14 Feuchte Angelegenheiten

Die vergoldeten Kandelaber im Inneren waren entzündet, da das Tageslicht nie so weit in den Palast vordrang. Die Flammen flackerten in den Lampen, die keine Glasschirme aufwiesen. Ihre Spiegel sorgten für gutes Licht in den betriebsamen Korridoren, und betriebsam waren sie in der Tat, da livrierte Diener in alle Richtungen eilten oder mit Putzen beschäftigt waren. Diener mit dem Weißen Löwen auf der linken Brusthälfte ihrer roten Mäntel standen oben auf hohen Leitern und nahmen die Winterwandbehänge ab, auf denen hauptsächlich Blumen und Sommerbilder zu sehen waren. Dafür hängten sie die Frühlingswandbehänge auf, von denen viele bunte Herbstszenen zeigten. Es war Brauch, stets die Wandbehänge aufzuhängen, die die übernächste Jahreszeit zeigten, um etwas Erleichterung von der Kälte des Winters oder der Hitze des Sommers zu bringen, um daran zu erinnern, dass die Äste der Bäume zwar das neue Wachstum des Frühlings trugen, sie aber alle Blätter wieder verlieren und der Schnee erneut kommen würde, um daran zu erinnern, dass selbst wenn die Blätter fallen und die Tage länger werden und die Schneeflocken fallen würden, es danach einen Frühling geben würde. Es fanden sich unter ihnen nur wenige Schlachtenbilder, die besondere Tage von Andors Ruhm zeigten, aber Elayne betrachtete sie mit genauso wenig Begeisterung, wie sie es schon als Kind getan hatte. Aber auch sie hatten ihren Platz, zur Erinnerung, was eine Schlacht wirklich bedeutete. Der Unterschied, wie ein Kind die Dinge betrachtete und eine Frau. Ruhm wurde immer mit Blut erkauft. Und abgesehen vom Ruhm wurden auch notwendige Dinge oftmals mit Schlachten und Blut bezahlt.

Es gab zu wenig Diener, um diese Aufgaben in einer entsprechenden Zeit zu erledigen, davon abgesehen waren einige von ihnen weißhaarige Ruheständler mit gebeugten Rücken, die sich ohnehin nur selten schnell genug bewegten. Aber so langsam sie auch sein mochten, war Elayne dennoch froh, dass sie freiwillig zurückgekehrt waren, um die neu Eingestellten auszubilden und die Lücken zu füllen, die jene hinterlassen hatten, die während Gaebrils Herrschaft oder Rands Eroberung aus Caemlyn geflohen waren. Sonst hätte der Palast schon vor langer Zeit wie ein Stall ausgesehen. Ein dreckiger Stall. Wenigstens waren die Winterbodenbeläge von den Böden verschwunden. Sie hinterließ eine feuchte Spur auf den rotweißen Fliesen, und dank des ständigen Frühlingsregens hätten die Beläge schon vor dem Abend Schimmel angesetzt.

Diener, die in Erfüllung ihrer Pflichten umhereilten, sahen entsetzt aus, wenn sie sich verbeugten oder einen Knicks machten, was ihre Laune nicht gerade hob. Es schien sie nicht zu stören, dass Aviendha oder Birgitte völlig durchnässt waren, oder die Gardistinnen, was das anging. Sollte man sie doch zu Asche verbrennen, wenn sich alle nicht bald die Erwartung aus dem Kopf schlugen, dass sie den ganzen lieben langen Tag in Watte gepackt wurde…! Ihre Miene war so finster, dass die Diener ihre Ehrenbezeigungen schnell machten und weitereilten. Ihre Laune wurde zum Stoff für abendliche Geschichten vor dem Kamin, obwohl sie sich durchaus bemühte, sie nicht an den Dienern auszulassen. Auch nicht an anderen, aber vor allem nicht an der Dienerschaft. Sie hatten nicht den Luxus zurückschreien zu können.

Sie wollte auf direktem Weg in ihre Gemächer gehen und sich umziehen, aber sie schlug trotz ihrer guten Absichten einen anderen Weg ein, als sie Reanne Corley aus einem kreuzenden Korridor kommen sah, dessen Fliesen ganz rot waren.

Die Reaktion der Dienerschaft hatte nichts damit zu tun. Sie war nicht stur. Sie war nass, und sie wollte ganz dringend trockene Kleidung und ein warmes Handtuch, aber die Kusine zu sehen war eine Überraschung, und die beiden Frauen in Reannes Begleitung erregten ebenfalls ihre Aufmerksamkeit. Birgitte murmelte einen Fluch, bevor sie ihr folgte, und ließ den Bogenstab durch die Luft pfeifen, als wollte sie jemanden schlagen. Der Bund übermittelte eine Mischung aus geduldig ertragenem Leid und Gereiztheit, was schnell unterdrückt wurde. Aviendha wich niemals von Elaynes Seite, auch wenn sie fleißig damit beschäftigt war, den Regen aus ihrem Schultertuch zu wringen. Trotz des vielen Regens, den sie miterlebt hatte, den vielen Flussübergängen seit der Überquerung des Rückgrats der Welt und den riesigen Zisternen unter der Stadt zuckte Aviendha bei dieser Verschwendung zusammen, wenn das Wasser ungenutzt auf den Boden tropfte. Die acht Gardistinnen, die von ihrem plötzlichen Umschwenken überrascht worden waren, eilten stoisch und stumm hinter ihr her. Aber nicht lautlos. Man musste jemandem nur Stiefel und ein Schwert geben, und er fing an zu stampfen.

