Der mit roten Wänden versehene Raum, dessen Decke mit Vögeln und Fischen bemalt war, die zwischen Wolken und Wellen umhertollten, wimmelte vor braun gekleideten Schreibern, die zwischen den langen Tischen umhereilten. Niemand schien zuzuhören — die meisten sahen wie betäubt aus, und das mit gutem Grund —, aber Suroth verabscheute ihre Anwesenheit. Sie mussten einiges von dem mitbekommen, was gesagt wurde, und es waren potenziell schlimme Neuigkeiten. Aber Galgan hatte darauf bestanden. Sie mussten sich auf ihre Arbeit konzentrieren, um sich von den verheerenden Neuigkeiten aus der Heimat abzulenken, und bei ihnen handelte es sich alles um vertrauenswürdige Männer und Frauen. Er hatte darauf bestanden! Wenigstens war der weißhaarige alte Mann heute Morgen nicht wie ein Soldat gekleidet. Die blauen Pluderhosen und der kurze rote Mantel mit dem hohen Kragen und den Reihen von Goldknöpfen, in die sein Siegel geprägt war, stellten die neueste seanchanische Mode dar, die aktuelle Mode im Kaiserreich. Wenn er Rüstung trug oder auch nur seine rote Uniform, drängte sich ihr manchmal der Eindruck auf, dass sie eine Soldatin unter seinem Kommando war!
Nun, sobald Elbar die Nachricht brachte, dass Tuon tot war, konnte sie Galgan töten lassen. Seine Wangen waren mit Asche beschmiert, genau wie die ihren. Das von Semirhage versprochene Schiff hatte die Nachricht vom Tod der Kaiserin gebracht und dass das Reich von Rebellion erschüttert wurde. Es gab keine Kaiserin, keine Tochter der Neun Monde. Für die einfachen Untertanen erzitterte die Welt am Rand des Untergangs. Für einige Angehörige des Blutes auch. Sobald Galgan und ein paar andere tot waren, würde keiner mehr Einspruch erheben, wenn Suroth Sabelle Meldarath sich zur Kaiserin ausrief. Sie versuchte nicht daran zu denken, welchen neuen Namen sie annehmen würde. Sich vorher einen neuen Namen auszusuchen brachte Unglück.
Mit einem Stirnrunzeln betrachtete Galgan die vor ihnen ausgebreitete Karte und tippte mit einem rot lackierten Fingernagel auf die Berge an der südlichen Küste von Arad Doman. Suroth wusste nicht, wie die Berge hießen. Die Karte zeigte ganz Arad Doman und enthielt drei Markierungen, einen roten Keil und zwei weiße Kreise, die in einer langen Linie von Norden nach Süden aufgestellt waren. »Hat Turan genaue Zahlen, wie viele Männer aus diesen Bergen kamen, um sich Ituralde anzuschließen, als er nach Arad Doman kam, Yamada?«
Efraim Yamada trug ebenfalls Asche, da er dem Blut angeh örte, wenn auch nur dem Niederen Blut, und er trug das Haar als Schopf und Pferdeschwanz, statt als schmalen Kamm auf einem ansonsten kahl rasierten Kopf. Nur die einfachen Untertanen um den Tisch trugen keine Asche, ganz egal, welchen Rang sie einnahmen. Yamada, hochgewachsen mit breiten Schultern und schmalen Hüften, mit einem blauen und goldenen Harnisch, wies noch immer Spuren von der Schönheit seiner Jugend auf, obwohl seine Haare langsam grau wurden. »Er berichtet von mindestens einhunderttausend, Generalhauptmann. Vielleicht ist es auch nur die Hälfte.«
»Und wie viele kamen heraus, nachdem Turan die Grenze überschritten hat?«
»Möglicherweise zweihunderttausend, Generalhauptmann.« Galgan seufzte und richtete sich wieder auf. »Also hat Turan ein Heer vor sich und eins hinter sich, vermutlich alles, was Arad Doman aufbieten kann, und zwischen ihnen ist er in der Minderzahl.« Dieser Narr! Das Offensichtliche in Worte zu fassen.
