8 Dracheneier

Der Himmel am nächsten Morgen war noch dunkel, als Luca die Artisten das Lager abbrechen, die große Zeltplanenwand einpacken und alles in die Wagen verstauen ließ. Der Lärm weckte Mat, der vom Schlafen auf dem Boden völlig steif und benommen war. Soweit ihn die verdammten Würfel überhaupt hatten schlafen lassen. So etwas konnte jedem Mann den Schlaf rauben.

Luca eilte in Hemdsärmeln mit einer Laterne umher, gab Befehle und behinderte alle mehr, als dass er die Dinge beschleunigte, aber Petra hielt einen Moment lang darin inne, das Vierer-Gespann an seinen und Clarines Wagen anzuschirren, um alles zu erklären. Da der untergehende Mond tief am Horizont stand und zur Hälfte von Bäumen verdeckt wurde, spendete eine Laterne auf dem Kutschbock das einzige Licht, das sie hatten, ein flackernder gelber Lichtkreis, der Hunderte Male und mehr im Lager wiederholt wurde. Clarine führte die Hunde aus, da sie den größten Teil des Tages im Wagen eingesperrt sein würden.

»Gestern…« Der Kraftmensch schüttelte den Kopf und tätschelte das Pferd, das geduldig darauf wartete, angeschirrt zu werden, als wäre es das Tier gewesen, das Nerven gezeigt hätte. Vielleicht war er selbst nervös. Die Nacht war kühl, nicht kalt, aber er war in einen dunklen Mantel gehüllt und trug eine gehäkelte Mütze. Seine Frau machte sich Sorgen, dass er durch die Kälte oder Zugluft krank wurde, und sorgte dafür, dass das nicht passierte. »Nun, wir sind überall Fremde, wisst Ihr, und viele Leute glauben, sie könnten Fremde ausnutzen. Aber wenn wir auch nur einen damit durchkommen lassen, werden es zehn weitere versuchen, wenn nicht sogar hundert. Manchmal droht uns der lokale Magistrat oder was auch immer dafür gilt mit dem Gesetz, aber das passiert selten. Weil wir Fremde sind, und morgen oder übermorgen sind wir wieder weg, und es weiß sowieso jeder, dass Fremde für gewöhnlich nichts Gutes bedeuten. Also müssen wir uns verteidigen, für das kämpfen, was uns zusteht, falls das nötig sein sollte. Aber sobald man das tut, ist die Zeit zum Weiterziehen gekommen. So ist das jetzt wie auch schon zu der Zeit, als nur ein Dutzend von uns bei Luca waren, wenn man die Pferdeknechte mitzählt, aber damals wären wir sofort aufgebrochen, nachdem die Soldaten weg waren. Damals gab es nicht so viel Geld zu verlieren, wenn man schnell verschwand«, sagte er trocken und schüttelte den Kopf, bevor er fortfuhr, vielleicht wegen Lucas Gier oder weil der Zirkus so groß geworden war.

»Die drei Seanchaner haben Freunde oder zumindest Kameraden, denen es nicht gefallen wird, wenn welche von ihnen gedemütigt werden. Das hat die Standartenträgerin getan, aber Ihr könnt sicher sein, dass sie das uns zum Vorwurf machen, weil sie glauben, uns treffen zu können, denn gegen sie können sie nichts ausrichten. Vielleicht werden ihre Offiziere das Gesetz durchsetzen oder ihre Regeln oder was auch immer, so wie sie es getan hat, aber wir können uns darauf nicht verlassen. Aber eines ist sicher, diese Burschen werden Ärger machen, wenn wir noch einen Tag länger verweilen. Bleiben ist sinnlos, wenn das einen Kampf mit den Soldaten bedeutet, und vielleicht werden Leute so schwer verletzt, dass sie nicht mehr auftreten können, und sicherlich gibt es dann noch Ärger mit dem Gesetz.« Es war die längste Rede, die Mat jemals von Petra gehört hatte, und der Mann räusperte sich, als wäre es ihm peinlich, so viel gesagt zu haben. »Nun«, murmelte er und beugte sich wieder über das Geschirr, »Luca will bald aufbrechen. Ihr werdet Euch um Eure Pferde kümmern wollen.«

Das wollte Mat nicht. Das Schöne daran, Geld zu haben, war nicht, dass man alles kaufen konnte, sondern dass man andere bezahlen konnte, seine Arbeit zu erledigen. Sobald ihm klar geworden war, dass der Zirkus aufbrach, hatte er die vier Rotwaffen in dem Zelt geweckt, das sie sich mit Chel Vanin teilten, und ihnen befohlen, die Pferde an seinem und Tuons Wagen anzuschirren, und er hatte ihnen gesagt, was sie mit der Rasierklinge machen sollten. Und dass sie Pips satteln sollten. Der stämmige Pferdedieb — er hatte kein Pferd gestohlen, seit Mat ihn kannte, aber er war einer — hatte sich lange genug aufgerichtet, um zu sagen, dass er aufstehen würde, wenn die anderen zurückkehrten, dann hatte er sich wieder in seine Decken gehüllt und war schon wieder am Schnarchen, bevor Harnan und die anderen auch nur die Stiefel angezogen hatten. Vanins Fähigkeiten waren dergestalt, dass sich niemand beschwerte, von dem üblichen Murren abgesehen, zu dieser Stunde geweckt zu werden, aber Harnan hätte auch dann gemurrt, wenn er bis mittags hätte schlafen dürfen. Wenn diese Fähigkeiten gebraucht wurden, würde er zehnfach alles zurückzahlen, und das wussten sie, selbst Fergin. Der dürre Rotwaffenmann war nicht besonders schlau, solange es nicht um das Soldatenhandwerk ging, aber in diesem Fall war er schlau genug.

Der Wanderzirkus verließ Jurador, bevor die Sonne am Horizont aufstieg, eine lange Wagenkolonne, die durch die Dunkelheit über die breite Straße rollte mit Lucas bunter, von sechs Pferden gezogener Monstrosität an der Spitze. Tuons Wagen fuhr direkt dahinter mit Gorderan auf dem Kutschbock, dessen Schultern beinahe breit genug waren, dass er als Kraftmensch durchging, und Tuon und Selucia quetschten sich mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen an seine Seite. Die Vorratswagen und die Tierkäfige und die Ersatzpferde bildeten den Abschluss. Wachtposten im Seanchanerlager sahen ihrer Abreise zu, stumme gepanzerte Gestalten in der Nacht. Nicht, dass das Lager selbst still war. Schattenhafte Umrisse standen in starren Reihen zwischen den Zelten, während laute Stimmen die Namen ruhig aufriefen und andere antworteten. Mat hielt beinahe den Atem an, bis die regelmäßigen Rufe hinter ihm verklangen. Disziplin war eine wunderbare Sache. Jedenfalls für andere Männer.

Er ritt Pips neben dem Wagen der Aes Sedai, etwa in der Mitte der langen Schlange, zuckte jedes Mal beinahe zusammen, wenn der Fuchskopf auf seiner Brust kalt wurde, was anfing, bevor sie noch keine Meile zurückgelegt hatten. Anscheinend verschwendete Joline keine Zeit. Fergin an den Zügeln plauderte mit Metwyn über Pferde und Frauen. Beide waren so glücklich wie Schweine im Matsch, aber sie hatten ja keine Ahnung, was im Inneren des Wagens vor sich ging. Schließlich blieb das Medaillon kühl, und das nicht einmal sehr. Sie benutzten nur kleine Mengen der Macht. Dennoch missfiel es ihm, sich in solcher Nähe aufzuhalten. Seiner Erfahrung nach trugen Aes Sedai Ärger in ihren Gürteltaschen und zögerten selten, ihn zu verteilen, ganz egal, wer im Weg stand. Nein, da die Würfel in seinem Kopf klapperten, hätte er gut ohne die Aes Sedai auskommen können.

Er wäre ja an Tuons Seite geritten, um sich vielleicht mit ihr zu unterhalten, auch wenn Selucia und Gorderan jedes Wort hören würden, aber man durfte eine Frau nicht auf die Idee bringen, dass man zu interessiert war. Tat man das, nutzte sie das entweder zu ihrem Vorteil oder verschwand wie ein Wassertropfen in einer heißen, fettigen Bratpfanne. Tuon fand bereits genug Gelegenheiten, sich einen Vorteil zu verschaffen, und er hatte zu wenig Zeit, um ihr nachzujagen. Früher oder später würde sie die Worte sprechen, die die Hochzeitszeremonie abschlossen, so sicher wie Wasser nass war, aber das machte es nur noch wichtiger für ihn, herauszufinden, wie sie eigentlich war.

Das war bis jetzt alles andere als einfach gewesen. Diese winzige Frau ließ ein Rätselspiel simpel erscheinen. Aber wie sollte man mit einer Frau verheiratet sein, wenn man sie doch gar nicht kannte? Schlimmer noch, er musste dafür sorgen, dass sie mehr in ihm sah als bloß ein Spielzeug. Die Ehe mit einer Frau, die keinen Respekt vor ihm hatte, würde so sein, als würde man Tag und Nacht ein Brennnesselhemd tragen. Und erst recht schlimm war, dass er dafür sorgen musste, dass sie etwas für ihn empfand, oder er würde gezwungen sein, sich vor der eigenen Frau zu verstecken, damit sie ihn nicht zu einem Da'covale machte! Und um dem allen die Krone aufzusetzen, musste er das in der ihm noch verbleibenden Zeit schaffen, bevor er sie nach Ebou Dar zurückschickte. Ein schöner Schlamassel, und zweifellos eine großartige Aufgabe für einen Helden aus der Legende, eine Kleinigkeit, mit der er seine Freizeit ausfüllen konnte, bevor er loseilte, um irgendeine große Tat zu vollbringen, aber Mat Cauthon war nun einmal kein verdammter Held. Trotzdem musste er es schaffen und hatte weder Zeit noch Spielraum für Fehler.

