserschlauch, den Aldin ihr hinhielt. Der hochgewachsene junge Amadicianer, ein Bursche mit breiten Schultern, der eher wie ein Soldat aussah denn wie der Buchhalter, der er war, schaute sie hingerissen an, während sie trank. Arrela mochte Männer nicht auf diese Weise, aber Aldin weigerte sich einzusehen, dass es sinnlos war, sie zu einer Heirat zu überreden. Lacile erschien — sie rieb sich den Hintern! — und Jhoradin gab ihr einen anderen Wasserschlauch, streichelte mit dem Finger über ihre schmutzige Wange. Sie lächelte zu ihm hoch, bevor sie trank. Sie bereitete schon ihren Weg zurück unter seine Decke vor, falls Rolan sich als uneinsichtig erweisen würde. Zumindest glaubte Faile, dass sie das tat.

Endlich stolzierte Alliandre an Kinhuin vorbei, und auch wenn sie sich nicht das Hinterteil rieb, sprach die frostige Wut auf ihrem Gesicht doch Bände. Kinhuin glitt rückwärts aus der Öffnung und stand auf, während sich Rolan aus dem gefährlichen Trümmerhaufen arbeitete.

»Meine Lady«, rief Aravine entsetzt, und Faile drehte sich um und fand die Frau mit dem unscheinbaren Gesicht auf den Pflastersteinen kniend vor, wo sie Maighdins Kopf auf den Schoß bettete. Maighdins Lider flatterten, aber sie bekam sie nie weiter als bis zur Hälfte geöffnet. Ihre Lippen bewegten sich schwach, aber es ertönte bloß ein unverständliches Gemurmel.

»Was ist passiert?«, fragte Faile und eilte zu ihnen, kniete nieder.

»Ich weiß es nicht, meine Lady. Sie trank, als wollte sie den Schlauch leeren, dann taumelte sie auf einmal. Dann brach sie einfach so zusammen.« Aravines Hände bewegten sich wie fallende Blätter.

»Sie muss sehr müde sein«, sagte Faile, glättete das Haar ihrer Dienerin und versuchte nicht darüber nachzudenken, wie sie die Frau aus dem Lager schaffen sollten, wenn sie nicht gehen konnte. Dann würden sie sie eben tragen müssen. Beim Licht, ihr war selbst leicht schwindelig. »Sie hat uns gerettet, Aravine.« Die Amadicianerin nickte ernst.

»Ich werde dich bis heute Abend an einem sicheren Ort verstecken, Faile Bashere«, sagte Rolan und schloss die letzten Schnallen seines Futteralgeschirrs. Seine braune Sho ufa war bereits um seinen Kopf geschlungen. »Dann bringe ich dich in den Wald.« Er nahm von Jhoradin drei kurze Speere entgegen, die er auf dem Rücken in das Geschirr steckte, sodass die langen Speerspitzen hinter seinem Kopf emporragten und in der Sonne funkelten.

Faile brach vor Erleichterung beinahe neben Maighdin zusammen. Sie würde nichts vor Perrin verbergen müssen. Aber sie konnte sich jetzt keine Schwächen leisten. »Unsere Ausrüstung«, fing sie an, und als wäre der Klang ihrer Stimme der letzte Strohhalm gewesen, gab das Gebäude ein schauriges Ächzen von sich und stürzte mit einem Krachen ein, das einen Augenblick lang sogar die Explosionen übertönte.

»Ich werde dafür sorgen, dass du alles hast, was du brauchst«, sagte Rolan und schob sich den schwarzen Schleier vors Gesicht. Jhoradin gab ihm noch einen Speer und seinen Rundschild, den er an seinem Gürtelmesser aufhängte, bevor er nach ihrem rechten Arm griff und sie auf die Beine zog.

»Wir müssen uns beeilen. Ich weiß nicht, mit wem wir die Speere tanzen, aber die Mera'din werden heute tanzen.«

»Aldin, tragt Ihr Maighdin?«, war alles, was sie hervorstoßen konnte, bevor Rolan sich in Bewegung setzte und sie einfach mitschleifte.

Sie schaute über die Schulter und sah Aldin sich die schlaffe Maighdin auf die Arme laden. Jhoradin hielt Lacile so fest am Arm wie Rolan sie. Die drei Bruderlosen führten eine Parade weiß gekleideter Männer und Frauen an. Und einen Jungen. Theril hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck. Sie tastete trotz Rolans großer Hand um den Arm in ihrem Ärmel herum, schloss die Finger um den Dolchgriff. Was auch immer außerhalb der Stadtmauern geschah, möglicherweise würde sie diese Klinge noch vor dem Abend brauchen.

Perrin rannte die gewundene Straße zwischen den Zelten entlang. Nichts bewegte sich in seinem Sichtfeld, aber er konnte trotz des Donnerns der explodierenden Feuerbälle und der Blitze den zusätzlichen Schlachtenlärm hören. Stahl krachte gegen Stahl. Männer brüllten, als sie töteten oder starben. Männer schrien. Von einem Schnitt auf seinem Kopf rann Blut seine linke Gesichtshälfte herunter, und er konnte es über seine rechte Seite tröpfeln spüren, wo ihn ein Speer gestreift hatte, seinen linken Oberschenkel herunterlaufen, wo ein Speer tiefer getroffen hatte. Das Blut an ihm war nicht alles seines. Im Eingang eines niedrigen, dunklen Zeltes erschien ein Gesicht und zog sich schnell wieder zurück. Ein Kindergesicht, verängstigt, nicht das erste, das er gesehen hatte. Die Shaido wurden so hart bedrängt, dass eine Menge Kinder zurückgeblieben waren. Aber das würde ein Problem für später sein. Über den Zeltspitzen konnte er die Tore kaum mehr als hundert Schritte voraus sehen. Dahinter warteten die Festung und Faile.

