1 Beim letzten Zapfenstreich

Das Rad der Zeit dreht sich, Zeitalter kommen und vergehen und lassen Erinnerungen zurück, die zu Legenden werden. Legenden verblassen zu Mythen, und sogar der Mythos ist lange vergessen, wenn das Zeitalter wiederkehrt, aus dem er geboren wurde. In einem Zeitalter, das von einigen das Dritte Zeitalter genannt wurde, einem Zeitalter, das noch kommen sollte, einem lange vergangenen Zeitalter, erhob sich über dem zerbrochenen Drachenberg ein Wind. Der Wind war nicht der Anfang. Es gibt bei der Drehung des Rades der Zeit keinen Anfang und kein Ende. Aber es war ein Anfang.

Geboren im Schein eines vollen, untergehenden Mondes, in einer Höhe, in der Menschen nicht mehr atmen konnten, geboren in den zuckenden Strömungen, die von den Flammen im Inneren des zerklüfteten Gipfels angeheizt wurden, war der Wind am Anfang ein lauer Luftstrom. Aber er gewann an Stärke, als er den steilen, schroffen Abhang hinunterschoss. Er trug Asche und den Gestank von brennendem Schwefel aus den Höhen mit sich und brauste über die schneebedeckten Hügel, die aus der Ebene um den unvorstellbar hohen Drachenberg aufstiegen, brüllte auf und schüttelte Bäume in der Nacht.

In Richtung Osten heulte der Wind, fort von den Hügeln, über ein großes Lager hinweg, eine richtige Stadt aus Zelten und hölzernen Gehwegen, die Straßen aus zugefrorenen Wagenfurchen säumten. Bald würden die Furchen auftauen und der letzte Schnee verschwinden, um durch Frühlingsregen und Schlamm ersetzt zu werden. Falls das Lager so lange Bestand hatte. Trotz der späten Stunde waren viele Aes Sedai wach, versammelten sich in kleinen Gruppen, die von Geweben aus der Einen Macht gegen Lauscher geschützt wurden, und diskutierten über die Ereignisse der Nacht. Nicht wenige dieser Diskussionen waren sehr lebhaft, bei etlichen gab es heftigen Streit, und bei einigen kam es zweifellos zu leidenschaftlichen Argumentationen. Es wäre mit Fäusten gedroht worden oder gar Schlimmeres, hätte es sich hier nicht um Aes Sedai gehandelt. Was sollten sie als Nächstes tun, das war hier die Frage. Jede Schwester kannte mittlerweile die Nachricht vom Ufer, selbst wenn die Einzelheiten vage blieben. Die Amyrlin selbst war insgeheim aufgebrochen, um den Nordhafen zu versiegeln, und man hatte ihr gekentertes Boot im Schilf verfangen gefunden. Ein Überleben in den schnellen, eiskalten Strömungen des Erinin war unwahrscheinlich, mit jeder vergehenden Stunde wurde es noch unwahrscheinlicher, bis es schließlich zur Gewissheit wurde. Die Amyrlin war tot. Jede Schwester im Lager wusste, dass ihre Zukunft und vielleicht auch ihr Leben am seidenen Faden hing, ganz zu Schweigen von der Zukunft der Weißen Burg. Was sollten sie nun tun? Doch die Stimmen verstummten und Köpfe hoben sich, als eine wilde Böe das Lager traf, Zeltwände wie Flaggen flattern ließ und sie mit Schneeklumpen bewarf. Der plötzliche Gestank von brennendem Schwefel hing in der Luft und verkündete, wo der Wind hergekommen war, und mehr als nur eine Aes Sedai entsandte ein stummes Stoßgebet gegen das Böse. Aber nur Augenblicke später war der Wind vorbei, und die Schwestern steckten wieder die Köpfe zusammen und beratschlagten weiter über eine Zukunft, die düster genug aussah, um zu dem scharfen, verwehenden Gestank zu passen, der zurückgelassen worden war.

Weiter brauste der Wind auf Tar Valon zu, gewann unterwegs noch an Kraft, heulte über Heereslager am Fluss hinweg, in denen Soldaten und Trossleute, die auf dem Boden schliefen, plötzlich die Decken fortgerissen wurden, und die Schläfer in den Zelten aufwachten, wenn das Segeltuch knallte und manchmal auch in die Dunkelheit fortgerissen wurde, wenn Zeltstangen nachgaben oder Spanntaue rissen. Beladene Wagen schwankten und kippten um, und Banner ragten stocksteif auf, bevor sie entwurzelt wurden und ihre Stangen nun wie Speere alles aufspießten, was ihnen in den Weg kam. Männer stemmten sich gegen die Böen und kämpften sich zu den Pferdeseilen durch, um die Tiere zu beruhigen, die auf die Hinterbeine stiegen und vor Panik schrien. Niemand wusste, was die Aes Sedai wussten, doch der beißende Schwefelgeruch, der die kalte Nachtluft durchdrang, schien ein böses Omen zu sein, und harte Männer beteten genauso so laut und andächtig wie bartlose Jünglinge. Der Tross fügte seine Stimme hinzu, und das lautstark; Rüstungsschmiede und Pfeilmacher, Ehefrauen und Wäscherinnen und Näherinnen, sie alle wurden von der plötzlichen Furcht ergriffen, dass etwas Finstereres als Dunkelheit in der Nacht umherging.

Das wilde Flattern der Zeltplane über ihrem Kopf, die beinahe zu reißen drohte, halfen Siuan Sanche genau wie die aufgeregten Stimmen und die wiehernden Pferde, die laut genug waren, um das Heulen des Windes zu übertönen, den Schlaf zum zweiten Mal abzuschütteln.

Der plötzliche Gestank brennenden Schwefels ließ ihre Augen tränen, und dafür war sie dankbar. Egwene mochte genauso leicht einnicken und wieder aufwachen, als würde sie ein Paar Strümpfe wechseln, aber auf sie traf das nicht zu. Es war ihr schwer gefallen, endlich Schlaf zu finden, nachdem sie sich endlich dazu hatte überwinden können, sich hinzulegen. Nachdem die Nachricht vom Ufer sie erreicht hatte, war sie davon überzeugt gewesen, nie wieder schlafen zu können, es sei denn aus völliger Erschöpfung. Sie hatte für Leane gebetet, aber ihre ganzen Hoffnungen ruhten auf Egwene, und ihre ganzen Hoffnungen schienen nun zerstört. Nun, sie hatte sich mit beständigem Sorgen und Umhermarschieren erschöpft. Jetzt gab es wieder Hoffnung, und sie wagte es nicht, ihre bleiernen Lider sich noch einmal schließen zu lassen aus Angst, dann womöglich wieder einzuschlafen und nicht vor dem Mittag wach zu werden, falls überhaupt. Der wilde Wind ließ nach, aber die Rufe der Menschen und der Lärm der Pferde nicht.

Müde warf sie ihre Decken beiseite und kam unsicher auf die Beine. Ihre Bettstatt war alles andere als bequem, ausgebreitet in der Ecke eines nicht sehr großen rechteckigen Zeltes auf dem mit Zeltplane abgedeckten Boden, aber sie war hergekommen, auch wenn sie dafür hatte reiten müssen. Natürlich wäre sie beinahe dauernd heruntergefallen und war aus Trauer bestimmt nicht ganz bei Verstand. Sie berührte den verdrehten Ter'angreal, der an einem Lederband um ihren Hals hing. Das erste Mal war sie aufgewacht — was ihr genauso schwer gefallen war wie jetzt auch —, um den Ring aus ihrer Gürteltasche zu holen. Nun, die Trauer war jetzt vertrieben, und das reichte, um sie in Bewegung zu setzen. Ein unvermitteltes Gähnen ließ ihren Kiefer knacken wie eine verrostete Ruderdolle. Nun ja, es reichte fast aus. Eigentlich hätte Egwenes Botschaft, die Tatsache, dass sie am Leben war und überhaupt eine Botschaft schicken konnte, doch ausreichen müssen, um diese bis ins Mark gehende Müdigkeit zu vertreiben. Aber anscheinend war das doch nicht der Fall.