Es war der frühestmögliche Aufbruch gewesen, aber seine Hoffnungen, dass die Seanchaner Luca so viel Angst eingejagt hatten, dass er schneller fuhr, wurden bald zunichte gemacht. Während die Sonne stieg, passierten sie Bauernhöfe aus Stein, die an Hügeln klebten, und gelegentlich winzige Dörfer mit strohgedeckten Häusern, die sich zusammen mit von Steinmauern umgebenen und dem Wald entrissenen Feldern an die Straße schmiegten, wo Männer und Frauen den vorbeifahrenden Zirkus anstarrten und Kinder den Weg ein Stück mitliefen, bis ihre Eltern sie zurückriefen, aber ungefähr in der Mitte des Nachmittags erreichte die Kolonne etwas Größeres. Runniensbrücke war in der Nähe eines so genannten Flusses, den man trotz der darüber führenden Steinbrücke mit weniger als zwanzig Schritten hätte durchschreiten können, ohne weiter als zur Taille nass zu werden, und es kam nicht einmal annährend an Jurador heran, aber es gab vier Gasthäuser, von denen jedes vier Stockwerke aufragte und über grüne oder blaue Schindeldächer verfügte. Außerdem gab es zwischen Dorf und Fluss einen beinahe eine halbe Meile großen Platz aus festgestampfter Erde, auf dem Kaufleute für die Nacht ihre Wagen parken konnten.

Bauernhöfe mit ihren eingezäunten Feldern und Obstgärten und Wiesen machten aus der Landschaft entlang der Straße und so weit Mat sehen konnte auch aus den angrenzenden Hügeln einen ungefähr vier Meilen großen Flickenteppich. Das reichte Luca.

Er befahl, auf der Lichtung die Zeltplane aufzubauen, in Flussnähe, damit man die Tiere leichter tränken konnte, dann stolzierte er ins Dorf, bekleidet mit einem Mantel und einem Umhang, die rot genug waren, um Mats Augen tränen zu lassen, und die so übertrieben mit goldenen Sternen und Kometen bestickt waren, dass sich ein Kesselflicker geschämt hätte, sie anzuziehen. Das große blaue und rote Banner war über dem Eingang errichtet, jeder Wagen an seinem Platz, die Auftrittsplattformen ausgeladen und die Mauer fast fertig aufgestellt, als er von drei Männern und drei Frauen eskortiert zurückkehrte. Das Dorf war gar nicht so weit von Ebou Dar entfernt, doch ihre Kleidung hätte zu einem anderen Land gehören können. Die Männer trugen kurze Wollmäntel in hellen Farben, auf den Schultern und den Ärmeln mit Schnörkeln bestickt, und dunkle, weite Hosen, die in kniehohe Stiefel gestopft waren. Die Frauen trugen ihr Haar in einer Art gewundenem Zopf auf dem Kopf, und ihre Kleider waren beinahe so farbenprächtig wie Lucas Aufzug, die schmalen Röcke vom Saum bis zu den Hüften mit Blumenmustern übersät.

Alle hatten sie aber lange Messer am Gürtel, wenn auch größtenteils mit geraden Klingen, und tätschelten die Griffe, wann immer sie jemand ansah; zumindest das war gleich. Altara war Altara, wenn es um Befindlichkeiten ging. Es handelte sich um den Bürgermeister, die vier Gasthausbetreiber und eine schlanke, weißhaarige Frau in Rot; die anderen sprachen sie respektvoll als Mutter an. Da der beleibte Bürgermeister so weißhaarig wie sie war — jedenfalls, was den kläglichen Rest seiner Haare betraf — und keiner der Gastwirte auch nur ein graues Haar aufwies, kam Mat zu dem Schluss, dass sie die Dorfseherin war. Er lächelte und tippte sich an den Hut, als sie vorbeiging, und sie schenkte ihm einen scharfen Blick und schnaubte in einer fast perfekten Imitation Nynaeves. O ja, sie war die Seherin.

Luca führte sie mit breitem Lächeln und weit ausholenden Gesten, ausführlichen Verbeugungen und Schwenken des Umhangs herum, blieb hier und da stehen, um einen Jongleur oder eine Gruppe Akrobaten für seine Gäste etwas vorführen zu lassen, aber sein Lächeln verwandelte sich in eine saure Grimasse, sobald sie auf dem Rückweg und außer Sicht waren. »Freier Eintritt für sie und ihre Ehemänner und Ehefrauen und alle Kinder«, knurrte er zu Mat, »und ich soll einpacken, wenn ein Kaufmann kommt. Das haben sie zwar so offen nicht gesagt, aber das war unmissverständlich, vor allem diese Mutter Darvale. Als würde dieser Fliegendreck jemals genügend Kaufleute anziehen, um dieses Feld zu füllen. Diebe und Schurken, Cauthon. Landbewohner sind alles Diebe und Schurken, und ein ehrlicher Mann wie ich ist ihrer Gnade ausgeliefert.«

Bald darauf rechnete er zusammen, was er trotz der Freikarten einnehmen würde, aber er hörte nie auf, sich zu beschweren, nicht einmal, als die Schlange am Eingang fast so lange wie in Jurador war. Er fügte seinen Klagen noch hinzu, wie viel er zusätzlich eingenommen hätte, wenn sie bloß drei oder vier weitere Tage in der Salzstadt geblieben wären. Jetzt waren es schon drei oder vier weitere Tage, und vermutlich wäre er dageblieben, bis niemand mehr gekommen wäre. Vielleicht waren die drei Seanchaner das Werk von ta’veren. Es war nicht sehr wahrscheinlich, aber es war ein netter Gedanke. Jetzt, wo das alles in der Vergangenheit lag.

So kamen sie voran. Bestenfalls zwei oder drei Meilen in gemütlichem Tempo, und für gewöhnlich fand Luca eine kleine Stadt oder eine Ansammlung von Dörfern, die seiner Meinung nach einen Aufenthalt erforderten. Oder besser gesagt, er fand, dass ihr Silber einen Aufenthalt erforderte. Selbst wenn sie an nichts als an winzigen Nestern vorbeikamen, die die Arbeit nicht rechtfertigten, die Zeltwand zu errichten, kamen sie nie weiter als vier Meilen, bevor Luca anhalten ließ. Er wollte es nicht riskieren, das Lager entlang der Straße in die Länge zu ziehen. Wenn es keine Vorstellung gab, fand Luca gern eine Lichtung, auf der man die Wagen abstellen konnte, ohne dass sie zu dicht beieinander standen, aber wenn es nicht anders ging, handelte er einem Bauern die Erlaubnis ab, auf einem brachliegenden Feld zu lagern. Um dann den ganzen nächsten Tag über die Ausgaben zu maulen, selbst wenn es nicht mehr als ein Silberpfennig war. Luca hielt seinen Geldbeutel fest verschlossen.

Kaufmannszüge passierten sie in beiden Richtungen, legten ein ordentliches Tempo vor und schafften es, auf den ungepflasterten Straßen kleine Staubwolken in die Höhe steigen zu lassen. Kaufleute wollten ihre Waren so schnell wie möglich zu den Märkten bringen. Gelegentlich sahen sie auch eine Karawane der Kesselflicker, deren rechteckige Wagen so bunt wie alles beim Zirkus waren — ausgenommen natürlich Lucas Wagen. Sie alle fuhren seltsamerweise in Richtung von Ebou Dar, aber sie bewegten sich so langsam wie Luca. Es war unwahrscheinlich, dass Reisende aus der anderen Richtung den Zirkus passieren würden. Zwei oder drei Meilen am Tag, und die Würfel ratterten pausenlos, sodass sich Mat immer fragte, was wohl hinter der nächsten Kurve wartete oder sie von hinten einholte. Es reichte, um einem Mann einen Schluckauf zu verpassen.

In der ersten Nacht, außerhalb von Runniensbrücke, ging er zu Aludra. Sie hatte in der Nähe ihres hellblauen Wagens eine acht Fuß hohe, kleine Zeltplanenumrandung aufgestellt, um dort ihre Nachtblumen zu starten, und sie richtete sich mit einem finsteren Blick auf, als er die Plane zur Seite schlug und geduckt eintrat. Eine geschlossene Laterne auf dem Boden in der Nähe der Wand verbreitete genug Licht, dass er sehen konnte, wie sie eine dunkle Kugel vom Umfang einer großen Melone hielt. Runniensbrücke war nur groß genug, um eine einzelne Nachtblume zu rechtfertigen. Sie öffnete den Mund, um ihn herauszuwerfen. Nicht einmal Luca hatte hier Zutritt.

»Abschussröhren«, sagte er schnell und deutete auf die mit Eisenringen versehene Holzröhre, die aufrecht vor ihr in einem breiten Holzblock steckte, fast so groß wie Mat und von einem Fuß Durchmesser. »Darum habt Ihr einen Glockengießer gesucht. Um Abschussröhren aus Bronze herzustellen. Aber ich komme nicht auf den Zweck.« Es erschien wie eine lächerliche Idee — mit etwas Mühe konnten zwei Männer eine ihrer hölzernen Abschussröhren auf den Wagen heben, der sie und ihre anderen Gerätschaften transportierte; eine Bronzeabschussröhre hätte einen Drehkran gebraucht —, aber das war das Einzige, was ihm eingefallen war.

Da die Laterne hinter ihr stand, verbargen Schatten ihren Gesichtsausdruck, aber sie war einen langen Moment stumm.

»So ein kluger junger Mann«, sagte sie schließlich. Ihre perlenverzierten Zöpfe klirrten leise, als sie den Kopf schüttelte. Ihr Lachen war leise und kehlig. »Ich sollte auf meine Worte achten. Immer gerate ich in Schwierigkeiten, wenn ich klugen jungen Männern Versprechungen mache. Glaubt aber bloß nicht, dass ich Euch Geheimnisse verrate, die Euch erröten lassen werden, nicht jetzt. Anscheinend jongliert Ihr bereits mit zwei Frauen, und mit mir jongliert keiner.«

»Dann habe ich Recht?« Er konnte kaum den Unglauben aus seiner Stimme heraushalten.

»Das habt Ihr«, sagte sie. Und warf ihm die Nachtblume zu!

Er fing sie mit einem überraschten Fluch und wagte es erst wieder zu atmen, als er sicher war, einen guten Griff zu haben. Die Hülle schien aus steifem Leder zu bestehen, aus deren Seite eine winzige Zündschnur ragte. Er kannte sich etwas mit kleinerem Feuerwerk aus, und angeblich explodierten diese nur durch Feuer oder wenn man das, das sich im Inneren befand, der Luft aussetzte — obwohl er einmal einen Feuerwerkskörper aufgeschnitten hatte, ohne dass er losgegangen war —, aber wer konnte schon genau sagen, was eine Nachtblume explodieren ließ? Der Feuerwerkskörper, den er geöffnet hatte, war klein genug gewesen, um in einer Hand gehalten werden zu können. Etwas von der Größe dieser Nachtblume würde ihn und Aludra vermutlich in Stücke reißen.