»Turan hätte jedes Schwert und jede Lanze aus Tarabon abziehen sollen!«, fauchte Suroth. »Wenn er dieses Debakel überlebt, werde ich seinen Kopf fordern!«
Galgan hob die Brauen. »Ich glaube kaum, dass Tarabon schon loyal genug ist, um so etwas machen zu können«, sagte er trocken. »Außerdem hat er Damane und Raken. Das sollte seine geringere Zahl wieder wettmachen. Und da wir gerade von Damane und Raken sprechen, ich habe den Befehl unterschrieben, der Tylee Khirgan zum Generalleutnant und zum Niederen Blut erhebt, da Ihr das immer wieder verzögert habt, und ich habe Befehle gegeben, dass die meisten dieser Raken nach Amadicia und Altara zurückkehren. Chisen hat noch immer nicht herausfinden können, wer diese kleine Unruhe im Norden angezettelt hat, und mir gefällt die Vorstellung nicht, dass wer auch immer das war, wieder aus der Deckung kommt, sobald Chisen in die Molvainekluft zurückkehrt.«
Suroth zischte und verkrallte die Fäuste in den blauen Röcken, bevor sie die Hände kontrollieren konnte. Sie würde nicht zulassen, dass der Mann sie dazu brachte, ihre Gefühle zu zeigen! »Ihr übertretet Eure Kompetenzen, Galgan«, sagte sie kalt. »Ich befehlige die Vorläufer. Im Augenblick befehlige ich auch die Wiederkehr. Ohne meine Zustimmung werdet Ihr keine Befehle unterzeichnen.«
»Ihr befehligt die Vorläufer, die in die Wiederkehr eingegliedert worden sind«, erwiderte er ganz ruhig, und Suroth schmeckte Bitterkeit. Die Neuigkeiten aus dem Reich hatten ihn mutiger gemacht. Da die Kaiserin tot war, wollte sich Galgan zum ersten Kaiser seit neunhundert Jahren machen. Es hatte den Anschein, dass er in dieser Nacht sterben musste.
»Und was Euer Kommando über die Wiederkehr betrifft…« Das Poltern schwerer Stiefel im Korridor unterbrach ihn.
Plötzlich füllten Totenwächter die Tür, in Rüstungen und die Hände auf den Schwertgriffen. Harte Augen starrten aus den rotgrünen Helmen und musterten den Raum. Erst als sie zufrieden waren, traten sie zurück und enthüllten, dass der Korridor mit Totenwächtern gefüllt war, menschlichen und Ogiern. Suroth nahm sie kaum wahr. Sie hatte bloß Augen für die kleine schwarze Frau in Blau mit dem kahl geschorenen Kopf und der Asche auf den Wangen. Die Neuigkeiten waren in der ganzen Stadt bekannt. Sie konnte den Palast nicht erreicht haben, ohne vom Tod ihrer Mutter gehört zu haben, dem Tod ihrer ganzen Familie, aber ihr Gesicht war eine reglose Maske. Suroths Knie prallten wie von selbst auf den Boden. Das Blut um sie herum kniete nieder, die nichtadligen Untertanen warfen sich auf den Bauch.
»Gesegnet sei das Licht für Eure sichere Heimkehr, Euer Hoheit«, sagte sie im Chor mit dem restlichen Blut. Also hatte Elbar versagt. Egal. Tuon würde vor dem Ende der Trauerzeit keinen neuen Namen annehmen oder Kaiserin werden. Sie konnte immer noch sterben und den Weg für eine neue Kaiserin ebnen.
»Zeigt ihnen, was mir Hauptmann Musenge gebracht hat, Bannergeneral Karede«, sagte Tuon.
Ein hochgewachsener Mann mit drei dunklen Federn auf dem Helm beugte sich vor und ließ aus einem Sack einen großen Klumpen auf die grünen Bodenfliesen rollen. Der atemraubende Gestank von Verwesung breitete sich sofort aus. Er ließ den Sack fallen und trat quer durch den Raum an Suroths Seite.
Sie brauchte einen Augenblick, um Elbars hakennasiges Gesicht in der verfaulenden Masse zu erkennen, aber sobald sie es tat, warf sie sich auf den Bauch und küsste den Boden. Aber nicht aus Verzweiflung. Das war nur ein Rückschlag, den man wieder ausgleichen konnte. Solange sie Elbar nicht der Befragung unterzogen hatten. »Mein Blick ist gesenkt, Euer Hoheit, dass einer von meinen Leuten Euch so schwer beleidigt hat, dass Ihr seinen Kopf genommen habt.«
»Mich beleidigt?« Tuon schien die Worte zu wiegen.