Eine von Reannes Begleiterinnen war Kara Defane, einst die Seherin eines Fischerdorfs auf der tomanischen Halbinsel, bevor die Seanchaner sie an die Leine gelegt hatten. Kara war mollig und in braune, an den Ärmelaufschlägen mit blauen und weißen Blümchen bestickte Wolle gekleidet. Sie erschien kaum älter als Elayne, dabei ging sie auf die fünfzig zu. Die andere hieß Jillari, eine ehemalige Damane aus Seanchan. Ihr Anblick bescherte Elayne unwillkürlich eine Gänsehaut. Was auch immer man von ihr sagen konnte, diese Frau war und blieb Seanchanerin.

Nicht einmal Jillari selbst wusste, wie alt sie war, obwohl sie sich in ihren mittleren Jahren zu befinden schien. Von zierlichem Körperbau und mit langem, feuerrotem Haar und Augen, die so grün wie Aviendhas waren, beharrten sie und Marille, die andere in Seanchan geborene Damane im Palast, unverrückbar darauf, weiterhin Damane zu sein und wegen ihren Fähigkeiten angeleint werden zu müssen. Die Kusinen versuchten sie unter anderem mit täglichen Spaziergängen an die Freiheit zu gewöhnen. Natürlich sorgfältig überwachte tägliche Spaziergänge. Sie standen Tag und Nacht unter Beobachtung. Damit sie sonst nicht versuchten, die Sul'dam zu befreien. Man erlaubte auch nicht, dass sich Kara mit einer Sul'dam allein in einem Raum aufhielt, das Gleiche galt für Lemore, eine junge tarabonische Adlige, die man nach dem Fall Tanchicos an die Leine gelegt hatte. Allein würden sie wohl nicht auf die Idee kommen, aber keiner vermochte zu sagen, was sie wohl tun würden, wenn eine Sul'dam ihnen befahl, jemanden zu befreien. Sowohl in Kara wie auch Lemore war die Gewohnheit des Gehorsams stark verwurzelt.

Jillaris Augen weiteten sich beim Anblick Elaynes, und sie ließ sich mit einem dumpfen Aufprall auf die Knie fallen. Sie wollte sich auf den Boden kauern, aber Kara griff nach ihren Schultern und drängte sie sanft zurück auf die Füße. Elayne bemühte sich, sich ihren Abscheu nicht anmerken zu lassen. Und hoffte, dass, wenn man ihn doch sehen konnte, man ihm dem Niederknien und Zusammenducken zuschreiben würde. Zum Teil stimmte das auch. Wie konnte nur jemand wollen, an die Leine gelegt zu werden? Sie vernahm wieder Linis Stimme und erschauderte. Du kannst die Beweggründe einer anderen Fran nicht kennen, solange du nicht ein Jahr lang in ihren Kleidern gelebt hast. Sollte man sie doch zu Asche verbrennen, sollte sie je das Verlangen verspüren, das zu tun!

»Dazu besteht keine Notwendigkeit«, sagte Kara. »Wir machen das so.« Sie vollführte einen Knicks, auch wenn der nicht besonders anmutig war. Vor der Gefangennahme durch die Seanchaner hatte sie nie eine Stadt mit mehr als ein paar hundert Einwohnern gesehen. Nach kurzem Zögern breitete die Rothaarige ihre dunkelblauen Röcke noch unbeholfener aus. Tatsächlich kippte sie beinahe vornüber und errötete stark.

»Jillari tut es Leid«, flüsterte sie beinahe und faltete die Hände auf Taillenhöhe. Den Blick hielt sie demütig zu Boden gesenkt. »Jillari wird sich bemühen, daran zu denken.«

»›Ich‹«, sagte Kara. »Erinnert Ihr Euch, was ich Euch gesagt habe? Ich nenne Euch Jillari, aber Ihr bezeichnet Euch als ›ich‹. Oder es heißt ›mir‹. Versucht es. Und seht mich an. Ihr könnt es schaffen.« Sie hörte sich an, als würde sie ein Kind ermuntern.

Die Seanchanerin befeuchtete sich die Lippen, warf Kara einen Seitenblick zu. »Ich«, sagte sie leise. Und fing prompt an zu weinen, und die Tränen rollten ihre Wangen schneller hinab, als sie sie wegwischen konnte. Kara umarmte sie und machte beschwichtigende Geräusche. Auch sie schien zu weinen. Aviendha trat unbehaglich von einem Bein auf das andere. Es waren nicht die Tränen — Aiel weinten ohne jede Scham, wenn ihnen danach war, ob nun Männer oder Frauen —, aber für sie war die Berührung mit den Händen in der Öffentlichkeit eine große Zurschaustellung von Gefühlen.

»Warum geht ihr beiden nicht eine Weile allein weiter«, sagte Reanne mit einem tröstlichen Lächeln zu ihnen, das die feinen Fältchen in ihren Augenwinkeln tiefer werden ließ. Ihre Stimme war hoch und lieblich, gut für Gesang geeignet. »Ich hole euch ein, und wir können zusammen essen.« Die beiden machten auch vor ihr einen Knicks; Jillari weinte noch immer und wandte sich mit Karas Arm um die Schulter ab. »Wenn es Euch recht ist, meine Lady«, sagte Reanne, bevor sie zwei Schritte zurückgelegt hatten, » könnten wir uns auf dem Weg zu Euren Gemächern unterhalten.«

Das Gesicht der Frau war unbewegt, und ihr Tonfall verlieh keinem der Worte ein besonderes Gewicht, und doch biss Elayne die Zähne fester aufeinander. Sie zwang sich dazu, sich zu entspannen. Es war albern, aus reiner Sturheit stur zu sein. Sie war klatschnass. Und fing an zu frösteln, obwohl man den Tag kaum als kalt bezeichnen konnte. »Ein ausgezeichneter Vorschlag«, sagte sie und raffte die mit Wasser vollgesogenen Röcke. »Kommt.«

»Wir könnten etwas schneller gehen«, murmelte Birgitte, und zwar nicht leise genug.