Mit der Macht erschuf sie lange genug eine Leuchtkugel, dass sie die Laterne an dem Mittelpfosten erkennen und mit einem Strang Feuer entzünden konnte. Die einzelne Flamme sorgte für eine sehr schwache, flackernde Helligkeit. Es gab noch andere Lampen und Laternen, aber Gareth hörte nicht auf zu klagen, wie wenig Öl sie doch in ihren Vorräten hatten. Das Kohlenbecken ließ sie in Ruhe; bei Kohle war Gareth nicht so knauserig wie bei Öl — an Holzkohle war auch leichter zu kommen —, aber sie nahm die kalte Luft kaum wahr. Sie bedachte sein unberührtes Bettzeug auf der anderen Seite des Zeltes mit einem Stirnrunzeln. Er wusste bestimmt über die Entdeckung des Bootes und wer es benutzt hatte Bescheid. Die Schwestern taten ihr Bestes, es vor ihm geheim zu halten, aber irgendwie hatten sie damit weniger Erfolg, als die meisten glaubten. Mehr als einmal hatte er sie mit seinem Wissen überrascht. War er draußen in der Nacht unterwegs, um seine Soldaten für das zu organisieren, was auch immer der Saal entschied? Oder war er bereits aufgebrochen und ließ eine verlorene Sache hinter sich? Aber sie war nicht länger verloren, doch das konnte er nicht wissen.

»Nein«, murmelte sie und verspürte ein seltsames Gefühl von… Verrat. Dass sie an dem Mann zweifelte, und selbst wenn nur in Gedanken. Er würde bei Sonnenaufgang immer noch da sein, und das bei jedem Sonnenaufgang, bis der Saal ihm zu gehen befahl. Vielleicht noch länger. Er war zu stur, stolz. Nein, so stimmte das nicht. Gareth Brynes Wort war seine Ehre. Einmal gegeben, würde er es nicht zurücknehmen, bis man ihn davon entband, was auch immer es ihn kostete. Und vielleicht, nur vielleicht, hatte er andere Gründe, um zu bleiben. Sie weigerte sich, darüber nachzudenken.

Sie verbannte Gareth aus ihren Gedanken — warum war sie bloß in sein Zelt gegangen? Es wäre so viel einfacher gewesen, sich in ihrem eigenen Zelt im Lager der Schwestern hinzulegen, so klein es auch war, oder auch der weinenden Chesa Gesellschaft zu leisten. Obwohl, bei näherer Betrachtung wäre sie dazu nicht imstande gewesen. Sie konnte Tränen nicht ertragen, und Egwenes Dienerin würde nicht aufhören zu weinen. Sie verbannte Gareth energisch aus ihren Gedanken, fuhr sich schnell mit der Bürste durchs Haar, wechselte ihr Unterhemd gegen ein frisches und zog sich in dem matten Lichtschein so schnell an, wie es ging. Ihr einfaches blaues Reitgewand war zerknittert, außerdem waren die Säume schlammbespritzt — sie hatte das Boot mit eigenen Augen sehen müssen —, aber sie nahm sich nicht die Zeit, es mit der Macht zu säubern und zu bügeln. Sie musste sich beeilen.

Das Zelt war alles andere als die geräumige Unterkunft, die man bei einem General erwartet hätte, also bedeutete sich zu beeilen, dass sie mit der Hüfte so hart gegen die Ecke des Schreibtisches stieß, dass eines der zusammenklappbaren Beine beinahe zusammenkrachte, bevor sie es gerade noch rechtzeitig verhindern konnte, sie beinahe über den Lagerhocker stolperte, dem einzigen Möbelstück, das einem Stuhl noch am nächsten kam, und sie sich das Schienbein an einer der messingbeschlagenen Truhen stieß, die überall herumstanden. Das rief einen Fluch hervor, der die Ohren eines jeden Zuhörers versengt hätte. Diese Dinger hatten einen doppelten Zweck, dienten als Sitzgelegenheiten und zum Verstauen, und eine von ihnen mit flachem Deckel wurde als provisorischer Waschständer mit einer weißen Wasserkanne und Schüssel benutzt. In Wahrheit war alles durchaus ordentlich aufgestellt, aber auf seine Weise. Er fand den Weg durch dieses Labyrinth in absoluter Dunkelheit. Jeder andere würde sich bei dem Versuch, seine Bettstatt zu finden, das Bein brechen. Siuan vermutete, dass er sich um Attentäter Sorgen machte, auch wenn er das nie zur Sprache gebracht hatte.

Sie nahm ihren dunklen Umhang von einer der Truhen und legte ihn sich über den Arm, dann blieb sie dort stehen, weil sie die Laterne mit einem Strang Luft löschen wollte. Ihr Blick fiel auf Gareths zweites Paar Stiefel, das am Fuß seines Bettzeugs stand. Sie erzeugte wieder eine kleine Lichtkugel und sandte sie zu den Stiefeln. Wie sie sich gedacht hatte. Frisch poliert. Der verfluchte Kerl bestand darauf, dass sie ihre Schuld abarbeitete, dann schlich er sich hinter ihrem Rücken — oder noch schlimmer, unter ihrer Nase, während sie schlief — herein und polierte die eigenen verdammten Stiefel! Gareth Bryne, der verdammte Mistkerl, behandelte sie wie eine Dienerin, hatte aber nicht einmal den Versuch unternommen, sie zu küssen…!

Sie hob das Kinn, ihre Lippen spannten sich wie ein Anlegetau. Wo war denn dieser Gedanke auf einmal hergekommen? Ganz egal, was Egwene auch behauptete, sie hatte sich nicht in den Mistkerl Gareth Bryne verliebt! Niem als! Sie hatte zu viel zu tun, um sich bei solchen Albernheiten erwisehen zu lassen. Darum hast du wohl a uch aufgehört, Stick ereien z u tragen, flüsterte eine leise Stimme in ihrem Hinterkopf. All diese hübschen Kleider, in eine Truhe gestopft, weil du Angst hast. Angst? Sollte man sie doch zu Asche verbrennen, wenn sie Angst vor ihm oder sonst einem Mann hatte!

Sie fasste sorgfältig Erde, Feuer und Luft zusammen und senkte das Gewebe auf die Stiefel. Die gesamte Stiefelpolitur und der größte Teil der Färbung wurde abgeschält und ballte sich zu einer makellosen, funkelnden Kugel zusammen, die in der Luft schwebte und das Leder entschieden grau zurückließ. Einen Augenblick lang dachte sie darüber nach, die Kugel zwischen seine Decken zu positionieren. Das wäre eine passende Überraschung für ihn, wenn er sich endlich hinlegte!