Plötzlich kam er sich wie ein Narr vor. Sie würde das Ding kaum werfen, wenn es gefährlich war, es fallen zu lassen. Er fing an, die Kugel von einer Hand in die andere zu werfen. Nicht um das Keuchen wieder wettzumachen. Nur, um etwas zu tun zu haben.

»Wieso wird das eine bessere Waffe sein, wenn man Abschussröhren aus Bronze gießt?« Das war es, was sie wollte, Waffen, die man gegen die Seanchaner einsetzen konnte, um ihnen die Vernichtung der Gilde der Feuerwerker heimzuzahlen. »Sie erscheinen mir auch so furchterregend genug.«

Aludra riss ihm die Nachtblume aus der Hand, murmelte etwas von unbeholfenen Trotteln und drehte die Kugel, um die Lederhülle zu untersuchen. Vielleicht war es doch nicht so sicher wie gedacht. »Eine ordentliche Abschussröhre«, sagte sie, sobald sie sicher war, dass er das Ding nicht beschädigt hatte, »wird das hier mit der richtigen Ladung ungefähr dreihundert Schritte in die Höhe befördern, und eine größere Distanz über den Boden, wenn man die Röhre schräg stellt. Aber nicht weit genug für das, was ich im Sinn habe. Eine Treibladung, die groß genug ist, um sie weiter fliegen zu lassen, würde die Röhre zerschmettern. Mit einer Bronzeröhre könnte ich eine Treibladung verwenden, die etwas Kleineres fast zwei Meilen weit fliegen ließe. Den Treibsatz langsamer brennen zu lassen, damit es so weit fliegen kann, ist nicht schwer. Kleiner, aber schwerer, aus Eisen hergestellt, und es würde nichts für schöne Farben verwendet werden, sondern nur für das Geschoss.«

Mat stieß einen leisen Pfiff aus, sah in Gedanken, wie sie unter dem Feind explodierten, bevor er nahe genug heran war, um einen deutlich zu sehen. Ein hässliches Geschenk. Nun wäre das genauso gut, wie eine Aes Sedai auf seiner Seite zu haben, oder einen dieser Asha'man. Sogar noch besser. Aes Sedai mussten sich in Gefahr befinden, um die Macht als Waffe zu benutzen, und obwohl er Gerüchte über Hunderte von Asha'man gehört hatte, wurden Gerüchte mit jedem Weitererzählen ausgeschmückt. Davon abgesehen, wenn Asha'man den Aes Sedai auch nur ähnlich waren, würden sie schnell entscheiden, wo man sie brauchte, und dann den ganzen Kampf an sich reißen. Er stellte sich vor, Aludras Bronzeröhren zu benutzen, und sofort erkannte er ein offensichtliches Problem. Sämtliche Vorteile waren dahin, wenn der Feind aus der falschen Richtung kam oder sich einem in den Rücken setzte, und wenn man Hebekräne brauchte, um diese Dinger zu bewegen… »Diese Bronzeabschussröhren…«

»Drachen«, unterbrach sie ihn. »Abschussröhren sind für Nachtblumen gemacht. Um das Auge zu erfreuen. Ich werde sie Drachen nennen, und die Seanchaner werden schreien, wenn meine Drachen zubeißen.« Ihr Ton war so grimmig wie scharfkantiger Stein.

»Also dann diese Drachen. Wie auch immer Ihr sie nennen wollt, sie werden schwer und schlecht zu bewegen sein. Könnt Ihr sie auf Räder setzen? Auf einen Wagen oder einen Karren? Können sie von Pferden gezogen werden, oder sind sie dazu zu schwer?«

Sie lachte wieder. »Gut zu sehen, dass Ihr nicht nur ein hübscher Anblick seid.« Sie stieg auf eine Faltleiter mit drei Stufen, die ihre Taille auf die Höhe der Öffnung der Abschussröhre brachte, und schob die Nachtblume mit nach unten gedrehtem Zünder hinein. Sie rutschte ein Stück in die Tiefe und blieb dann stecken, eine Kuppel über der Röhrenöffnung. »Gebt mir das da«, bat sie ihn und zeigte auf einen Stab, der so lang und dick wie ein Kampfstab war. Als er ihn ihr reichte, hielt sie ihn hoch und benutzte die Ledermanschette am einen Ende, um die Nachtblume in die Tiefe zu drücken. Das kostete anscheinend keine große Mühe. »Ich habe bereits Pläne für den Drachenkarren gezeichnet. Vier Pferde könnten einen mühelos ziehen, zusammen mit einem zweiten Karren, der die Eier befördert. Keine Nachtblumen. Dracheneier. Seht Ihr, ich habe lange und gründlich darüber nachgedacht, wie ich meine Drachen einsetze, nicht nur, wie man sie konstruiert.« Sie zog den Stab aus der Röhre, stieg nach unten und hob die Laterne auf. »Kommt. Ich muss etwas am Himmel blühen lassen, dann will ich mein Abendessen und mein Bett.«

Direkt neben der Umrandung stand ein Holzgestell mit weiteren seltsamen Gerätschaften, einem gegabelten Stock, Zangen von Mats Größe und andere Dinge, die genauso seltsam aussahen und alle aus Holz gemacht waren. Sie stellte die Laterne am Boden ab, schob den Stab mit der Manschette in das Gestell und holte ein rechteckiges Holzkästchen. »Ich vermute, jetzt wollt Ihr erfahren, wie man mein Geheimpulver herstellt, oder? Nun, ich habe es versprochen. Ich allein bin jetzt die Gilde«, fügte sie bitter hinzu und entfernte den Deckel des Kästchens. Es war ein seltsames Kästchen, ein stabiles Stück Holz mit hineingebohrten Löchern, in denen dünne Holzstäbchen steckten. Sie zog eines heraus und setzte den Deckel wieder auf. »Ich kann entscheiden, was geheim ist.«

»Ich möchte lieber, dass Ihr mit mir kommt. Ich kenne jemanden, der sich glücklich schätzen würde, Euch die Herstellung so vieler Drachen zu bezahlen, wie Ihr wollt. Er kann jeden Glockengießer von Andor bis Tear dazu veranlassen, keine Glocken mehr zu gießen und stattdessen Drachen zu machen.« Rands Namen zu vermeiden verhinderte nicht, dass die Farben durch seinen Kopf wirbelten und sich einen Augenblick lang zu Rand verfestigten — der jetzt bekleidet war, dem Licht sei dank —, der sich in einem holzgetäfelten Zimmer im Lampenschein mit Loial unterhielt. Da waren noch andere Leute, aber das Bild konzentrierte sich auf Rand, und es verschwand zu schnell, als dass Mat hätte erkennen können, wer es war. Er war im Grunde fest davon überzeugt, dass das, was er sah, genau in diesem Augenblick passierte, so unmöglich das auch erschien. Es wäre schön gewesen, Loial wiederzusehen, aber sollte man ihn doch zu Asche verbrennen, es musste eine Möglichkeit geben, diese Dinge aus seinem Kopf herauszuhalten! »Und wenn er nicht interessiert sein sollte« — wieder blühten die Farben auf, aber er leistete Widerstand und sie schmolzen dahin — »kann ich Euch einhundert davon bezahlen. Oder sagen wir auf jeden Fall eine Menge.«

Die Bande würde am Ende gegen die Seanchaner kämpfen, und vermutlich auch gegen Trollocs. Und er würde dabei sein, wenn es geschah. Um diese Tatsache kam man nicht herum. Er konnte anstellen, was er wollte, um es zu vermeiden, das verfluchte ta’veren würde ihn mitten in den Schlamassel hinein befördern. Also war er bereit, mit Gold um sich zu werfen, wenn ihm das die Möglichkeit verschaffte, seine Feinde zu töten, bevor sie nahe genug heran waren, ihm Löcher in den Leib zu stechen.

Aludra legte den Kopf schief, schürzte die rosenroten Lippen. »Wer ist der Mann mit solcher Macht?«

»Das muss aber ein Geheimnis zwischen uns bleiben. Thom und Juilin wissen es, und Egeanin und Domon, und die Aes Sedai, jedenfalls Teslyn und Joline, und Vanin und die Rotwaffen, aber sonst keiner, und ich will, dass es so bleibt.« Blut und verdammte Asche, es wussten bereits viel zu viele Leute.

Er wartete auf ihr knappes Nicken. Dann sagte er: »Der Wiedergeborene Drache.«

Die Farben wirbelten, und obwohl er dagegen ankämpfte, wurden sie wieder kurz zu Rand und Loial. Das würde doch nicht so einfach werden, wie es den Anschein gehabt hatte.

»Ihr kennt den Wiedergeborenen Drachen«, sagte sie zweifelnd.

»Wir sind im selben Dorf aufgewachsen«, knurrte er und kämpfte wieder gegen die Farben. Dieses Mal verfestigten sie sich fast, bevor sie verschwanden. »Wenn Ihr mir nicht glaubt, fragt Teslyn und Joline. Fragt Thom. Aber macht es nicht, wenn jemand anderes in der Nähe ist. Vergesst nicht, es ist ein Geheimnis.«

»Die Gilde ist mein Leben gewesen, seit ich ein junges Mädchen war.« Sie schob das Holzstäbchen mit einer schnellen Bewegung über die Seite des Kästchens, und das Ding fing an zu brennen! Es roch nach Schwefel. »Die Drachen, sie sind jetzt mein Leben. Die Drachen und die Rache an den Seanchanern.« Sie bückte sich und hielt die Flamme an eine dunkle Zündschnur, die unter der Zeltplane verschwand. Sobald die Zündschnur brannte, wedelte sie mit dem Stäbchen herum, bis die Flamme erlosch, dann ließ sie es fallen. Mit einem knisternden Zischen flackerte das Feuer die Zündschnur entlang. »Ich glaube es Euch, wenn ich darüber nachdenke.« Sie hielt ihm die freie Hand hin. »Wenn Ihr geht, begleite ich Euch. Und Ihr werdet mir helfen, viele Drachen herzustellen.«

Einen Augenblick lang, so lange er ihre Hand schüttelte, war er davon überzeugt, dass die Würfel verstummt waren, aber einen Herzschlag später rollten sie schon wieder. Es musste seine Einbildung gewesen sein. Sicher würde seine Übereinkunft mit Aludra der Bande und damit auch Mat Cauthon helfen, am Leben zu bleiben, aber man konnte sie wohl kaum als schicksalhaft bezeichnen. Er würde diese Schlachten immer noch schlagen müssen, und ganz egal, wie sehr man plante und wie gut ausgebildet seine Männer waren, Glück und Pech spielten immer eine Rolle, sogar bei ihm. Diese Drachen würden daran nichts ändern. Aber klapperten die Würfel so laut wie zuvor? Er hatte nicht den Eindruck, aber wie konnte er sich da sicher sein? Sie waren noch nie zuvor langsamer geworden, ohne ganz zu verstummen. Es konnte nur Einbildung gewesen sein.