»Wir könnten auch rennen«, schlug Aviendha vor, ohne den Versuch zu unternehmen, die Stimme zu senken. »Die Anstrengung könnte uns trocknen.«

Elayne ignorierte sie und rauschte angemessenen Schrittes daher. Bei ihrer Mutter hätte man das als majestätisch bezeichnet. Sie war keineswegs davon überzeugt, dass ihr das gelang, aber sie würde nicht durch ihren Palast rennen. Oder sich gar beeilen. Der Anblick, sie rennen zu sehen, würde ein Dutzend Gerüchte in die Welt setzen, wenn nicht sogar Hunderte, und jedes würde ein noch schlimmeres Ereignis vorhersagen als das vorherige. Es gingen bereits zu viele Gerüchte um. Das Schlimmste war, dass die Stadt kurz vor der Eroberung stand und sie ihre Flucht plante. Jedermann musste glauben, dass sie völlig zuversichtlich war. Selbst wenn das eine falsche Fassade war. Bei allem anderen hätte sie sich Arymilla auch direkt ergeben können. Die Furcht vor der Niederlage hatte zum Verlust genauso vieler Schlachten geführt wie Schwäche, und sie konnte es sich nicht leisten, auch nur eine einzige zu verlieren. »Ich dachte, die Frau Generalhauptmann hätte Euch auf eine Erkundungsmission geschickt, Reanne.«

Birgitte hatte zwei der Kusinen als Späher eingesetzt, Frauen, die kein Wegetor erschaffen konnten, das groß genug für Pferdekarren gewesen wäre. Da nun Zirkel aus Kusinen zur Verfügung standen, die Wegetore sowohl für den Handel wie auch für Truppenbewegungen erschaffen konnten, hatte sie sich dazu entschieden, die restlichen sechs, die Reisen konnten, so einzusetzen. Ein Belagerungsheer stellte für sie kein Hindernis dar. Aber Reannes schönes blaues Wollkleid, das bis auf den Kreis an einer Anstecknadel ohne jeden Schmuck war, war auf keinen Fall dafür geeignet, auf dem Land herumzuschleichen.

»Die Frau Generalhauptmann glaubt, dass sich ihre Späher ausruhen müssen. Im Gegensatz zu ihr selbst«, fügte Reanne ausdruckslos hinzu und sah Birgitte mit hochgezogener Braue an. Der Bund vermittelte ein kurzes Aufblitzen von Verärgerung. Aviendha lachte aus irgendeinem Grund; Elayne konnte Aiel-Humor noch immer nicht verstehen.

»Ich gehe morgen wieder los. Es führt mich in die Zeit zurück, in der ich mit einem Muli als Hausiererin unterwegs war.« Die Kusinen hatten während ihrer langen Leben viele Handwerke betrieben, immer den Ort und das Handwerk gewechselt, bevor jemandem auffallen konnte, wie langsam sie alterten. Die ältesten unter ihnen hatten ein halbes Dutzend Handwerke gelernt oder mehr, und waren mühelos von einem zum anderen gewechselt. »Ich habe mich dazu entschieden, meinen freien Tag dazu zu nutzen, Lillari bei der Suche nach einem Nachnamen zu helfen.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist in Seanchan Brauch, den Namen eines Mädchens aus dem Familienstammbaum zu tilgen, wenn ihm der Kragen umlegt wird, und die arme Frau ist der Meinung, dass sie kein Recht auf den Namen hat, mit dem sie geboren wurde. Jillari ist der Name, den sie zusammen mit dem Kragen bekommen hat, aber sie will ihn behalten.«

»Es gibt mehr Gründe, die Seanchaner zu hassen, als ich zählen kann«, sagte Elayne hitzig. Dann wurde ihr etwas spät die Bedeutung von allem bewusst. Lernen, einen Knicks zu machen. Einen neuen Nachnahmen zu wählen. Verflucht, die Schwangerschaft machte sie nach allem anderen auch noch begriffsstutzig…! »Wann hat Jillari ihre Einstellung über den Kragen geändert?« Man musste nicht jeden glauben lassen, dass sie heute begriffsstutzig war.

Die Miene der Kusine veränderte sich nicht, aber sie zögerte lange genug, um Elayne wissen zu lassen, dass ihr Täuschungsmanöver nicht funktioniert hatte. »Heute Morgen erst, nach Eurem Aufbruch. Sonst hätte man Euch informiert.« Reanne fuhr eilig fort, damit sich diese Information nicht festsetzen konnte. »Und es gibt noch mehr gute Neuigkeiten. Jedenfalls im Grunde gute. Eine der Sul'dam, Marli Noichin — Ihr erinnert Euch an sie? — hat zugegeben, die Gewebe sehen zu können.«

»Oh, das sind gute Neuigkeiten«, murmelte Elayne. »Sehr gut. Nur noch achtundzwanzig weitere, aber sie sind vielleicht leichter zu überzeugen, jetzt, da eine von ihnen gebrochen ist.« Sie hatte einem der Versuche beigewohnt, Marli davon zu überzeugen, dass sie lernen konnte, die Macht zu lenken, dass sie die Gewebe der Macht bereits sehen konnte. Die Seanchanerin war auch noch dann verstockt geblieben, nachdem sie zu weinen angefangen hatte.