»Man könnte sagen, dass er mich beleidigt hat. Er hat vers ucht, mich zu töten.«
Entsetztes Keuchen erfüllte den Raum, und bevor Suroth auch nur den Mund öffnen konnte, stemmte der Bannergeneral der Totenwache einen Stiefel in ihr Kreuz, packte ihren Haarschopf mit der Faust und riss ihren Oberkörper glatt vom Boden. Sie wehrte sich nicht. Das hätte die Entehrung nur noch schlimmer gemacht.
»Mein Blick ist tief gesenkt, dass einer meiner Leute ein Verräter sein soll, Euer Hoheit«, stieß sie heiser hervor. Sie wünschte sich, sie hätte normal sprechen können, aber der verfluchte Mann hielt ihren Rücken so nach hinten gebogen, dass es ein Wunder war, dass sie überhaupt einen Ton herausbrachte. »Hätte ich das geahnt, hätte ich ihn selbst der Befragung unterworfen. Aber wenn er versucht hat, mich zu beschuldigen, Euer Hoheit, dann hat er gelogen, um seinen wahren Herrn zu beschützen. Ich habe da eine Ahnung, die ich unter vier Augen mit Euch besprechen möchte, falls mir das erlaubt ist.« Mit etwas Glück konnte sie das Galgan unterschieben. Dass er ihr die Autorität geraubt hatte, würde helfen.
Tuon schaute über Suroths Kopf. Sie erwiderte Galgans Blick, Abaldars und Yamadas, von jedem Angehörigen des Blutes, aber nicht den Suroths. »Es ist allgemein und wohlbekannt, dass Zaired Elbar von ganzem Herzen Suroths Mann war. Er hat nichts getan, das sie nicht befohlen hat. Darum gibt es Suroth Sabelle Meldarath nicht mehr. Diese Da’covale wird der Totenwache dienen, bis ihr Haar wieder ausreichend nachgewachsen ist, damit sie schicklich aussieht, wenn sie auf den Block geschickt wird, um verkauft zu werden.«
Suroth dachte nicht an das Messer, mit dem sie sich die Adern hatte aufschlitzen wollen, ein Messer, das jenseits ihrer Reichweite in ihren Gemächern lag. Sie konnte überhaupt nicht denken. Sie fing an zu schreien, ein wortloses Kreischen, bevor sie überhaupt anfingen, ihr die Kleider vom Leib zu schneiden.
Nach Tar Valon war die andoranische Sonne warm. Pevara nahm den Umhang ab und schnallte ihn hinter sich am Sattel fest, während sich das Wegetor schloss und mit ihm der Ausb lick auf den Ogierhain in Tar Valon. Keine von ihnen hatte gewollt, dass jemand ihre Abreise beobachtete. Aus dem gleichen Grund würden sie auch wieder in den Hain zurückkehren. Solange das Unternehmen kein schlimmes Ende nahm. In diesem Fall kehrten sie vielleicht nie wieder zurück. Sie war der Ansicht gewesen, dass diese Aufgabe jemand erfüllen musste, der das größte diplomatische Geschick mit dem Mut eines Löwen kombinierte. Nun, wenigstens war sie kein Feigling. Das konnte sie von sich behaupten.
»Wo habt Ihr das Gewebe für den Behüterbund gelernt?«, fragte Javindhra unvermittelt, während sie ihren Umhang ebenfalls verstaute.
»Ihr solltet Euch daran erinnern können, dass ich einst vorgeschlagen habe, dass die Roten Schwestern wohlberaten wären, Behüter zu haben.« Pevara zog die roten Reithandschuhe fester und verriet keine Sorge wegen der Frage. Eigentlich hatte sie sie schon früher erwartet. »Warum seid Ihr überrascht, dass ich das Gewebe kenne?« In Wahrheit hatte sie Yukiri fragen müssen und war sehr bedrängt worden, den Grund dafür zu verraten. Aber sie bezweifelte, dass Yukiri einen Verdacht hegte. Eher sah man eine fliegende Frau, als dass sich eine Rote mit einem Behüter verband. Nur dass sie aus diesem Grund nach Andor gekommen war. Sie alle.
