26 Wie eine Welt aus Nebel

Spielzeug legte ein schnelles Tempo durch den Wald vor, aber Tuon ritt dicht hinter ihm — natürlich mit Selucia an ihrer Seite —, damit sie ihm und Talmanes zuhören konnte. Allerdings lenkten sie ihre eigenen Gedanken beim Lauschen ab. Er war also zusammen mit dem Wiedergeborenen Drachen aufgewachsen? Dem Wiedergeborenen Drachen! Und er hatte abgestritten, etwas über den Mann zu wissen. Das war eine seiner Lügen, die ihr durchgegangen war, und sie war gut darin, Lügen zu erahnen. In Seandar konnte die nicht erahnte Lüge die Lüge sein, die einen das Leben kostete oder einen auf den Sklavenmarkt brachte. Hätte sie von seinen Ausflüchten gewusst, hätte sie ihn vermutlich eher geohrfeigt, als ihm zu erlauben, sie zu küssen. Nun, das war eine Überraschung gewesen, und sie war sich nicht sicher, ob sie sich davon schon erholt hatte. Selucia hatte ihr beschrieben, wie es war, von einem Mann geküsst zu werden, aber die Wirklichkeit wurde der Beschreibung nicht einmal annähernd gerecht. Nein, sie musste zuhören.

»Ihr habt Estean den Befehl übergeben?«, rief Spielzeug aus, und zwar so laut, dass ein Schwärm grauer Tauben mit ärgerlichem Gurren aus dem Schutz des dünnen Unterholzes emporflatterte. »Der Mann ist ein Narr!«

»Aber keineswegs so dumm, um nicht auf Daerid zu hören«, erwiderte Talmanes ruhig. Er schien kein Mann zu sein, der sich übermäßig aufregte. Er war ständig auf der Hut; sein Kopf war immer in Bewegung. Gelegentlich überprüfte er vorbei an dem dichten Astwerk auch den Himmel über ihnen. Er hatte nur von Raken gehört, und doch hielt er nach ihnen Ausschau. Seine Worte kamen noch schneller und akzentuierter als die Spielzeugs, und es fiel schwer, ihm zu folgen. Diese Leute sprachen alle so schnell! »Carlomin und Reimon sind keine Narren. Reimon jedenfalls nur selten. Aber keiner von ihnen wird auf einen Bürgerlichen hören, ganz egal, wie sehr er ihnen auch im Kriegshandwerk überlegen ist. Edorion würde es, aber ich wollte ihn bei mir haben.«

Das Symbol der roten Hand, das Talmanes trug, war räts elhaft. Sogar mehr als rätselhaft. Er stammte aus einem alten und ehrenhaften Haus? Aber Spielzeug war der Richtige. Er erinnerte sich an Falkenflügels Gesicht. Das erschien natürlich völlig unmöglich, aber als er es abgestritten hatte, war das eine offensichtliche Lüge gewesen, so offensichtlich wie die Flecken auf einem Leopardenfell. Konnte die Rote Hand Spielzeugs Siegel sein? Aber wenn es das war, was war dann mit seinem Ring? Als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, war sie fast in Ohnmacht gefallen. Nun, jedenfalls war sie so nahe daran gewesen, wie sie es seit ihrer Kindheit gewesen war.

»Das wird sich ändern, Talmanes«, knurrte Spielzeug. »Ich habe das zu lange zugelassen. Wenn Reimon und die anderen jetzt Banner befehlen, dann macht sie das zu Bannergenerälen. Und Euch zu einem Generalleutnant. Daerid befehligt fünf Banner, und das macht ihn auch zu einem Generalleutnant. Reimon und die anderen werden seinen Befehlen gehorchen, oder sie können nach Hause gehen. Ich werde mir bei Tarmon Gai’don nicht den Schädel spalten lassen, nur weil sie sich verdammt noch mal weigern, auf jemanden zu hören, der keine verdammten Güter vorzuweisen hat.«

Talmanes lenkte sein Pferd um einen Dornbusch herum, und jeder folgte ihm. Das Gestrüpp schien besonders lange Dornen zu haben, die auch noch gekrümmt waren. »Es wird ihnen nicht gefallen, Mat, aber sie werden auch nicht nach Hause gehen. Das wisst Ihr. Habt Ihr schon eine Idee, wie wir aus Altara herauskommen?«

»Ich denke darüber nach«, murmelte Spielzeug. »Ich denke darüber nach. Diese Armbrustmänner….« Er atmete schwer aus. »Das war nicht klug, Talmanes. Zum einen sind sie ans Marschieren gewöhnt. Die Hälfte von ihnen wird große Probleme haben, bloß im Sattel zu bleiben, wenn wir schnell vorrücken, und das werden wir. In Wäldern wie hier können sie nützlich sein oder an anderen Orten, an denen sie viel Deckung haben, aber wenn wir auf offenem Gelände sind, ohne Piken, dann werden sie niedergeritten, bevor sie eine zweite Salve abschießen können.«

In der Ferne brüllte ein Löwe. In der Ferne, aber es reichte, um die Pferde nervös wiehern und ein paar Schritte tänzeln zu lassen. Spielzeug beugte sich über den Hals seines Wallachs und schien dem Tier etwas ins Ohr zu flüstern. Es wurde sofort wieder ruhig. Also war das doch keine weitere seiner phantasievollen Geschichten gewesen. Erstaunlich.

»Ich habe Männer genommen, die reiten können, Mat«, sagte Talmanes, sobald sich sein Brauner wieder beruhigt hatte. »Und sie haben alle die neuen Winden.« Jetzt schlich sich eine Spur Begeisterung in seine Stimme. Selbst beherrschte Männer neigten dazu, sich bei dem Thema Waffen zu erwärmen. »Drei Drehungen der Winde« — seine Hände beschrieben einen schnellen Kreis —, »und die Sehne ist gespannt. Mit etwas Übung kann ein Mann sieben oder acht Bolzen in der Minute abschießen. Mit einer schweren Armbrust.«

Selucia machte ein leises Geräusch tief in der Kehle. Sie durfte überrascht sein. Wenn Talmanes die Wahrheit sagte, und soweit es Tuon betraf, hatte er keinen Grund zu lügen, dann musste sie sich eine dieser wunderbaren Winden besorgen. Mit einer als Modell konnten die Handwerker sie nachbauen. Bogenschützen konnten schneller als Armbrustmänner schießen, aber ihre Ausbildung dauerte auch länger. Es gab immer mehr Armbrustmänner als Bogenschützen.

»Si eben?«, rief Spielzeug ungläubig. »Das wäre mehr als nützlich, aber so etwas habe ich ja noch nie gehört. Niemals.«

Er murmelte etwas vor sich hin, als wäre das von besonderer Bedeutung, dann schüttelte er den Kopf. »Wie seid Ihr daran gekommen?«

»Sieben oder sogar acht Mal. Da war ein Handwerker in Murandy, der eine Wagenladung von Dingen, die er erfunden hatte, nach Caemlyn bringen wollte. Dort gibt es irgendeine Schule für Gelehrte und Erfinder. Er brauchte Geld für die Reise, und er war bereit, den Waffenschmieden der Bande zu zeigen, wie man sie herstellt. Decke deine Feinde bei jeder Gelegenheit mit Pfeilen ein. Es ist immer besser, deine Feinde in der Ferne zu töten statt aus der Nähe.«

Selucia hielt die Hände so, dass Tuon sie sehen konnte; die schlanken Finger bewegten sich flink. WAS IST DIESE BANDE, VON DER SIE DA SPRECHEN? Sie benutzte die angebrachte Form, Untertan zu Höhergestellten, aber ihre Ungeduld war fast spürbar. Ungeduld mit allem, was geschah. Tuon hatte nur wenige Geheimnisse vor ihr, aber ein paar erschienen im Moment ratsam. Sie würde es Selucia zutrauen, dass sie sie mit Gewalt nach Ebou Dar zurückschleppte, damit sie ihr Wort nicht brach. Ein Schatten hatte viele Pflichten, und manche erforderten es, auch den höchsten Preis zu zahlen. Sie wollte nicht Selucias Hinrichtung anordnen müssen.

In der kaiserlichen Form erwiderte sie: OFFENSICHTLICH SPIELZEUGS PERSÖNLICHES HEER. HÖR ZU, VIELLEICHT ERFAHREN WIR MEHR.

Es erschien seltsam, dass Spielzeug ein Heer befehligte. Er war manchmal charmant, sogar durchaus schlagfertig und amüsant, aber oft war er auch ein Possenreißer und immer ein Schuft. Als Tylins Schoßtier war er völlig in seinem Element erschienen. Aber er war auch unter den Zirkusartisten in seinem Element erschienen und unter den Marath’damane und den beiden entflohenen Damane und in der Spelunke. Die war eine solche Enttäuschung gewesen. Nicht mal ein einziger Kampf! Dafür waren nicht einmal die späteren Geschehnisse ein vollwertiger Ersatz gewesen. In einen Straßenkampf verwickelt zu werden war kaum das Gleiche, wie Kämpfe in einer Spelunke zu sehen. Die zugegebenermaßen viel langweiliger gewesen war, als die in Ebou Dar aufgeschnappten Gerüchte ahnen ließen. Bei diesem Straßenkampf hatte Spielzeug eine unerwartete Seite gezeigt. Ein prächtiger Mann, aber einer mit einer merkwürdigen Schwäche. Aus irgendeinem Grund fand sie das auf seltsame Weise anziehend.

»Gute Einstellung«, sagte er gedankenverloren und zupfte an dem schwarzen Halstuch, das er um den Hals gebunden trug. Sie fragte sich, was so besonders an der Narbe war, die er zu verbergen sich solche Mühe gab. Dass er es tat, war verständlich. Warum hatte man ihn gehängt, und wie hatte er überlebt? Das konnte sie ihn nicht fragen. Es störte sie keinesfalls, seinen Blick etwas senken zu müssen — tatsächlich machte es sogar Spaß, ihn sich winden zu lassen; das kostete so wenig Mühe —, aber sie wollte seine Ehre nicht vernichten. Jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt.

»Erkennt Ihr ihn nicht wieder?«, sagte Talmanes. »Er ist aus Eurem Buch. König Roedran hat zwei Ausgaben in seiner Bibliothek. Er hat sich den Inhalt eingeprägt. Der Mann glaubt, dass ihn das zu einem großen Hauptmann machen wird. Er war so erfreut über unseren Handel, dass er für mich eine Ausgabe drucken und binden ließ.«

Spielzeug warf ihm einen verblüfften Blick zu. »Mein Buch?«

»Das, von dem Ihr uns erzählt habt, Mat. Nebel und Stahl, von Madoc Comadrin.«

»Ach, das Buch.« Spielzeug zuckte mit den Schultern.

»Das habe ich vor langer Zeit gelesen.«

Tuon knirschte mit den Zähnen. Ihre Finger blitzten. WANN HÖREN SIE AUF, VON BÜCHERN ZU SPRECHEN, UND KOMMEN WIEDER ZU INTERESSANTEN DINGEN?

VIELLEICHT ERFAHREN WIR MEHR, WENN WIR ZUHÖ- REN, erwiderte Selucia. Tuon warf ihr einen finsteren Blick zu, aber die Frau stellte eine so unschuldige Miene zur Schau, dass sie ihr Stirnrunzeln nicht beibehalten konnte. Sie lachte — leise, damit Spielzeug sich nicht bewusst wurde, wie nahe sie doch hinter ihm war-, und Selucia fiel ein. Leise.