Zwei verschleierte Shaido schössen hinter einer schmutzig braunen Zeltwand hervor, die Speere bereit. Aber nicht für ihn. Sie blickten auf etwas zu seiner Linken. Ohne einen Schritt langsamer zu werden, rannte er in sie hinein. Beide waren größer als er, aber die Wucht seines Aufpralls riss sie alle zu Boden, und er fiel kämpfend. Sein Hammer krachte unter das Kinn des einen Mannes, während er immer wieder auf den anderen Mann einstach und die Klinge sich tief ins Fleisch grub. Der Hammer hob sich und zerschmetterte das Gesicht des ersten Mannes, verspritzte Blut, hob und senkte sich erneut, während er zugleich zustach. Der Mann mit dem zerschlagenen Gesicht zuckte einmal, während sich Perrin erhob. Der andere starrte blicklos in den Himmel.

Die Andeutung einer Bewegung im linken Augenwinkel ließ ihn sich nach rechts werfen. Ein Schwert durchteilte die Luft, wo sich eben noch sein Hals befunden hatte. Arams Schwert. Auch der ehemalige Kesselflicker hatte Wunden davongetragen. Blut beschmierte sein Gesicht wie eine seltsame Maske, sein rot gestreifter Mantel wies blutfeuchte Schnitte auf, und seine Augen sahen beinahe gläsern aus, wie die einer Leiche, aber er schien noch immer mit dieser Klinge in seinen Händen zu tanzen. Sein Geruch war der Geruch des Todes, ein Tod, den er suchte.

»Seid Ihr verrückt geworden?«, knurrte Perrin. Stahl traf auf Stahl, als er das Schwert mit dem Hammerkopf parierte.

»Was tut Ihr da?« Er blockierte einen weiteren Stich der Klinge, versuchte den anderen Mann zu packen, und sprang gerade noch schnell genug zurück, um bloß mit einem Schnitt auf den Rippen davonzukommen.

»Der Prophet hat es mir erklärt.« Aram klang wie benommen, aber sein Schwert bewegte sich mit anmutiger Leichtigkeit, Hiebe, die weder der Hammer noch das Gürtelmesser kaum abwehren konnten, während Perrin zurückwich. Er konnte bloß hoffen, nicht über ein Zeltseil zu stolpern oder gegen eine Plane zu prallen. »Deine Augen. Du bist wirklich Schattengezücht. Du warst es, der die Trollocs zu den Zwei Flüssen geholt hat. Er hat alles erklärt. Diese Augen. Ich hätte es wissen müssen, als ich dich das erste Mal gesehen habe. Du und Elyas mit Schattengezüchtaugen. Ich muss Lady Faile vor dir retten.«

Perrin sammelte sich. Er konnte zehn Pfund Stahl nicht so schnell wie Aram sein Schwert bewegen, das nur ein Drittel davon wog. Irgendwie musste er nahe herankommen, an dieser Klinge vorbeikommen, die durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen verschwamm. Das war unmöglich zu schaffen, ohne getroffen zu werden, und zwar vermutlich schlimm, aber wenn er zu lange wartete, würde der Mann ihn töten. Etwas stieß gegen seine Ferse, und er taumelte rückwärts, wäre um ein Haar gefallen.

Aram schoss vor, das Schwert in seiner Hand fuhr herab. Da erstarrte er mitten in der Bewegung, und die Klinge fiel ihm aus den Händen. Er stürzte vornüber aufs Gesicht, zwei Pfeile ragten aus seinem Rücken. Dreißig Schritte entfernt hatten zwei verschleierte Shaido bereits neue Pfeile eingespannt und die Sehnen durchgezogen. Perrin sprang zur Seite, hinter ein grünes Spitzzelt, rollte sich ab und kam wieder auf die Füße. Ein Pfeil hatte die Zeltecke durchbohrt und zitterte noch. Geduckt suchte er sich seinen Weg an dem grünen Zelt vorbei und dann an einem verblichenen blauen, vorbei an einem niedrigen, schäbigen braunen, den Hammer in der einen, das Gürtelmesser in der anderen Hand. Das war heute nicht das erste Mal, dass er dieses Spiel spielte. Vorsichtig spähte er um die Ecke des braunen Zelts. Die beiden Shaido waren nirgendwo zu sehen. Möglicherweise schlichen sie ihm nach oder jagten bereits jemand anderen. Er konnte Aram sehen, der da lag, wo er gestürzt war. Der Hauch einer Brise zerzauste die dunkle Befiederung der Pfeile, die aus seinem Rücken ragten. Elyas hatte Recht behalten. Er hätte Aram niemals dieses Schwert ergreifen lassen dürfen. Er hätte ihn mit den Karren wegschicken sollen oder ihn dazu bringen müssen, zu den Kesselflickern zurückzukehren. Er hätte so viele Dinge tun müssen. Jetzt war es dafür zu spät.