Javindhra war nur dabei, weil Tsutama es ihr befohlen hatte, nachdem Pevara und Tarna nach Ansicht ihrer Obersten nicht genug Namen beisammen hatten. Die knochige Sitzende gab sich keine Mühe, ihren Ärger darüber zu verbergen, jedenfalls nicht gegenüber Pevara, obwohl sie ihn in Tsutamas Gegenwart tief vergraben hatte. Tarna war natürlich dabei, aber ohne ihre Behüterinnenstola; dafür war ihr Reitrock bis zu den Knien mit Rot bestickt. Für sie würde es schwer sein, einen Behüter zu haben, da sie doch Elaida diente, auch wenn man die Männer in der Stadt unterbringen würde, weit weg von der Burg, aber es war von Anfang an ihre Idee gewesen, und auch wenn sie sich nicht darauf freut e, so war sie doch fest entschlossen, an diesem ersten Exper iment teilzuhaben.
Davon abgesehen wurde sie gebraucht, denn sie hatten nur drei andere Schwestern gefunden, die bereit gewesen waren, auch nur über die Idee nachzudenken. Die Hauptaufgabe der Roten, die für lange Zeit darin bestanden hatte, Männer aufzuspüren, die die Macht lenken konnten, und sie dann in die Burg zu bringen, um sie zu dämpfen, brachte es oft mit sich, dass die Frauen alle Männer zu verabscheuen lernten, also hatte man nach wenigen Indizien Ausschau halten müssen.
Jezrail war eine Tairenerin mit kantigem Gesicht, die noch immer eine Miniatur des Jungen aufbewahrte, den sie beinahe geheiratet hätte, statt zur Burg zu kommen. Ihre Enkel würden jetzt Großeltern sein, aber sie sprach noch immer liebevoll von ihm.
Desala war eine äußerst attraktive Cairhienerin mit großen dunklen Augen und unerfreulichem Temperament, die, wenn sie die Gelegenheit gehabt hätte, die ganze Nacht mit unzähligen Männern bis zur Erschöpfung tanzen würde.
Und Melare, mollig und schlagfertig, die Konversation liebte, schickte für die Ausbildung ihres Großneffen Geld nach Andor, genau wie sie es auch für ihre anderen Neffen und Nichten getan hatte.
Nachdem Pevara der Suche nach solch winzigen Anhaltsp unkten müde geworden war, nachdem sie es müde geworden war, ganz behutsam Fragen zu stellen, ob es ihnen auch ernst mit dem war, was sie meinten, hatte sie Tsutama davon überzeugt, dass sechs für den Anfang reichen würden. Davon abgesehen forderte eine zu große Abordnung möglicherweise eine unerfreuliche Reaktion heraus. Sollte die ganze Rote Ajah vor dieser sogenannten Schwarzen Burg auftauchen oder auch nur die Hälfte, würden die Männer vielleicht glauben, dass man sie angriff. Keiner konnte sagen, wie weit sie schon dem Wahnsinn verfallen waren. Das war eine Sache, auf die sie sich alle geeinigt hatten, hinter Tsutamas Rücken. Sie würden sich nicht mit Männern verbinden, die Anzeichen von Umnachtung hatten. Falls man ihnen überhaupt gestattete, mit ihnen den Bund einzugehen, i Augen-und-Ohren der Ajah in Caemlyn hatten reichlich Berichte über die Schwarze Burg geschickt, einige hatten dort sogar eine Anstellung gefunden, also hatten sie keine Schwierigkeiten, den ungepflasterten, häufig benutzten Weg zu finden, der von der Stadt zu einem grandiosen schwarzen Tor führte, das fast fünfzig Fuß hoch und zehn Spannen breit war und über einem nach unten zeigenden zentralen Schlussstein von Zinnen gekrönt und von zwei dicken, zinnenbewehrten schwarzen Türmen flankiert wurde, die mindestens fünfzehn Spannen hoch waren. Es gab keine Torflügel, um diese Öffnung zu schließen, und die schwarze Steinmauer, die sich so weit nach Osten und Westen erstreckte, dass man sie aus der Sicht verlor, und in regelmäßigen Abständen durch die Fundamente von Bastionen und Türmen markiert wurde, war nirgendwo höher als vier oder fünf Schritte. Auf der unregelmäßigen Oberfläche wuchs Unkraut, der Wind strich durch hohes Gras. Diese unfertigen Mauern, die aussahen, als würde man sie nie vollenden, ließen das Tor lächerlich erscheinen.