»Im Grunde gut, sagte ich.« Reanne seufzte. »Würde man Marli Glauben schenken, hätte sie genauso gut zugeben können, ihre Kinder ermordet zu haben. Jetzt besteht sie darauf, dass man ihr den Kragen umlegen muss. Sie bettelt nach dem A'dam. Es bereitet mir eine Gänsehaut. Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll.«

»Schickt sie so bald wie möglich zu den Seanchanern zurück«, erwiderte Elayne.

Reanne blieb ungläubig stehen. Birgitte räusperte sich laut, und die Kusine zuckte zusammen und setzte sich wieder in Bewegung, diesmal aber schneller als zuvor. »Aber sie werden sie zu einer Damarie machen. Ich kann keine Frau zu diesem Schicksal verurteilen.«

Elayne warf ihrer Behüterin einen Blick zu, der von ihr abglitt wie ein Dolch von einer guten Rüstung. Birgittes Ausdruck war… nichtssagend. Für die blonde Frau war das Amt einer Behüterin auch damit verbunden, sich wie eine ältere Schwester zu benehmen. Und manchmal auch wie eine Mutter, was noch schlimmer war.

»Ich kann«, erklärte sie mit Nachdruck und verlängerte die eigenen Schritte. Nun, es würde nicht schaden, früher in etwas Trockenes schlüpfen zu können statt später. »Sie hat dabei geholfen, genug Gefangene festzuhalten, dass sie es verdient hat, mal am eigenen Leib zu erfahren, wie das so ist. Aber das ist nicht der Grund, warum ich sie zurückschicke. Wenn eine der anderen bleiben und lernen will, das wieder gutmachen will, was sie getan hat, dann werde ich sie bestimmt nicht den Seanchanern übergeben, aber beim Licht, ich hoffe, dass alle wie Marli denken. Sie werden ihr ein A'dam umlegen, Reanne, aber sie werden nicht geheim halten können, wer sie war. Jede ehemalige Sul'dam, die ich zu den Seanchanern zurückschicken kann, damit sie ihr den Kragen umlegen, wird an ihren Fundamenten nagen.«

»Eine grausame Entscheidung«, sagte Reanne traurig. Sie zupfte aufgeregt an den Röcken, glättete sie, zupfte wieder daran herum. »Vielleicht wollt Ihr ein paar Tage darüber nachdenken? Sicherlich muss das doch nicht sofort geschehen.«

Elayne biss die Zähne zusammen. Die Frau hatte doch so gut wie angedeutet, dass sie diese Entscheidung in einer ihrer Gefühlsschwankungen getroffen hatte! Aber stimmte das auch? Es erschien vernünftig und logisch. Sie konnten die Sul'dam nicht für alle Ewigkeit einsperren. Diejenigen von ihnen, die nicht frei sein wollten, zu den Seanchanern zurückzuschicken, das war eine Möglichkeit, sie loszuwerden und gleichzeitig einen Schlag gegen die Seanchaner zu führen. Es war mehr als nur der Hass auf alle Seanchaner. Natürlich war es das. Aber sie hasste es, unsicher zu sein, wenn ihre Entscheidungen vernünftig waren! Sie konnte es sich nicht leisten, schlechte Entscheidungen zu treffen. Aber sie hatten keine Eile. Es war sowieso besser, sie nach Möglichkeit als Gruppe zurückzuschicken. Diese Vorgehensweise schränkte die Möglichkeit ein, dass jemand einen »Unfall« arrangierte. Das traute sie den Seanchanern auf jeden Fall zu. »Ich denke darüber nach, Reanne, aber ich bezweifle, dass ich meine Meinung ändern werde.«

Reanne seufzte erneut, diesmal nur tiefer. Sie konnte es kaum erwarten, wie versprochen in die Weiße Burg zurückzukehren und das Weiß der Novizen anlegen zu können — sie hatte öffentlich gesagt, wie sehr sie Kirstian und Zarya beneidete —, und sie wollte sich unbedingt der Grünen Ajah anschließen, aber Elayne hatte ihre Zweifel. Reanne hatte ein freundliches Herz, tatsächlich sogar ein weiches Herz, und Elayne hatte noch nie eine Grüne kennen gelernt, die man als weich hätte bezeichnen können. Selbst jene, die nach außen hin zerbrechlich erschienen, bestanden im Inneren aus kaltem Stahl.

Vandene rauschte aus einem kreuzenden Korridor, schlank, weißhaarig und anmutig in ihrer dunkelgrauen Wolle mit dem dunkelbraunen Besatz, und wandte sich derselben Richtung zu, in die auch sie gingen, scheinbar ohne sie wahrzunehmen. Sie war eine Grüne und so hart wie ein Hammerkopf. Ihr Behüter Jaem ging an ihrer Seite, den Kopf ihr in leiser Unterhaltung zugeneigt, sich dann und wann mit einer Hand durch das dünner werdende Haar fahrend. Sein dunkelgrüner Umhang hing lose um seine dürre Gestalt, er war schon alt, aber jeden Fuß genauso hart wie sie, eine alte Wurzel, die Äxte stumpf werden lassen konnte. Kirstian und Zarya folgten ihnen demütig in ihrem Novizinnenweiß mit auf Taillenhöhe gefalteten Händen; die eine so blass wie eine Cairhienerin, die andere klein und schmalhüftig. Für Ausreißerinnen, denen gelungen war, worin so viele gescheitert waren, nämlich jahrelang der Weißen Burg zu entkommen — in Kirstians Fall mehr als dreihundert Jahre —, hatten sie sich mit bemerkenswerter Mühelosigkeit wieder an ihre Stellung als Novizinnen gewöhnt. Aber die Regeln der Kusinen waren eine Mischung aus den Regeln, nach denen die Novizinnen lebten, und denen der Aufgenommenen. Vielleicht waren die weißen Wollkleider und der Verlust der Freiheit, nach Belieben zu kommen und zu gehen, die einzige wirkliche Veränderung, obwohl die Kusinen das Letztere in gewissem Ausmaß regulierten.