Seufzend stieß sie die Zeltplane auf und steuerte die Kugel in die Dunkelheit hinein, um sie auf dem Boden landen zu lassen. Dieser Mann hatte eine ungeduldige und ausgesprochen respektlose Art und Weise an sich, wenn sie sich zu sehr von ihrem Temperament mitreißen ließ. Wie sie hatte feststellen müssen, als sie die Stiefel, die sie gerade gereinigt hatte, ihm das erste Mal an den Kopf geworfen hatte. Oder als er sie so wütend gemacht hatte, dass sie ihm Salz in den Tee getan hatte. Viel Salz, aber es war nicht ihre Schuld gewesen, dass er es so eilig gehabt hatte, um die Tasse mit einem Schluck zu leeren. Oder es zumindest versucht hatte. Oh, ihr Gebrüll schien ihn nie zu stören, und manchmal brüllte er auch einfach zurück — manchmal lächelte er auch bloß, was sie erst richtig in Rage bringen konnte! —, aber er hatte seine Grenzen. Natürlich hätte sie ihn mit einem einfachen Gewebe Luft aufhalten können, aber sie hatte genauso ihre Ehre wie er, sollte er doch zu Asche verbrennen! Außerdem musste sie in seiner Nähe bleiben. Min hatte es gesagt, und das Mädchen schien sich nicht irren zu können. Das war der einzige Grund, warum sie Gareth Bryne nicht eine Hand voll Gold in den Rachen rammte und ihm erklärte, er sei bezahlt worden und sollte gehen und sich verbrennen lassen. Der einzi ge Grund! Abgesehen von ihrer Ehre, natürlich.

Gähnend ließ sie die dunkle Pfütze im kalten Mondlicht funkeln. Wenn er reintrat, bevor sie trocknete, und den Dreck ins Zelt brachte, war es seine eigene Schuld und nicht die ihre. Wenigstens hatte der Schwefelgeruch etwas nachgelassen. Ihre Augen tränten nicht mehr; allerdings gab es nur Aufruhr zu sehen.

Das große, von der Nacht eingehüllte Lager hatte nie viel Ordnung besessen. Die zerklüfteten Straßen waren einigermaßen gerade gewesen, das schon, und breit genug für die marschierenden Soldaten, aber was den Rest anging, war es immer wie die zufällige Aneinanderreihung aus Zelten und primitiven Unterkünften und von Steinen gesäumten Kochgruben erschienen. Außerdem sah es jetzt wie nach einem Angriff aus. Überall lagen zusammengebrochene Zelte, einige lagen auf anderen, die noch standen, obwohl von denen viele Schlagseite hatten, und Dutzende Wagen und Karren lagen auf der Seite oder hatten sich gar überschlagen. Überall wurde um Hilfe bei den Verletzten gerufen, von denen es einige zu geben schien. Männer humpelten gestützt von anderen Männern an Gareths Zelt vorbei, während kleinere Gruppen im Laufschritt entlangeilten und als Tragen benutzte Decken schleppten. Ein Stück weiter konnte Siuan vier mit Decken verhüllte Umrisse auf dem Boden erkennen; vor dreien knieten Frauen, wiegten sich vor und zurück und klagten schrill.

Für die Toten konnte sie nichts tun, aber den anderen konnte sie ihre Fähigkeiten im Heilen anbieten. Das war kaum ihr bestes Talent, darin war sie überhaupt nicht stark, obwohl es in seiner vollen Stärke zurückgekehrt war, als Nynaeve sie Geheilt hatte, aber sie bezweifelte, dass sich noch eine andere Schwester im Lager aufhielt. Sie mieden die Soldaten, jedenfalls die meisten von ihnen. Ihre Fähigkeiten würden besser als gar nichts sein. Sie hätte es tun können, aber da waren die Neuigkeiten, die sie erfahren hatte.

Es war wichtig, dass sie die richtigen Leute so schnell wie möglich erreichten. So verschloss sie ihre Ohren vor dem Stöhnen und dem Klagen, ignorierte baumelnde Arme und an blutige Köpfe gedrückte Lumpen, und eilte zu den Pferdeseilen am Lagerrand, wo der seltsam süße Geruch von Pferdemist anfing, den Schwefelgestank zu überwinden. Ein grobknochiger, unrasierter Bursche mit gehetztem Gesichtsausdruck wollte an ihr vorbeieilen, aber sie erwischte seinen grobmaschigen Ärmel.

»Sattle mir das sanfteste Pferd, das du finden kannst«, sagte sie zu ihm, »und zwar sofort.« Bela wäre nett gewesen, aber sie hatte keine Idee, wo die kräftige Stute unter all den Tieren angebunden war, und wollte nicht warten, bis man sie gefunden hatte.

»Ihr wollt reiten?«, sagte er ungläubig und riss sich los.

»Wenn Ihr ein Pferd besitzt, dann sattelt es selbst, wenn Ihr dumm genug dazu seid. Ich habe den Rest der Nacht in der Kälte vor mir, um mich um jene zu kümmern, die sich selbst verletzt haben, und wir werden Glück haben, wenn nicht mindestens ein Pferd stirbt.«

Siuan knirschte mit den Zähnen. Der Dummkopf hielt sie für eine der Näherinnen. Oder eine der Ehefrauen! Aus irgendeinem Grund erschien das schlimmer. Sie hielt ihm die geballte Faust so schnell vors Gesicht, dass er mit einem Fluch zurücktrat, aber sie hielt die Hand nahe genug vor seine Nase, dass ihr Großer Schlangenring alles war, was er sehen konnte. Er musste schielen, um ihn anschauen zu können. »Das sanfteste Tier, das du finden kannst«, sagte sie tonlos. »Aber schnell.«

Der Ring erreichte sein Ziel. Er schluckte, dann kratzte er sich den Kopf und ließ die Blicke über die Pferdeleinen schweifen, wo jedes Tier entweder zu stampfen oder zu zittern schien. »Sanft«, murmelte er. »Ich werde sehen, was ich tun kann, Aes Sedai. Sanft.« Er tippte sich mit dem Knöchel an die Stirn, dann eilte er noch immer vor sich hinmurmelnd die Reihen der Pferde entlang.

Siuan murmelte selbst, während sie auf und ab ging, drei Schritte in diese Richtung und drei in die andere. Zu Matsch zertretener und dann wieder gefrorener Schnee knirschte unter ihrem festen Schuhwerk. So wie es aussah, würde er Stunden brauchen, um ein Pferd zu finden, das sie nicht abwerfen würde, wenn es ein Schwein grunzen hörte. Sie warf sich den Umhang über die Schultern, rückte mit einem ungeduldigen Ruck die silberne Verschlussnadel an Ort und Stelle und stach sich dabei beinahe in den Daumen. Sie hatte Angst? Sie würde es Gareth Bryne zeigen, dem verdammten, verdammten Mistkerl! Vor und zurück, vor und zurück. Vielleicht sollte sie den ganzen langen Weg zu Fuß gehen. Es würde unangenehm sein, aber besser als abgeworfen zu werden und sich vielleicht auch noch einen Knochen zu brechen. Sie stieg nie auf ein Pferd, auch nicht auf Bela, ohne an gebrochene Knochen zu denken. Aber der Bursche kam mit einer schwarzen Stute mit einem Sattel mit hohem Zwiesel zurück.

»Die ist sanft?«, wollte Siuan skeptisch wissen. Das Tier bewegte sich unruhig, als wollte es gleich tanzen, und es sah schlank aus. Das sollte ein Anzeichen für Schnelligkeit sein.

»Nachtlilie ist so sanft wie Milchwasser, Aes Sedai. Gehört meiner Frau, und Nemaris ist zierlich. Sie mag kein Reittier, das lebhaft ist.«

»Wenn du es sagst«, erwiderte sie und schniefte. Ihrer Erfahrung nach waren Pferde selten sanft. Aber ihr blieb keine Wahl.

Sie nahm die Zügel und stieg unbeholfen in den Sattel, dann musste sie herumrutschen, damit sie nicht auf ihrem Umhang saß und sich nicht mit jeder Bewegung selbst halb erwürgte. Die Stute tänzelte und riss an den Zügeln. Siuan hatte es gewusst. Sie versuchte jetzt schon, ihr die Knochen zu brechen. Ein Boot hingegen — ob nun ein Ruder oder zwei, ein Boot fuhr dorthin, wo man wollte, und hielt an, wann man wollte, solange man kein völliger Idiot war, was Flut, Strömungen und den Wind anging. Aber Pferde hatten Gehirne, auch wenn sie klein waren, und das bedeutete, dass sie es sich in den Kopf setzen konnten, Zaumzeug und Zügel und die Wünsche des Reiters zu ignorieren. Daran musste man denken, wenn man sich auf ein verdammtes Pferd setzte.