Aber Spielzeug war verstummt, und Talmanes schien zufrieden, es dabei zu belassen. Sie ritten in Stille, wenn man von den Geräuschen des Waldes einmal absah; Vögel sangen, seltsame Eichhörnchen mit schwarzen Schwänzen keckerten auf Ästen. Tuon hielt nach Omen Ausschau, aber ihr fiel nichts auf. Hellbunte Vögel schössen zwischen den Bäumen umher. Einmal entdeckten sie eine Viehherde von vielleicht fünfzig schlanken Tieren mit langen Hörnern, die auf beiden Seiten fast gerade aus dem Kopf ragten. Die Tiere hatten sie kommen gehört und bauten sich angriffslustig auf. Ein Bulle warf den Kopf zurück und scharrte über den Boden. Spielzeug und Talmanes führten die Gruppe in großem Abstand um die Herde herum. Tuon schaute über die Schulter. Die Rotwaffen — warum wurden sie so genannt?, sie musste Spielzeug das fragen —, die Rotwaffen lenkten die Lastpferde, aber Gorderan hatte die Armbrust gehoben, und die anderen hatten Pfeile eingespannt. Also war dieses Vieh gefährlich. Vieh brachte nur wenige Omen, und sie war erleichtert, als die Herde hinter ihnen zurückblieb. Sie war nicht so weit gekommen, um jetzt von einer Kuh umgebracht zu werden. Oder zu sehen, wie Spielzeug von einer Kuh umgebracht wurde.

Nach einiger Zeit setzten sich Thom und Aludra an ihre Seiten. Die Frau warf ihr einen Blick zu, dann starrte sie geradeaus. Das Gesicht der Tarabonerin, das von den Zöpfen mit den hellen Perlen eingerahmt wurde, war immer wie erstarrt, wenn sie sie oder Selucia ansah, also gehörte sie offensichtlich zu jenen, die sich weigerten, die Wiederkehr zu akzeptieren. Sie musterte Spielzeug, und sie sah… zufrieden aus. Als hätte sie eine Bestätigung erhalten. Warum hatte Spielzeug sie mitgenommen? Bestimmt nicht wegen ihres Feuerwerks. Das war ja ganz hübsch, konnte sich aber nicht einmal annähernd mit den Himmelslichtern von selbst erst zur Hälfte ausgebildeten Damane messen.

Thom Merrilin war viel interessanter. Offensichtlich war der weißhaarige alte Mann ein erfahrener Spion. Wer hatte ihn nach Ebou Dar geschickt? Die Weiße Burg schien der offensichtlichste Auftraggeber zu sein. Er verbrachte nur wenig Zeit mit den dreien, die sich selbst als Aes Sedai bezeichneten, aber ein gut ausgebildeter Spion würde sich nicht auf diese Weise verraten. Seine Anwesenheit besorgte sie. Bis die letzte Aes Sedai an die Leine gelegt worden war, musste man sich vor der Weißen Burg in Acht nehmen. Trotz allem suchte sie gelegentlich noch immer der beunruhigende Gedanke heim, dass Spielzeug Teil eines Plans der Weißen Burg war. Das war unmöglich, solange nicht einige Aes Sedai allwissend waren, aber manchmal kam ihr der Gedanke.

»Ein seltsamer Zufall, Meister Merrilin, findet Ihr nicht?«, sagte sie. »Mitten in einem altaranischen Wald auf einen Teil von Spielzeugs Heer zu stoßen.«

Er fuhr sich mit einem Knöchel über den Bart und schaffte es nicht, ein kleines Lächeln zu unterdrücken. »Er ist ta’veren, meine Lady, und man kann nie sagen, was um einen Ta’veren herum geschieht. Es ist immer… interessant… wenn man zusammen mit einem von ihnen reist. Mat neigt dazu, stets das zu finden, was er braucht, wenn er es braucht. Manchmal bevor er weiß, dass er es braucht.«

Sie starrte ihn an, aber er schien das ernst zu meinen. »Er ist mit dem Muster verbunden?« Das war die Übersetzung dieses Begriffs. »Was soll das bedeuten?«

Die Augen des alten Mannes weiteten sich vor Erstaunen.

»Das wisst Ihr nicht? Aber es heißt doch, dass Artur Falkenflügel der stärkste Ta’veren war, den es jemals gab, vielleicht genauso stark wie Rand al’Thor. Ich dachte, dass ausgerecht Ihr das wissen… Nun, wenn Ihr es nicht wisst, dann wisst Ihr es nicht. Ta’veren sind Menschen, um die sich das Muster formt, Menschen, die vom Muster selbst gewebt werden, um die richtige Richtung des Gewebes aufrechtzuerhalten, vielleicht um Fehler zu korrigieren, die sich eingeschlichen haben. Eine der Aes Sedai könnte das besser erklären als ich.« Als würde sie sich mit einer Marath’damane unterhalten, oder schlimmer noch, mit einer ausgerissenen Damane.

»Danke«, sagte sie höflich. »Ich glaube, ich habe genug gehört.« Ta’veren. Diese Leute und ihr unerschöpflicher Aberglaube! Ein kleiner brauner Vogel, sicherlich ein Fink, flog von einer hohen Eiche und kreiste dreimal um Tuons Kopf, bevor er weiterflog. Sie hatte ihr Omen gefunden. Bleib in Spielzeugs Nähe. Nicht dass sie die Absicht gehabt hätte, etwas anderes zu tun. Sie hatte ihr Wort gegeben, das Spiel gespielt, wie es gespielt werden musste, und sie hatte ihr Wort in ihrem ganzen Leben noch nicht gebrochen.

Weniger als eine Stunde nach ihrem Aufbruch ertönte voraus ein kehliger Vogelruf, und Selucia deutete auf einen Wachtposten, einen Mann mit einer Armbrust oben im dichten Geäst einer knorrigen Eiche, der eine Hand an den Mund legte. Es war also kein Vogel gewesen. Weitere Vogelrufe gingen ihnen voraus, und bald ritten sie durch ein ordentliches Lager. Es gab keine Zelte, aber die Lanzen waren akurat aufgestapelt, die Pferde waren zwischen den Bäumen festgemacht, ganz in der Nähe ihrer Reiter, und beim Kopf eines jeden Tieres lag ein Sattel oder ein Packsattel. Sie würden nicht lange brauchen, um das Lager abzubrechen und weiterzumarschieren. Ihre Feuer waren klein und machten nur wenig Rauch.

Als sie heranritten, sprangen Männer mit mattgrünen Brustharnischen mit der roten Hand auf den Ärmeln und roten Tüchern um den linken Arm auf die Füße. Tuon sah wettergegerbte alte Gesichter mit Narben und frische junge Gesichter, die alle die Blicke auf Spielzeug richteten und dabei einen Ausdruck trugen, den sie nur als eifrig bezeichnen konnte. Ein Murmeln schwoll an, rauschte einer Brise gleich durch den Wald.

»Es ist Lord Mat.«

»Lord Mat ist zurück.«

»Lord Mat hat uns gefunden.«

»Lord Mat.«

Tuon wechselte einen Blick mit Selucia. Die Zuneigung in diesen Stimmen war echt. Das war selten und oft bei Kommandanten mit lascher Disziplin zu finden. Andererseits hatte sie erwartet, dass ein Heer, das Spielzeug gehörte, ein zerlumpter Haufen sein musste, voller Männer, die ihre Zeit mit Trinken und Würfeln verbrachten. Bloß dass dieses Heer nicht zerlumpter als jedes Regiment aussah, das einen Berg überquert und mehrere hundert Meilen geritten war. Keiner schien betrunken zu sein.

»Wir lagern größtenteils am Tag und reisen nachts, um nicht von den Seanchanern gesehen zu werden«, sagte Talmanes zu Spielzeug. »Bloß weil wir keine dieser fliegenden Ungeheuer gesehen haben, heißt das nicht, dass keine in der Nähe sind. Die meisten Seanchaner scheinen weiter nördlich oder südlich zu sein, aber anscheinend gibt es keine dreißig Meilen von hier ein Lager, und Gerüchten zufolge gibt es dort eine dieser Kreaturen.«

»Ihr scheint gut informiert zu sein«, sagte Spielzeug und musterte die Soldaten, an denen sie vorbeikamen. Plötzlich nickte er, als hätte er eine Entscheidung getroffen. Er erschien grimmig und… konnte das Resignation sein?

»Das bin ich auch, Mat. Ich habe die Hälfte der Späher mitgebracht, und ich habe ein paar Altaraner aufgenommen, die gegen die Seanchaner gekämpft haben. Nun, die meisten von ihnen scheinen bloß Pferde gestohlen zu haben, aber einige waren bereit, das gegen die Chance einzutauschen, wirklich gegen sie kämpfen zu können. Ich glaube, ich kenne die meisten seanchanischen Lager vom Malvidedurchgang im Süden bis hier.«

Plötzlich fing ein Mann mit tiefer Stimme an zu singen, und viele andere stimmten ein.

Ale und Wein sind fein, so wie Mädchen mit hübschem Bein, aber ich, ja ich, hab meinen Spaß am Tanz mit Schattenjak.

Jetzt sang jeder Mann im Lager, Tausende Stimmen grölten das Lied.

Wir werfen die Würfel, egal wie sie fallen, und herzen die Mädchen, ob dick oder dünn, und folgen Lord Mat, wann immer er ruft, zum Tanz mit Schattenjak.

Sie endeten mit Rufen, lachten und hieben sich gegenseitig auf die Schultern. Wer beim Licht war dieser Schattenjak?

Spielzeug zügelte sein Pferd und hob die Hand, in der er seinen seltsamen Speer hielt. Das war alles, und doch verstummten die Soldaten. Also war er doch nicht lasch mit der Disziplin. Es gab nur wenige andere Gründe, warum Soldaten ihre Offiziere mochten, aber der häufigste schien unmöglich zu Spielzeug zu passen.

»Wir wollen ihnen nicht verraten, dass wir hier sind, bis sie es wissen sollen«, sagte Spielzeug laut. Er schrie nicht, er sorgte nur dafür, dass seine Stimme weit trug. Und die Männer hörten es, gaben die Worte an die Männer hinter ihnen weiter, die zu weit weg standen, um sie verstehen zu können. »Wir sind weit von zu Hause weg, aber ich werde uns nach Hause führen. Also seid zum Marsch bereit, zu einem schnellen Marsch. Die Bande der Roten Hand kann schneller marschieren als alle anderen, und das werden wir beweisen müssen.« Es gab keinen Jubel, aber viele nickten. Er wandte sich an Talmanes und sagte: »Habt Ihr Karten?«

»Die besten, die man finden konnte«, erwiderte Talmanes.

»Die Bande hat jetzt ihren eigenen Kartenmacher. Meister Roidelle hatte bereits gute Karten von allem, vom Aryth-Meer bis zum Rückgrat der Welt, und seit wir die Damonas überquert haben, haben er und seine Assistenten neue Karten von dem Land angefertigt, das wir durchquert haben. Sie haben sogar auf einer Karte des östlichen Altara alles eingetragen, was wir über die Seanchaner erfahren haben. Die meisten dieser Lager sind aber nur kurzfristig. Soldaten rücken auf andere Ziele zu.«

Selucia rutschte auf ihrem Sattel herum, und Tuon signalisierte GEDULD in der hohen Befehlsform. Sie hielt ihre Miene ausdruckslos, aber innerlich kochte sie. Zu wissen, wo Soldaten waren, gab Hinweise, wo sie hinwollten. Es musste eine Möglichkeit geben, diese Karte zu verbrennen. Das würde genauso wichtig sein, wie eine dieser Armbrust-Winden in die Hände zu bekommen.