»Ich bin wirklich froh, dass sie sich mit den beiden beschäftigen kann«, murmelte Reanne mitfühlend. »Es ist gut, dass sie ihre Schwester betrauert, aber ich fürchte, ohne Kirstian und Zarya wäre sie von Adeleas' Tod besessen. Vielleicht ist das auch schon passiert. Ich glaube, ihr Kleid gehörte Adeleas. Ich habe einmal versucht, ihr Trost zu spenden — ich habe Erfahrung darin, Leuten bei der Überwindung von Trauer zu helfen. Ich war eine Weise Frau und habe vor vielen Jahren in Ebou Dar den roten Gürtel getragen. Aber sie hatte keine zwei Worte für mich übrig.«

Tatsächlich trug Vandene nur noch die Kleider ihrer toten Schwester, und auch Adeleas‹ blumiges Parfüm. Manchmal glaubte Elayne, dass Vandene Adeleas werden wollte, sich selbst opfern wollte, um ihre Schwester ins Leben zurückzuholen. Aber konnte man jemandem einen Vorwurf machen, weil er davon besessen war, den Schuldigen am Mord seiner Schwester zu finden? Kaum mehr als eine Hand voll Personen wusste, dass sie das tat. Alle anderen glaubten genau wie Reanne, dass sie völlig in der Ausbildung von Kirstian und Zarya aufging, darin und mit dem Beginn ihrer Bestrafung für ihre Flucht. Vandene tat natürlich beides, und zwar enthusiastisch, aber es war wirklich nur die Tarnung für ihre wahren Absichten.

Elayne griff ohne hinzusehen zu und fand Aviendhas wartende Hand, ein tröstlicher Griff. Sie erwiderte den Druck, unfähig, sich die Trauer beim Verlust Aviendhas vorzustellen. Sie teilten einen schnellen Blick, und Aviendhas Augen spiegelten ihre eigenen Gefühle wider. Hatte sie die Gesichter der Aiel wirklich einmal für reglos und unleserlich gehalten?

»Wie Ihr sagt, Reanne, Kirstian und Zarya halten sie beschäftigt.« Reanne gehörte nicht zu der Hand voll, die die Wahrheit kannten. »Wir alle trauern auf eigene Weise. Vandene wird Trost auf dem für sie bestimmten Pfad finden.«

Wenn sie Adeleas’ Mörder fand, wie man nur hoffen konnte. Wenn das auch nicht dazu führte, dass sie sich mit dem Schmerz auseinander setzte… Nun, das würde man dann sehen. Im Augenblick musste sie Vandene ihren Willen lassen. Vor allem da sie keinen Zweifel hatte, dass die Grüne jeden Versuch ignorieren würde, sie zu zügeln. Das war mehr als nur ärgerlich, es konnte einen in Wut versetzen. Sie musste dabei zusehen, wie sich Vandene möglicherweise selbst zerstörte, und noch schlimmer, sie musste es sich zunutze machen. Keine Alternative zu haben machte es nicht weniger widerwärtig.

Als Vandene und ihre Begleitung in einen anderen Korridor abbogen, kam Reene Harfor aus einem Seitenkorridor direkt vor Elayne. Sie war eine stämmige, stille Frau mit einem langsam grauer werdenden Haarknoten auf dem Kopf und der Ausstrahlung majestätischer Würde; ihr formeller scharlachroter Wappenrock sah immer frisch gebügelt aus. Elayne hatte nie gesehen, dass auch nur ein Haar nicht an Ort und Stelle lag oder dass sie nach einem langen Tag mit der Verwaltung des Palasts auch nur im Mindesten erschöpft aussah. Ihr rundes Gesicht schien aus irgendeinem Grund einen leicht verblüfften Ausdruck zu tragen, aber beim Anblick Elaynes wurde es ein sorgenvoller Blick. »Aber meine Lady, Ihr seid ja völlig durchnässt«, sagte sie und klang schockiert, während sie ihren Hofknicks machte. »Ihr müsst sofort aus den nassen Sachen raus.«

»Danke, Frau Harfor«, sagte Elayne durch die zusammengebissenen Zähne. »Das ist mir noch gar nicht aufgefallen.«

Sie bedauerte den Ausbruch auf der Stelle — die Haushofmeisterin war ihr genauso treu ergeben wie ihrer Mutter —, aber dass Frau Harfor ihren Gefühlsausbruch völlig ignorierte und nicht einmal blinzelte, machte alles noch schlimmer. Man war nicht länger von Elayne Trakands Gefühlsschwankungen überrascht.