»Eines noch, Aes Sedai«, sagte der Mann, während sie versuchte, eine bequemere Position zu finden. Warum schienen Sättel immer härter als Holz zu sein? »Ich würde sie an Eurer Stelle heute Nacht nur im Schritt gehen lassen. Der Wind, Ihr wisst schon, und der ganze Gestank, nun, sie könnte vielleicht einen Hauch…«

»Keine Zeit«, sagte Siuan und grub ihr die Fersen in die Seiten. Nachtlilie, die so sanft wie Milchwasser war, machte einen solchen Satz nach vorn, dass sie beinahe hinterrücks aus dem Sattel geflogen wäre. Nur der schnelle Griff nach dem Sattelknauf hielt sie oben. Sie glaubte, dass der Bursche ihr etwas nachrief, konnte sich aber nicht sicher sein. Was beim Licht war für diese Nemaris ein lebhaftes Tier? Die Stute raste aus dem Lager, als wollte sie ein Rennen gewinnen, rannte auf den untergehenden Mond und den Drachenberg zu, der sich als finsterer Dorn vor der sternenerfüllten Nacht abzeichnete.

Mit flatterndem Umhang unternahm Siuan keine Anstrengungen, sie zu bremsen, sondern trat erneut mit den Fersen zu und schlug mit den Zügeln auf den Hals der Stute, so wie sie es bei anderen gesehen hatte, wenn sie ein Pferd zu größerer Geschwindigkeit antrieben. Sie musste die Schwestern erreichen, bevor jemand etwas Unwiderrufliches tat. Ihr kamen viel zu viele Möglichkeiten in den Sinn. Die Stute galoppierte an kleinen Dickichten, winzigen Weilern und großen Bauernhöfen mit ihren von Steinmauern umgebenen Wiesen und Feldern vorbei. Beherbergt von mit Schnee bedeckten Schieferdächern und Mauern aus Stein oder Ziegeln waren die Bewohner nicht von dem Sturmwind geweckt worden; jedes Gebäude lag still im Dunkeln. Selbst die verdammten Kühe und Schafe genossen vermutlich ihre friedliche Nachtruhe. Bauern hatten immer Kühe und Schafe. Und Schweine.

Sie hüpfte auf dem harten Sattelleder auf und ab und versuchte sich über den Hals der Stute zu beugen. So wurde es gemacht; sie hatte es gesehen. Fast sofort glitt sie aus dem linken Steigbügel und rutschte beinahe auf dieser Seite vom Pferd herunter, sie schaffte es gerade noch rechtzeitig, sich den Weg zurück nach oben zu krallen und den Fuß wieder an Ort und Stelle zu platzieren. Sie musste bloß kerzengerade im Sattel sitzen, sich am Knauf festkrallen, als ginge es um ihr Leben, mit der anderen Hand die Zügel noch fester halten. Ihr flatternder Umhang zerrte unbehaglich an ihrem Hals, und sie hüpfte so hart auf und ab, dass ihre Zähne aufeinander schlugen, wenn sie den Mund im falschen Augenblick öffnete, aber sie gab nicht auf, trieb die Stute sogar noch einmal an. Beim Licht, bei Sonnenaufgang würde sie alle Knochen im Leib spüren. Und es ging weiter durch die Nacht, und jeder weit ausholende, federnde Schritt des Pferdes stauchte sie in den Sattel. Immerhin verhinderten die zusammengebissenen Zähne, dass sie gähnen konnte.

Endlich traten nach einem schmalen Streifen aus Bäumen die Pferdeleinen und Wagenreihen aus der Dunkelheit zum Vorschein, die das Aes Sedai-Lager umringten. Mit einem erleichterten Seufzer riss sie die Zügel so hart zurück, wie sie nur konnte. Bei einem Pferd, das so schnell lief, musste man sicherlich so hart daran reißen, um es anzuhalten. Nachtlilie hielt an, so abrupt, dass sie mit Sicherheit über den Hals der Stute geflogen wäre, wäre diese nicht zugleich auf die Hinterbeine gestiegen. Mit weit aufgerissenen Augen klammerte sich Siuan am Hals des Tieres fest, bis es schließlich wieder alle vier Hufe fest auf den Boden gestellt hatte. Und danach noch eine Weile länger.

Auch Nachtlilie atmete schwer, wie ihr bewusst wurde. Eigentlich keuchte sie sogar. Siuan verspürte kein Mitleid. Das blöde Tier hatte versucht, sie umzubringen, so wie es bei Pferden nun einmal üblich war! Sich zu erholen brauchte einen Moment, aber dann zog sie den Umhang zurecht, nahm die Zügel auf und ritt in gemächlichem Schritt an den Wagen und langen Reihen aus Pferden vorbei. Zwischen den Pferden bewegten sich schattenhafte Männer, zweifellos Pferdeknechte, die sich um die sichtlich unruhigen Tiere kümmerten. Die Stute schien jetzt folgsamer zu sein. Wirklich, das war gar nicht so übel.

Als sie das eigentliche Lager betrat, zögerte sie nur kurz, bevor sie Saidar umarmte. Es war seltsam, ein Lager voller Aes Sedai als gefährlich zu betrachten, und doch waren hier zwei Schwestern ermordet worden. Bedachte man die Umstände ihres Todes, erschien es unwahrscheinlich, dass das Halten der Macht ausreichen würde, um sie zu retten, sollte sie das nächste Opfer sein, aber Saidar vermittelte zumindest die Illusion von Sicherheit. So lange, bis sie sich erinnerte, dass es nur eine Illusion war. Einen Augenblick später webte sie die Stränge aus Geist, die ihre Fähigkeiten und das Leuchten der Macht verbergen würden. Es bestand schließlich keine Notwendigkeit, sie anzukündigen.

Selbst zu dieser Stunde, da der Mond tief im Westen stand, waren ein paar Leute auf den Gehwegen unterwegs, Diener und Dienerinnen, die eilig späte Aufgaben erledigten. Vielleicht wäre frühe die zutreffendere Bezeichnung. Die meisten Zelte, die es in beinahe jeder vorstellbaren Größe und Form gab, waren dunkel, aber in einigen der größeren funkelte das Licht von Lampen oder Kerzen. Unter diesen Umständen keine große Überraschung. Um jedes erleuchtete Zelt standen Männer oder hatten sich davor versammelt. Behüten Niemand sonst konnte so still stehen, dass er mit der Nacht zu verschmelzen schien, vor allem nicht in einer so kalten Nacht. Erfüllt von der Macht konnte sie noch andere ausmachen, ihre Behüterumhänge ließen sie in den Schatten verschwinden. Keine Überraschung, dachte man an die ermordeten Schwestern und das, was ihr Bund mit den Aes Sedai an sie übertragen musste. Vermutlich war mehr als nur eine Schwester bereit, sich die Haare auszureißen. Oder jemand anderem. Sie bemerkten sie, folgten ihrem Weg, während sie langsam suchend die gefrorenen Furchen entlangritt.

Der Saal musste informiert werden, natürlich, aber andere mussten es vorher wissen. Ihrer Einschätzung nach waren sie eher dazu bereit, etwas… Überstürztes zu tun. Und möglicherweise Verheerendes. Eide hielten sie, aber erzwungene Eide, an eine Frau, die sie nun tot wähnten. Für den Saal, den größten Teil des Saals, galt, dass sie ihre Flagge an den Mast genagelt hatten, indem sie einen Sitz annahmen. Keine von ihnen würde springen, bevor sie ganz genau wussten, wo sie landen würden.