Die Tore riefen ihn. Er schaute über die Schulter. So nahe jetzt. Noch immer geduckt lief er nun diese gewundenen Straßen entlang, immer auf der Hut vor diesen beiden Shaido oder anderen, die möglicherweise auf ihn warteten. Der Schlachtenlärm lag jetzt voraus, kam aus Norden und Süden, aber das bedeutete nicht, dass es keine Nachzügler gab.

Er bog nur wenige Schritte vor den weit geöffnet stehenden Toren um eine Ecke und fand es voller Menschen. Die meisten trugen schmutzige weiße Gewänder, aber drei von ihnen waren verschleierte Algai'd'siswai, einer davon ein Hüne, der Lamgwin hätte klein aussehen lassen. Er hatte Failes Arm in der Faust. Sie sah aus, als hätte sie sich im Dreck rumgewälzt.

Mit einem Aufschrei stürzte Perrin vorwärts und riss den Hammer hoch, und der Hüne stieß Faile zurück und rannte auf ihn zu, hob den Speer, während er den Rundschild von seinem Gürtel nahm.

»Perrin!«, schrie Faile.

Der große Shaido schien einen Augenblick lang zu zögern, und Perrin nutzte den Vorteil. Sein Hammer traf den Mann so hart am Kopf, dass seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren, als er fiel. Ein anderer Mann war direkt hinter ihm, den Speer bereit zum Zustoßen. Plötzlich grunzte der Aiel, in den grünen Augen über dem Schleier stand Überraschung geschrieben, und er sackte auf die Knie und schaute Faile, die nahe bei ihm stand, über die Schulter an. Langsam fiel er nach vorn und enthüllte einen stählernen Dolchgriff, der aus seinem Rücken ragte. Perrin sah sich hastig nach dem dritten um, aber der lag auch auf dem Gesicht; aus seinem Rücken ragten zwei hölzerne Dolchgriffe. Lacile stützte sich auf Arrela und weinte. Jemanden zu töten war für sie zweifellos nicht so einfach, wie sie sich vorgestellt hatte.

Auch Alliandre stand vor der Menge, und Maighdin befand sich direkt hinter ihr, ein junger Mann in Weiß trug sie, aber Perrin hatte nur Augen für Faile. Er ließ Hammer und Messer fallen, stieg über die Toten hinweg und riss sie in seine Arme. Ihr Duft stieg in seine Nase. Er füllte seinen Kopf. Sie roch ausgerechnet stark nach verbranntem Holz, aber er konnte sie trotzdem riechen.

»Ich habe so lange von diesem Augenblick geträumt«, hauchte er.

»Ich auch«, sagte sie, das Gesicht gegen seine Brust gedrückt, die Arme fest um ihn geschlungen. Ihr Geruch war voller Freude, aber sie zitterte auch.

»Haben sie dir wehgetan?«, fragte er sanft.

»Nein. Sie… Nein, Perrin, sie haben mir nichts getan.« Aber in ihre Freude drängten sich andere Gerüche, die untrennbar damit verbunden waren. Der dumpfe, quälende Geruch von Trauer und das schmierige Aroma von Schuld. Scham, so stechend wie tausend feine Nadeln. Nun, der Mann war tot, und eine Frau hatte das Recht, ihre Geheimnisse für sich zu behalten, wenn sie das wollte.

»Nur dass du lebst ist wichtig, und dass wir wieder zusammen sind«, sagte er zu ihr. »Das ist alles, was zählt auf dieser Welt.«

»Alles, was zählt auf dieser Welt«, stimmte sie ihm zu und umarmte ihn noch fester. Fest genug, dass die Anstrengung sie tatsächlich stöhnen ließ. Aber im nächsten Augenblick hatte sie sich von ihm gelöst und untersuchte seine Wunden, weitete mit den Fingern die Schlitze in seinem Mantel, um sie zu betrachten. »Das sieht nicht so schlimm aus«, sagte sie lebhaft, obwohl sich alle diese Gefühle noch immer in ihre Freude mischten. Sie griff nach oben, um sein Haar zu teilen, und zog, bis er nachgab und das Haupt beugte, damit sie den Riss in seiner Kopfhaut begutachten konnte. »Natürlich musst du Geheilt werden. Wie viele Aes Sedai hast du mitgebracht? Wie bist du… ? Nein, das spielt jetzt keine Rolle. Es sind genug da, um die Shaido zu besiegen, und darauf kommt es an.«

»Diese Shaido«, sagte er und richtete sich wieder auf, um sie zu betrachten. Beim Licht, schmutzig oder nicht, sie war so wunderschön. »Es werden weitere sechs oder siebentausend in…« — er schaute zur Sonne hoch; eigentlich hätte sie schon höher am Himmel stehen müssen —, »… vermutlich weniger als zwei Stunden hier sein. Wir müssen hier vorher zu einem Ende kommen und auf dem Weg sein, wenn das möglich ist. Was hat Maighdin?« Sie lehnte so schlaff wie ein Federkissen an der Brust des jungen Mannes. Ihre Lider flatterten, ohne sich zu öffnen.

»Sie ist erschöpft, weil sie uns das Leben gerettet hat«, sagte Faile, riss die Aufmerksamkeit von seinen Verletzungen los und drehte sich zu den anderen Leuten in Weiß um.