»Ich begleite Euch, wenn Ihr gestattet, meine Lady«, sagte sie ruhig und setzte sich an Elaynes Seite. Eine sommersprossige junge Dienerin mit einem Korb zusammengefalteter Bettwäsche setzte zu einem Knicks an, der nur um Haaresbreite mehr an Elayne als an die Haushofmeisterin gerichtet war, aber Reene machte eine schnelle Geste, die das Mädchen loseilen ließ, noch bevor sie die Knie gebeugt hatte. Vielleicht hatte sie sie nur am Lauschen hindern wollen. Reene verstummte keinen Augenblick lang. »Drei der Söldnerhauptmänner wollen Euch sprechen. Ich habe sie in das Blaue Audienzgemach gebracht und den Dienern gesagt, sie sollen darauf achten, dass ihnen nicht zufällig kleine Kostbarkeiten in die Taschen fallen. Wie sich herausstellte, war das überflüssig. Careane Sedai und Sareitha Sedai kamen kurz danach herein, um den Hauptmännern Gesellschaft zu leisten. Hauptmann Mellar ist auch da.«

Elayne runzelte die Stirn. Sie versuchte ihn so beschäftigt zu halten, dass er keinen Unfug anstellen konnte, aber er hatte das Talent, dort aufzutauchen, wo sie ihn nicht gebrauchen konnte. Genau wie Careane und Sareitha, was das anging. Eine von ihnen musste die Mörderin von der Schwarzen Ajah sein. Falls es nicht Merilille war, und die war anscheinend außer Reichweite. Reene wusste darüber Bescheid. Es wäre kriminell gewesen, sie im Dunkeln zu lassen. Sie hatte überall Augen, und sie würden vielleicht einen entscheidenden Hinweis liefern. »Was wollen die Söldner, Frau Harfor?«

»Ich vermute mal, mehr Geld«, knurrte Birgitte und schwang den entspannten Bogen wie einen Knüppel.

»Vermutlich«, stimmte Reene ihr zu, »aber sie wollten es mir nicht sagen.« Ihre Lippen wurden schmaler. Das war alles, aber es hatte den Anschein, als hätten die Söldner geschafft, sie zu verärgern. Wenn sie dumm genug waren, um nicht zu erkennen, dass sie mehr als eine einfache Dienerin war, dann waren sie in der Tat sehr begriffsstutzig.

»Ist Dyelin zurückgekehrt?«, fragte Elayne, und als die Haushofmeisterin nicht antwortete, fügte sie hinzu: »Dann empfange ich die Söldner, sobald ich mich umgezogen habe.« Es war vernünftig, sie sich so schnell wie möglich vom Hals zu schaffen.

Sie bog um die Ecke und sah sich zwei Windsucherinnen gegenüber und konnte nur mühsam ein Seufzen unterdrücken. Die Angehörigen des Meervolks waren die letzten Leute auf der Welt, mit denen sie sich im Augenblick herumschlagen wollte. Schlank, dunkel und barfuß in roten Seidenhosen und einer blauen Brokatseidenbluse mit einer grünen Schärpe mit einem komplizierten Knoten, trug Chanelle din Seran Weißer Hai den richtigen Namen. Elayne hatte nicht die geringste Ahnung, wie ein weißer Hai aussah — möglicherweise war es ja ein ganz kleines Ding —, aber Chanelles große Augen waren hart genug für ein wildes Raubtier, vor allem wenn sie Aviendha betrachtete. Zwischen den beiden gab es böses Blut. Eine tätowierte Hand hob das goldene Duftkästchen, das an einer Kette um Chanelles Hals hing, und sie inhalierte den scharfen, würzigen Geruch tief, so als müsste sie irgendeinen Gestank überdecken. Aviendha lachte laut, was Chanelles volle Lippen schmal werden ließ. Nun ja, jedenfalls etwas schmaler. Sie konnten gar nicht schmal werden.

Die andere war Renaile din Calon, die ehemalige Windsucherin der Herrin der Schiffe. Sie trug blaue Leinenhosen und eine rote Bluse mit blauer Schärpe, die einen weitaus weniger aufwändigen Knoten aufwies. Beide Frauen trugen die langen weißen Trauerstolen für Nesta din Reas, aber Renaile musste Nestas Tod stärker getroffen haben. Sie hielt einen hölzernen Schreibkasten mit einem verstöpselten Tintenfässchen in der oberen Ecke und einem Blatt Papier mit ein paar draufgekritzelten Zeilen. Weiße Strähnen in ihrem schwarzen Haar verbargen die sechs goldenen Ohrringe; sie waren viel schmaler als die acht, die sie getragen hatte, bevor sie von Nestas Schicksal erfuhr, und die goldene Ehrenkette, die sich quer über ihre linke Wange zog, sah mit dem einsamen Medaillon, das ihren Clan benannte, beinahe armselig aus. Nach Nestas Tod hatte Renaile wieder von vorn anfangen müssen, so wie es den Bräuchen des Meervolks entsprach, sie nahm keinen höheren Rang ein als eine Frau, die man aus dem Rang eines Lehrlings erhoben hatte. Sie strahlte noch immer Würde aus, auch wenn sie jetzt viel verhaltener war, jetzt, da sie als Chanelles Schreiberin fungierte.

»Ich bin auf dem Weg…«, begann Elayne, aber Chanelle unterbrach sie herrisch.

»Was habt Ihr Neues von Talaan gehört? Und von Merilille? Versucht Ihr überhaupt, sie zu finden?«

Elayne holte tief Luft. Chanelle anzubrüllen brachte nie etwas. Die Frau brüllte gern zurück und war nur selten Vernunftgründen zugänglich. Sie würde sich nicht auf einen weiteren Brüllwettbewerb einlassen. Diener, die an beiden Seiten vorbeihuschten, blieben nicht für Ehrenbezeugungen stehen — sie konnten die Stimmung hier spüren —, aber sie warfen den Meervolkfrauen finstere Blicke zu. Das war erfreulich, auch wenn es das nicht hätte sein sollen. So sehr sie einem auch auf die Nerven gehen konnten, die Windsucherinnen waren Gäste. Jedenfalls gewissermaßen, Abkommen oder nicht. Chanelle hatte sich mehr als einmal über langsame Diener und lauwarmes Badewasser beschwert. Und auch das war erfreulich. Aber sie würde ihre Höflichkeit und ihre Würde bewahren.