Sheriams Zelt war zu klein für das, von dem Siuan sicher war, es vorzufinden, außerdem war es dunkel, wie sie im Vorbeigehen bemerkte. Sie bezweifelte aber sehr, dass die Frau drinnen schlief. Morvrins Unterkunft, groß genug, um Schlafplatz für vier zu bieten, hätte es getan, wäre Platz unter all den Büchern gewesen, die die Braune auf dem Marsch geschafft hatte anzusammeln, aber auch das war dunkel. Ihr dritter Versuch erwies sich jedoch als erfolgreich, und sie zügelte Nachtlilie ein Stück davor.

Myrelle hatte zwei Spitzzelte im Lager, eins für sich und eins für ihre drei Behüterdie drei, die sie in der Öffentlichkeit anzuerkennen wagte —, und ihr Zelt erstrahlte in aller Helligkeit, und die Schatten von Frauen huschten über die geflickten Wände. Drei sehr unterschiedliche Männer standen auf dem Gehweg vor dem Zelt — ihre Reglosigkeit kennzeichnete sie als Behüter-, aber Siuan ignorierte sie für den Augenblick. Worüber sie sich drinnen wohl gerade unterhielten? Überzeugt, dass es eine sinnlose Bemühung war, webte sie Luft mit einer Spur Feuer; ihr Gewebe berührte das Zelt und traf eine Barriere gegen Lauschangriffe. Natürlich nach innen gerichtet und damit für sie unsichtbar. Sie hatte den Versuch nur auf die Möglichkeit hin unternommen, dass sie sorglos waren. Bei den Geheimnissen, die sie verbergen mussten, kaum wahrscheinlich. Die Schatten hinter den Wänden waren jetzt ganz still. Also wussten sie, dass es jemand versucht hatte. Sie ritt den Rest des Weges mit der Überlegung beschäftigt, worüber sie sich wohl unterhalten hatten.

Als sie absaß — nun, immerhin schaffte sie es, einen halben Sturz in etwas zu verwandeln, das einem Sprung ähnelte —, trat einer der Behüter, Sheriams Arinvar, ein schlanker Cairhiener nur unwesentlich größer als sie, nach vorn, um mit einer kleinen Verbeugung nach den Zügeln zu greifen, aber sie winkte ihn fort. Sie ließ Saidar los und band die Stute mit einem Knoten an einer der Stangen des Gehweges an, der ein großes Boot bei heftigem Wind und einer starken Strömung gehalten hätte. Keine der lockeren Schlaufen, die andere benutzten. Sie mochte das Reiten verabscheuen, aber wenn sie ein Pferd festband, dann wollte sie, dass es bei ihrer Rückkehr noch da war. Arinvars Brauen hoben sich, als er ihr bei dem Knoten zusah, aber er würde auch nicht für das verdammte Pferd bezahlen müssen, falls es sich losriss und verloren ging.

Nur einer der anderen beiden Behüter gehörte Myrelle, Avar Hachami, ein Saldaeaner mit einer Nase wie ein Adlerschnabel und einem dichten, mit Grau durchsetztem Schnurrbart. Nach einem kurzen Blick auf sie und einem leichten Nicken widmete er sich wieder dem Studium der Nacht. Morvrins Jori, klein und kahl und fast so breit wie hoch, ignorierte sie. Er musterte die Dunkelheit, und seine Hand ruhte locker auf dem langen Schwertgriff. Angeblich gehörte er zu den besten Schwertkämpfern der Behüter. Wo waren die anderen? Natürlich konnte sie nicht danach fragen, genau wie sich die Frage verbot, wer alles im Zelt war. Die Männer wären bis ins Mark schockiert gewesen. Keiner versuchte, sie vom Eintritt abzuhalten. Wenigstens waren die Verhältnisse noch nicht so schlimm geworden.

Im Zeltinneren verbreiteten zwei Kohlenbecken Rosenduft und machten die Luft verglichen mit der Nacht beinahe schon mollig warm. Sie entdeckte fast jeden, den sie gehofft hatte zu treffen, und alle schauten, wer da eintrat.

Myrelle saß in einem seidenen, mit roten und gelben Blumen verzierten Morgenmantel auf einem stabilen Stuhl, die Arme unter der Brust verschränkt; auf ihren olivefarbenen Zügen zeichnete sich eine Gelassenheit ab, die so perfekt war, dass sie nur die Erregung in ihren dunklen Augen hervorhob. Das Licht der Macht hüllte sie ein. Schließlich war es ihr Zelt; sie würde diejenige sein, die hier ein Schutzgewebe webte. Sheriam saß kerzengerade an einem Ende von Myrelles Pritsche und tat so, als würde sie ihre blaugeschlitzten Röcke richten; ihr Gesichtsausdruck war so feurig wie ihr Haar, und er wurde beim Anblick Siuans noch hitziger. Sie trug nicht die Behüterinnenstola, ein schlechtes Zeichen.

»Ich hätte mir denken können, dass Ihr es seid«, sagte Carlinya kalt mit in die Hüften gestemmten Fäusten. Sie war noch nie eine warmherzige Frau gewesen, aber jetzt rahmten die Locken, die kurz vor ihren Schultern endeten, ein Gesicht ein, das aus Eis in der blassen Farbe ihres Kleides gemeißelt zu sein schien. »Ich werde nicht zulassen, dass Ihr meine privaten Unterhaltungen belauscht, Siuan.« O ja, sie glaubten, dass alles zu Ende war.

Morvrin mit ihrem runden Gesicht erschien trotz der Falten in ihrem braunen Wollrock zur Abwechslung mal nicht im Mindesten abwesend oder schläfrig; sie ging um den kleinen Tisch herum, auf dem eine hohe Silberkanne und fünf Silbertassen auf einem lackierten Tablett standen. Anscheinend hatte niemand Lust auf Tee; die Tassen waren alle unbenutzt. Die langsam ergrauende Schwester griff in ihre Gürteltasche und drückte Siuan einen geschnitzten Hornkamm in die Hand. »Ihr seid völlig zerzaust, Frau. Bringt Euer Haar in Ordnung, bevor irgendein Lümmel Euch für eine Schankdirne statt für eine Aes Sedai hält und Euch auf sein Knie ziehen will.«

»Egwene und Leane leben und sind Gefangene in der Weißen Burg«, verkündete Siuan viel ruhiger, als ihr zumute war. Eine Schankdirne? Sie tastete nach ihrem Haar und entdeckte, dass die Schwester Recht hatte. Sie fing an, mit dem Kamm Ordnung hereinzubringen. Wenn man Ernst genommen werden wollte, durfte man nicht aussehen, als hätte man in einer Gasse gerauft. Damit hatte sie im Moment schon genug Probleme, und das würde auch noch ein paar Jahre so weitergehen, bis sie wieder die Hände auf den Eidstab legen konnte. »Egwene hat im Traum zu mir gesprochen. Es ist ihnen gelungen, die Häfen so gut wie zu blockieren, aber sie wurden gefangen genommen. Wo sind Beonin und Nisao? Eine von euch holt sie. Ich habe keine Lust, denselben Fisch zweimal zu entschuppen.«

So. Falls sie glaubten, von ihrem Eid entbunden zu sein sowie von Egwenes Befehl, ihr zu gehorchen, sollte sie das eines anderen belehren. Aber keine machte auch nur die geringsten Anstalten, ihr zu gehorchen.