Aber die drei Männer, die aus der Öffnung traten, waren alles andere als lächerlich. Sie trugen lange schwarze Mäntel und Schwerter an der Seite. Einer von ihnen, ein schlanker junger Bursche mit einem gewellten Schnurrbart, trug eine Silbernadel in der Form eines Schwertes an dem hohen Kragen. Einer der Geweihten also. Pevara widerstand dem Instinkt, ihn für das Äquivalent einer Aufgenommenen zu halten und die anderen beiden für Novizen. Novizinnen und Aufgenommene wurden beschützt und geleitet, bis sie sich ausreichend in der Einen Macht auskannten, um Aes Sedai zu werden. Allen Berichten zufolge betrachtete man die Soldaten und Geweihten als zur Schlacht tauglich, sobald sie gerade eben gelernt hatten, die Macht zu lenken. Und sie wurden vom ersten Tag an dazu gezwungen, unter Druck gesetzt, so viel Saidin zu ergreifen, wie sie nur konnten, dazu gebracht, es so gut wie immer zu benutzen. Männer starben daran, und sie nannten es »Ausbildungsverluste«, als könnten sie den Tod mit nichtssagenden Worten beschönigen. Der Gedanke, Novizinnen oder Aufgenommene auf diese Weise zu verlieren, drehte Pevara den Magen um, aber anscheinend hatten diese Männer damit kein Problem.
»Ich wünsche Euch einen schönen Morgen, Aes Sedai«, sagte der Geweihte mit einer kleinen Verbeugung, als sie vor ihm das Pferd zügelte. Eine sehr kleine Verbeugung, und er ließ sie dabei auch keinen Augenblick lang aus den Augen. Seinem Akzent nach zu urteilen, kam er aus Murandy. »Was könnten sechs Schwestern an diesem schönen Morgen wohl von der Schwarzen Burg wollen?«
»Den M’Hael sprechen«, erwiderte Pevara und schaffte es, nicht an dem Wort zu ersticken. In der Alten Sprache bedeutete das »Führer«, aber allein schon diesen Begriff als Titel auszuwählen, verlieh dem Wort eine viel stärkere Bedeutung, als würde er alles und jeden führen.
»Ah, um den M’Hael zu sprechen also? Und welche Ajah soll ich melden?«
»Die Rote«, erwiderte Pevara und sah ihn blinzeln. Sehr zufriedenstellend. Aber nicht sehr hilfreich.
»Die Rote«, sagte er tonlos. Die Überraschung hatte nicht lange gedauert. »Nun ja. Enkazin, al’Seen, ihr haltet Wache, während ich sehe, was der M’Hael dazu zu sagen hat.«
Er wandte ihnen den Rücken zu, und der vertikale silberne Strich eines Wegetors erschien vor ihm und verbreiterte sich zu einer Öffnung, die nicht größer als eine Tür war. Konnte er sie nur so groß machen? Es hatte eine lange Diskussion darüber gegeben, ob man sich mit Männern verbinden sollte, die so stark oder so schwach wie möglich waren. Die Schwachen würde man möglicherweise leichter kontrollieren können, während die Starken vermutlich — nein, bestimmt — nützlicher waren. Sie hatten keine Einigung erzielt; das musste jede Schwester für sich selbst entscheiden. Er eilte durch das Wegetor und schloss es wieder, bevor sie mehr sehen konnte als eine weiße Steinplattform, zu der seitlich Stufen hinaufführten und auf der ein rechteckiger schwarzer Stein thronte, der von der Mauer hätte stammen können und der auf Hochglanz poliert worden war.
Die zwei zurückgebliebenen Männer blieben in der Mitte des Torbogens stehen, als wollten sie die Schwestern vom Eintritt abhalten. Einer war ein Saldaeaner, ein dürrer Mann mit breiter Nase, der kurz vor den mittleren Jahren stand und etwas vom Aussehen eines Schreibers hatte, der leicht gebeugt dastand, als hätte er viele Stunden über einem Schreibpult verbracht; der andere war ein Junge, kaum älter als ein Kind, der sich das dunkle Haar mit den Fingern aus der Stirn strich, nur damit der Wind es schnell wieder zurückwehen konnte. Keiner von ihnen schien auch nur das geringste Unbehagen zu verspüren, sechs Schwestern allein gegenüberzustehen. Falls sie allein waren. Hielten sich die anderen in den Türmen auf? Pevara vermied es, zu den Türmen hochzuschauen.