»Ich will auch mit Meister Roidelle sprechen«, sagte Spielz eug.

Soldaten kamen, um die Pferde zu nehmen, und eine Weile lang schien alles ein großer Wirrwarr zu sein. Ein Bursche mit Zahnlücken nahm Akeins Zügel, und Tuon gab ihm genaue Instruktionen, wie er die Stute zu behandeln hatte. Er schenkte ihr zusammen mit seiner Verbeugung einen schiefen Blick. In diesen Ländern schienen einfache Bürger zu glauben, mit allen anderen gleich zu sein. Selucia gab dem schlanken jungen Mann, der Rosenknospe nahm, die gleichen Instruktionen. Sie hielt das für einen passenden Namen für ein so zierliches Pferd. Der junge Mann starrte Selucias Oberweite an, bis sie ihm eine Ohrfeige gab. Eine ordentliche. Er grinste bloß und führte den Falben sich die Wange reibend weg. Tuon seufzte. Für Selucia war das völlig in Ordnung, aber hätte sie einen einfachen Bürger geschlagen, hätte das ihren Blick monatelang gesenkt.

Kurz darauf saß sie auf einem Klapphocker, Selucia hinter sich, und Lopin bot ihnen winzige Tassen mit schwarzem Tee an, verbeugte sich ganz anständig vor Selucia wie auch ihr. Nicht tief genug, aber er versuchte es wenigstens. Ihr Tee war leicht und perfekt gesüßt, aber er hatte ihr-oft genug welchen gebracht, um zu wissen, wie sie ihn mochte. Um sie herum brodelte es vor Aktivität. Talmanes hieß den grauhaarigen Nerim kurz willkommen, der anscheinend sein Diener war und sich freute, wieder mit ihm vereint zu sein. Zumindest zeigte sich ein kurzes Lächeln auf der üblicherweise tiefe rnsten Miene des dürren Mannes. So etwas hätte in der Abgeschiedenheit eines privaten Ortes stattfinden müssen. Leilwin und Domon erlaubten Meister Charin, mit Olver und Juilin und Thera das Lager zu erforschen — Thom und Aludra gingen auch mit, um sich die Beine zu vertreten —, dann setzten sie sich in unmittelbarer Nähe auf Hocker. Leilwin ging sogar so weit und starrte Tuon einen langen Augenblick ohne zu blinzeln an. Selucia gab ein leises Geräusch von sich, das stark an ein Knurren erinnerte, aber Tuon ignorierte die Provokation und bedeutete Frau Anan, sich mit ihrem Hocker neben sie zu setzen. Irgendwann würden die Verräter und Diebe bestraft, der Besitz seinen rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben und die Marath’damane an die Leine gelegt werden, aber diese Dinge mussten vor den wichtigeren Angelegenheiten zurückstehen.

Drei weitere Offiziere erschienen, junge Adlige mit dieser roten Hand auf den dunklen Seidenmänteln, und sie hatten ihre eigene Wiedervereinigung mit Spielzeug, es wurde viel gelacht und es gab viel Schultergeklopfe, was für sie wohl eine Art Ausdruck ihrer Zuneigung war. Tuon konnte sie bald voneinander unterscheiden. Edorion war der dunkelhäutige, schlanke Mann mit der ernsthaften Miene, wenn er nicht gerade lächelte, Reimon der breitschultrige Bursche, der viel lächelte, und Carlomin der hochgewachsene, dünne. Edorion war glatt rasiert, während Reimon und Carlomin dunkle Barte trugen, die zu Spitzen geformt waren und wie eingeölt funkelten. Alle drei machten großes Aufhebens um die Aes Sedai, verneigten sich tief. Sie verneigten sich sogar vor Bethamin und Seta! Tuon schüttelte den Kopf.

»Ich habe Euch oft genug gesagt, dass das eine andere Welt als die ist, die Ihr gewohnt seid«, murmelte Frau Anan, »aber Ihr wollt das immer noch nicht wahrhaben, oder?«

»Nur weil eine Sache so ist, wie sie ist«, erwiderte Tuon, »bedeutet das noch lange nicht, dass sie so sein sollte, selbst wenn sie schon eine lange Zeit so ist.«

»Das Gleiche könnten einige über Euer Volk sagen, meine Lady.«

»Das könnten sie.« Tuon ließ es dabei bewenden, obwohl sie für gewöhnlich ihre Unterhaltungen mit der Frau genoss. Frau Anan sprach sich wie erwartet dagegen aus, Marath’damane an die Leine zu legen, sie war sogar gegen die Haltung von Da’covale, aber das waren Diskussionen und keine Streitgespräche, und Tuon hatte es geschafft, dass sie bei einigen Dingen eingelenkt hatte. Sie hoffte, die Frau eines Tages ganz auf ihre Seite zu bringen. Aber nicht heute. Sie wollte sich voll und ganz auf Spielzeug konzentrieren.

Meister Roidelle kam, ein Mann mit einem runden Gesicht und grauen Haaren, dessen Körpermasse seinen dunklen Mantel spannte. Ihm folgten sechs durchtrainiert erscheinende junge Männer, von denen jeder einen ledernen Kartenzylinder trug. »Ich habe sämtliche Karten von Altara mitgebracht, die ich habe, mein Lord«, sagte er mit seinem melodischen Akzent zu Talmanes, während er sich verneigte. Sprach denn in diesem Land jeder so, als könnte er die Worte nicht schnell genug hervorstoßen? »Einige decken das ganze Land ab, das tun sie, einige nicht mehr als hundert Quadratmeilen. Die besten sind natürlich meine eigenen, die ich in den vergangenen Wochen angefertigt habe.«

»Lord Mat wird Euch sagen, was er braucht«, erwiderte Talmanes. »Wollt Ihr Euch das in Ruhe ansehen, Mat?«

Aber Spielzeug sagte dem Kartenmacher bereits, was er wollte, die Karte mit den seanchanischen Lagern. In kürzester Zeit war sie aussortiert und auf dem Boden ausgebreitet worden, und Spielzeug hockte davor auf den Fersen. Meister Roidelle schickte einen seiner Assistenten los, um ihm einen Hocker zu besorgen. Hätte er versucht, es Spielzeug nachzumachen, hätte er seine Mantelknöpfe abgesprengt und wäre vermutlich auch noch umgekippt. Tuon starrte die Karte gierig an. Wie konnte sie sie in die Hände bekommen?

Talmanes und die anderen drei Männer tauschten Blicke aus und lachten, als wäre es die lustigste Sache auf der ganz en Welt, ignoriert zu werden, dann schlenderten sie zu Tuon herüber. Die Aes Sedai versammelten sich um die Karte auf dem Boden, bis Spielzeug ihnen befahl, ihm nicht mehr über die Schultern zu sehen. Sie bewegten sich ein kleines Stück zurück — Bethamin und Seta hielten ein Stück Abstand von ihnen — und fingen an, sich leise zu unterhalten, blickten gelegentlich in seine Richtung. Hätte Spielzeug auf ihre Mienen geachtet, vor allem Jolines, hätte er sich vielleicht trotz des unglaublichen Ter’angreals, das sich laut Frau Anan in seinem Besitz befand, Sorgen gemacht.

»Wir sind etwa hier, richtig?«, sagte er und markierte eine Stelle mit dem Finger. Meister Roidelle murmelte, dass es so war. »Und das ist das Lager, wo sich angeblich der Raken befindet? Die Flugbestie?« Wieder ertönte zustimmendes Gemurmel. »Gut. Was für ein Lager ist das? Wie viele Männer sind dort stationiert?«

»Berichten zufolge ist es ein Versorgungslager, mein Lord. Um Patrouillen auszurüsten.« Der junge Mann kam mit einem weiteren Klapphocker zurück, und der stämmige Mann ließ sich mit einem Grunzen darauf nieder. »Es sollen etwa hundert Soldaten, größtenteils Altaraner, und etwa zweihundert Arbeiter sein, aber wie man mir gesagt hat, halten sich dort auch manchmal bis zu fünfhundert Soldaten auf.« Ein sorgfältiger Mann, dieser Meister Roidelle.

Talmanes machte eine dieser seltsamen Verbeugungen, mit einem nach vorn gestellten Fuß, und die anderen drei taten es ihm nach. »Meine Lady«, sagte Talmanes, »Vanin hat mir von Euren Problemen berichtet und den Versprechungen, die Lord Mat gemacht hat. Ich wollte Euch nur sagen, dass er sein Wort hält.«

»Das tut er, meine Lady«, murmelte Edorion. »Immer.«

Tuon winkte ihn zur Seite, damit sie Spielzeug weiter beobachten konnte, und er tat es nach einem verblüfften Blick auf Spielzeug und dann auf sie. Sie schenkte ihm einen strengen Blick. Dass diese Männer anfingen, sich Dinge einzubilden, war das Letzte, was sie wollte. Noch hatte sich nicht alles so ergeben, wie es sollte. Es bestand noch immer die Möglichk eit, dass das alles schiefging.

»Ist er ein Lord oder ist er keiner?«, verlangte sie zu wiss en.

»Verzeiht«, sagte Talmanes, »aber könntet Ihr das wiederholen? Ich muss mich entschuldigen. Ich muss Dreck in den Ohren haben.« Sie wiederholte den Satz langsam und sorgfältig, aber sie brauchten trotzdem eine Minute, um zu ergründen, was sie gesagt hatte.

»Verbrennt meine Seele, nein«, sagte Reimon schließlich mit einem Lachen. Er strich sich den Bart. »Außer für uns. Für uns ist er Lord genug.«

»Er verabscheut Adlige größtenteils«, sagte Carlomin. »Es ist eine Ehre für mich, den wenigen anzugehören, die er nicht verabscheut.«

»Eine Ehre«, stimmte Reimon zu. Edorion beschränkte sich auf ein Nicken.

»Soldaten, Meister Roidelle«, sagte Spielzeug energisch.

»Zeigt mir, wo die Soldaten sind. Und mehr als nur ein paar hundert.«

»Was tut er da?«, sagte Tuon stirnrunzelnd. »Er kann doch wohl nicht so viele Männer aus Altara herausschmuggeln wollen, selbst wenn er weiß, wo sich jeder Soldat aufhält. Es gibt immer Patrouillen und Flüge von Raken.« Wieder ließen sie sich mit der Antwort Zeit. Vielleicht sollte sie versuchen, ganz schnell zu sprechen.

»Wir haben seit über dreihundert Meilen keine Patrouill en mehr gesehen und keine… Raken? Raken«, sagte Edorion ruhig. Er studierte sie. Zu spät, seine Gedanken zu unterbinden.

Reimon lachte wieder. »Wie ich Mat kenne, plant er eine Schlacht für uns. Die Bande der Roten Hand reitet wieder in die Schlacht. Es ist viel zu lange her, wenn ihr mich fragt.«

Selucia schnaubte, genau wie Frau Anan. Tuon musste ihnen beipflichten. »Eine Schlacht wird euch nicht aus Altara rausschaffen«, sagte sie scharf.

»In diesem Fall plant er einen Krieg«, sagte Talmanes. Die anderen nickten zustimmend, als wäre das die natürlichste Sache unter dem Licht. Reimon lachte sogar. Er schien alles für witzig zu halten.