In dem abgegrenzten Raum ertönte ein dumpfes Dröhnen, beißender Qualm wallte über die Plane. Augenblicke später erblühte die Nachtblume in der Dunkelheit über Runniensbrücke, ein großer Ball aus roten und grünen Lichtstreifen. In seinen Träumen in dieser Nacht und in vielen kommenden Nächten erblühte sie immer wieder, aber diesmal erblühte sie zwischen anstürmenden Reitern und Mauern aus Piken, riss Fleisch in Stücke, wie er einst Stein durch Feuerwerk in Stücke gerissen gesehen hatte. In seinen Träumen versuchte er die Dinger mit bloßen Händen zu fangen, versuchte sie aufzuhalten, aber sie regneten in nicht enden wollenden Strömen auf hundert Schlachtfelder nieder. In seinen Träumen weinte er wegen des Todes und der Zerstörung. Und irgendwie hatte es den Anschein, dass das Klappern der Würfel in seinem Kopf wie Gelächter klang. Aber nicht sein Gelächter. Das Gelächter des Dunklen Königs.

Als die Sonne am nächsten Morgen in einen wolkenlosen Himmel aufstieg, saß er auf den Stufen seines grünen Wagens und bearbeitete den Bogenstab vorsichtig mit einem scharfen Messer. Das musste man vorsichtig, mit äußerstem Feingefühl machen; ein sorgloser falscher Schnitt konnte die ganze Arbeit zunichte machen.

Da kamen Egeanin und Domon heraus. Seltsamerweise schienen sie sich mit besonderer Sorgfalt angekleidet zu haben; sie trugen die besten Sachen, die sie hatten. Mat war nicht der Einzige gewesen, der in Jurador Stoff gekauft hatte, aber ohne den Anreiz seines Goldes nähten die Schneiderinnen noch immer für Domon und Egeanin. Die blauäugige Seanchanerin trug ein hellgrünes Kleid, das auf dem hohen Kragen reichhaltig mit winzigen weißen und gelben Blumen verziert war, die sich von dort bis zu den Ärmelrändern hinunterzogen. Ihre lange schwarze Perücke wurde von einem blumengemusterten Tuch gehalten. Domon sah mit seinem kurz geschorenen Haar und dem Illianerbart, der die Oberlippe frei ließ, richtig seltsam aus; er hatte seinen abgetragenen braunen Mantel ausgebürstet, bis er beinahe ordentlich aussah. Sie drängten sich wortlos an Mat vorbei und eilten los, und er dachte nicht weiter darüber nach, bis sie eine Stunde später zurückkamen und verkündeten, dass sie im Dorf gewesen waren und sich von Mutter Darvale hatten vermählen lassen.

Er konnte nicht verhindern, dass er sie anstarrte. Egeanins strenges Gesicht und ihr scharfer Blick waren ein deutlicher Hinweis auf ihren Charakter. Was konnte Domon nur dazu veranlasst haben, diese Frau zu heirate n? Da hätte man genauso gut einen Bären heiraten können. Ihm wurde bewusst, dass der Illianer anfing, ihn finster anzublicken, und er sprang hastig auf die Füße und brachte eine ordentliche Verbeugung über dem Bogenstab zustande. »Meine Glückwünsche, Meister Domon. Meine Glückwünsche, Frau Domon. Möge das Licht Euch beide mit seinem Schein erleuchten.« Was hätte er sonst sagen sollen?

Aber Domons Miene hellte sich keineswegs auf, als hätte er Mats Gedanken gehört, und Egeanin schnaubte bloß.

»Mein Name ist Leilwin Schiffslos, Cauthon«, sagte sie in ihrem lang gezogenen Akzent. »Das ist der Name, den man mir gegeben hat, und der Name, mit dem ich sterben werde. Und es ist ein guter Name, denn er hat mir geholfen, eine Entscheidung zu treffen, die ich schon vor Wochen hätte treffen sollen.« Stirnrunzelnd warf sie einen Blick auf Domon. »Du verstehst doch, warum ich deinen Namen nicht annehmen konnte, Bayle?«

»Nein, mein Mädchen«, erwiderte Domon sanft und legte ihr die schwere Hand auf die Schulter, »aber ich nehme dich mit jedem Namen, den du benutzen willst, solange du nur meine Frau bist. Das habe ich dir gesagt.« Sie lächelte und legte ihre Hand auf die seine, und er fing auch an zu lächeln. Beim Licht, aber die beiden waren einfach bloß ekelerregend. Falls eine Heirat einen Mann so zuckersüß lächeln ließ… Nun, Mat Cauthon würde das nicht passieren. Er mochte ja so gut wie verheiratet sein, aber ein Mat Cauthon würde niemals wie ein Narr umherstolzieren.

Und so endete er in einem grün gestreiften Zelt, das nicht besonders groß war und zwei Domani-Brüdern gehörte, die Feuer und Schwerter schluckten. Selbst Thom gab zu, dass Balat und Abar gut waren, und sie waren recht beliebt bei den anderen Artisten, also fiel es leicht, eine andere Unterkunft für sie zu finden, aber das Zelt kostete fast so viel wie der Wagen! Jeder wusste, dass er mit Gold um sich werfen konnte, und die beiden seufzten bloß bei dem Gedanken, ihr gemütliches Zuhause aufgeben zu müssen, als er versuchte, sie herunterzuhandeln. Nun, ein frisch gebackenes Ehepaar brauchte seine Privatsphäre, und er verschaffte sie ihnen nur zu gern, wenn das bedeutete, nicht mehr mit ansehen zu müssen, wie sie sich verliebte Augen machten.

Davon abgesehen war er es leid, abwechselnd auf dem Boden schlafen zu müssen. In dem Zelt hatte er wenigstens seine eigene Pritsche — so schmal und hart sie auch sein mochte, war sie noch immer weicher als der Wagenboden —, und da er nun allein war, hatte er auch mehr Platz als in dem Wagen, und das selbst nachdem der Rest seiner Kleidung gebracht und in zwei mit Messingbändern beschlagenen Truhen verstaut worden war. Er hatte seinen eigenen Waschständer, einen Stuhl mit Lehne, der nicht zu wackelig war, einen stabilen Hocker und einen Tisch, der groß genug war, um Platz für einen Teller und eine Tasse und zwei vernünftige Messinglampen zu bieten. Die Truhe mit dem Gold ließ er in dem grünen Wagen. Nur ein blinder Narr würde versuchen, Domon zu berauben. Nur ein Verrückter würde versuchen, Egeanin zu berauben. Oder Leilwin, worauf sie bestand, auch wenn er noch immer davon überzeugt war, dass sie irgendwann wieder zur Vernunft kommen würde. Nach der ersten Nacht in der Nähe des Aes Sedai-Wagens, in der der Fuchskopf die Hälfte der Zeit eiskalt gewesen war, ließ er das Zelt gegenüber von Tuons Wagen aufstellen, indem er dafür sorgte, dass die Rotwaffen es aufbauten, bevor jemand anders den Platz für sich beanspruchen konnte.

»Seid Ihr ab jetzt meine Wache?«, sagte Tuon kühl, als sie das Zelt zum ersten Mal erblickte.

»Nein«, erwiderte er. »Ich hoffe nur, mehr von Euch zu sehen.« Das war beim Licht die Wahrheit — nun gut, von den Aes Sedai wegzukommen spielte auch eine Rolle, aber das andere war auch wahr —, aber die Frau signalisierte Selucia nur mit den Fingern, und die beiden brachen in ein nicht enden wollendes Kichern aus, bevor sie sich endlich wieder einkriegten und mit der Würde einer königlichen Prozession in den purpurfarbenen Wagen zurückzogen. Frauen!

Er war nicht oft allein in dem Zelt. Nach Naleseans Tod hatte er Lopin als Leibdiener aufgenommen, und der kräftige Tairener mit seinem kantigen Gesicht und dem fast bis zur Brust reichenden Bart schaute ständig rein, senkte den kahler werdenden Kopf und fragte, was »mein Lord« gern zu essen wünschte oder ob »mein Lord« Wein oder Tee benötigte oder gern einen Teller kandierte Feigen hätte, die er irgendwo aufgetrieben hatte. Lopin war eitel, was seine Fähigkeit betraf, Delikatessen zu finden, wo es angeblich keine mehr gab. Entweder er machte so etwas, oder er stöberte in den Kleidertruhen herum auf der Suche nach Dingen, die geflickt oder gesäubert oder gebügelt werden mussten. Irgendetwas gab es seiner Meinung nach immer, auch wenn es in Mats Augen völlig in Ordnung war. Häufig wurde er von Nerim begleitet, Talmanes' melancholischem Leibdiener, hauptsächlich weil der dürre grauhaarige Cairhiener sich langweilte. Mat konnte nicht begreifen, wie sich jemand langweilen konnte, weil er nichts zu tun hatte, aber Nerim gab ständig gequälte Bemerkungen von sich, wie schlecht es Talmanes doch ohne ihn gehen musste, beklagte sich fünfmal an jedem Tag mit einem tiefen Seufzer darüber, dass Talmanes mittlerweile seine Stelle jemand anderem gegeben haben musste und dass er bereit war, notfalls mit Nerim darum zu ringen, wenn etwas zu flicken oder zu säubern war. Er wollte sogar zum Stiefelputzen eingeteilt werden!