»Du da, Junge«, sagte Desala in glockenhellem Tonfall. Glocken, die vor Wut läuteten. Die sicherste Methode, ihr Temperament in Wallung zu bringen, bestand darin, einem Kind zu schaden. »Du solltest zu Hause sein, wo deine Mutter dich das Schreiben lehrt. Was tust du hier?« Der Junge wurde knallrot und strich sich wieder das Haar aus der Stirn.
»Saml ist schon in Ordnung, Aes Sedai«, sagte der Saldaeaner und klopfte dem Jungen auf die Schulter. »Er lernt schnell, und man muss ihm nichts zweimal zeigen, damit er es beherrscht.« Der Junge stand sehr gerade da, Stolz auf dem Gesicht, und steckte die Daumen hinter den Schwertgürtel. Ein Schwert, in seinem Alter! Sicher, der Sohn eines Adligen würde in Saml al’Seens Alter schon seit Jahren den Umgang mit dem Schwert erlernen, aber man würde ihm nicht erlauben, das Ding in der Öffentlichkeit zu tragen!
»Pevara«, sagte Tarna kühl, »keine Kinder. Ich wusste, dass sie Kinder hier haben, aber keine Kinder.«
»Beim Licht!«, keuchte Melare. Ihre weiße Stute spürte ihre Anspannung und warf den Kopf zurück. »Mit Sicherheit keine Kinder!«
»Das wäre abscheulich«, sagte Jezrail.
»Keine Kinder«, stimmte Pevara schnell zu. »Ich glaube, wir sollten nichts mehr sagen, bevor wir Meister… den M’Hael gesprochen haben.« Javindhra schnaubte.
»Keine Kinder, Aes Sedai?«, fragte Enkazin stirnrunzelnd.
»Wieso keine Kinder?«, fragte er erneut, als er keine Antw ort erhielt.
Jetzt erschien er weniger wie ein Schreiber. Die gebeugte Haltung blieb, aber etwas in seinen schräg stehenden Augen erschien plötzlich… gefährlich. Hielt er die männliche Hälfte der Macht? Die Möglichkeit ließ Pevara frösteln, aber sie widerstand dem Wunsch, Saidar zu umarmen. Einige Männer, die die Macht lenken konnten, schienen spüren zu können, wenn eine Frau sie hielt. Enkazin sah jetzt aus, als könnte er sehr schnell übereilt reagieren.
Sie warteten in aller Stille, abgesehen vom gelegentlichen Hufscharren. Pevara zwang sich zur Geduld, Javindhra murmelte etwas vor sich hin. Pevara konnte die Worte nicht verstehen, aber sie erkannte wütendes Gemurmel, wenn sie es hörte. Tarna und Jezrail holten Bücher aus den Satteltaschen und lasen. Gut. Sollten diese Asha’man sehen, dass sie unbesorgt waren. Leider erschien nicht einmal der Junge beeindruckt. Er und der Saldaeaner standen einfach in der Mitte des Tors und beobachteten sie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.
Nach vielleicht einer halben Stunde öffnete sich ein größ eres Wegetor, und der Murandianer trat hindurch. »Der M’Hael wird Euch im Palast empfangen, Aes Sedai. Geht durch.« Er deutete mit dem Kopf auf die Öffnung.
»Zeigt Ihr uns den Weg?«, fragte Pevara und stieg ab. Das Wegetor war größer, aber sie hätte sich ducken müssen, wenn sie geritten wäre.
»Auf der anderen Seite wartet jemand, der Euch führt.« Er bellte ein Lachen. »Der M’Hael gibt sich nicht mit meinesgleichen ab.« Pevara merkte sich das, um später darüber nachzudenken.
Sobald die Letzte von ihnen hindurch und in der Nähe der weißen Steinplattform mit dem spiegelhellen schwarzen Stein war, schloss sich das Tor wieder, aber sie waren nicht allein. Vier Männer und zwei Frauen in schlichter Wolle übernahmen die Zügel der Pferde, und ein dunkelhäutiger, schwergewichtiger Mann mit dem Silberschwert und einer schlangenhaften Figur in Rot und Gold, einem Drachen, am hohen Kragen, deutete eine Verbeugung an.