»Dreitausend?«, sagte Spielzeug. »Seid Ihr sicher? Sicher genug? Sicher genug muss reichen. Vanin kann sie aufspür en, wenn sie nicht tagelang weitergezogen sind.«

Tuon sah ihn an, wie er da vor der Karte hockte, den Finger über ihre Oberfläche führte, und plötzlich sah sie ihn in einem neuen Licht. Ein Possenreißer? Nein. Ein Löwe in einer Pferdebox mochte vielleicht wie ein besonders eigentümlicher Witz aussehen, aber ein Löwe auf den Hochebenen war etwas ganz anderes. Spielzeug war jetzt auf der Hochebene freigelassen. Sie verspürte ein Frösteln. Mit was für einem Mann hatte sie sich da eingelassen? Ihr wurde eines klar. Nach all der Zeit hatte sie noch immer nicht die geringste Ahnung.

Die Nacht war kühl genug, um Perrin trotz seines pelzgefütterten Umhangs leicht frösteln zu lassen, wenn der Wind blies. Ein Schimmern um die fette Mondsichel verkündete baldigen Regen. Dichte Wolken, die am Mond vorbeizogen, ließen das bleiche Licht stärker und schwächer werden, stärker und schwächer, aber für seine Augen reichte es aus. Er hielt Traber direkt am Waldrand und beobachtete die vier hohen, grauen Steinwindmühlen auf einer Lichtung oben auf dem Hügel, deren blasse Flügel bei ihren Umdrehungen nacheinander funkelten und sich wieder verdunkelten. Die Mechanik der Windmühlen knarrte laut. Es erschien zweifelhaft, ob die Shaido überhaupt wussten, dass man sie schmieren musste. Der Steinaquädukt war ein dunkler Balken, der sich auf hohen Bögen vorbei an verlassenen Bauernhöfen und eingezäunten Feldern — die Shaido hatten die Aussaat bei diesem ständigen Regen viel zu früh gesät — auf den nächsten Hügelkamm und den dahinter liegenden See erstreckte. Maiden lag einen Hügel weiter westlich. Perrin lockerte den schweren Hammer in seiner Schlaufe an seinem Gürtel. Maiden und Faile. In wenigen Stunden würde er der Lederschnur in seiner Tasche den vierundfünfzigsten Knoten hinzufügen.

Er schickte seine Gedanken aus. Schnee in der Dämmerung, bist du bereit?, dachte er. Bist du schon nahe genug? Wölfe mieden Städte, und durch die Jagdgruppen der Shaido in den umliegenden Wäldern am Tag blieben sie weiter von Maiden fort als gewöhnlich.

Geduld, junger Bulle, kam die leicht gereizte Erwiderung. Aber Schnee in der Dämmerung war von Natur aus jähzornig, ein vernarbtes Männchen mit einem beträchtlichen Alter für einen Wolf, der einmal ganz allein einen Leoparden getötet hatte. Manchmal hielten diese alten Verletzungen ihn davon ab, für längere Zeit durchzuschlafen. Von jetzt an zwei Tage, hast du gesagt. Wir werden da sein, jetzt lass mich versuchen zu schlafen. Wir müssen morgen gut jagen, da wir am Tag danach nicht jagen können. Natürlich kamen da Bilder und Gerüche statt Worte — »zwei Tage« war die Sonne, die zweimal den Himmel überquerte, und »Jagen« ein Rudel, das die Schnauzen in den von Hirschduft erfüllten Wind hielt —, aber Perrins Verstand verwandelte die Bilder in Worte, während er sie in seinem Kopf sah.

Geduld. Ja. Hast verdarb die Arbeit. Aber jetzt, so kurz davor, fiel sie schwer. So schwer.

Eine Gestalt erschien in dem dunklen Eingang der nächstgelegenen Mühle und schwenkte einen Aielspeer über dem Kopf. Das Knarren hatte ihn davon überzeugt, dass die Windmühlen noch immer verlassen sein mussten — als die Töchter sie zuvor ausgekundschaftet hatten, waren sie es jedenfalls gewesen, und niemand würde diesen Lärm länger als nötig ertragen —, aber er hatte Gaul und ein paar Töchter losgeschickt, um sich zu vergewissern.

»Gehen wir, Mishima«, sagte er und griff nach den Zügeln. »Es ist erledigt.« So oder so.

»Wie könnt Ihr überhaupt etwas erkennen?«, murmelte der Seanchaner. Er vermied es, Perrin anzusehen, dessen goldgelbe Augen in der Nacht funkeln würden. Als der narbige Mann das zum ersten Mal gesehen hatte, war er zusammengezuckt. Heute Nacht roch er nicht amüsiert. Er roch angespannt. Aber er rief leise über die Schulter. »Bringt die Karren. Schnell jetzt. Schnell. Und seid leise, oder ich hole mir eure Ohren!«

Perrin trieb seinen hellbraunen Hengst an, ohne auf die anderen zu warten oder auf die sechs Karren mit den großen Rädern. Großzügig geschmierte Achsen machten sie so leise, wie das bei Karren nur möglich war. Ihm erschienen sie noch immer lärmend, die Hufe der Zugpferde schmatzten im Schlamm, die Karren ächzten, aber er bezweifelte, dass andere sie in fünfzig Schritt Entfernung gehört hätten, vielleicht nicht einmal in geringerer Entfernung. Oben auf einem sanft ansteigenden Hügel stieg er aus dem Sattel und ließ Trabers Zügel fallen. Als ausgebildetes Schlachtross würde der Hengst wie angeleint dort stehen bleiben, solange die Zügel zu Boden baumelten. Die Windmühlennaben quietschten, drehten sich leicht, als der Wind drehte. Die sich langsam drehenden Flügel waren lang genug, dass Perrin einen von ihnen bei seinem niedrigsten Stand hätte berühren können. Er starrte auf den letzten Hügelkamm, der Maiden verbarg. Dort wuchs nichts Höheres als ein Busch. In der Dunkelheit bewegte sich nichts. Nur ein Hügel zwischen ihm und Faile. Die Töchter waren nach draußen getreten und hatten sich zu Gaul gesellt; alle waren noch verschleiert.

»Es war keiner da«, sagte Gaul, und das keineswegs leise.

In dieser Nähe hätte das Mahlen der Windmühlenmechanik leise Worte übertönt.

»Der Staub ist nicht berührt worden, seit ich das letzte Mal da war«, fügte Sulin hinzu.

Perrin kratzte sich den Bart. Gut so. Hätten sie Shaido töten müssen, hätten sie die Leichen wegtragen müssen, aber die Toten wären vermisst worden, und das hätte Aufmerksamkeit auf die Windmühlen und den Aquädukt gezog en. Möglicherweise hätte jemand angefangen, sich Gedank en über das Wasser zu machen.

»Helft mir, die Abdeckungen zu entfernen, Gaul.« Das war unnötig. Das würde nur wenige Minuten einsparen, aber Perrin musste etwas tun. Gaul schob den Speer einfach durch das Geschirr, das sein Bogenfutteral hielt.

Der Aquädukt folgte dem Hügelkamm, vorbei zwischen den vier Windmühlen, und reichte Perrin bis zu den Schultern, Gaul noch tiefer. Direkt im Anschluss an die letzten beiden Windmühlen konnte man auf beiden Seiten mit Hilfe von Bronzegriffen schwere Steine abheben, die zwei Fuß breit und fünf Fuß lang waren. Perrin hatte keine Ahnung, wozu die Öffnung gedacht war. Auf der anderen Seite gab es noch eine. Vielleicht, um an den Klappen arbeiten zu können, die dafür sorgten, dass das Wasser in nur eine Richtung floss, oder um reinzukommen und Lecks zu reparieren. Er konnte kleine Wirbel sehen, während es nach Maiden strömte und dabei mehr als die Hälfte des Steintunnels füllte.

Mishima gesellte sich zu ihnen und stieg vom Pferd, um Sulin und den Töchtern einen unsicheren Blick zuzuwerfen. Vermutlich glaubte er, die Nacht würde seine Miene verbergen. Jetzt roch er misstrauisch. Ihm folgte der erste der rot gekleideten seanchanischen Soldaten — eine Frau —, die den schlammigen Hügel hinaufeilten und von denen jeder zwei mittelgroße Jutesäcke trug. Mittelgroß, aber nicht schwer. Jeder enthielt nur zehn Pfund. Die drahtige Frau musterte die Aiel misstrauisch, setzte ihre Säcke ab und schlitzte einen mit dem Dolch auf. Eine Hand voll feiner dunkler Körner rieselte auf den schlammigen Boden.

»Macht das über der Öffnung«, sagte Perrin. »Sorgt dafür, dass jedes Korn im Wasser landet.«

Die drahtige Frau sah Mishima an, der energisch sagte: »Tut, was Lord Perrin befiehlt, Arrata.«

Perrin sah zu, wie sie den Sack in den Aquädukt leerte, die Hände über den Kopf gestemmt. Die dunklen Körner strömten in Richtung Maiden. Er hatte eine Prise davon in einen Becher Wasser gestreut, obwohl ihn selbst diese Verschwendung gestört hatte, und sie hatte einige Zeit gebraucht, um allein genug Wasser aufzunehmen, bis sie versunken war. Lange genug, um die große Zisterne in der Stadt zu erreichen. Und wenn nicht, konnten die Körner auch im Aquädukt aufweichen. Die Zisterne würde sich auch dann irgendwann in Spaltwurzeltee verwandeln. Man konnte nur hoffen, dass er stark genug war. Mit etwas Glück vielleicht sogar stark genug, dass auch die Algai’d’siswai betroffen waren. Die Weisen Frauen, die die Macht lenken konnten, waren sein Ziel, aber er würde jeden Vorteil nutzen, der sich ihm bot. Hoffentlich wirkte es nur noch schneller als erwartet. Sollten die Weisen Frauen zu schnell unsicher auf den Beinen werden, bekamen sie möglicherweise den Grund dafür heraus, bevor er bereit war. Aber ihm blieb nichts anderes übrig, als so weiterzumachen, als wüsste er alles ganz genau. Das und zu beten.

Als der zweite Sack in den Steinkanal geschüttet wurde, kamen die anderen den Abhang hinauf. Als Erste kam Seonid, die ihre dunklen Reitröcke hochhielt, um sie nicht mit Schlamm zu beschmutzen. Mishima richtete seine Aufmerksamkeit von den Töchtern auf sie und machte eine jener kleinen Gesten, die das Böse abwehren sollten. Schon seltsam, dass sie glaubten, so etwas würde funktionieren. Die Soldaten, die sich mit ihren Säcken aufgereiht hatten, starrten sie größtenteils mit weit aufgerissenen Augen an und bewegten sich unruhig. Es fiel den Seanchanern nicht leicht, mit Aes Sedai zusammenzuarbeiten. Ihre Behüter Füren und Teryl folgten direkt hinter ihr, jeder die Hand auf dem Schwertgriff. Sie verspürten das gleiche Unbehagen bei den Seanchanern. Der eine war dunkelhäutig und hatte graue Strähnen in seinem schwarz gelockten Haar, der andere war jung und hatte helle Haare und einen gebogenen Schnurrbart, und doch ähnelten sie sich wie zwei Bohnen, waren hochgewachsen, schlank und hart. Rovair Kirklin kam ein Stück hinter ihnen, ein kompakter Mann mit dunklem, zurückweichendem Haar und einem düsteren Gesichtsausdruck. Es gefiel ihm nicht, von Masuri getrennt zu sein. Alle drei Männer trugen kleine Bündel Proviant auf den Rücken geschnallt und dicke Wasserschläuche über den Schultern. Ein schlaksiger Mann stellte seine Säcke auf der Seite der Öffnung ab, während die drahtige Frau den Abhang hinunterging, um neue zu holen. Sie stapelten sich auf den Karren.