Noal kam vorbei, um seine Geschichten zu erzählen, und Olver, um Steine oder Schlangen und Füchse zu spielen, wenn er nicht mit Tuon spielen konnte. Thom kam auch zu einer Partie Steine und um die Gerüchte weiterzuerzählen, die er in den Dörfern und Städten aufgeschnappt hatte. Juilin brachte seine eigenen Berichte, aber er hatte auch immer Amathera dabei. Die ehemalige Panarchin von Tarabon war hübsch genug, dass Mat das Interesse des Diebefängers verstehen konnte, mit rosigen Lippen, die wie gemacht zum Küssen waren, und sie klammerte sich immer an Juilins Arm, als würde sie seine Gefühle teilweise erwidern, aber ihre großen Augen blickten immer furchtsam in die Richtung von Tuons Wagen, selbst wenn sie sich alle in Mats Zelt aufhielten, und es kostete Juilin immer noch große Mühe, sie daran zu hindern, auf die Knie zu fallen und das Gesicht auf den Boden zu drücken, wenn sie auch nur einen Blick von Tuon oder Selucia erhaschte. Aber bei Egeanin und Bethamin und Seta verhielt sie sich ebenso. Zog man in Betracht, dass Amathera nur wenige Monate eine Da’covale gewesen war, verschaffte das Mat stets eine Gänsehaut. Tuon konnte ihn nicht ernsthaft zu einem Da’covale machen wollen, wenn sie ihn heiraten würde. Oder doch?

Er befahl ihnen bald, ihm keine Gerüchte über Rand mehr zu erzählen. Gegen die Farben in seinem Kopf anzukämpfen kostete eine zu große Anstrengung, und er verlor den Kampf genauso oft, wie er ihn gewann. Manchmal war alles in Ordnung, aber manchmal vermittelten sie ihm auch kurze Ausblicke auf Rand und Min, und es hatte den Anschein, als würden sich die beiden nur für eine Sache interessieren. Außerdem waren es immer die gleichen Gerüchte. Der Wiedergeborene Drache war tot, getötet von Aes Sedai, von Asha'man, von den Seanchanern, von einem Dutzend anderer Attentäter. Nein, er versteckte sich, er stellte eine geheime Armee auf, er tat etwas Dummes, das von Dorf zu Dorf und Schenke zu Schenke etwas anderes war. Verbürgt war nur, dass sich Rand nicht länger in Cairhien aufhielt, und keiner hatte eine Ahnung, wo er war. Der Wiedergeborene Drache war verschwunden.

Es erschien seltsam, wie viele dieser altaranischen Bauern und Dörfler und Städter darüber beunruhigt waren, so beunruhigt wie die durchreisenden Kaufleute und die Männer und Frauen, die für sie arbeiteten. Nicht einer dieser Menschen wusste mehr über den Wiedergeborenen Drachen als die Geschichten, die sie gehört hatten, und doch ängstigte sie sein Verschwinden. Thom und Juilin waren da eindeutig, bis er sie bat, damit aufzuhören. Wenn der Wiedergeborene Drache tot war, was würde mit der Welt geschehen? Das war die Frage, die sich die Menschen am Morgen beim Frühstück und am Abend beim Ale stellten und vermutlich auch, wenn sie zu Bett gingen. Mat hätte ihnen sagen können, dass Rand lebte — diese verdammten Visionen verrieten ihm das mit Sicherheit —, aber die Erklärung, warum er das wusste, war eine andere Sache. Selbst Thom und Juilin schienen das mit den Farben nicht zu verstehen. Die Kaufleute und die anderen hätten ihn für einen Verrückten gehalten. Und wenn sie ihm glaubten, würde das nur Gerüchte über ihn in Umlauf bringen, ganz zu schweigen davon, dass es die Seanchaner auf ihn gehetzt hätte. Er wollte bloß, dass die verfluchten Farben aus seinem Kopf verschwanden.

Sein Umzug in das Zelt führte dazu, dass ihm die Artisten seltsame Blicke zuwarfen, und das war auch kein Wunder. Zuerst war er zusammen mit Egeanin durchgebrannt — Leilwin, wenn sie darauf bestand! —, und Domon war angeblich ihr Diener, aber jetzt war sie mit ihm verheiratet und Mat hatte den Wagen verlassen. Einige der Artisten schienen der Meinung zu sein, dass er es nicht anders verdient hatte, da er doch Tuon nachstieg, aber eine überraschende Anzahl hatten Mitleid mit ihm. Mehrere Männer ließen sich über die Unberechenbarkeit der Frauen aus — zumindest wenn keine anderen Frauen in der Nähe waren —, und einige der unverheirateten Frauen, Verrenkungskünstlerinnen, Akrobatinnen und Näherinnen, fingen an, ihn ausgesprochen interessiert anzusehen. Vielleicht hätte er das genossen, hätten sie ihm nicht direkt vor Tuon feurige Blicke zugeworfen. Beim ersten Mal war er so überrascht, dass ihm beinahe die Augen aus dem Kopf gequollen wären. Und Tuon schien das auch noch amüsant zu finden! Zumindest hatte es den Ans che i nl Aber nur ein Narr glaubte zu wissen, was im Kopf einer Frau vor sich ging, nur weil sie lächelte.

Er aß auch weiterhin jeden Tag mit ihr zu Mittag, wenn sie Halt gemacht hatten, und traf früher zu seiner abendlichen Partie Steine ein, sodass sie ihn auch dann bewirten musste. Es war beim Licht die Wahrheit, brachte man eine Frau dazu, einen regelmäßig zu beköstigen, hatte man sie halbwegs erobert. Andererseits aß er nur mit ihr zu Abend, wenn sie ihn in den Wagen ließ. An einem Abend fand er die Tür verriegelt vor, und kein Überredungsversuch brachte sie oder Selucia dazu, sie zu öffnen. An diesem Tag war es wohl einem Vogel gelungen, in den Wagen zu gelangen, anscheinend ein außerordentlich böses Omen, und die beiden mussten die Nacht mit Beten verbringen, um irgendetwas Böses zu verhüten. Sie schienen ihr halbes Leben nach irgendwelchem Aberglauben auszurichten. Sahen sie ein zerrissenes Spinnennetz mit einer Spinne darin, vollführten sie seltsame Gesten mit den Händen, und Tuon hatte ihm voller Ernst erklärt, dass, wenn man ein Spinnennetz wegwischte, ohne die Spinne vorher zu verscheuchen, eine einem nahe stehende Person innerhalb eines Monats starb. Sie erblickten einen Schwärm Vögel mehr als einmal über sich kreisen und sagten einen Sturm voraus, oder sie zogen einen Finger durch eine Kolonne marschierender Ameisen, zählten, wie lange es dauerte, bis die Ameisen sich wieder in die Reihe einordneten, und sagten dann voraus, wie viele Tage günstiges Wetter vor ihnen lagen — und es spielte keine Rolle, dass das dann alles nicht eintraf. Oh, drei Tage nach dem Vogelschwarm — es waren unglücklicherweise auch noch Krähen — regnete es, aber es war alles andere als ein Sturm, sondern bloß ein grauer Tag mit Nieselregen.

»Offensichtlich hat sich Selucia bei den Ameisen verzählt«, sagte Tuon und platzierte mit dieser seltsam anmutigen Krümmung ihrer Finger einen weißen Stein auf das Brett. Selucia, die in eine weiße Bluse und einen braunen Reitrock gekleidet war, sah über ihrer Schulter zu und nickte. Wie gewöhnlich trug sie selbst im Wageninneren ein Kopftuch über dem kurzen blonden Haar, an diesem Tag eines aus roter und goldener Seide. Tuon war in blauen Seidenbrokat gekleidet, einen Mantel von seltsamem Schnitt, der ihre Hüfte bedeckte, sowie einen Reitrock, der so schmal war, dass er wie eine weite Hose wirkte. Sie verbrachte viel Zeit damit, der Näherin genaue Anweisungen zu geben, was sie genäht haben wollte, und nur wenig davon ähnelte auch nur im Mindesten der Garderobe, die er kannte. Vermutlich war das alles im seanchanischen Stil, auch wenn sie ein paar Reitgewänder hatte anfertigen lassen, die kein Aufsehen erregten, wenn sie nach draußen ging. Regen prasselte leise auf das Wagendach. »Offensichtlich wurde das, was uns die Vögel sagten, durch die Ameisen abgewandelt. Es ist nie einfach, Spielzeug. Ihr müsst diese Dinge lernen. Ich werde nicht zulassen, dass Ihr unwissend seid.«

Mat nickte, als würde das einen Sinn ergeben, und setzte seinen schwarzen Stein. Und sie bezeichnete sein Unbehagen wegen Krähen und Raben als Aberglaube! Zu wissen, wann man in Anwesenheit von Frauen den Mund zu halten hatte, war eine nützliche Fertigkeit. Bei Männern auch, aber bei Frauen noch mehr. Bei Männern wusste man, was ihr Temperament in Wallung brachte.

Sich mit ihr zu unterhalten konnte aber auch auf andere Weise gefährlich sein. »Was wisst Ihr über den Wiedergeborenen Drachen?«, fragte sie ihn an einem anderen Abend.

Er verschluckte sich an seinem Wein, und die wirbelnden Farben lösten sich in einem Hustenanfall auf. Der Wein war kaum besser als Essig, aber selbst Nerim fiel es in diesen Tagen schwer, vernünftigen Wein aufzutreiben.

»Nun, er ist der Wiedergeborene Drache«, sagte er, als er wieder sprechen konnte, und wischte sich den Wein vom Kinn. Einen Augenblick lang sah er Rand an einem großen dunklen Tisch essen. »Was muss man da sonst noch wissen?« Selucia füllte geschickt seinen Becher nach.

»Eine ganze Menge, Spielzeug. Zum einen muss er vor Tarmon Gai'don vor dem Kristallthron knien. Die Prophezeiungen sind da eindeutig, aber ich habe nicht einmal in Erfahrung bringen können, wo er steckt. Es wird noch dringender, wenn er derjenige ist, der das Horn von Valere geblasen hat, wie ich vermute.«

»Das Horn von Valere?«, sagte er schwach. Was stand bloß in diesen Prophezeiungen? »Man hat es also gefunden?«

»Das muss es wohl, wenn man es geblasen hat, oder?«, meinte sie trocken. »Die Berichte, die ich über den Ort gelesen habe, an dem es geblasen wurde, ein Ort namens Falme, sind sehr beunruhigend. Sich denjenigen zu sichern, der das Horn geblasen hat, ob Mann oder Frau, ist vielleicht genauso wichtig, wie den Wiedergeborenen Drachen selbst zu sichern. Wollt Ihr nun Steine spielen oder nicht, Spielzeug?«

Er setzte seinen Stein, aber er war so erschüttert, dass die Farben wirbelten und verblassten, ohne ein Bild zu formen. Er war kaum dazu fähig, aus einer offensichtlichen Gewinnposition noch ein Unentschieden zu erreichen.