»Aravine, ihr alle, holt die Gai'schain zusammen. Nicht nur die, die mir die Treue geschworen haben. Jeden in Weiß. Wir lassen keinen zurück, den wir nicht müssen. Perrin, welche Richtung ist die sicherste?«

»Norden«, sagte er. »Der Norden ist sicher.«

»Fangt an, sie nach Norden zu schicken«, fuhr Faile fort.

»Holt Karren, Wagen, Lastpferde und beladet sie mit allem, was ihr für nützlich haltet. Beeilt euch!« Leute setzten sich in Bewegung. Rannten los. »Nein, Ihr bleibt hier, Aldin. Maighdin muss getragen werden. Ihr bleibt auch, Alliandre. Und Arrela. Lacile braucht im Augenblick eine Schulter, an der sie sich ausweinen kann.«

Perrin grinste. Stellte man seine Frau in die Mitte eines brennenden Hauses, würde sie in aller Ruhe damit anfangen, die Flammen zu löschen. Und sie würde sie löschen. Er bückte sich und wischte das Gürtelmesser am Mantel des grünäugigen Mannes sauber, bevor er es wegsteckte. Sein Hammer musste auch ordentlich sauber gemacht werden. Er versuchte, nicht darüber nachzudenken, was er da am Mantel des Mannes abwischte. Das Feuer wich aus seinem Blut. Es blieb keine Aufregung zurück, sondern nur Müdigkeit. Seine Wunden finden an zu pochen. »Schickst du bitte jemanden in die Festung, um Ban und Seonid wissen zu lassen, dass sie jetzt rauskommen können?« Er schob den Hammergriff durch die Schlaufe an seinem Gürtel.

Faile starrte ihn erstaunt an. »Sie sind in der Festung!

Wie? Warum?«

»Alyse hat dir nicht Bescheid gesagt?« Vor Failes Entführung war er nur schwer in Wut zu bringen gewesen. Jetzt spürte er, wie der Zorn in ihm emporsprudelte. In Blasen wie aus weißglühendem Eisen. »Sie hat gesagt, sie würde dich mitnehmen, wenn sie geht, aber sie hat versprochen, dir zu sagen, dass du in die Festung gehen solltest, wenn du den Nebel auf den Hügelkämmen siehst und am Tag die Wölfe heulen hörst. Ich schwöre, sie hat es ohne Umschweife versprochen. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, man kann keiner Aes Sedai über den Weg trauen.«

Faile schaute zum Westhügel, wo noch immer die dichten Nebelschwaden wogten, und verzog den Mund. »Nicht Alyse, Perrin. Galina. Wenn auch das keine Lüge war. Es kann nur sie sein. Und sie muss eine Schwarze Ajah sein. Oh, wie schön wäre es doch, wenn ich ihren richtigen Namen kennen würde.« Sie bewegte den linken Arm und zuckte zusammen. Sie war verletzt. Perrin verspürte das dringende Verlangen, den großen Shaido noch einmal zu töten. Faile ließ sich aber nicht durch ihre Verletzung stören. »Theril, komm da weg. Ich sehe dich.«

Ein dürrer junger Mann schob sich schüchtern um die Torecke. »Mein Vater hat mir befohlen, hier zu bleiben und auf Euch aufzupassen, meine Lady«, sagte er in einem so starken Akzent, dass Perrin ihn kaum verstehen konnte.

»Das mag ja sein«, sagte Faile energisch, »aber du läufst jetzt so schnell du kannst zur Festung und richtest wem auch immer du dort finden solltest aus, dass Lord Perrin ihnen sagt, sie sollen jetzt kommen. Beeil dich.« Der Junge legte den Knöchel an die Stirn und rannte los.

Etwa eine Viertelstunde später kam er zurückgerannt, gefolgt von Seonid und Ban und all den anderen. Ban machte einen Kratzfuß vor Faile und murmelte galant, wie froh er war, sie zu sehen, bevor er den Männern von den Zwei Flüssen befahl, einen Schutzkreis um das Tor zu bilden, die Bogen bereit und die Hellebarden in den Boden gerammt. Dafür benutzte er seinen normalen Tonfall. Er gehörte auch zu denen, die den letzten Schliff erstrebten. Selande und Failes andere Anhänger eilten auf sie zu und plapperten aufgeregt; sie sagten, wie beunruhigt sie doch gewesen waren, als sie nach dem Wolfsgeheul nicht aufgetaucht war.

»Ich gehe zu Masuri«, verkündete Kirklin in einem herausfordernden Tonfall. Er wartete auch keine Erlaubnis ab, sondern zog einfach das Schwert und rannte die Mauer entlang nach Norden.

Tallanvor gab einen Aufschrei von sich, als er Maighdin von dem hochgewachsenen jungen Mann getragen sah, und er musste davon überzeugt werden, dass sie bloß erschöpft war. Er nahm sie dem Burschen trotzdem ab und hielt sie an die Brust gedrückt, wo er auf sie einflüsterte.