»Denkt daran«, sagte Perrin zu Seonid, »am gefährlichst en wird es sein, von der Zisterne zur Festung zu kommen. Ihr müsst die Wehrgänge auf den Mauern benutzen, und selbst zu dieser Stunde könnten Shaido in der Stadt sein.« Alyse, die Aes Sedai im Weiß der Gai’schain, war sich da nicht sicher gewesen. In der Ferne grollte Donner, dann noch einmal. »Vielleicht wird Euch ja der Regen verbergen.«

»Danke«, sagte sie eisig. Ihr im Mondschatten liegendes Gesicht war eine Maske der Aes-Sedai-Gelassenheit, aber aus ihrem Geruch stach Empörung hervor. »Wenn Ihr mir das nicht gesagt hättet, hätte ich davon keine Ahnung gehabt.« Im nächsten Augenblick wurde ihr Ausdruck weicher, und sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich weiß, dass Ihr Euch um sie sorgt. Wir werden tun, was wir können.« Ihr Ton war nicht unbedingt als herzlich zu bezeichnen — das war er nie —, aber er war nicht mehr ganz so kalt wie zuvor, und ihr Geruch verkündete nun Mitgefühl.

Teryl hob sie auf den Aquädukt — der Seanchaner, der gerade Spaltwurzel in das Ding schüttete, ein hochgewachsener Bursche, der fast so viele Narben wie Mishima aufwies, ließ beinahe den Sack fallen —, und sie verzog leicht das Gesicht, bevor sie die Beine in die Öffnung schwang und sich mit einem leisen Aufkeuchen in das Wasser sinken ließ. Es musste kalt sein. Sie senkte den Kopf und verschwand aus der Sicht in Richtung Maiden. Füren kletterte hinter ihr rein, dann Teryl und schließlich Rovair. Sie mussten sich sehr zusammenkrümmen, um unter das Dach des Aquädukts zu passen.

Elyas schlug Perrin auf die Schulter, bevor er sich nach oben zog. »Hätte meinen Bart so kurz wie du stutzen sollen, um ihn da rauszuhalten«, sagte er und schaute hinunter ins Wasser. Der langsam grau werdende Bart, zerzaust von der Brise, breitete sich über seine Brust aus. Sein Haar, das im Nacken mit einem Lederband zusammengehalten wurde, reichte bis zu seiner Taille. Auch er trug ein kleines Proviantbündel und einen Wasserschlauch. »Aber ein kaltes Bad hilft einem Mann, ihn von seinem Kummer abzulenken.«

»Ich dachte, es hilft einem, nicht an Frauen zu denken«, sagte Perrin. Er war nicht in der Stimmung für Scherze, aber er konnte nicht erwarten, dass jeder so grimmig wie er war.

Elyas lachte. »Was macht einem Mann denn sonst Sorg en?« Er verschwand im Wasser, und Tallanvor nahm seinen Platz ein.

Perrin griff nach seinem dunklen Mantelärmel. »Keine Heldentaten, verstanden?« Er war sich uneins gewesen, ob er den Mann daran teilnehmen lassen sollte.

»Keine Heldentaten, mein Lord«, stimmte Tallanvor zu.

Zum ersten Mal seit langer Zeit sah er eifrig aus. Sein Geruch zitterte förmlich vor Eifer. Aber da war auch ein Hauch von Vorsicht. Diese Vorsicht war der einzige Grund, dass er nicht ins Lager zurückgeschickt wurde. »Ich werde Maighdin nicht in Gefahr bringen. Oder Lady Faile. Ich will Maighdin bloß schneller sehen.«

Perrin nickte und ließ ihn gehen. Er konnte das verstehen.

Ein Teil von ihm wollte auch in den Aquädukt steigen. Um Faile schneller wiederzusehen. Aber jede Arbeit musste richtig erledigt werden, und auf ihn warteten noch andere Aufgaben. Davon abgesehen, wäre er tatsächlich in Maiden gewesen, hätte er nicht zu sagen vermocht, ob er es geschafft hätte, nicht nach ihr zu suchen. Sich selbst konnte er natürlich nicht riechen, aber er bezweifelte, dass jetzt irgendwelche Vorsicht in seinem Geruch lag. Die Windmühlennaben drehten sich erneut lautstark, als sich der Wind drehte.

Wenigstens schien er hier oben nie einzuschlafen. Jede Behinderung des Wasserflusses zu diesem Zeitpunkt wäre verheerend gewesen.

Auf dem Hügel wurde es nun eng. Zwanzig von Failes Anhängern warteten darauf, dass sie beim Aquädukt an die Reihe kamen, das waren alle bis auf die beiden, die Masema beobachteten. Die Frauen trugen Männerkleidung und hatten das Haar kurz geschnitten bis auf den Pferdeschwanz, der die Aiel imitierte, auch wenn kein Aiel wie sie ein Schwert getragen hätte. Viele der Tairener hatten sich die Barte geschoren, weil Aiel keine trugen. Hinter ihnen trugen fünfzig Männer von den Zwei Flüssen Hellebarden und Bogen ohne Sehnen; die Sehnen waren sicher in ihren Mänteln verstaut, und jeder trug neben dem Proviantbündel noch drei volle Köcher auf dem Rücken. Jeder Mann im Lager hatte sich freiwillig gemeldet, und Perrin hatte sie darum losen lassen. Er hatte darüber nachgedacht, die Zahl zu verdoppeln.

Der ständige Strom der seanchanischen Soldaten floss weiter, sie schleppten volle Säcke nach oben und leere wieder nach unten. Sie waren diszipliniert. Wenn ein Mann im Schlamm ausrutschte und fiel, was mit einiger Regelmäßigkeit geschah, gab es keine Flüche, nicht einmal wütendes Gemurmel. Sie standen einfach wieder auf und machten weiter.

Selande Darengil, die einen dunklen Mantel mit sechs horizontalen Farbstreifen auf der Brust trug, blieb stehen, um Perrin die Hand zu geben. Sie reichte ihm bloß bis zur Brust, aber Elyas behauptete, sie könnte mit dem Schwert am Gürtel ordentlich umgehen. Perrin hielt sie und die anderen nicht länger für Narren — nun, jedenfalls nicht immerweil sie versuchten, die Sitten der Aiel zu kopieren. Natürlich mit Abstrichen. Der dunkle Pferdeschwanz in Selandes Nacken wurde von einem dunklen Band zusammengehalten. In ihrem Geruch lag keine Furcht, nur Entschlossenheit.

»Danke, dass Ihr uns erlaubt, daran teilzuhaben, mein Lord«, sagte sie mit ihrem präzisen cairhienischen Akzent. »Wir werden Euch nicht enttäuschen. Oder die Lady Faile.«

»Das weiß ich«, sagte er und schüttelte ihr die Hand. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie darauf hingewiesen, dass sie Faile diente und nicht ihm. Er schüttelte jedem von ihnen die Hand, bevor sie in den Aquädukt stiegen. Sie alle rochen entschlossen. Wie auch Ban al’Seen, der den Befehl über die Männer von den Zwei Flüssen hatte, die nach Maiden gingen.

»Wenn Faile und die anderen kommen, verkeilt die Außentüren, Ban.« Perrin hatte ihm das schon einmal gesagt, aber er konnte es nicht vermeiden, sich zu wiederholen.

»Seht, ob ihr sie in den Aquädukt schaffen könnt.« Die Festung hatte die Shaido beim ersten Mal nicht aufgehalten, und wenn etwas schiefging, würde sie sie auch diesmal nicht draußen halten. Er wollte nicht von seiner Abmachung mit den Seanchanern zurücktreten — die Shaido würden für das bezahlen, was sie Faile angetan hatten, und davon abgesehen, er konnte sie nicht zurücklassen und weiter das Land verwüsten lassen —, aber er wollte sie so schnell wie möglich aus der Gefahrenzone bringen.

Ban lehnte Bogenstab und Hellebarde gegen den Aquäd ukt und zog sich nach oben, um mit einer Hand hineinzureichen. Als er sich wieder auf den Boden hinabließ, wischte er sich die feuchte Hand am Mantel ab und rieb sich dann den ausladenden Nasenflügel. »Unter dem Wasser ist es mit etwas beschichtet, das sich wie Teichschleim anfühlt. Es wird sehr schwer sein, die letzte Schräge hinunterzukommen, ohne den ganzen Weg zu rutschen, Lord Perrin, geschweige denn zu versuchen, dort wieder hinaufzuklettern. Das Vernünftigste wird wohl sein, in dieser Festung zu warten, bis Ihr zu uns stoßt.«

Perrin seufzte. Er hatte daran gedacht, Seile zu holen, aber sie hätten fast zwei Meilen für diese letzte Schräge überbrücken müssen, das war eine Menge, die man schleppen musste, und falls ein Shaido die Seilenden im Aquädukt entdeckte, würden sie jede Ecke und jeden Winkel der Stadt durchsuchen. Ein kleines Risiko, sicher, aber das bittere Ende, das daraus resultieren konnte, ließ es riesig erscheinen. »Ich werde so schnell da sein, wie ich kann, Ban. Das verspreche ich.«

Er schüttelte auch jedem von ihnen die Hand. Tod al’Caar mit dem kantigen Kinn und Leof Torfinn mit der weißen Strähne im Haar, wo eine Narbe verlief, die von einem Trolloc stammte. Der junge Kenly Maerin, der unglücklicherweise wieder versuchte, sich einen Bart wachsen zu lassen, und Bili Adarra, der fast so breit wie Perrin, allerdings eine Handspanne kürzer war. Bili war ein entfernter Cousin von ihm und gehörte zur engsten noch lebenden Verwandtschaft Perrins. Er war mit vielen dieser Männer aufgewachsen, auch wenn einige von ihnen ein paar Jahre älter waren. Einige waren auch ein paar Jahre jünger. Mittlerweile kannte er die Männer von Devenritt bis hinauf zu Wachhügel genauso gut wie die aus der Gegend von Emondsfelde. Er hatte mehr Gründe als nur Faile, diese Festung so schnell wie möglich zu erreichen.

Had al’Lora, ein schlanker Bursche mit einem dichten Schnurrbart wie ein Taraboner, war der letzte der Männer von den Zwei Flüssen. Als er in den Aquädukt stieg, erschien Gaul, das Gesicht noch immer verschleiert und mit vier Speeren in der Hand mit dem Lederschild. Er legte eine Hand auf den Rand des Aquädukts und sprang hinauf, um sich auf den Stein zu setzen.

»Du gehst rein?«, sagte Perrin überrascht.