»Ihr habt am Ende sehr schlecht gespielt«, murmelte Tuon und betrachtete das Spielbrett nachdenklich, auf dem die Kontrolle über die schwarzen und weißen Steine gleichmäßig verteilt war. Er konnte förmlich sehen , wie sie zu überlegen begann, worüber sie gesprochen hatten, als er anfing, schlecht zu spielen. Eine Unterhaltung mit ihr war wie der Gang über die nachgebende Kante eines Abgrundes. Ein falscher Schritt, und Mat Cauthon war so tot wie das Hammelfleisch vom letzten Jahr. Aber er musste über diese Kante gehen. Ihm blieb keine verdammte Wahl. Oh, in gewisser Weise genoss er es sogar. Je mehr Zeit er mit ihr verbrachte, desto häufiger hatte er Gelegenheit, dieses herzförmige Gesicht seiner Erinnerung anzuvertrauen, es sich so genau einzuprägen, dass er sie vor sich sehen konnte, wenn er bloß die Augen schloss. Aber da war immer der Fehltritt, der auf ihn wartete. Auch den konnte er fast sehen.

Nachdem er ihr einen kleinen Strauß Seidenblumen gegeben hatte, verzichtete er mehrere Tage lang auf Geschenke, und er glaubte einen Hauch von Enttäuschung zu entdecken, als er mit leeren Händen ankam. Dann, vier Tage nach dem Aufbruch aus Jurador, gerade als die Sonne über den Horizont in einen fast wolkenlosen Himmel aufstieg, schaffte er sie und Selucia aus dem purpurfarbenen Wagen. Nun, er wollte nur Tuon, aber Selucia hätte genauso gut ihr Schatten sein können, wenn es darum ging, sie zu trennen. Er hatte das einmal kommentiert und einen Scherz daraus gemacht, und beide Frauen hatten sich einfach weiter unterhalten, als hätte er in die Luft gesprochen. Es war gut, dass er wusste, dass Tuon über einen Scherz lachen konnte, denn manchmal sah es so aus, als hätte sie nicht den geringsten Sinn für Humor. Selucia hatte sich in einen grünen Wollumhang gehüllt, dessen Kapuze ihr rotes Kopftuch fast verbarg. Sie musterte ihn misstrauisch, aber das tat sie fast immer. Tuon verzichtete grundsätzlich auf ein Kopftuch, aber mit hochgeschlagener Kapuze war die Kürze ihrer schwarzen Haare nicht ganz so offensichtlich.

»Bedeckt Eure Augen, mein Juwel«, sagte er. »Ich habe eine Überraschung für Euch.«

»Ich mag Überraschungen«, erwiderte sie und legte die Hände auf die großen Augen. Einen Augenblick lang lächelte sie erwartungsvoll, aber nur einen Augenblick lang. »Einige Überraschungen, Spielzeug.« Das klang nach einer Warnung. Selucia stand direkt neben ihr, und obwohl die vollbusige Frau völlig entspannt erschien, sagte ihm etwas, dass sie so angespannt war wie eine sprungbereite Katze. Sie mochte vermutlich keine Überraschungen.

»Wartet hier«, sagte er und eilte um den Wagen. Bei seiner Rückkehr führte er Pips und die Rasierklinge, beide fertig gesattelt. Die Stute schritt lebhaft einher, die Aussicht auf einen Ausflug schien ihr zu gefallen.

»Jetzt könnt Ihr hinsehen. Ich dachte mir, vielleicht habt Ihr ja Lust auf einen Ausritt.« Sie hatten Stunden; dem Betrieb zwischen den Wagen nach zu urteilen, hätte der Zirkus verlassen sein können. Nur bei einer Hand voll Wagen stieg Rauch aus den Schornsteinen. »Sie gehört Euch«, fügte er hinzu und erstarrte, als ihm die Worte fast im Hals stecken blieben.

Diesmal gab es nicht den geringsten Zweifel. Er hatte gesagt, dass das Pferd ihr gehörte, und plötzlich klapperten die Würfel in seinem Kopf nicht mehr so laut. Es war nicht so, als wären sie langsamer geworden; da war er sich sicher.

Nein, dort rollten mehrere Sätze. Einer war verstummt, als er seine Übereinkunft mit Aludra getroffen hatte, und ein weiterer, als er Tuon gesagt hatte, dass das Pferd für sie war. Allein für sich genommen war das merkwürdig — wieso sollte es schicksalhaft für ihn sein, wenn er ihr ein Pferd schenkte? —, aber beim Licht, es war schlimm genug gewesen, sich über einen Würfelsatz sorgen zu müssen, der ihn warnte. Wie viele Sätze polterten noch immer in seinem Kopf herum? Wie viele schicksalhafte Augenblicke warteten denn noch darauf, über ihn hereinzubrechen?

Tuon ging sofort zu der Rasierklinge, lächelte die ganze Zeit, während sie das Tier so genau untersuchte, wie er es getan hatte. Schließlich richtete sie in ihrer Freizeit Pferde ab. Pferde und Dama ne , mochte das Licht ihm beistehen! Ihm wurde bewusst, dass Selucia ihn musterte; ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Wegen des Pferdes, oder weil er so steif wie ein Pfosten dastand?

»Man nennt diese Rasse Rasierklingen«, sagte er und tätschelte Pips' Nase. Der Wallach hatte viel Auslauf bekommen, aber die Aufregung der Rasierklinge schien ihn angesteckt zu haben. »Blutgeborene Domani bevorzugen Rasierklingen, und es ist unwahrscheinlich, dass Ihr außerhalb von Arad Doman je wieder eine zu Gesicht bekommt. Wie wollt Ihr sie nennen?«

»Es bringt Unglück, einem Pferd einen Namen zu geben, bevor man es geritten hat«, erwiderte Tuon und nahm die Zügel. Sie strahlte immer noch. Ihre großen Augen leuchteten. »Sie ist ein prächtiges Tier, Spielzeug. Ein wunderbares Geschenk. Entweder habt Ihr ein gutes Auge, oder Ihr habt großes Glück gehabt.«

»Ich habe ein gutes Auge, mein Juwel«, sagte er misstrauisch. Sie schien sich mehr zu freuen, als die Rasierklinge eigentlich rechtfertigte.

»Wenn Ihr das sagt. Wo ist Selucias Pferd?«

Ach ja. Es war den Versuch wert gewesen. Ein kluger Mann sicherte sich gegen den Verlust einer Wette ab, und so ließ ein scharfer Pfiff Metwyn mit einem gesattelten Schecken angelaufen kommen. Mat ignorierte sein breites Grinsen. Der cairhienische Rotwaffenmann war davon überzeugt gewesen, dass er nicht damit durchkommen würde, Selucia zurückzulassen, aber es war nicht nötig, deswegen so blöd zu grinsen. Mat hielt den gescheckten Wallach mit seinen zehn Jahren für sanft genug für Selucia — seiner Erfahrung nach waren Zofen selten mehr als passable Reiterinnen —, aber die Frau kontrollierte das Tier genauso gründlich wie Tuon. Und als sie fertig war, schenkte sie Mat einen Blick, der eindeutig besagte, dass sie das Tier reiten würde, um keinen Ärger zu machen, es aber für entschieden mangelhaft hielt. Frauen konnten viel in einen einzigen Blick hineinpacken.

Sobald sie das Feld verlassen hatten, auf dem der Zirkus lagerte, ließ Tuon die Rasierklinge ein Stück im Schritt gehen, dann ließ sie sie traben und dann galoppieren. Die Straße bestand hier aus festem gelben Lehm, aus dem hier und da noch uralte Pflastersteine ragten. Aber das war kein Problem für ein ordentlich beschlagenes Pferd, und Mat hatte die Eisen der Rasierklinge vorher genau überprüft. Er hielt Pips hauptsächlich an ihrer Seite, um sich an ihrem Vergnügen zu erfreuen. Wenn Tuon sich vergnügte, war der strenge Richter vergessen, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich unverfälschte Freude. Nicht dass das Beobachten einfach war, da Selucia den Schecken zwischen ihnen lenkte. Die blonde Frau war eine formidable Anstandsdame, und ihren Seitenblicken und dem gelegentlichen schmalen Lächeln nach zu urteilen, genoss sie es, ihn zu frustrieren.

Am Anfang hatten sie abgesehen von ein paar Bauernkarren die Straße für sich, aber nach einer Weile erschien vor ihnen eine Kesselflickerkarawane, eine Reihe grellbunt bemalter Wagen, die auf der anderen Straßenseite langsam in Richtung Süden rollten und die von riesigen Hunden begleitet wurden. Diese Hunde waren der einzige Schutz, den Kesselflicker hatten. Der Kutscher des Führungswagens, ein Ding, das so rot wie Lucas Mantel war, mit gelben Rändern und schrecklichen gelbgrünen Rädern, stand halb auf, um zu Mat herüberzusehen, dann setzte er sich wieder und sagte etwas zu der Frau an seiner Seite, zweifellos durch die Anwesenheit der beiden Frauen an Mats Seite beruhigt. Kesselflicker waren notwendigerweise ein vorsichtiger Haufen. Die ganze Karawane würde vor einem einzigen Mann die Flucht ergreifen, falls sie ihn für eine Bedrohung hielten.

Mat nickte dem Burschen zu, als die Wagen sie passierten.

Der hochkragige Mantel des schlanken grauhaarigen Kutschers war so grün wie die Räder seines Wagens, und das Kleid seiner Frau wies Streifen in verschiedenen Blautönen auf, von denen die meisten hell genug waren, um zu den Zirkusartisten zu passen. Der grauhaarige Mann hob die Hand zu einem Gruß…

Und Tuon drehte unvermittelt die Rasierklinge und galoppierte mit flatterndem Umhang zwischen die Bäume. Augenblicklich jagte Selucia hinter ihr her. Mat riss sich den Hut herunter, um ihn nicht zu verlieren, wendete Pips und folgte ihnen. Rufe ertönten bei den Wagen, aber er schenkte ihnen keine Beachtung. Seine ganze Aufmerksamkeit war auf Tuon gerichtet. Er wünschte, er wüsste, was sie vorhatte. Keine Flucht, da war er sich sicher. Vermutlich wollte sie ihn nur dazu bringen, sich die Haare zu raufen. Falls das zutraf, hatte sie ziemlichen Erfolg.