»Folgt mir«, sagte er knapp mit einem tairenischen Akzent. Seine Augen waren stechend wie Dolche.
Der Palast, von dem der Murandianer gesprochen hatte, war genau das, zwei Stockwerke aus weißem Marmor, die von Spitzkuppeln und Türmen im saldaeanischen Stil gekrönt wurden. Ein großer, ungepflasterter Platz trennte ihn von der weißen Plattform. Es war kein verhältnismäßig großer Palast, aber die meisten Adligen lebten in bedeutend kleineren und wenig großartigen Häusern. Breite Steinstufen führten zu einem großzügigen Treppenabsatz vor einer hohen Flügeltür. Jede davon zeigte eine Faust in einem Panzerhandschuh, die drei Blitze hielt; die Schnitzereien waren groß und vergoldet. Die beiden Flügel schwangen auf, bevor der Tairener sie erreichte, aber es waren keine Diener zu sehen. Der Mann musste die Macht benutzt haben. Pevara verspürte wieder dieses Frösteln. Javindhra murmelte etwas Unhörbares. Diesmal klang es nach einem Gebet.
Der Palast hätte jedem beliebigen Adligen gehören könn en, dem der Sinn nach Wandteppichen mit Schlachtenszenen und roten und schwarzen Bodenfliesen stand, nur dass keine Diener zu sehen waren. Er hatte Diener, auch wenn leider keine Augen-und-Ohren der Roten Ajah darunter waren, aber erwartete er von ihnen, dass sie außer Sicht blieben, wenn sie nicht gebraucht wurden, oder hatte er sie aus dem Saal gewiesen? Vielleicht sollte keiner die Ankunft der sechs Aes Sedai sehen. Diese Möglichkeit führte zu Gedanken, die sie lieber nicht dachte. Ihr waren die Gefahren vor dem Verlassen der Weißen Burg bekannt gewesen. Sinnlos, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Das Gemach, in das der Tairener sie führte, war ein Thronraum, wo ein Kreis aus mit Spiralenmustern versehenen Säulen die vermutlich größte Kuppel des Palasts stützte, deren Gewölbe vergoldet und zur Hälfte mit vergoldeten Lampen an vergoldeten Ketten gefüllt war. Auch unten an den Wänden standen hohe Spiegelkandelaber. Etwa hundert Männer in Schwarz standen zu beiden Seiten. Jeder Mann, den Pevara sehen konnte, trug Schwert und Drachen; es waren Männer mit harten Gesichtern, mit hämischen und grausamen Zügen. Ihre Blicke konzentrierten sich auf sie und die anderen Schwestern.
Der Tairener kündigte sie nicht an, sondern gesellte sich zu der Masse der Asha’man und ließ sie den Raum allein durchqueren. Auch hier waren die Bodenfliesen rot und schwarz. Taim mussten ausgerechnet diese Farben gefallen. Der Mann selbst räkelte sich auf etwas herum, das man nur als Thron bezeichnen konnte, einem massiven Stuhl, der so übermäßig beschnitzt und vergoldetet war wie jeder Thron, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte, und der auf einem weißen Marmorpodest stand. Pevara konzentrierte sich auf ihn, und das nicht nur, um die Blicke all der Männer ignorieren zu können, die die Macht lenken konnten. Mazrim Taim zog die Blicke auf sich. Er war groß, hatte eine kräftige Hakennase und strahlte körperliche Kraft aus. Sowie etwas Finsteres. Er saß da mit überkreuzten Knöcheln und einen Arm über die wuchtige Thronlehne gelegt, und doch schien er jeden Augenblick zu einem Gewaltausbruch bereit. Interessanterweise war sein schwarzer Mantel mit blauen und goldenen Drachen bestickt, die sich von den Ellbogen bis zu den Manschetten um die Ärmel wanden, aber er trug nicht die Anstecknadeln am Kragen.
»Sechs Schwestern der Roten Ajah«, sagte er, als sie kurz vor dem Podest stehen blieben. Seine Augen… Und sie hatte gedacht, nur der Tairener hätte einen durchdringenden Blick gehabt. »Offensichtlich seid Ihr nicht gekommen, um uns alle zu dämpfen.« Leises Gelächter hallte durch den Raum.
»Warum wollt Ihr mich sprechen?«
»Ich bin Pevara Tazanovni, Sitzende der Roten«, sagte sie.