»Es sind dieselben Neuigkeiten wie gestern«, erwiderte sie in beschwichtigendem Tonfall. Nun gut, sie bemühte sich, beschwichtigend zu klingen. Falls es Untertöne von Schärfe gab, dann würde die Windsucherin eben damit leben müssen.

»Dieselben wie vorige Woche und die Woche zuvor. Man hat in jedem Gasthaus in Caemlyn Erkundigungen eingezogen. Euer Lehrling ist nicht zu finden. Merilille ist nicht zu finden. Es muss ihnen gelungen sein, die Stadt zu verlassen.« Man hatte die Torwachen aufgefordert, nach Meervolkfrauen mit tätowierten Händen Ausschau zu halten, aber sie hätten nicht versucht, eine Aes Sedai davon abzuhalten, die Stadt zu verlassen. Oder jemanden, der sich in ihrer Begleitung befand. Und die Söldner würden jeden durchlassen, der mit ein paar Münzen klimperte. »Und wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich bin auf dem Weg…«

»Das reicht nicht.« Chanelles Stimme war hitzig genug, um Leder zu versengen. »Ihr Aes Sedai haltet so fest zusammen wie Austern. Merilille hat Talaan entführt, und ich glaube, Ihr versteckt sie. Wir werden nach ihnen suchen, und ich versichere Euch, wenn wir sie finden, wird Merilille schlimm bestraft werden, bevor sie zu den Schiffen geschickt wird, um ihren Teil des Abkommens zu erfüllen.«

»Ihr scheint Euch zu vergessen«, sagte Birgitte. Ihr Tonfall war sanft, ihr Gesicht ganz ruhig, aber der Bund zitterte vor Wut. Sie hatte den Bogenstab vor sich aufgepflanzt und hielt ihn mit beiden Händen fest, als wollte sie vermeiden, sie zu Fäusten zu ballen. »Ihr werdet Eure Anschuldigungen zurücknehmen, oder Ihr werdet es bereuen.« Vielleicht hatte sie sich doch nicht so gut unter Kontrolle, wie es den Anschein hatte.

So konnte man mit den Windsucherinnen nicht umgehen. Bei ihrem Volk waren sie Frauen mit großer Macht und daran gewöhnt, sie auch zu benutzen. Aber Birgitte zögerte nicht.

»Dem Abkommen mit Zaida zufolge steht Ihr unter Lady Elaynes Befehl. Ihr steht unter meinem Befehl. Ihr werdet dann suchen, wenn ihr nicht gebraucht werdet. Und wenn mich meine Erinnerung nicht böse trügt, solltet Ihr im Moment in Tear sein, um Wagen mit Getreide und eingesalzenem Rindfleisch zu holen. Ich schlage Euch dringend vor, Ihr Reist sofort dorthin, oder Ihr könntet selbst etwas über Bestrafungen erfahren.« Oh, das war genau die falsche Methode bei den Windsucherinnen.

»Nein«, sagte Elayne genauso hitzig wie Chanelle und überraschte sich selbst. »Sucht, wenn Ihr wollt, Chanelle, Ihr und alle Windsucherinnen. Durchsucht Caemlyn von einem Ende zum anderen. Und wenn Ihr Talaan oder Merilille nicht finden könnt, werdet Ihr Euch dafür entschuldigen, mich als Lügnerin bezichtigt zu haben.« Nun, das hatte sie getan. Jedenfalls so gut wie. Elayne verspürte das heftige Verlangen, sie zu ohrfeigen. Sie wollte… Beim Licht, ihre Wut und Birgittes schaukelten sich gegenseitig hoch! Hektisch versuchte sie, ihren Zorn zu unterdrücken, bevor er aus ihr herausbrach, aber das resultierte bloß in dem plötzlichen Verlangen, so heftig zu weinen, wie sie hatte kämpfen wollen.

Chanelle plusterte sich auf. »Ihr würdet behaupten, wir hätten das Abkommen nicht erfüllt. Wir haben den ganzen vergangenen Monat wie Bilgemädchen geschuftet und mehr. Ihr werdet uns nicht los, ohne Euren Teil zu erfüllen. Renaile, man muss von Aes Sedai im Silbernen Schwan verlangen — es verlangen, verstanden! —, dass man uns Merilille und Talaan übergibt oder das zahlt, was die Weiße Burg für sie schuldet. Sie können nicht für alle bezahlen, aber sie können einen Anfang machen.«

Renaile machte Anstalten, den silbernen Verschluss des Tintenfässchens aufzuschrauben.

»Kein Brief«, fauchte Chanelle. »Geht hin und sagt es ihnen persönlich. Auf der Stelle.«

Renaile schraubte das Fässchen wieder zu, verbeugte sich beinahe parallel zum Boden und berührte schnell das Herz mit den Fingerspitzen. »Wie Ihr befehlt«, murmelte sie, das Gesicht eine dunkle Maske. Sie zögerte keine Sekunde, lief den Weg zurück, den sie gekommen war, den Schreibkasten unter den Arm geklemmt.