Pips holte den Schecken schnell ein und ließ die finster dreinblickende und ihr Tier mit den Zügeln antreibende Selucia hinter sich, aber Tuon und ihre Rasierklinge behielten die Führung, während das gewellte Land langsam anstieg. Überraschte Vogelschwärme stiegen zwischen den Hufen auf, Scharen grauer Tauben und braun gesprenkelter Wachteln, manchmal auch braune Waldhühner. Die Stute brauchte sich bloß davor zu erschrecken, und die Katastrophe war da. Das am besten ausgebildete Reittier konnte auf die Hinterbeine steigen und stürzen, wenn ein Vogel unter seinem Huf aufflog. Und was noch viel schlimmer war, Tuon ritt wie eine Verrückte, wurde nie langsamer, wich nur aus, wenn das Unterholz zu dicht war, setzte über von Stürmen entwurzelte Bäume hinweg, als wüsste sie, was auf der anderen Seite lag. Nun, er musste selbst wie ein Verrückter reiten, um mitzuhalten, auch wenn er jedes Mal zusammenzuckte, wenn er Pips über einen Baumstumpf springen ließ. Einige davon waren fast so dick, wie er groß war. Er grub die Stiefelfersen in die Flanken des Wallachs, drängte ihn zu größerer Geschwindigkeit, obwohl er wusste, dass Pips so schnell wie noch nie zuvor lief. Er hatte mit der verdammten Rasierklinge eine zu gute Wahl getroffen. Sie rasten weiter durch den Wald.

So abrupt sie ihren verrückten Galopp begonnen hatte, hörte sie wieder damit auf, über eine Meile von der Straße entfernt. Hier waren die Bäume alt und standen weit auseinander, schwarze, vierzig Schritte hohe Kiefern und massige Eichen mit Ästen, die sich nach unten bis zum Boden durchbogen, bevor sie wieder in die Höhe stiegen und die man mühelos hätte in der Mitte durchsägen und zu Tischen verarbeiten können, an denen bequem ein Dutzend Männer hätten sitzen können. Dicke Schlingpflanzen hüllten zur Hälfte im Boden vergrabene Felsen ein, aber davon abgesehen gab es nur wenige Gewächse. Eichen dieser Größe töteten sämtliches unter ihnen sprießende Unterholz.

»Euer Tier ist besser, als es aussieht«, sagte die närrische Frau und tätschelte ihrer Stute den Hals, als er sie erreichte. Oh, sie war die personifizierte Unschuld, einfach nur auf einem Vergnügungsritt. »Vielleicht habt Ihr ja doch ein gutes Auge.« Da ihr die Kapuze heruntergerutscht war, konnte man ihr kurzes Haar sehen, das wie schwarze Seide funkelte. Er unterdrückte das Verlangen, es zu streicheln.

»Egal wie gut mein Auge ist«, knurrte er und stülpte sich den Hut auf. Ihm war klar, dass er sanft sein musste, aber er hätte die Grobheit nicht einmal mit einer Feile aus seiner Stimme entfernen können. »Reitet Ihr immer wie eine mondsüchtige Närrin? Ihr hättet der Stute den Hals brechen können, bevor sie überhaupt einen Namen hat. Schlimmer noch, Ihr hättet Euch selbst den Hals brechen können. Ich habe versprochen, Euch sicher nach Hause zu bringen, und das habe ich auch vor. Wenn Ihr Euch bei jedem Ausritt umbringen wollt, dann lasse ich Euch nicht mehr reiten.« Er wünschte sich, er hätte sich die letzten Worte gespart, sobald sie seinen Mund verlassen hatten. Ein Mann hätte eine solche Drohung vielleicht als Witz abgetan, falls man Glück hatte, aber eine Frau… Jetzt konnte er bloß auf die Explosion warten. Er rechnete damit, dass Aludras Nachtblumen im Vergleich dazu ein schwaches Licht sein würden.

Sie setzte die Kapuze wieder auf. Dann musterte sie ihn, legte den Kopf erst auf die eine und dann auf die andere Seite. Schließlich nickte sie nachdenklich. »Ich nenne sie Akein. Das heißt ›Schwalbe‹.«

Mat blinzelte. Das war's? Kein Wutanfall? »Ich weiß. Ein guter Name. Er passt zu ihr.« Was führte sie jetzt wieder im Schilde? Diese Frau tat oder sagte aber auch nie das, was er erwartete.

»Was ist das für ein Ort, Spielzeug?«, sagte sie und betrachtete stirnrunzelnd die Bäume. »Oder sollte ich besser sagen, was war das? Wisst Ihr es?«

Was meinte sie damit, was sollte das für ein Ort gewesen sein? Es war ein verdammter Wald, das war alles. Aber plötzlich sah das, was ihm wie ein großer, von Schlingpflanzen überwucherter Felsen vorgekommen war, wie ein riesiger Steinkopf aus, der leicht schräg stand. Scheinbar ein Frauenkopf; diese glatten Vorsprünge sollten vermutlich Edelsteine im Haar darstellen. Die Statue, zu der er gehörte, musste gewaltig gewesen sein. Von dem Ding war eine volle Spanne zu sehen, und doch ragten nur ihre Augen und der Rest des Kopfes aus dem Boden. Und dieser lange weiße Stein, über den eine Eichenwurzel wuchs, war Teil einer Säule. Überall in ihrem Umkreis fielen ihm jetzt Säulenstücke und riesige bearbeitete Steine auf, die vor langer Zeit offensichtlich Teil einer großflächigen Anordnung gewesen und nun zur Hälfte begraben waren; da lag auch ein Teil eines Steinschwertes, der zwei Spannen maß. Ruinen von Städten und Monumenten konnte man an vielen Orten finden, und selbst unter den Aes Sedai gab es nur wenige, die eine Vorstellung davon hatten, was sie einst dargestellt hatten.

Er öffnete den Mund, um zu sagen, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, da fiel sein Blick auf drei hohe Hügel hinter den Bäumen, die in einer Reihe standen, vielleicht eine Meile weiter. In der Kuppel des mittleren Hügels klaffte eine Lücke, wie ein sauber ausgeschnittener Keil, und bei dem Hügel auf der linken Seite waren es sogar zwei. Und da wusste er es. Es konnte kaum anderswo drei genau gleiche Hügel geben.

Diese Hügel hatten die Tänzer geheißen, als dieser Ort Londaren Cor gewesen war, die Hauptstadt von Eharon. Damals war die Straße hinter ihnen gepflastert gewesen und hatte durch das Herz der Stadt geführt, die sich meilenweit erstreckt hatte. Manche Leute hatten behauptet, dass die Steinkunst, die die Ogier in Tar Valon praktiziert hatten, sie in Londaren Cor perfektioniert hatten. Natürlich hatten die Bürger einer jeden von Ogiern erbauten Stadt behauptet, dass ihre Tar Valon übertraf. Mat verfügte über ein paar Erinnerungen an die Stadt — ein Tanz auf einem Ball im Palast des Mondes, Gelage in Soldatenschenken, wo sich verschleierte Tänzerinnen wiegten, die Prozession der Flöten während der Segnung der Schwerter —, aber seltsamerweise hatte er eine andere Erinnerung an diese Hügel, fast fünfhundert Jahre nachdem die Trollocs in Londaren Cor keinen Stein auf dem anderen gelassen hatten und Eharon in Blut und Feuer gestorben war. Warum es für Nerevan und Esandara nötig gewesen war, in Shiota einzumarschieren, das wusste er nicht. Diese alten Erinnerungen waren Fragmente, voller Lücken. Er hatte keine Ahnung, warum man diese Hügel die Tänzer genannt hatte, oder worum es bei der Segnung der Schwerter ging. Aber er erinnerte sich daran, ein esandaranischer Lord gewesen zu sein, der in einer Schlacht in diesen Ruinen gekämpft hatte, und er erinnerte sich daran, diese Hügel gesehen zu haben, als ihn ein Pfeil in den Hals traf. Er musste keine halbe Meile von der Stelle entfernt gefallen sein, an der nun Pips stand, um in seinem eigenen Blut zu ertrinken.

Ich hasse es, mich ans Sterben zu erinnern, dachte er, und der Gedanke wurde zu einem Stück Kohle, die in seinem Verstand brannte. Ein Stück Kohle, das immer heißer brannte. Er erinnerte sich an den Tod dieser Männer, nicht nur an einen, sondern an Dutzende. Er erinnerte sich, gestorben zu sein.

»Spielzeug, ist Euch schlecht?« Tuon brachte die Stute heran und schaute zu seinem Gesicht hoch. In ihren großen Augen lag Sorge. »Ihr seid so blass wie der Mond geworden.«

»Mir geht es gut«, murmelte er. Sie war nahe genug, um sie zu küssen, er musste nur den Kopf senken, aber er machte keine Anstalten. Er konnte es nicht. Seine Gedanken rasten so schnell, dass er keine Kraft für eine Bewegung aufbringen konnte. Allein das Licht wusste, wie die Eelfinn die Erinnerungen gesammelt hatten, die sie in seinen Kopf gepflanzt hatten, aber wie konnten sie Erinnerungen aus einer Leiche holen? Eine Leiche aus der Welt der Menschen. Er war fest davon überzeugt gewesen, dass sie niemals länger als Minuten auf diese Seite des verdrehten Tor-Ter''angreals kamen.

Ihm kam eine Idee, aber die gefiel ihm nicht im Mindesten. Vielleicht erschufen sie eine Art Verbindung zu jedem Menschen, der sie besuchte, eine Verbindung, die ihnen erlaubte, die Erinnerungen eines Menschen bis zum Augenblick seines Todes zu kopieren. In einigen dieser Erinnerungen anderer Männer hatte er weißes Haar, in anderen war er nur wenige Jahre älter, als er tatsächlich war, aber es gab niemals welche, die mit der Kindheit oder dem Heranwachsen zu tun hatten. Wie wahrscheinlich war es, dass sie ihn nur mit zufälligen Bruchstücken voll gestopft hatten, vermutlich Dinge, die sie für Unsinn hielten oder nicht mehr gebrauchen konnten? Was machten sie überhaupt mit diesen Erinnerungen? Sie mussten doch einen Grund haben, um sie zu sammeln, außer sie wieder weiterzugeben.