»Die Töchter können für dich kundschaften, Perrin Aybara.« Der große Aiel warf einen Blick über die Schulter zu den Töchtern hin. Perrin glaubte zu sehen, dass er die Stirn runzelte, auch wenn das schwer zu sagen war, weil der schwarze Schleier alles bis auf seine Augen verbarg. »Ich habe gehört, was sie sagten, als sie sich unbelauscht glaubten. Im Gegensatz zu deiner Frau und den anderen ist Chiad eine rechtmäßige Gai’schain. Bain auch, aber sie ist mir egal. Chiad muss noch immer den Rest ihres Jahres und einem Tag dienen, nachdem wir sie gerettet haben. Wenn ein Mann eine Frau als Gai’schain hat oder eine Frau einen Mann, wird manchmal ein Hochzeitskranz geflochten, sobald das Weiß abgelegt wird. Das ist nicht ungewöhnlich. Aber ich habe gehört, dass die Töchter sagten, sie würden Chiad vor mir erreichen, um sie von mir fernzuhalten.« Hinter ihm blitzten Sulins Finger in der Handsprache der Töchter, und eine der anderen schlug die Hand vor den Mund, als wollte sie ein Lachen unterdrücken. Also hatten sie ihn aufgestachelt. Vielleicht waren sie gar nicht so vehement gegen seine Werbung um Chiad, wie sie taten. Oder vielleicht gab es da auch etwas, das Perrin nicht wusste. Aielhumor konnte grob sein.

Gaul schlüpfte ins Wasser. Er musste sich beinahe verbieg en, um in den Aquädukt zu passen. Perrin starrte auf die Öffnung. Es war so einfach, Gaul zu folgen. Sich abzuwenden fiel schwer. Die Reihe der seanchanischen Soldaten schlängelte sich noch immer den Abhang hinauf und hinunter.

»Mishima. Ich kehre in mein Lager zurück. Grady wird Euch in Eures bringen, wenn Ihr hier fertig seid. Verwischt die Spuren, soweit es geht, bevor Ihr geht.«

»Gut, mein Lord. Ich habe ein paar Männer abkommand iert, um Schmiere von den Achsen zu kratzen und die Windmühlen zu schmieren. Sie hören sich an, als würden sie jeden Augenblick stehen bleiben. Wir können die auf dem anderen Kamm auch behandeln.«

Perrin nahm Trabers Zügel und schaute zu den sich langsam drehenden Flügeln. Langsam, aber regelmäßig. Sie waren nie dazu gemacht worden, um sich schnell zu drehen.

»Und wenn ein paar Shaido morgen vorbeikommen und sich fragen, wo die frische Schmiere herkommt?«

Mishima sah ihn einen langen Augenblick an, das Gesicht zur Hälfte von den Mondschatten verborgen. Diesmal schienen ihn die glühenden gelben Augen nicht zu stören. Sein Geruch… Er roch, als sähe er etwas Unerwartetes. »Die Bannergeneralin hatte Recht, was Euch betrifft«, sagte er langsam.

»Was hat sie gesagt?«

»Da müsst Ihr sie schon selbst fragen, mein Lord.«

Perrin ritt den Abhang hinunter und zurück zu den Bäum en und dachte die ganze Zeit, wie einfach es doch wäre, jetzt umzukehren. Von jetzt an konnte sich Gallenne um alles kümmern. Der Plan stand fest. Aber der Mayener war der festen Überzeugung, dass der Höhepunkt einer jeden Schlacht der große Kavallerieangriff war. Und sie vorzugsweise auch damit anfing. Wie lange würde er sich an den Plan halten? Arganda war vernünftiger, aber er sorgte sich so sehr um Königin Alliandre, dass auch er möglicherweise den Sturmangriff befahl. Damit blieb nur er übrig. Der Wind wehte stark, und er zog den Umhang enger.

Grady saß auf einer kleinen Lichtung auf einem zur Hälfte bearbeiteten, moosüberwucherten Stein, der teilweise im Boden versunken war und zweifellos bei der Errichtung des Aquädukts übrig geblieben war. Von der Sorte gab es hier noch andere. Der Wind hielt seinen Geruch von Perrins Nase fern. Er schaute erst auf, als Perrin vor ihm den Hengst zügelte. Das Wegetor, mit dem sie hergekommen waren, stand noch immer geöffnet und zeigte eine andere Lichtung zwischen hohen Bäumen, nicht weit vom Lager der Seanchaner entfernt. Vielleicht wäre es bequemer gewesen, sie in die Nähe von Perrins Lager zu bringen, aber er wollte die Aes Sedai und Weisen Frauen so weit wie nur möglich von den Sul’dam und Damane entfernt wissen. Er befürchtete nicht, dass die Seanchaner Tylees Wort brachen, aber Aes Sedai und Weise Frauen verfielen allein schon bei dem Gedanken an Damane in Raserei. Vermutlich würden die Weisen Frauen und Annoura im Augenblick aber nichts unternehmen. Vermutlich. Bei Masuri war er sich da nicht so sicher. In mehrerer Hinsicht. Es war besser, ein paar Meilen Abstand zwischen ihnen zu bewahren, solange das möglich war.

»Alles in Ordnung, Grady?« Das wettergegerbte Gesicht des Mannes schien ein paar neue Falten aufzuweisen. Möglicherweise wurde dieser Eindruck auch nur von den durch die Bäume verursachten Mondschatten hervorgerufen, aber Perrin glaubte das nicht. Die Karren hatten das Wegetor mühelos passieren können, aber war es etwas kleiner als das Erste, das er Grady hatte öffnen sehen?

»Nur etwas müde, mein Lord«, sagte Grady erschöpft. Er blieb sitzen, die Ellbogen auf die Knie gestützt. »Das viele Reisen in letzter Zeit… Nun, ich hätte das Tor gestern nicht lange genug aufhalten können, damit diese vielen Soldaten durchreiten können. Darum habe ich damit angefangen, sie zu verknoten.«

Perrin nickte. Beide Asha’man waren müde. Machtlenken ermüdete einen Mann so sicher, wie den ganzen Tag einen Hammer am Schmiedeofen zu schwingen. Sogar noch mehr. Der Mann mit dem Hammer konnte viel länger durchhalten als jeder Asha’man. Darum war der Aquädukt der Weg nach Maiden hinein und kein Wegetor, darum würde es kein Wegetor geben, um Faile und die anderen dort rauszuholen, sosehr sich Perrin das auch gewünscht hätte. Die beiden Asha’man hatten nicht mehr viel zu geben, bevor sie sich ausruhen konnten, und das Wenige musste dort eingesetzt werden, wo es am meisten gebraucht wurde. Beim Licht, das war eine schwere Entscheidung gewesen. Aber konnten Grady und Neald ein dringend benötigtes Tor nicht mehr öffnen, würde das vielen Männern den Tod bringen. Eine schwere Entscheidung.

»Ich werde Euch und Neald übermorgen brauchen.«

Genauso gut hätte er sagen können, dass er Luft zum Atmen brauchte. Ohne die Asha’man war alles unmöglich.

»Ihr werdet dann viel zu tun haben.« Noch eine gewaltige Untertreibung.

»So beschäftigt wie ein Einarmiger, der die Decke kalkt, mein Lord.«

»Werdet Ihr es schaffen?«

»Ich werde es wohl müssen, mein Lord, oder?«

Perrin nickte erneut. Man tat, was getan werden musste.

»Bringt mich zurück in unser Lager. Nachdem Ihr Mishima und seine Männer in ihr Lager gebracht habt, könnt Ihr und die Töchter dort schlafen, wenn Ihr wollt.« Das würde es Grady in zwei Tagen etwas leichter machen.

»Ich weiß nicht, was die Töchter machen wollen, mein Lord, aber ich würde heute Nacht lieber nach Hause kommen.« Er drehte den Kopf, um das Wegetor ansehen zu können, ohne aufstehen zu müssen, und es wurde kleiner auf genau die umgekehrte Weise, wie es sich geöffnet hatte, der Ausblick schien zu rotieren, während es kleiner wurde, und es endete mit einem vertikalen Schlitz aus silbrig blauem Licht, das ein leicht purpurnes Schimmern in Perrins Blickfeld hinterließ, als es erlosch. »Diese Damane machen mir eine Gänsehaut. Sie wollen nicht frei sein.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«

»Ich habe mich mit ein paar von ihnen unterhalten, wenn keine dieser Sul’dam in der Nähe waren. Sobald ich das Thema anschnitt, ob sie nicht von diesen Leinen befreit werden wollen, es auch nur andeutete, fingen sie an, nach ihren Sul’dam zu schreien. Die Damane weinten, und die Sul’dam tätschelten sie und starrten mich böse an. Hat mir eine Gänsehaut beschert.«

Traber stampfte ungeduldig mit dem Huf auf, und Perrin klopfte auf den Hals des Hengstes. Grady hatte Glück gehabt, dass ihn die Sul’dam in einem Stück hatten abziehen lassen.

»Was auch immer mit den Damane geschieht, Grady, es wird nicht diese Woche passieren und auch nicht nächste. Und es werden nicht wir sein, die das regeln. Also lasst die Damane in Ruhe. Wir haben eine Aufgabe vor uns, die erledigt werden muss.« Und einen Pakt mit dem Dunklen König, um sie zu erledigen. Er verdrängte den Gedanken. Außerdem fiel es mittlerweile schwer, Tylee Khirgan auf der Seite des Dunklen Königs zu sehen. Oder Mishima. »Versteht Ihr das?«

»Ich verstehe, mein Lord. Ich sage nur, dass es mir eine Gänsehaut macht.«

Endlich erschien ein weiterer silberblauer Strich, der sich zu einer Öffnung ausdehnte, die eine Lichtung zwischen großen, weit auseinander stehenden Bäumen zeigte. Perrin beugte sich über Trabers Hals und ritt hindurch. Das Tor schloss sich hinter ihm. Er ritt weiter, bis er zu der großen Lichtung kam, in der sich das Lager befand, ganz in der Nähe dessen, was einst das kleine Dorf Brytan gewesen war, eine Ansammlung von ungezieferverseuchten Hütten, die einen Mann nicht einmal in der regnerischsten Nacht hätten anlocken können. Die Wachtposten oben in den Bäumen gaben natürlich keinen Alarm. Sie erkannten ihn.

In diesem Augenblick wollte er nichts so sehr wie seine Wolldecken. Nun gut, Faile, aber da sie nicht da war, wollte er in der Dunkelheit allein sein. Vermutlich würde er wieder keinen Schlaf finden, aber er würde die Nacht so verbringen, wie schon so oft zuvor, in Gedanken an sie, in der Erinnerung an sie. Doch ein Stück vor dem zehn Schritte breiten Dickicht aus angespitzten Pfählen, das das Lager umgab, zog er an den Zügeln. Direkt vor den Pfählen kauerte ein Raken, der seinen langen grauen Hals senkte, damit eine Frau in einem braunen Kapuzenmantel seine ledrige Schnauze kratzen konnte. Die Kapuze hing auf ihrem Rücken und enthüllte kurz geschnittenes Haar und ein hartes, schmales Gesicht. Sie sah Perrin an, als würde sie ihn erkennen, machte aber mit dem Kratzen weiter. Der Sattel auf dem Rücken der Kreatur bot Platz für zwei Reiter. Anscheinend war ein Bote gekommen. Er ritt in einen der schmalen Wege durch die Pfähle, die für Reiter freigelassen worden waren. Aber langsam.

Fast jeder war bereits zu Bett gegangen. Er spürte Beweg ungen bei den Pferdeseilen im Herzen des Lagers, vermutlich welche der cairhienischen Pferdeknechte, aber die geflickten Segeltuchzelte und kleinen Hütten aus Immergrünzweigen, die schon lange braun waren, lagen dunkel und still da. Zwischen den niedrigen Aielzelten bewegte sich nichts, und im mayenischen Teil des Lagers patrouillierten ein paar Soldaten. Die Mayener und Ghealdaner vertrauten den Männern von den Zwei Flüssen in den Bäumen nicht. Sein großes, rot gestreiftes Zelt war allerdings hell erleuchtet, und an den Segeltuchwänden zeichneten sich die Silhouetten mehrerer Personen ab. Als er vor dem Zelt abstieg, erschien Äthan Chandin, um die Zügel zu nehmen und mit dem Knöchel die Stirn zu berühren, während er eine Art Verb eugung machte. Äthan war ein guter Bogenschütze, sonst wäre er nicht hier gewesen, aber er hatte eine kriecherische Art. Perrin trat ein und löste dabei die Umhangnadel.