»Beonin wollte ins Bett«, sagte Morvrin langsam und ließ Siuan dabei nicht aus den Augen. Es war eine sehr genaue Musterung. Hinter dem gelassenen Gesicht verbarg sich ein scharfer Verstand. »Sie war zu müde, um weiter zu diskutieren. Und warum sollten wir Nisao bitten, sich zu uns zu gesellen?« Das rief bei Myrelle, die Nisaos Freundin war, ein leichtes Stirnrunzeln hervor, aber die anderen beiden nickten. Trotz der Treueide, die sie alle teilten, hielten sie Nisao und Beonin für Außenseiter. Siuan vertrat die Ansicht, dass diese Frauen nie den Glauben aufgegeben hatten, sie würden die Ereignisse noch irgendwie lenken. Selbst nachdem man ihnen das Ruder schon vor langem aus der Hand genommen hatte.

Sheriam erhob sich von der Pritsche, als wollte sie loseilen, sie raffte sogar die Röcke, aber das hatte nichts mit Siuans Befehl zu tun. Die Wut war verschwunden und von glühendem Eifer ersetzt worden. »Wir brauchen sie im Moment sowieso nicht. ›Gefangene‹ bedeutet die Zellen im Keller, bis der Burgsaal für einen Prozess zusammentritt. Wir können dorthin Reisen und sie befreien, bevor Elaida überhaupt merkt, was geschieht.«

Myrelle nickte knapp, stand auf und griff nach der Schärpe ihres Morgenmantels. »Ich glaube, wir sollten die Behüter zurücklassen. Wir brauchen sie dazu nicht.« Sie schöpfte voller Erwartung tiefer von der Quelle.

»Nein«, sagte Siuan scharf und verzog das Gesicht, als der Kamm in ihrem Haar hängen blieb. Manchmal dachte sie darüber nach, es aus Gründen der Bequemlichkeit noch kürzer als Carlinya zu schneiden, aber Gareth hatte sich anerkennend darüber geäußert, hatte gesagt, wie sehr es ihm gefiel, wie es ihre Schultern berührte. Beim Licht, konnte sie dem Mann nicht einmal hier entkommen? »Egwene bekommt keinen Prozess, und sie sitzt nicht in den Zellen. Sie wollte mir nicht sagen, wo man sie festhält, nur dass man sie ständig bewacht. Und sie befiehlt, dass es keinen Rettungsversuch geben soll, an dem Schwestern beteiligt sind.«

Die Frauen starrten sie in schockiertem Schweigen an. Tatsächlich hatte sie selbst mit Egwene über diesen Punkt gestritten, aber es war sinnlos gewesen. Es war ein Befehl gewesen, der vom Amyrlin-Sitz erfolgt war.

»Was Ihr da sagt, ist irrational«, erwiderte Carlinya schließlich. Ihre Stimme klang noch immer kühl, ihr Gesicht war unbewegt, aber sie glättete ihre bestickten weißen Röcke überflüssigerweise. »Falls wir Elaida gefangen nehmen, werden wir sie vor Gericht stellen und aller Wahrscheinlichkeit nach dämpfen.« Falls. Ihre Zweifel und Ängste waren noch immer nicht ausgeräumt. »Da sie Egwene hat, wird sie sicherlich das Gleiche tun. Ich brauche Beonin nicht, damit sie mir sagt, was das Gesetz in einem solchen Fall vorsieht.«

»Wir müssen sie retten, ganz egal, was sie will!« Sheriams Stimme war so heiß, wie Carlinyas kalt war, ihre grünen Augen blitzten. Ihre Fäuste waren in den Stoff ihrer Röcke gekrallt. »Sie begreift anscheinend nicht die Gefahr, in der sie schwebt. Sie muss unter Schock stehen. Hat sie Euch gegenüber angedeutet, wo man sie festhält?«

»Siuan, versucht nicht, uns Dinge vorzuenthalten«, sagte Myrelle energisch. Ihre Augen schienen beinahe zu brennen, und sie zog die Seidenschärpe fester, als wollte sie den Worten Nachdruck verleihen. »Warum sollte sie verbergen wollen, wo man sie festhält?«

»Aus Angst vor dem, was Ihr und Sheriam vorschlagt.« Siuan gab es mit den vom Wind zerzausten Locken auf und warf den Kamm auf den Tisch. Sie konnte nicht hier stehen, sich kämmen und erwarten, dass die anderen ihr Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Es musste eben zerzaust gehen.

»Sie wird bewacht, Myrelle. Von Schwestern. Bei einem Rettungsversuch werden Aes Sedai von der Hand von Aes Sedai sterben, so sicher wie ein Silberhecht im Schilf laicht. Das ist einmal geschehen, aber es darf nicht noch einmal geschehen, oder jede Hoffnung auf eine friedliche Wiedervereinigung der Weißen Burg ist für immer zunichte. Wir können nicht zulassen, dass es noch einmal geschieht. Also wird es keine Rettung geben. Warum Elaida entschieden hat, ihr nicht den Prozess zu machen, dazu kann ich nichts sagen.« Egwene war da sehr ausweichend gewesen, als würde sie es selbst nicht genau verstehen. Aber was die Fakten anging, da war sie sehr eindeutig gewesen, und es war keine Behauptung, die sie machen würde, solange sie sich nicht sicher war.

»Friedlich«, murmelte Sheriam und ließ sich zurück auf die Pritsche sinken. Sie erfüllte das Wort mit einer Welt aus Bitterkeit. »Hat es diese Chance jemals gegeben, von Anfang an? Elaida hat die Blaue Ajah abgeschafft*. Wie soll es da Frieden geben?«

»Elaida kann eine Ajah nicht einfach auslöschen«, murmelte Morvrin; als hätte das auch nur das Mindeste damit zu tun. Sie tätschelte Sheriams Schulter, aber die Frau mit dem feuerroten Haar stieß ihre dicke Hand einfach mit einem Schulterzucken fort.

»Es gibt immer eine Chance«, sagte Carlinya. »Die Häfen sind blockiert, das stärkt unsere Position. Die Verhandlungsdelegationen treffen sich jeden Morgen…« Sie verstummte mit einem beunruhigten Blick, schenkte sich eine Tasse Tee ein und trank sie zur Hälfte aus, ohne sie vorher mit Honig zu süßen. Die Hafenblockade würde die Verhandlungen vermutlich beendet haben, nicht dass sie sich in irgendeine vielversprechende Richtung bewegt hätten. Davon abgesehen, würde Elaida sie weiterführen, wo sie doch Egwene in der Hand hatte?

»Ich verstehe nicht, warum Elaida ihr nicht den Prozess machen will«, sagte Morvrin, »eine Verurteilung wäre doch sicher. Aber es bleibt nun einmal die Tatsache bestehen, dass sie eine Gefangene ist.« Sie zeigte weder Sheriams oder Myrelles Temperament noch Carlinyas Kälte. Sie listete einfach die Tatsachen auf, mit einer leichten Anspannung der Lippen. »Wenn sie nicht vor Gericht gestellt wird, dann soll zweifellos ihr Wille gebrochen werden. Sie hat sich als stärkere Frau erwiesen, als ich ihr zuerst zugetraut hätte, aber niemand ist stark genug, sich der Weißen Burg zu widersetzen, wenn die sich dazu entschieden hat, ihren Willen zu brechen. Wir müssen die Konsequenzen bedenken, wenn wir sie nicht vorher dort rausholen können.«

Siuan schüttelte den Kopf. »Sie wird nicht einmal mit der Rute gezüchtigt werden, Morvrin. Ich verstehe das auch nicht, aber sie wird uns wohl kaum befehlen, sie in Ruhe zu lassen, wenn sie glaubt, gefoltert zu werden…«

Sie verstummte, als die Zeltplane zur Seite gestoßen wurde und Lelaine Akashi eintrat, die mit blauen Fransen versehene Stola über die Arme drapiert. Sheriam stand auf, auch wenn sie das nicht gemusst hätte; Lelaine gehörte zu den Sitzenden, aber Sheriam war die Behüterin. Andererseits bot Lelaine trotz ihrer Schlankheit eine beeindruckende Erscheinung in ihrem blaugeschlitzten Samt, zu Fleisch gewordene Erhabenheit; sie strömte eine Autorität aus, die in dieser Nacht größer als je zuvor zu sein schien. Jedes Haar lag an Ort und Stelle; sie hätte genauso gut nach einer ordentlichen Nachtruhe den Saal betreten können.