»Das ist Javindhra Doraille, ebenfalls eine Rote Sitzende. Die anderen sind Tarna Feir, Desala Nevanche…«
»Ich habe nicht nach Euren Namen gefragt«, unterbrach Taim sie kalt. »Ich habe gefragt, warum Ihr hier seid.«
Das lief nicht gut. Sie schaffte es, nicht tief Luft zu holen, obwohl sie es wollte. Nach außen hin war sie kühl und ruhig. Im Inneren fragte sie sich, ob der Tag wohl damit enden würde, dass man sie zwangsweise dem Bund unterwarf. Oder mit ihrem Tod. »Wir möchten darüber sprechen, mit Asha’man den Behüterbund einzugehen. Schließlich habt Ihr Euch mit einundfünfzig Schwestern verbunden. Gegen ihren Willen.« Sollte er ruhig von Anfang an wissen, dass ihnen das bekannt war. »Wir schlagen allerdings nicht vor, einem Mann den Bund gegen seinen Willen aufzuzwängen.«
Ein hochgewachsener blonder Mann in der Nähe des Podest es lachte hämisch. »Warum sollten wir Aes Sedai erlauben, auch nur einen Mann…« Etwas Unsichtbares traf seinen Kopf so hart an der Seite, dass seine Füße den Kontakt mit dem Boden verloren, bevor er zusammenbrach und mit geschlossenen Augen und aus der Nase tropfendem Blut liegen blieb.
Ein schlanker Mann mit graumeliertem Haar und einem Spitzbart beugte sich hinunter, um dem Gefallenen einen Finger auf den Kopf zu legen. »Er lebt«, verkündete er, als er sich wieder aufrichtete, »aber er hat einen Schädelbruch und einen gebrochenen Kiefer.« Er hätte genauso gut über das Wetter sprechen können. Nicht einer der Männer bot an, ihn zu Heilen. Nicht einer.
»Ich habe ein paar Fertigkeiten im Heilen«, sagte Melare, schürzte die Röcke und ging auf den gefallenen Mann zu.
»Dafür reicht es. Mit Eurer Erlaubnis.«
Taim schüttelte den Kopf. »Ihr habt meine Erlaubnis nicht. Falls Mishraile bis zum Einbruch der Dunkelheit überlebt, wird er Geheilt werden. Vielleicht wird der Schmerz ihn lehren, seine Zunge zu hüten. Ihr sagt, Ihr wollt den Behüterbund eingehen? Rotel«
Das letzte Wort enthielt eine Menge Verachtung, die Pevara zu ignorieren beschloss. Tarnas Blick hätte allerdings die Sonne in einen Eiszapfen verwandeln können. Pevara legte ihr vorsichtshalber die Hand auf den Arm. »Rote haben Erfahrung mit Männern, welche die Macht lenken können.« Unter den zusehenden Asha’man erhob sich Gemurmel. Ärgerliches Gemurmel. Das ignorierte sie auch.
»Wir haben keine Angst vor ihnen. Bräuche können so schwer zu ändern sein wie Gesetze, manchmal sogar noch schwerer, aber es ist entschieden worden, die unseren zu ändern. Darum dürfen Rote Schwestern sich mit Behütern verbinden, aber nur mit Männern, die die Macht lenken können. Jede Schwester kann sich mit so vielen verbinden, wie sie es will. Betrachtet man beispielsweise die Grünen, halte ich es für unwahrscheinlich, dass es mehr als drei oder vier sein werden.«
»Einverstanden.«
Pevara blinzelte; sie konnte es nicht verhindern. »Einverstanden?« Sie musste ihn missverstanden haben. Er konnte nicht so leicht überzeugt worden sein.
Taims Blicke schienen sich in ihren Kopf zu bohren. Er breitete die Hände aus, und es war eine spöttische Geste.
»Was soll ich denn Eurer Meinung nach sagen? Fair ist fair? Für jeden den gleichen Anteil? Akzeptiert ›einverstanden‹ und fragt, wer mit Euch den Bund eingehen will. Außerdem solltet Ihr das alte Sprichwort bedenken. Lasst den Herrn des Chaos herrschen.« Die Männer brachen in schallendes Gelächter aus.
Pevara hatte dieses Sprichwort noch nie gehört. Aber das Gelächter ließ sie frösteln.