»Da seid Ihr ja«, sagte Berelain fröhlich. Sie musste sich schnell angezogen haben, weil ihr langes schwarzes Haar aussah, als wäre es nicht groß mit einer Bürste in Kontakt gekommen, aber das graue Reitgewand mit dem hohen Kragen schien frisch zu sein. Ihre Dienerin ließ sie nie etwas anziehen, das nicht frisch aufgebügelt war. Sie hielt Breane einen silbernen Weinpokal zum Nachfüllen hin, was die Cairhienerin mit einer Grimasse tat. Failes Dienerin hasste Berelain von ganzem Herzen. Aber Berelain schien das nicht zu bemerken. »Vergebt mir, dass ich in Eurem Zelt Gäste empfange, aber die Bannergeneralin wollte Euch sehen, und ich dachte, ich leiste ihr Gesellschaft. Sie hat uns etwas über ein paar Weißmäntel berichtet.«

Balwer stand unauffällig in einer Ecke — der kleine Mann, der so an einen Vogel erinnerte, konnte so unauffällig sein wie eine Eidechse auf einem Ast, wenn er wollte —, aber bei der Erwähnung der Weißmäntel wurde sein Geruch schärfer.

Tylee, deren Schultern den Fliegermantel zu sprengen drohten, machte eine steife Verbeugung, während sie ein Auge auf Annoura hielt. Sie schien tatsächlich zu glauben, dass sich die Aes Sedai jeden Augenblick in eine tollwütige Hündin verwandeln könnte. Perrin glaubte, Verzweiflung riechen zu können, aber ihrem schwarzen Gesicht war nichts anzumerken. »Mein Lord, ich habe zwei Neuigkeiten für Euch, die Ihr meiner Meinung nach sofort erfahren solltet. Habt Ihr angefangen, die Spaltwurzel in das Wasser der Stadt zu geben?«

»Ja«, sagte er besorgt und warf den Umhang auf eine der messingbeschlagenen Truhen. Tylee seufzte. »Ich habe Euch gesagt, dass ich das tue. Ich hätte es schon vor zwei Tagen getan, hätte diese dumme Frau in Almizar nicht so getrödelt. Was ist passiert?«

»Verzeiht mir«, verkündete Lini, »aber man hat mich aus meinen Decken geholt, und ich würde gern wieder schlafen gehen. Braucht noch jemand etwas diese Nacht?« Von der zerbrechlich wirkenden Frau mit dem weißen Haar in dem lockeren Schlafzopf gab es keine Knickse oder »mein Lord«. Im Gegensatz zu Berelain sah ihr braunes Kleid hastig übergestreift aus. Ihr Geruch war scharf vor Missbilligung. Sie gehörte zu jenen, die die lächerliche Geschichte glaubten, dass Perrin ausrechnet in der Nacht nach Failes Entführung mit Berelain geschlafen hatte. Sie schaffte es, ihn nicht anzusehen, während ihr Blick durch das Zelt schweifte.

»Ich nehme noch etwas Wein«, sagte Aram und hielt sein en Pokal hin. Mit seiner grimmigen Miene und den tief in den Höhlen liegenden Augen versuchte er sich in seinem rot gestreiften Mantel auf dem Klappstuhl lässig zu räkeln, aber das auf den Rücken geschnallte Schwert machte es ihm unmöglich, sich gegen die vergoldete Lehne zu lehnen. Breane ging auf ihn zu.

»Er hat genug gehabt«, sagte Lini scharf, und Breane kehrte um. Lini hatte Failes Diener fest im Griff.

Aram murmelte einen Fluch und sprang auf die Füße, warf den Pokal auf den blumengemusterten Teppich, der als Fußboden diente. »Ich kann auch genauso gut dorthin gehen, wo mir keine alte Frau ständig im Nacken sitzt, wenn ich mal etwas trinke.« Er schenkte Perrin einen mürrischen Blick, bevor er aus dem Zelt stolzierte. Zweifellos auf dem Weg in Masemas Lager. Er hatte gebettelt, der Gruppe für Maiden angehören zu dürfen, aber man konnte einem solchen Hitzkopf nicht vertrauen.

»Ihr könnt gehen, Lini«, sagte Berelain. »Breane kann sich um uns kümmern.« Lini schnaubte — sie ließ es beinahe feinfühlig klingen —, bevor sie mit hoch erhobenem Kopf und nach Missbilligung stinkend hinausging. Und Perrin noch immer ignorierte.

»Verzeiht mir, mein Lord«, sagte Tylee bedächtig, »aber Ihr scheint Euren Haushalt… lockerer… zu führen, als ich es gewohnt bin.«

»Das ist unsere Kultur, Bannergeneralin«, sagte Perrin und hob Arams Pokal auf. Unnötig, noch einen schmutzig zu machen. »Hier ist niemand ein Stück Besitz.« Sollte das scharf klingen, auch egal. Er hatte Tylee auf gewisse Weise schätzen gelernt, aber diese Seanchaner hatten eine Lebensweise, die eine Ziege hätte würgen lassen. Er nahm Breane den Weinkrug ab — sie hielt ihn doch tatsächlich einen Augenblick lang fest, sah ihn stirnrunzelnd an, als wollte sie ihm etwas zu trinken verweigern — und schenkte sich ein, bevor er ihn zurückgab. Sie riss ihm den Krug förmlich aus den Händen. »Also, was ist passiert? Was ist mit diesen Weißmänteln?«

»Ich habe Raken auf Spähflüge ausgeschickt, so weit, wie sie vor der Morgendämmerung kamen, und dann erneut direkt nach Sonnenuntergang. Eine der Fliegerinnen kehrte heute Abend früher als erwartet zurück. Sie hat siebentausend Kinder des Lichts keine fünfzig Meilen von meinem Lager entfernt marschieren gesehen.«

»Marschieren sie auf Euch zu?« Perrin schaute den Wein stirnrunzelnd an, statt zu trinken. »Siebentausend scheint eine sehr genaue Zählung zu sein, um sie in der Dunkelheit machen zu können.«

»Anscheinend sind diese Männer Deserteure«, warf Annoura ein. »Jedenfalls hält die Bannergeneralin sie dafür.« In ihrer grauen Seide erschien sie so herausgeputzt, als hätte sie eine Stunde mit Ankleiden verbracht. Ihre spitze Nase ließ sie wie eine Krähe mit perlengeschmückten Zöpfen aussehen, wie sie Tylee anstarrte, und die Bannergeneralin ein besonders interessantes Stück Aas. Sie hielt einen Weinpokal, aber er erschien unberührt. »Ich habe gerüchteweise gehört, dass Pedron Niall im Kampf gegen die Seanchaner gestorben ist, aber anscheinend hat Eamon Valda, der Niall ersetzt hat, der Kaiserin von Seanchan die Treue geschworen.« Tylee formte lautlos »möge sie ewig leben« mit den Lippen; Perrin bezweifelte, dass es jemand außer ihm gehört hatte. Auch Balwer öffnete den Mund, schloss ihn aber wied er, ohne etwas zu sagen. Die Weißmäntel waren für ihn ein Schreckgespenst. »Aber vor etwa einem Monat«, fuhr die Graue Schwester fort, »hat Galad Damodred Valda getötet und siebentausend Weißmäntel dazu gebracht, die Seanchaner zu verlassen. Eine Schande, dass er sich mit den Weißmänteln eingelassen hat, aber vielleicht hat es auch etwas Gutes. Wie dem auch sei, es hat den Anschein, dass der Befehl ausgegeben wurde, diese Männer auf der Stelle zu töten, wenn man sie findet. Ich habe es doch gut zusammengefasst, Bannergeneralin, oder?«

Tylees Hand zuckte, als wollte sie eines dieser Zeichen gegen das Böse machen. »Es ist eine gute Zusammenfassung.« Sie sagte es zu Perrin, nicht zu Annoura. Der Seanchanerin schien es schwerzufallen, mit einer Aes Sedai zu sprechen. »Bis auf den Teil mit dem Guten. Eidbrechen und Desertation sind nichts Gutes.«

»Ich nehme an, sie bewegen sich nicht auf Euch zu, oder Ihr hättet es gesagt.« Perrin ließ es leicht fragend klingen, aber für ihn bestand da kein Zweifel.

»Nach Norden«, antwortete Tylee. »Sie reiten nach Norden.« Balwer wollte wieder etwas sagen, aber er schloss deutlich hörbar den Mund.

»Wenn Ihr einen Rat habt«, sagte Perrin zu ihm, »dann raus damit. Aber mir ist egal, wie viele Weißmäntel von den Seanchanern desertiert sind. Mich interessiert nur Faile. Und ich glaube nicht, dass die Bannergeneralin die Chance, drei oder vierhundert Damane an die Leine legen zu können, aufgeben wird, um ihnen hinterherzujagen.« Berelain verzog das Gesicht. Annouras Miene blieb ausdruckslos, aber sie nahm einen großen Schluck Wein. Keiner der Aes Sedai gefiel dieser Teil des Plans. Den Weisen Frauen auch nicht.

»Das werde ich nicht tun«, sagte Tylee fest. »Ich glaube, ich nehme doch etwas Wein.« Breane holte tief Luft, bevor sie gehorchte, und ein Hauch von Furcht trat in ihren Geruch. Anscheinend schüchterte die hochgewachsene Schwarze sie ein.

»Ich will nicht abstreiten, dass es mir gefallen würde, einen Schlag gegen die Weißmäntel zu führen«, sagte Balwer in dieser staubtrockenen Stimme, »aber um die Wahrheit zu sagen, schulde ich diesem Galad Damodred Dank.« Vielleicht galt sein Hass diesem Valda persönlich. »Wie dem auch sei, Ihr braucht meinen Rat nicht. Die Ereignisse in Maiden haben angefangen, und selbst wenn dem nicht so wäre, bezweifle ich, dass Ihr Euch auch nur noch einen Tag lang zurückhalten würdet. Und ich hätte auch nicht dazu geraten, mein Lord. Falls ich so offen sein darf, ich mag Lady Faile sehr.«

»Ihr dürft«, sagte Perrin. »Bannergeneralin, Ihr habt etwas von zwei Neuigkeiten gesagt?«

Die Seanchanerin nahm von Breane den angebotenen Weinpokal entgegen und sah ihn so geradeheraus an, dass ersichtlich war, dass sie die anderen im Zelt nicht ansehen wollte. »Können wir allein sprechen?«, fragte sie leise.

Berelain rauschte über den Teppich, legte ihm eine Hand auf den Arm und lächelte zu ihm hoch. »Annoura und ich haben nichts dagegen zu gehen«, sagte sie. Beim Licht, wie konnte nur jemand glauben, dass zwischen ihnen etwas war? Sie war so schön wie immer, ja, aber der Geruch, der an eine jagende Raubkatze gemahnte, war schon so lange bei ihr verschwunden, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte. Das Fundament ihres Geruchs war jetzt Geduld und Entschlossenheit. Sie hatte akzeptiert, dass er Faile liebte und nur Faile, und sie schien seine Entschlossenheit zu teilen, Faile zu befreien.