»Wo ist Chiad?«, wollte Gaul wissen. Als er erfuhr, dass sie nie bei den anderen gewesen war, schob er den Schleier vors Gesicht. »Die Töchter haben mich reingelegt«, sagte er grimmig, »aber ich werde sie vor ihnen finden.«

Perrin griff nach seinem Arm. »Da draußen sind eine Menge Männer, die dich für einen Shaido halten werden.«

»Ich muss sie vor ihnen finden, Perrin Aybara.« In der Stimme des Aiel und in seinem Geruch lag etwas, das Perrin nur als Liebeskummer bezeichnen konnte. Er verstand das Leid nur zu gut, das einem die Vorstellung brachte, dass die Frau, die man liebte, für alle Zeiten verloren war. Er ließ Gauls Ärmel los, und der Mann rannte Speer und Rundschild in der Hand an der Reihe der Bogenschützen vorbei.

»Ich begleite ihn.« Elyas grinste. »Vielleicht kann ich ihm Ärger ersparen.« Er zog das lange Messer, das ihm bei den Wölfen den Namen Langmesser eingebracht hatte, und lief hinter dem großen Aielmann her. Wenn die beiden keinen sicheren Weg aus dem Chaos hier finden konnten, dann konnte es keiner.

»Wenn Ihr fertig mit Eurem Geplapper seid, haltet Ihr vielleicht mal still fürs Heilen«, sagte Seonid zu Perrin. »Ihr seht aus, als könntet Ihr es brauchen.« Füren und Teryl standen dicht hinter ihr, die Hände am Schwertgriff, während sie versuchten, alle Richtungen gleichzeitig im Auge zu behalten. Der Ring aus Zwei-Flüsse-Männern war ja schön und gut, schien ihr Benehmen zu verkünden, aber Seonids Sicherheit war ihre Angelegenheit. Sie sahen aus wie Leopard en, die eine Hauskatze verfolgten. Bloß dass sie keine Hauskatze war.

»Kümmert Euch zuerst um Faile«, sagte er. »Ihr Arm ist verletzt.« Faile unterhielt sich mit Alliandre, und beide waren so wütend, dass sich ihre Haare hätten sträuben müssen. Zweifellos waren sie auf Alyse oder Galina, oder wie auch immer ihr Name lautete, wütend.

»Ich sehe sie nicht wie ein angestochenes Schwein blut en.« Seonid hob die Hände, um seinen Kopf zu umfassen, und die viel zu vertraute Kälte traf ihn, als wäre er plötzlich im Winter in einem fast zugefrorenen Teich gelandet. Er keuchte auf und zuckte, seine Arme zuckten unkontrolliert, und als sie ihn losließ, waren seine Verletzungen verschwunden, aber nicht das Blut in seinem Gesicht und auf seinem Mantel und seinen Hosen. Außerdem hatte er das Gefühl, einen ganzen Hirsch allein verdrücken zu können.

»Was war das?« Die kleine Grüne wandte sich von ihm ab und drehte sich zu Faile um. »Habt Ihr Galina Casban erwähnt?«

»Ich kenne ihren Nachnamen nicht«, sagte Faile. »Eine Aes Sedai mit vollen Lippen und schwarzen Haaren und großen Augen. Auf eine gewisse Weise ganz hübsch, aber eine unerfreuliche Frau. Kennt Ihr sie? Ich glaube, sie muss eine Schwarze Ajah sein.«

Seonid versteifte sich, krallte die Fäuste in ihre Röcke.

»Das hört sich nach Galina an. Eine Rote, und sehr unerfreulich. Aber warum bringt Ihr eine derartige Anschuldigung vor? Das ist keine Anklage, die man leichtfertig gegen eine Schwester vorbringen sollte, nicht einmal eine, die so schlimm wie Galina ist.«

Als Faile alles erklärte, mit der ersten Begegnung mit Galina anfing, wuchs Perrins Wut erneut. Die Frau hatte sie erpresst, sie bedroht, sie angelogen, dann hatte sie versucht, sie umzubringen. Seine Fäuste waren so fest geballt, dass seine Arme bebten. »Wenn ich sie in die Finger kriege, breche ich ihr das Genick«, knurrte er, als sie zum Ende kam.

»Dazu habt Ihr kein Recht«, sagte Seonid. »Galina muss sich vor drei Schwestern verantworten, die über sie zu Gericht sitzen, und bei dieser Anklage müssen es Sitzende sein. Möglicherweise tritt der ganze Saal der Burg zusammen. Befindet man sie für schuldig, wird sie gedämpft und hingerichtet, aber für diese Gerechtigkeit sind die Aes Sedai zuständig.«

»Falls man sie für schuldig befindet?«, sagte er ungläubig.

»Ihr habt gehört, was Faile gesagt hat. Wie könnt Ihr da Zweifel haben?« Er musste bedrohlich ausgesehen haben, denn Füren und Teryl traten mit einem geschmeidigen Schritt an Seonids Seite, die Hände locker auf den Schwertgriffen, die Blicke hart auf ihn gerichtet.

»Sie hat Recht, Perrin«, sagte Faile leise. »Als man Jac Coplin und Len Congar beschuldigt hat, eine Kuh gestohlen zu haben, da hast du gewusst, dass sie Diebe sind, aber du hast Meister Thane den Diebstahl beweisen lassen, bevor du dem Dorfrat erlaubt hast, sie auszupeitschen. Bei Galina ist das genauso wichtig.«

»Der Dorf rat hätte sie nicht ohne Verfahren ausgep eitscht, ganz egal, was ich gesagt hätte«, murmelte er. Faile lachte. Sie lachte! Beim Licht, es war zu schön, das wieder zu hören. »Na gut. Galina gehört den Aes Sedai. Aber wenn sie sich nicht um sie kümmern, werde ich das, falls sie mir je begegnet. Ich mag es nicht, wenn dir Leute wehtun.«

Seonid schnaubte bloß, ihr Geruch war missbilligend.