Ohne zu zögern, wandte sich Siuan dem Tisch zu und nahm die Kanne, als würde sie sie vorbereiten. Normalerweise wäre das in dieser Gesellschaft ihre Rolle gewesen; Tee einzuschenken und zu sprechen, wenn man sie um ihre Meinung bat. Wenn sie den Mund hielt, würde Lelaine vielleicht das erledigen, weswegen sie gekommen war, und schnell wieder gehen, ohne ihr einen zweiten Blick zu widmen. Das tat die Frau sowieso selten.

»Ich dachte mir, dass es sich bei dem Pferd draußen um das gleiche handelt, auf dem ich Euch habe ankommen gesehen, Siuan.« Lelaine betrachtete die anderen Schwestern, die nun alle eine ausdruckslose Miene aufgesetzt hatten. »Störe ich?«

»Siuan sagt, Egwene lebt«, bemerkte Sheriam, als würde sie auf dem Dock über den Preis von Deltabarschen plaudern.

»Und Leane auch. Egwene hat zu Siuan im Traum gesprochen. Sie verweigert jeden Rettungsversuch.« Myrelle warf ihr einen unergründlichen Seitenblick zu, aber Siuan hätte ihr eine Ohrfeige geben können! Vermutlich wäre Lelaine die Nächste gewesen, die sie aufgesucht hätte, aber sie hätte es ihr auf ihre Weise gesagt und wäre nicht wie auf dem Fischmarkt damit herausgeplatzt. In letzter Zeit war Sheriam so leichtsinnig wie eine Novizin geworden!

Lelaine schürzte die Lippen und sah Siuan durchdringend an. »Hat sie das? Ihr solltet wirklich Eure Stola tragen, Sheriam. Ihr seid die Behüterin. Siuan, begleitet Ihr mich? Es ist viel zu lange her, dass wir uns unter vier Augen unterhalten haben.« Mit einer Hand hielt sie die Zeltplane zurück und richtete den durchdringenden Blick auf die anderen Schwestern. Sheriam errötete, wie es nur eine Rothaarige tun konnte, sie wurde knallrot und fummelte die schmale blaue Stola aus der Gürteltasche, um sie sich um die Schultern zu legen, aber Myrelle und Carlinya erwiderten Lelaines Musterung ungerührt. Morvrin hatte angefangen, mit dem Finger gegen das runde Kinn zu tippen, als wäre sie sich der anderen nicht bewusst. Möglicherweise stimmte das auch. Morvrin war so.

Waren Egwenes Befehle zu ihnen durchgedrungen? Siuan blieb nicht mal die Gelegenheit für einen energischen Blick, während sie die Kanne abstellte. Ein Vorschlag von einer Schwester von Lelaines Stellung — ob sie nun Sitzende war oder nicht — kam für jemanden von Siuans Rang einem Befehl gleich. Sie hob Umhang und Röcke an und ging hinaus, dankte Lelaine murmelnd, dass sie ihr die Plane aufhielt. Beim Licht, sie hoffte, dass diese Närrinnen ihr auch zugehört hatten.

Draußen standen jetzt vier Behüter, aber einer von ihnen war Lelaines Burin, ein kleiner kupferhäutiger Domani in einem Behüterumhang, der den größten Teil von ihm nicht da zu sein scheinen ließ, und Avar war von einem anderen von Myrelles Männern ersetzt worden, Nuhel Dromand, einem großen, beleibten Mann mit einem Illianerbart, der seine Oberlippe frei ließ. Er stand so still da, dass man ihn für eine Statue hätte halten können, wären da vor seiner Nase nicht diese winzigen Nebelschwaden gewesen. Arinvar verbeugte sich vor Lelaine, eine schnelle Höflichkeit, wenn auch formell. Nuhel und Jori ließen in ihrer Wachsamkeit nicht nach. Burin auch nicht, was das anging.

Der Knoten, der Nachtlilie gehalten hatte, brauchte genauso lang, um wieder gelöst zu werden, wie sein Knüpfen gedauert hatte, aber Lelaine wartete geduldig, bis sich Siuan mit den Zügeln in der Hand aufrichtete, dann setzte sie sich mit langsamen Schritten auf dem Gehweg vorbei an dunklen Zelten in Bewegung. Mondschatten verbargen ihr Gesicht. Sie verzichtete darauf, die Macht zu umarmen, also konnte Siuan es auch nicht tun. Gefolgt von Burin ging Siuan mit dem Pferd neben Lelaine her und schwieg. Es war Sache der Sitzenden anzufangen, und nicht nur, weil sie eine Sitzende war. Siuan kämpfte gegen den Drang an, den Kopf zu senken und so die Extra-Zentimeter zu verlieren, die sie der Frau voraushatte. Sie dachte nur noch selten an die Zeit, als sie Amyrlin gewesen war. Sie war wieder als Aes Sedai aufgenommen worden, und als Aes Sedai gehörte es dazu, instinktiv seine Nische unter den anderen Schwestern einzunehmen. Das verdammte Pferd knabberte an ihrer Hand, als würde es sich für ihr Tier halten, und sie wechselte die Zügel lange genug in die andere Hand, um sich die Finger am Umhang abzuwischen. Dreckiges sabberndes Biest. Lelaine sah sie von der Seite an, und sie fühlte, wie sich ihre Wangen röteten. Instinkt.

»Ihr habt seltsame Freunde, Siuan. Ich glaube, ein paar von ihnen waren dafür, Euch wegzuschicken, als Ihr in Salidar aufgetaucht seid. Sheriam könnte ich verstehen, auch wenn die Tatsache, dass sie so weit über Euch steht, bestimmt eine gewisse Peinlichkeit mit sich bringt. Das war auch der hauptsächliche Grund, warum ich Euch gemieden habe, um Peinlichkeiten zu vermeiden.«

Um ein Haar hätte Siuan sie erstaunt angestarrt. Das grenzte ja beinahe schon daran, über das zu sprechen, worüber niemals gesprochen wurde, eine Überschreitung, die sie von dieser Frau niemals erwartet hätte. Von ihr selbst, möglicherweise — sie hatte ihre Nische gefunden, aber sie war nun einmal, wer sie war-, aber niemals von Lelaine!

»Ich hoffe, wir beide können wieder Freundinnen werden, Siuan, obwohl ich verstehen kann, falls das unmöglich sein sollte. Dieses Treffen heute Nacht bestätigt, was Faolain mir gesagt hat.« Lelaine lachte leise und faltete die Hände in Taillenhöhe. »Oh, verzieht doch nicht so das Gesicht, Siuan. Sie hat Euch nicht verraten, jedenfalls nicht absichtlich. Sie hat eine Bemerkung zu viel gemacht, und ich entschied mich, sie zu bedrängen, und zwar sehr energisch. Nicht die Art und Weise, wie man eine andere Schwester behandeln sollte, andererseits ist sie wirklich nicht mehr als eine Aufgenommene, bis sie sich der Prüfung unterziehen und sie bestehen kann. Faolain wird eine gute Aes Sedai abgeben. Sie ist nur sehr zögernd mit allem rausgerückt. Nur Bruchstücke und ein paar Namen, aber zusammen mit Eurer Anwesenheit bei diesem Treffen glaube ich, dass ich mir ein ziemlich genaues Bild machen kann. Ich glaube, ich kann sie jetzt wieder freilassen. Sie wird mir kein zweites Mal nachspionieren. Ihr und Eure Freundinnen seid Egwene sehr treu ergeben, Siuan. Könnt Ihr mir gegenüber genauso treu sein?«

Darum also war Faolain anscheinend untergetaucht. Wie viele »Bruchstücke« hatte sie enthüllt, während sie »energisch bedrängt« worden war? Faolain wusste nicht alles, aber es war besser davon auszugehen, dass Lelaine es tat. Davon auszugehen, aber zugleich nichts zu enthüllen, solange sie selbst nicht unter Druck gesetzt wurde.