»Ihr könnt bleiben«, sagte er. »Was auch immer Ihr zu sagen habt, Bannergeneralin, Ihr könnt es vor jedem hier Anwesenden sagen.«

Tylee zögerte, warf Annoura einen Blick zu. »Zwei große Gruppen Aiel marschieren auf Maiden zu«, sagte sie schließlich zögernd. »Eine aus dem Südosten, eine aus dem Südwesten. Die Morat’raken schätzen, dass sie in drei Tagen hier sein könnten.«

Plötzlich schien alles in Perrins Sichtweite Wellen zu schlagen. Er fühlte, wie er selbst Wellen schlug. Breane stieß einen Schrei aus und ließ den Weinkrug fallen. Die Welt schlug erneut Wellen, und Berelain griff nach seinem Arm. Tylees Hand schien in dieser seltsamen Geste erstarrt zu sein, Daumen und Zeigefinger bildeten einen Halbmond. Alles schlug ein drittes Mal Wellen, und Perrin fühlte sich, als bestünde er aus Nebel, als wäre die Welt aus Nebel und ein Sturmwind brauste heran. Berelain zitterte, und er legte einen tröstenden Arm um sie. Sie klammerte sich zitternd an ihm fest. Schweigen und der Geruch von Furcht erfüllten das Zelt. Draußen ertönten Stimmen, und auch sie klangen furchterfüllt.

»Was war das?«, wollte Tylee schließlich wissen.

»Ich weiß es nicht.« Annouras Miene blieb gelassen, aber ihre Stimme war unsicher. »Beim Licht, ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Es spielt keine Rolle, was es war«, sagte Perrin zu ihnen. Er ignorierte ihre Blicke. »In drei Tagen wird alles vorbei sein. Das ist das Einzige, was zählt.« Faile war das Einzige, das zählte.

Die Sonne stand noch nicht im Zenit, aber Faile war bereits entnervt. Das Wasser für Sevannas Morgenbad — sie badete jetzt zweimal täglich! — war nicht heiß genug gewesen, und Faile war zusammen mit allen anderen geschlagen worden, dabei waren sie und Alliandre nur da gewesen, um der Frau den Rücken zu waschen. Mehr als zwanzig der Feuchtländer-Gai’schain hatten seit Sonnenaufgang gebettelt, den Treueid schwören zu dürfen. Drei von ihnen hatten einen Aufstand vorgeschlagen, hatten darauf hingewiesen, dass es in diesen Zelten mehr Gai’schain als Shaido gab. Allem Anschein nach hatten sie zugehört, als sie sie darauf aufmerksam gemacht hatte, dass fast alle diese Aiel mit einem Speer umgehen konnten, während die meisten Feuchtländer Bauern oder Handwerker waren. Nur wenige von ihnen hatten je eine Waffe in der Hand gehalten, geschweige denn eine benutzt. Allem Anschein nach hatten sie zugehört, aber das war das erste Mal, dass jemand so etwas direkt nach dem Schwören des Eides vorgeschlagen hatte. Für gewöhnlich brauchten sie ein paar Tage dazu, um den Mut aufzubringen. Der Druck erhöhte sich. Auf ein Massaker zu, wenn sie es nicht verhindern konnte. Und jetzt das hier…

»Es ist nur ein Spiel, Faile Bashere«, sagte Rolan und überragte sie, während sie eine der schlammigen Straßen zwischen den Shaido-Zelten entlanggingen. Er klang amüsiert, und ein ganz kleines Lächeln umspielte seine Lippen. Er war ein schöner Mann, keine Frage.

»Ein Kussspiel, habt Ihr gesagt.« Sie rückte die gestreiften Handtücher auf ihrem Arm zurecht, damit er seine Aufmerksamkeit darauf lenkte. »Ich muss arbeiten, habe keine Zeit für Spiele. Vor allem keine Kussspiele.«

Sie konnte ein paar Aiel sehen, einige davon Männer, die schon zu dieser Stunde betrunken umhertaumelten, aber die meisten Leute auf der Straße waren Feuchtländer in schmutzigen Gai`shan-Gewändern oder Kinder, die fröhlich in den Pfützen von den schweren Regenfällen der vergangenen Nacht spielten. Auf der Straße drängten sich Männer und Frauen in schlammbeschmutztem Weiß, die Körbe, Eimer oder Töpfe trugen. Einige mussten tatsächlich arbeiten. Im Lager waren so viele Gai'schain, dass es nicht genug Arbeit für alle gab. Das hinderte keinen Shaido daran, seiner Ansicht nach müßigen Händen irgendeine Arbeit aufzutragen, und wenn es sinnlose Tätigkeiten waren. Um auf schlammigen Feldern keine nutzlosen Löcher graben oder bereits saubere Töpfe schrubben zu müssen, waren viele Gai'schain dazu übergegangen, irgendetwas zu tragen, damit sie beschäftigt aussahen. Das half keinem, echter Arbeit zu entgehen, aber es half, der anderen aus dem Weg zu gehen. Faile brauchte sich darüber keine Sorgen zu machen, nicht, solange sie die dicke Goldkette um Taille und Hals trug, aber Goldkragen und Gürtel konnten Weise Frauen nicht abschrecken. Sie hatte schon für einige von ihnen saubere Töpfe geschrubbt. Und war manchmal bestraft worden, weil sie nicht verfügbar gewesen war, wenn Sevanna nach ihr verlangte. Darum die Handtücher.

»Wir könnten mit dem Kussspiel anfangen, das Kinder spielen«, sagte er, »obwohl das Pfand manchmal peinlich ist. Beim Erwachsenenspiel ist das Pfand lustig. Verlieren kann genauso schön wie Gewinnen sein.«

Sie musste lachen, obwohl sie es gar nicht wollte. Der Mann war hartnäckig. Plötzlich sah sie Galina in der Menge in ihre Richtung eilen. Sie hielt ihr weißes Seidengewand aus dem Schlamm und suchte offensichtlich jemanden. Faile hatte gehört, dass die Frau seit dem Morgen wieder Kleidung tragen durfte. Natürlich war sie nie ohne die breite Halskette und den breiten Gürtel und die Feuertropfen gegangen. Die Haare auf ihrem Kopf waren nicht länger als ein Fingernagel, und von allen Dingen hatte man darin ausgerechnet eine große rote Schleife befestigt. Es erschien unwahrscheinlich, dass sie ihre Wahl gewesen war. Allein das Gesicht, dem Faile kein Alter zuordnen konnte, überzeugte sie davon, dass Galina wirklich eine Aes Sedai war. Darüber hinaus war sie sich bei ihr in allem unsicher — abgesehen von der Gefahr, die sie darstellte. Galina entdeckte sie und blieb wie angewurzelt stehen, ihre Hände kneteten das Gewand. Die Aes Sedai musterte Rolan unsicher.

»Ich muss darüber nachdenken, Rolan.« Sie würde ihn nicht wegjagen, bevor sie sich mit Galina sicher sein konnte.

»Ich brauche Zeit zum Nachdenken.«

»Frauen wollen immer Zeit zum Nachdenken haben. Denk daran, wie du deine Probleme bei einem harmlosen Spiel vergessen kannst.«

Der Finger, mit dem er zärtlich über ihre Wange strich, bevor er fortging, ließ sie erbeben. Für Aiel kam es einem Kuss gleich, jemandem in der Öffentlichkeit die Wange zu berühren. Ihr war es wirklich wie ein Kuss vorgekommen. Harmlos? Irgendwie bezweifelte sie, dass es bei einem Spiel, bei dem man Rolan küssen musste, nur beim Küssen bleiben würde. Glücklicherweise würde sie es nicht herausfinden müssen — oder etwas vor Perrin verbergen müssen —, falls sich Galina als ehrlich erwies. Falls sie es tat.

Die Aes Sedai schoss sofort auf sie zu, als Rolan fort war.

»Wo ist er?«, verlangte Galina zu wissen und packte ihren Arm. »Sagt es mir! Ich weiß, dass Ihr ihn habt. Ihr müsst ihn haben!« Sie hörte sich fast flehend an. Theravas Behandlung hatte die berühmte Aes-Sedai-Gelassenheit zerschmettert.

Faile schüttelte ihre Hand ab. »Zuerst sagt Ihr mir erneut, dass Ihr meine Freunde und mich mitnehmt, wenn Ihr geht. Sagt es mir geradeheraus. Und sagt mir, wann Ihr geht.«

»Wagt es nicht, so mit mir zu sprechen«, zischte Galina. Schwarze Punkte tanzten in Failes Sicht, bevor ihr klar wurde, dass sie geschlagen worden war. Zu ihrer Überraschung schlug sie zurück, so hart sie konnte, und ließ die andere Frau taumeln. Sie unterließ es, sich das brennende Gesicht zu halten, aber Galina rieb sich mit vor Unglauben weit aufgerissenen Augen die Wange. Faile stählte sich, vielleicht gegen einen Schlag mit der Macht oder Schlimmeres, aber nichts passierte. Ein paar vorbeigehende Gai'schain starrten sie an, aber niemand blieb stehen oder verlangsamte auch nur das Tempo. Alles, das nach einer Versammlung von Gai'schain aussah, würde die Aufmerksamkeit der Shaido wecken und allen Beteiligten eine Bestrafung einbringen.

»Sagt es«, verlangte sie erneut.

»Ich werde Euch und Eure Freunde mitnehmen«, fauchte Galina förmlich und riss die Hand nach unten. »Ich breche morgen auf. Wenn ich ihn habe. Wenn nicht, wird Sevanna innerhalb der nächsten Stunde wissen, wer Ihr seid!« Nun, das war eine direkte Aussage.

»Er ist in der Stadt versteckt. Ich hole ihn Euch.«

Aber als sie sich umdrehte, ergriff Galina erneut ihren Arm. Die Blicke der Aes Sedai schössen umher, und sie senkte die Stimme, als hätte sie plötzlich Angst, belauscht zu werden. Sie klang ängstlich. »Nein. Ich werde nicht das Risiko eingehen, dass es jemand sieht. Ihr werdet ihn mir morgen früh geben. In der Stadt. Wir treffen uns dort. Am Südende der Stadt. Ich werde das Gebäude markieren. Mit einem roten Halstuch.«

Faile blinzelte. Die Südhälfte von Maiden waren ausg ebrannte Ruinen. »Warum da?«, fragte sie ungläubig.

»Weil niemand da hingeht, Närrin! Weil uns dort niemand sehen wird!« Galinas Blicke huschten noch immer in alle Richtungen. »Morgen, in aller Frühe. Lasst mich im Stich, und Ihr werdet es bereuen!« Sie hob die Seidenröcke an und verschwand in der Menge.

Faile sah ihr stirnrunzelnd nach. Sie hätte jubeln müssen, aber sie tat es nicht. Galina erschien wie eine Wilde, völlig unberechenbar. Und dennoch, Aes Sedai konnten nicht lügen. Es schien keine Möglichkeit zu geben, wie sie sich aus ihrem Versprechen herauswinden konnte. Und falls doch, da waren noch immer ihre eigenen Fluchtpläne, obwohl sie darin noch nicht weitergekommen war, sie mittlerweile sogar noch gefährlicher als zuvor erschienen. Womit Rolan übrig blieb. Und sein Kussspiel. Galina musste die Wahrheit gesagt haben. Sie musste es.

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