»Euer Arm ist verletzt, meine Lady?«

»Kümmert Euch bitte zuerst um Arrela.« Die Aes Sedai verdrehte verärgert die Augen und nahm Failes Kopf zwischen die Hände. Faile erbebte und atmete aus, es war kaum mehr als ein schwerer Seufzer. Also war es keine schlimme Verletzung, die jetzt verschwunden war. Sie dankte Seonid, während sie sie zu Arrela führte.

Plötzlich wurde sich Perrin bewusst, dass er keine Explos ionen mehr hörte. Tatsächlich hatte er sie schon eine Weile nicht mehr gehört. Das musste gut sein. »Ich muss wissen, was passiert. Ban, Ihr bewacht Faile.«

Faile protestierte, dass er allein gehen wollte, und als er endlich eingewilligt hatte, zehn von den Zwei-Flüsse-Männern mitzunehmen, kam ein Reiter in einer lackierten Rüstung um die nördliche Ecke der Stadtmauer geritten. Drei schmale blaue Federn wiesen ihn als Tylee aus. Als sie näher ritt, sah er, dass sie eine nackte Frau vor sich auf ihrem großen Braunen liegen hatte. Eine Frau, die an Knöcheln und Knien, Handgelenken und Ellbogen gefesselt war. Ihr langes blondes Haar berührte beinahe den Boden, es waren juwelenbesetzte Ketten und Perlen hineingeflochten. Eine Kette aus großen grünen Steinen und Gold löste sich und fiel in den Staub, als Tylee das Pferd zügelte. Sie nahm ihren seltsamen Helm mit den in Panzerhandschuhen steckenden Händen ab und setzte ihn auf dem nach oben ragenden Hinterteil der Frau ab.

»Eine erstaunliche Waffe, eure Bogen«, sagte sie und warf den Männern von den Zwei Flüssen einen Blick zu. »Ich wünschte, wir hätten auch welche. Kirklin hat mir gesagt, wo ich Euch finden kann, mein Lord. Sie haben angefangen, sich zu ergeben. Masemas Leute haben fast bis zum Punkt des Selbstmordes standgehalten — die meisten von ihnen sind tot oder sterben, glaube ich. Die Damane haben diesen Kamm in eine Todesfalle verwandelt, in die sich nur ein Verrückter wagen würde. Und am besten von allem, die Sul'dam haben bereits über zweihundert Frauen A'dam angelegt. Euer ›kalter Tee‹ hat gereicht, dass die meisten nicht mehr ohne Hilfe stehen konnten. Ich werde Raken kommen lassen müssen, um sie alle ausfliegen zu können.«

Seonid gab einen erstickten Laut von sich. Ihr Gesicht verriet keine Regung, aber ihr Geruch trug den scharfen Gestank hitzigen Zorns mit sich. Sie starrte Tylee an, als wollte sie sie mit Blicken durchbohren. Tylee schenkte ihr keinerlei Aufmerksamkeit, wenn man davon absah, dass sie leicht den Kopf schüttelte.

»Nachdem meine Leute und ich weg sind«, sagte Perrin. Er hatte seine Vereinbarung mit ihr getroffen. Er wollte es nicht riskieren, sie bei jemand anderem auf die Probe zu stellen. »Wie hoch sind unsere Verluste, abgesehen von Masemas Männern?«

»Beim Licht«, erwiderte Tylee. »Wegen Eurer Bogens chützen und den Damane haben sie es nicht geschafft, an uns heranzukommen. Ich habe noch keinen Schlachtplan gesehen, der so glatt gelaufen ist. Es würde mich überraschen, wenn wir zusammen hundert Tote haben.«

Perrin zuckte zusammen. Unter diesen Umständen waren das leichte Verluste, aber einige davon würden von den Zwei Flüssen sein. Ob er sie nun persönlich kannte oder nicht, sie waren in seiner Verantwortung. »Wisst Ihr, wo Masema ist?«

»Bei den Resten seines Heeres. Er ist kein Feigling, das muss ich ihm lassen. Er und seine zweihundert, nun ja, jetzt noch etwa einhundert, haben sich einen Weg durch die Shaido bis zum Hügel gehauen.«

Perrin knirschte mit den Zähnen. Der Mann war wieder zurück bei seinem Abschaum. Sein Wort würde gegen Masemas stehen, wenn es darum ging, warum Aram versucht hatte, ihn zu töten, und es war sowieso unwahrscheinlich, dass die Anhänger des Mannes ihn für eine Gerichtsverhandlung ziehen lassen würden. »Wir müssen aufbrechen, bevor die anderen hier sind. Wenn die Shaido glauben, dass Rettung naht, könnten sie vergessen, dass sie sich ergeben haben. Wer ist Eure Gefangene?«

»Sevanna«, sagte Faile kalt. Der Geruch ihres Hasses war beinahe so stark wie bei dem Gespräch über Galina.