Elayne kämpfte noch immer gegen den Drang an, Chanelle gleichzeitig zu schlagen und zu weinen. Es war nicht das erste Mal, dass das Meervolk in den Silbernen Schwan gegangen war, nicht einmal das zweite oder dritte Mal, aber zuvor waren sie immer hingegangen, um zu bitten, und nicht, um zu fordern. Im Augenblick befanden sich neun Schwestern in dem Gasthaus — die Zahl änderte sich, Schwestern kamen und gingen, und Gerüchten zufolge waren noch andere Aes Sedai in der Stadt —, und es beunruhigte sie, dass keine von ihnen den Palast besucht hatte. Sie hatte sich vom Gasthaus fern gehalten, denn sie wusste, wie gern Elaida sie in die Finger bekommen wollte, aber sie wusste nicht, auf wessen Seite die Schwestern dort standen; sie hatten sich bei Sareitha und Careane ausgeschwiegen. Aber sie hatte erwartet, dass wenigstens ein paar von ihnen in den Palast kamen, und sei es nur, um zu erfahren, was an den Behauptungen des Meervolks dran war. Warum befanden sich so viele Aes Sedai in Caemlyn, wo doch Tar Valon belagert wurde? Die erste Antwort, die ihr dazu einfiel, war, dass es um sie ging, und das verstärkte nur ihre Entschlossenheit, jeder Schwester aus dem Weg zu gehen, von der sie nicht persönlich überzeugt war, dass sie Egwene unterstützte. Aber das würde nicht verhindern, dass sich die Kunde von dem Abkommen, das sie für die Benutzung der Schale der Winde geschlossen hatten, verbreitete, wie auch von dem Preis, den die Weiße Burg für diese Hilfe zahlen musste. Sollte man sie zu Asche verbrennen, aber wenn sich diese Neuigkeit unter den Aes Sedai verbreitete, würde das eine verdammte Wagenladung Feuerwerk sein, das gleichzeitig explodierte. Schlimmer noch. Zehn Wagenladungen.

Sie sah Renaile nach und kämpfte darum, ihre Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Und ihre Stimme, damit sie wenigstens annährend höflich klang. »Sie geht mit der Veränderung sehr gut um, finde ich.«

Chanelle schnaubte verächtlich. »Das sollte sie auch. Jede Windsucherin weiß, dass sie viele Male aufsteigen und fallen wird, bevor man ihren Körper wieder dem Salz übergibt.« Sie drehte sich um, um der anderen Frau nachzusehen, und ein Hauch von Bosheit trat in ihre Stimme. Sie schien zu sich selbst zu sprechen. »Sie ist aus größerer Höhe gestürzt als so manch anderer, und es hätte sie nicht überraschen dürfen, dass ihre Landung so hart war, wo sie doch auf so viele Finger getreten ist…« Sie schloss ruckartig den Mund und riss den Kopf herum, um Elayne, Birgitte, Aviendha, Reene, ja, selbst die Gardistinnen herausfordernd anzuschauen, ob sie es wagten, das zu kommentieren.

Elayne sagte klugerweise kein Wort, und das galt auch für die anderen, wofür sie dem Licht dankte. Sie glaubte, ihre Stimmung besänftigt, das Verlangen zu weinen unterdrückt zu haben, und sie wollte nichts sagen, das Chanelle möglicherweise veranlasste, herumzubrüllen und ihre ganze Mühe zunichte zu machen. Davon abgesehen fiel ihr auch nichts ein, was sie nach dem gerade Gehörten hätte sagen sollen. Sie bezweifelte, dass es bei den Atha’an Miere Brauch war, sich an jemandem zu rächen, von dem man glaubte, dass er seine höhere Position missbraucht hatte. Aber es war sehr menschlich.

Die Windsucherin musterte sie stirnrunzelnd von oben bis unten. »Ihr seid nass«, sagte sie dann, als wäre es ihr jetzt erst aufgefallen. »In Eurem Zustand ist es sehr schlecht, zu lange nass zu sein. Ihr solltet Euch sofort umziehen.«

Elayne warf den Kopf zurück und schrie, so laut sie konnte, einen Aufschrei purer Empörung und Wut. Sie schrie, bis ihre Lungen leer waren und sie keuchen musste.

In der nachfolgenden Stille starrte sie jeder erstaunt an. Fast jeder. Aviendha musste so heftig lachen, dass sie sich gegen einen Wandbehang mit berittenen Jägern, die einen sich zu ihnen umdrehenden Leoparden stellten, stützen musste. Sie hielt sich den Leib, als täten ihr die Rippen weh. Der Bund übermittelte auch Heiterkeit — Heiterkeit! —, obwohl Birgittes Gesicht so reglos wie das einer Schwester blieb.

»Ich muss nach Tear Reisen«, sagte Chanelle nach einem Moment und drehte sich dann wortlos und ohne jede Ehrenbezeugung um. Reene und Reanne machten einen Knicks, ohne jedoch Elaynes Blick direkt zu erwidern, und murmelten etwas von wartenden Pflichten, bevor sie forteilten.

Elayne starrte nacheinander Birgitte und Aviendha an.

»Wenn eine von euch auch nur ein Wort sagt…«

Birgitte setzte einen so unschuldigen Ausdruck auf, dass er nur falsch sein konnte, und der Bund übermittelte solche Heiterkeit, dass Elayne selbst gegen ein Lachen ankämpfen musste. Aviendha lachte nur noch lauter.

Elayne raffte ihre Röcke und so viel von ihrer Würde, wie möglich war, und setzte sich in Richtung ihrer Gemächer in Bewegung. Falls sie dabei schneller als zuvor ausschritt, nun, sie wollte aus den nassen Sachen raus. Das war der einzige Grund. Der einzige Grund.

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