Siuan blieb abrupt stehen, holte tief Luft. Lelaine folgte ihrem Beispiel, wartete offensichtlich darauf, dass sie das Wort ergriff. Obwohl ihr Gesicht halb im Schatten lag, war das klar. Siuan musste sich dafür stählen, dieser Frau gegenüberzutreten. Einige Instinkte waren Aes Sedai in Fleisch und Blut übergegangen. »Ich bin Euch treu ergeben als Sitzende meiner Ajah, aber Egwene al'Vere ist der Amyrlin-Sitz.«

»Das ist sie.« Lelaines Ausdruck blieb gleich, soweit Siuan erkennen konnte. »Sie hat mit Euch in Euren Träumen gesprochen? Sagt mir, was Ihr über die Situation wisst, Siuan.« Siuan warf einen Blick über die Schulter auf den stämmigen Behüten »Ignoriert ihn«, sagte die Sitzende. »Ich habe schon seit zwanzig Jahren keine Geheimnisse mehr vor Burin.«

»In meinen Träumen«, gab Siuan zu. Sie beabsichtigte mit Sicherheit nicht zuzugeben, dass es in diesem Traum nur darum gegangen war, dass sie sich in Tel'aran'rhiod nach Salidar begab. Sie durfte diesen Ring nicht benutzen. Der Saal würde ihn ihr abnehmen, wenn er das erfuhr. Ruhig — zumindest nach außen hin — erzählte sie, was sie Myrelle und den anderen gesagt hatte, und mehr.

Aber nicht alles. Nicht, dass es mit Sicherheit Verrat gegeben hatte. Das hatte nur aus dem Saal kommen können. Abgesehen von den daran beteiligten Frauen hatte sonst niemand von dem Plan gewusst, die Häfen zu blockieren —, allerdings hatte derjenige, der dafür verantwortlich war, nicht wissen können, dass er Egwene verriet. Er hatte nur Elaida geholfen, was schon für sich genommen merkwürdig genug war. Warum sollte eine von ihnen Elaida helfen wollen? Von Anfang an hatte es Gerede über Elaidas geheime Anhängerinnen gegeben, aber sie hatte diese Möglichkeit schon vor langem wieder verworfen. Mit Sicherheit wollte jede Blaue Elaida inbrünstig stürzen, aber solange sie nicht wusste, wer dafür verantwortlich war, würde keine Sitzende alles erfahren, nicht einmal eine Blaue.

»Sie hat für morgen eine Sitzung des Saals einberufen… nein, also für heute Abend, beim letzten Zapfenstreich«, endete sie. »In der Burg, im Saal der Burg.«

Lelaine lachte so sehr, dass sie sich Tränen aus den Augen wischen musste. »Oh, das ist unbezahlbar. Dass der Saal genau unter Elaidas Nase sitzt. Ich wünschte mir fast, ich könnte sie das wissen lassen, nur um ihr Gesicht zu sehen.« Fast übergangslos wurde sie wieder ernst. Lelaine hatte schon immer gern gelacht, wenn sie wollte, aber der Kern ihres Wesens war immer ernst gewesen. »Also glaubt Egwene, dass sich die Ajah gegeneinander wenden. Das erscheint kaum wahrscheinlich. Sie hat doch nur eine Hand voll Schwestern gesehen, sagt Ihr. Trotzdem, das sollte man sich das nächste Mal in Tel'aran'rhiod ansehen. Vielleicht kann jemand herausfinden, was in den Quartieren der Ajah zu finden ist, statt sich auf Elaidas Arbeitszimmer zu konzentrieren.«

Siuan konnte nur mühsam ein Zusammenzucken unterdrücken. Sie plante selbst ein bisschen in Tel'aran'rhiod herumzuschnüffeln. Wenn sie die Burg in der Welt der Träume betrat, war sie jedes Mal, wenn sie um eine Ecke bog, eine andere Frau in einem anderen Kleid, aber sie würde noch vorsichtiger als sonst sein müssen.

»Eine Rettung zu verweigern ist verständlich, finde ich, sogar lobenswert — niemand will noch mehr tote Schwestern —, aber es ist sehr riskant«, fuhr Lelaine fort. »Kein Prozess, nicht mal eine Prügelstrafe? Was kann Elaida vorhaben? Glaubt sie, sie könnte sie dazu bringen, wieder eine Aufgenommene zu werden? Das erscheint doch kaum wahrscheinlich.« Aber sie nickte unmerklich, als müsste sie darüber nachdenken.

Das hier bewegte sich in eine gefährliche Richtung. Wenn Schwestern zu der Überzeugung gelangten, zu wissen, wo Egwene sich möglicherweise aufhielt, dann wuchs die Chance, dass jemand einen Versuch unternahm, sie dort herauszuholen, ob sie nun von Aes Sedai bewacht wurde oder nicht. Es am falschen Ort zu versuchen konnte genauso riskant sein wie am richtigen, wenn nicht noch riskanter. Und am schlimmsten war, dass Lelaine etwas ignorierte.

»Egwene hat den Saal zusammengerufen«, sagte Siuan giftig. »Werdet Ihr gehen?« Sie erhielt missbilligendes Schweigen zur Antwort, und ihre Wangen wurden wieder heiß. Manche Dinge waren in Fleisch und Blut übergegangen.

»Selbstverständlich werde ich gehen«, sagte Lelaine schließlich. Eine direkte Aussage, aber es hatte ein Zögern gegeben. »Der ganze Saal wird gehen. Egwene al'Vere ist der Amyrlin-Sitz, und wir haben mehr als genug Traum-Ter''angreale. Vielleicht wird sie erklären, wieso sie glaubt, durchhalten zu können, wenn Elaida befiehlt, ihren Willen zu brechen. Das würde ich gern hören.«

»Und bei was bittet Ihr mich, Euch die Treue zu halten?«

Statt zu antworten, nahm Lelaine ihren langsamen Gang durchs Mondlicht wieder auf, richtete sorgfältig ihre Stola. Burin folgte ihr, ein beinahe unsichtbarer Löwe in der Nacht. Siuan beeilte sich, sie einzuholen, zog Nachtlilie hinter sich her und wehrte die Versuche der dummen Stute ab, ihr wieder an den Fingern zu knabbern.

»Egwene al'Vere ist die gesetzmäßige Amyrlin«, sagte Lelaine schließlich. »Bis sie stirbt. Oder gedämpft wird. Sollte eins davon geschehen, wären wir wieder bei Romanda, die Stab und Stola erringen will, und mir, die ihr zuvorkommen will.« Sie schnaubte. »Diese Frau wäre eine genauso schlimme Katastrophe wie Elaida. Unglücklicherweise hat sie genug Unterstützung, um auch mir zuvorzukommen. Wir wären wieder an diesem Punkt angelangt, aber sollte Egwene sterben oder gedämpft werden, werdet Ihr und Eure Freundinnen mir so treu ergeben sein wie Egwene. Und ihr werdet mir trotz Romanda helfen, den Amyrlin-Sitz zu erringen.«

Siuan hatte das Gefühl, einen Eisklumpen im Magen zu haben. Hinter diesem ersten Verrat steckte bestimmt keine Blaue, aber jetzt hatte zumindest eine Blaue einen Grund, Egwene zu verraten.

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