Die Frau mit dem goldenen Haar stemmte sich hoch, schüttelte ein paar Strähnen aus dem Gesicht und verlor dabei noch ein paar Ketten. Ihre Augen, die Faile anstarrten, waren wie ein grünes Feuer über dem Stoffstreifen, der den Knebel an Ort und Stelle hielt. Sie stank nach Zorn.

»Sevanna von den Jumai Shaido.« In Tylees Stimme lag starke Zufriedenheit. »Sie hat es mir voller Stolz gesagt. Auch sie ist kein Feigling. Nur in einem seidenen Morgenmantel und ihren Juwelen ist sie uns entgegengetreten, aber es ist ihr gelungen, zwei meiner Altaraner mit dem Speer zu durchbohren, bevor ich ihn ihr abnehmen konnte.« Sevanna knurrte etwas durch den Knebel und wand sich, als wollte sie sich von dem Pferd werfen. Jedenfalls bis Tylee ihr auf den Hintern schlug. Danach beschränkte sie sich darauf, jeden in Sichtweite böse anzustarren. Sie hatte hübsche Rundungen, obwohl ihm so etwas nicht hätte auffallen dürfen, wo doch seine Frau neben ihm stand. Aber Elyas sagte, sie würde von ihm erwarten, dass es ihm auffiel, also überwand er sich und musterte sie offen.

»Ich beanspruche den Inhalt ihres Zelts«, verkündete Faile und warf ihm einen scharfen Blick zu. Vielleicht war das doch zu offen gewesen. »Sie hat dort eine große Truhe mit Juwelen, und ich will sie haben. Sieh mich nicht so an, Perrin. Wir müssen hunderttausend Leute ernähren, kleiden und ihnen helfen, wieder nach Hause zu kommen. Mindestens hunderttausend.«

»Ich möchte Euch begleiten, meine Lady, wenn es Euch recht ist«, sagte der junge Bursche, der Maighdin getragen hatte. »Ich werde nicht der Einzige sein, wenn Ihr gestattet.«

»Eure Frau, nehme ich an, mein Lord«, sagte Tylee und musterte Faile.

»Das ist sie. Faile, darf ich dir Bannergeneralin Tylee Khirgan vorstellen, im Dienst der Kaiserin von Seanchan.« Vielleicht bekam er selbst etwas von diesem letzten Schliff mit.

»Bannergeneralin, meine Frau, Lady Faile ni Bashere t'Aybar a.« Tylee verneigte sich im Sattel. Faile machte einen kleinen Knicks, senkte den Kopf ein Stück. Schmutziges Gesicht oder nicht, sie sah majestätisch aus. Was ihn an die Zerbrochene Krone denken ließ. Die Diskussion über diese nebensächliche Angelegenheit würde später erfolgen müssen. Zweifellos würde es eine ziemlich lange Diskussion werden. Er glaubte nicht, dass es ihm diesmal schwerfallen würde, die Stimme zu heben, so wie sie es anscheinend wollte. »Und das ist Alliandre Maritha Kigarin, Königin von Ghealdan, Gesegnete des Lichts, Verteidigerin von Garens Wall. Und meine Lehnsfrau. Ghealdan steht unter meinem Schutz.« Es war albern, das zu sagen, aber es musste gesagt werden.

»In unserer Übereinkunft war davon keine Rede, mein Lord«, sagte Tylee vorsichtig. »Ich entscheide nicht, wo das Immer Siegreiche Heer hingeht.«

»Nur damit Ihr Bescheid wisst, Bannergeneralin. Und sagt Euren Vorgesetzten, dass sie Ghealdan nicht haben können.« Alliandre lächelte ihn so breit, so dankbar an, dass er beinahe gelacht hätte. Beim Licht, auch Faile lächelte. Ein stolzes Lächeln. Er rieb sich die Nase. »Wir müssen wirklich los, bevor diese anderen Shaido eintreffen. Ich will sie nicht vor mir haben und alle diese Gefangenen hinter mir, die daran denken, den Speer wieder aufzunehmen.«

Tylee kicherte. »Ich habe etwas mehr Erfahrung mit diesen Leuten als Ihr, mein Lord. Sobald sie sich ergeben, kämpfen sie nicht wieder und versuchen drei Tage lang nicht zu entkommen. Außerdem lasse ich einige meiner Altaraner aus ihren Speeren und Bögen einen Scheiterhaufen machen, nur um sicherzugehen. Wir haben Zeit, unseren Aufmarsch in Gang zu setzen. Mein Lord, ich hoffe, ich muss Euch niemals auf dem Schlachtfeld gegenübertreten.« Tylee zog den Panzerhandschuh von der Hand. »Ich würde mich geehrt fühlen, wenn Ihr mich Tylee nennen würdet.« Sie beugte sich über Sevanna, um die Hand auszustrecken.

Einen Augenblick lang konnte Perrin sie nur anstarren. Es war eine seltsame Welt. Er war mit dem Gedanken zu ihr gegangen, einen Handel mit dem Dunklen König abzuschließen, und das Licht wusste, einige der Dinge, die die Seanchaner taten, waren unentschuldbar, aber die Frau war eine unerschütterliche Kämpferin und stand zu ihrem Wort.

»Ich bin Perrin, Tylee«, sagte er und ergriff die Hand. Eine sehr seltsame Welt.

Galina zog das Unterhemd aus, warf es auf das Seidengewand und bückte sich, um das Reitkleid aufzuheben, das sie aus Schnells Satteltasche gezogen hatte. Es war für eine etwas größere Frau genäht worden, aber es würde reichen müssen, bis sie einen der Feuertropfen verkaufen konnte.

»Bleib so stehen, Lina«, ertönte Theravas Stimme, und plötzlich hätte sich Galina nicht einmal dann aufrichten können, wenn der Wald um sie in Flammen gestanden hätte. Aber sie konnte schreien. »Sei still.« Sie würgte, als sich ihre Kehle verkrampfte und den Schrei verschluckte. Aber sie konnte noch immer stumm weinen, und Tränen fielen auf den weichen Waldboden. Eine Hand schlug sie auf unanständige Weise. »Irgendwie hast du den Stab bekommen«, sagte Therava. »Sonst wärst du nicht hier. Gib ihn mir, Lina.«

Sich zu weigern stand außer Frage. Galina richtete sich auf, zog den Stab aus der Satteltasche und gab ihn der Frau mit den Falkenaugen, während ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen.

»Hör auf zu heulen, Lina. Und leg deinen Gürtel und dein en Kragen an. Ich werde dich bestrafen müssen, weil du sie abgelegt hast.«

Galina zuckte zusammen. Nicht einmal Theravas Befehl konnte ihre Tränen versiegen lassen, und sie wusste, dass sie auch dafür bestraft werden würde. Der goldene Gürtel und der Kragen kamen aus der Satteltasche und wurden angelegt. Sie stand nur mit ihren weißen Wollstrümpfen und den weißen Stiefeln bekleidet da, und das Gewicht des mit Feuertropfen besetzten Kragens schien zu reichen, um sie zu Boden zu drücken. Ihre Blicke klammerten sich förmlich an dem weißen Stab in Theravas Händen fest.

»Dein Pferd wird als Lasttier herhalten, Lina. Was dich angeht, dir ist verboten, jemals wieder zu reiten.«

Es musste eine Möglichkeit geben, diesen Stab wieder in die Hände zu bekommen. Das musste es! Therava drehte das Ding in den Händen, verspottete sie.

»Hört auf, mit Eurem Schoßtier zu spielen, Therava. Was sollen wir tun?« Belinde, eine schlanke Weise Frau mit von der Sonne fast ausgebleichten Haaren, kam heranstolziert und starrte Therava finster an. Sie war knochig, mit einem Gesicht, das gut böse schauen konnte.

In diesem Moment fiel Galina das erste Mal auf, dass Therava nicht allein war. Hinter ihnen standen mehrere hundert Männer, Frauen und Kinder zwischen den Bäumen, und einige der Männer trugen ausgerechnet Frauen über der Schulter. Sie schlug die Hände vor ihre Blöße, ihr Gesicht rötete sich. Die langen Tage erzwungener Nacktheit hatten sie nicht daran gewöhnt, entkleidet vor Männern stehen. Dann bemerkte sie eine andere Merkwürdigkeit. Nur eine Hand voll waren Algai'd'siswai, mit Bogenfutteralen auf den Rücken und Köchern an den Hüften, aber jeder Mann und jede Frau mit Ausnahme der Weisen Frauen trug mindestens einen Speer. Sie hatten auch ihre Gesichter verschleiert, mit Halstüchern oder auch nur einem Fetzen Stoff. Was hatte das zu bedeuten?

»Wir kehren ins Dreifache Land zurück«, sagte Therava.

»Wir werden Läufer losschicken zu jeder Septime, die sie finden können, und ihnen befehlen, ihre Feuchtländer-Gai'schain aufzugeben, alles aufzugeben, was sie müssen, und sich heimlich ins Dreifache Land aufzumachen. Wir werden unseren Clan wieder aufbauen. Die Shaido werden sich aus der Katastrophe erheben, in die Sevanna uns geführt hat.«

»Das wird Generationen dauern!«, protestierte Modarra.

Schlank und recht hübsch, aber noch größer als Therava, fast so groß wie die meisten Aielmänner, stellte sie sich Therava furchtlos entgegen. Galina konnte nicht begreifen, wie sie das schaffte. Die Frau ließ sie mit einem Blick zusammenzucken.

»Dann werden wir eben Generationen brauchen«, sagte Therava entschieden. »Wir werden uns die Zeit nehmen, die wir brauchen. Und wir werden das Dreifache Land nie mehr verlassen.« Ihr Blick glitt zu Galina. Die zusammenzuckte.

»Du wirst das hier nie wieder anfassen«, sagte sie und hob kurz den Stab. »Und du wirst nie wieder versuchen, mir zu entkommen. Sie hat einen kräftigen Rücken. Beladet sie und lasst uns aufbrechen. Möglicherweise verfolgen sie uns.«

So mit Wasserschläuchen und Töpfen und Kesseln beladen, dass sie sich fast sittsam verhüllt vorkam, stolperte Galina hinter Therava durch den Wald. Sie dachte nicht an den Stab oder an eine Flucht. Etwas in ihr war zerbrochen. Sie war Galina Casban, die Höchste der Roten Ajah, die im Obersten Rat der Schwarzen Ajah saß, und sie würde für den Rest ihres Lebens Theravas Spielzeug sein. Sie war Theravas kleine Lina. Für den Rest ihres Lebens. Tief in ihrem Inneren wusste sie das. Stumme Tränen liefen ihr übers Gesicht.

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