Nein, er versuchte nur, dem aus dem Weg zu gehen, wo das hinführte. Verflucht, diese verdammten Füchse waren in diesen Augenblicken immer in seinem Kopf! Es konnte nicht anders sein. Es war die einzige Erklärung, die einen Sinn ergab.

»Nun, Ihr seht aus, als wolltet Ihr Euch gleich übergeben«, sagte Tuon und ließ die Rasierklinge mit einer Grimasse einen Schritt abrücken. »Wer beim Zirkus hat Kräuter? Ich verfüge da über einige Kenntnisse.«

»Mir geht es gut, wirklich.« In Wahrheit wollte er sich übergeben. Diese Füchse in seinem Kopf zu haben war tausendmal schlimmer als die Würfel, selbst wenn sie rollten. Konnten die Eelfinn durch seine Augen sehen? Beim Licht, was sollte er tun? Er bezweifelte, dass eine Aes Sedai ihn davon Heilen konnte, nicht dass er ihnen soweit vertrauen würde, nicht wenn das bedeutete, den Fuchskopf abzunehmen. Es gab nichts, das er tun konnte. Er würde einfach damit leben müssen. Der Gedanke ließ ihn stöhnen.

Selucia trabte auf sie zu. Sie warf ihm und Tuon einen schnellen Blick zu, als würde sie sich fragen, was sie wohl in der Zeit zu zweit getrieben haben mochten. Andererseits hatte sie es nicht eilig gehabt, sie einzuholen, hatte ihnen diese Zeit gegeben. Das gab Anlass zu Hoffnung.

»Das nächste Mal könnt Ihr dieses sanfte Geschöpf reiten, ich werde Euren Wallach nehmen«, sagte sie zu Mat. »Hochlady, Leute aus diesen Wagen folgen uns mit den Hunden. Sie sind zu Fuß, aber sie werden bald hier sein. Die Hunde bellen nicht.«

»Also ausgebildete Wachhunde«, sagte Tuon und nahm ihre Zügel. »Zu Pferd können wir ihnen leicht aus dem Weg gehen.«

»Das ist unnötig«, sagte Mat. Er hätte damit rechnen müssen. »Diese Leute sind Kesselflicker. Tuatha'an, und sie stellen für niemanden eine Gefahr da. Sie könnten nicht gewalttätig sein, und wenn ihr Leben davon abhängen würde. Das ist keine Übertreibung, sondern die reine Wahrheit.

Aber sie haben euch beide losgaloppieren gesehen, es hat ausgesehen, als wolltet ihr von mir wegkommen, und ich bin euch hinterhergejagt. Jetzt, da die Hunde die Spur aufgenommen haben, werden uns die Kesselflicker falls nötig bis zum Wanderzirkus folgen, um sich zu vergewissern, dass ihr beide nicht entführt oder zu Schaden gekommen seid. Wir gehen ihnen entgegen, um ihnen die Zeit und die Mühe zu ersparen.« Die Zeit, die die Kesselflicker aufbrachten, war ihm egal. Auch Luca würde es nicht stören, wenn ein Haufen Tuatha'an den Aufbruch des Zirkus verzögerte, aber ihn schon.

Selucia runzelte ärgerlich die Stirn, und ihre Finger flogen förmlich umher, aber Tuon lachte. »Das Spielzeug möchte heute hier die Befehle geben, Selucia. Ich werde ihn befehlen lassen und beobachten, wie er sich dabei macht.« Das war wirklich nett von ihr.

Sie trabten den Weg zurück, den sie gekommen waren — diesmal ritten sie um die gestürzten Bäume herum, auch wenn Tuon gelegentlich die Zügel raffte, als wollte sie darüber springen, und Mat ein durchtriebenes Grinsen zuwarf —, und es dauerte nicht lange, bis die Kesselflicker in Sicht kamen. Sie rannten wie ein Schwärm Schmetterlinge hinter ihren riesigen Hunden her, etwa fünfzig Männer und Frauen in bunten Farben, die oft auf schreiende Weise nicht miteinander harmonierten. Die Männer trugen Mäntel mit roten und blauen Streifen und gelbe, in die Stiefel gestopfte Pluderhosen oder violette Mäntel über roten Hosen oder noch Schlimmeres. Einige Frauen trugen Kleider, die in allen vorstellbaren Farben gestreift waren und noch ein paar Farben, für die Mat keinen Namen wusste, während andere wiederum Röcke und Blusen in den verschiedensten Tönungen trugen, die sich genauso bissen wie die Mäntel und Hosen der Männer. Viele trugen auch Schultertücher, um den Anblick noch etwas bunter zu machen. Mit Ausnahme des grauhaarigen Mannes, der den Führungswagen gelenkt hatte, schienen sie alle in den mittleren Jahren zu sein. Er musste der Sucher sein, der Anführer der Karawane. Mat stieg ab, und nach einem Augenblick schlossen sich ihm Tuon und Selucia an.

Als die Kesselflicker das sahen, befahlen sie ihren Hunden stehen zu bleiben. Die riesigen Tiere legten sich hechelnd auf den Boden, und die Angehörigen des Fahrenden Volkes kamen langsam näher. Keiner von ihnen trug auch nur einen Stock, und obwohl Mat keine sichtbaren Waffen trug, musterten sie ihn misstrauisch. Die Männer kreisten ihn ein, während sich die Frauen um Tuon und Selucia versammelten. Es lag keine Bedrohung darin, aber ganz automatisch wurden Tuon und Selucia von ihm getrennt, ein Stück abseits gedrängt, wo die Kesselflickerfrauen Fragen stellen konnten. Plötzlich kam Mat der Gedanke, dass Tuon es vielleicht für ein witziges Spiel halten konnte, zu behaupten, er würde sie belästigen. Sie und Selucia konnten dann wegreiten, während die Kesselflicker sich so eng um ihn und Pips drängten, dass er nicht in den Sattel kam. Das wäre alles gewesen, was sie tun würden, aber solange er sich keinen Weg freikämpfen wollte, konnten sie ihn stundenlang dabehalten, um den beiden Frauen Zeit zur »Flucht« zu verschaffen.

Der Grauhaarige verneigte sich mit an die Brust geneigten Händen. »Friede sei mit Euch und den Euren, mein Lord. Verzeiht, falls wir stören, aber wir haben befürchtet, dass unsere Hunde die Pferde der Damen erschreckt haben.«

Mat erwiderte die Verbeugung auf die gleiche Weise.

»Friede sei immer mit euch, Sucher, und mit dem ganzen Volk. Die Pferde der Damen haben sich nicht erschreckt. Die Damen sind gelegentlich… ungestüm.« Was sagten die Frauen? Er versuchte zu lauschen, aber ihre Stimmen waren ein leises Murmeln.

»Ihr habt vom Volk gehört, mein Lord?« Der Sucher klang überrascht, und das zu Recht. Die Tuatha'an hielten sich von allem außer von kleinen Dörfern fern. Sie würden nur selten jemandem in einem Seidenmantel begegnen.

»Nur wenig«, erwiderte Mat. Sehr wenig. Er hatte Erinnerungen, Kesselflicker kennen gelernt zu haben, hatte aber noch nie mit einem gesprochen. Was redeten die verdammten Frauen da bloß? »Wollt Ihr mir eine Frage beantworten? Ich habe in den vergangenen Tagen einige Eurer Karawanen gesehen, mehr, als ich erwartet hätte, und sie alle fahren in Richtung von Ebou Dar. Gibt es einen Grund dafür?«

Der Mann zögerte, warf den Frauen einen Blick zu. Sie murmelten noch immer, und er musste sich fragen, warum ihre Unterhaltung so lange dauerte. Schließlich brauchten sie ja nur einen Augenblick, um zu sagen, ja, ich brauche Hilfe — oder das Gegenteil. »Es sind die Leute, die man Seanchaner nennt, mein Lord«, sagte er schließlich. »Unter dem Volk verbreitet sich die Nachricht, dass es dort, wo die Seanchaner herrschen, Sicherheit gibt, und Gerechtigkeit für alle. An anderen Orten… Ihr versteht, mein Lord?«

Mat tat es. Wie die Artisten waren Kesselflicker an jedem Ort Fremde und was noch schlimmer war, Fremde mit dem unverdienten Ruf, Diebe zu sein — nun gut, sie stahlen nicht häufiger als andere auch —, und dem verdienten Ruf, stets zu versuchen, junge Leute dazu zu überreden, sich ihnen anzuschließen. Außerdem stellte sich für Kesselflicker nicht die Frage, sich zu wehren, falls jemand versuchte, sie zu bestehlen oder wegzujagen. »Seid vorsichtig, Sucher. Ihre Sicherheit hat einen Preis, und einige ihrer Gesetze sind grausam. Ihr wisst, was sie mit Frauen machen, die die Macht lenken können?«

»Ich danke Euch für Eure Sorge, mein Lord«, sagte der Mann ruhig. »Aber nur wenige unserer Frauen fangen an, die Macht zu lenken, und wenn es eine tut, werden wir machen, was wir immer gemacht haben, und sie nach Tar Valon bringen.«

Plötzlich fingen die Frauen an zu lachen, aus vollem Hals.

Der Sucher entspannte sich sichtlich. Wenn die Frauen lachten, würde Mat gewiss nicht der Mann sein, der sie niederschlug oder tötete, weil sie ihm im Weg standen. Mat hingegen runzelte die Stirn. Das Lachen gefiel ihm gar nicht.

Die Kesselflicker verabschiedeten sich mit weiteren Entschuldigungen des Suchers, sie gestört zu haben, aber die Frauen blickten sich immer wieder um und lachten hinter vorgehaltener Hand. Ein paar der Männer beugten sich zu ihnen und stellten offensichtlich Fragen, aber die Frauen schüttelten bloß den Kopf. Und sahen wieder zurück und lachten.

»Was habt ihr ihnen gesagt?«, fragte Mat unwirsch.

»Ach, das geht Euch nichts an, Spielzeug, oder?«, erwiderte Tuon, und Selucia lachte. Oh, sie wollte sich ausschütten vor Lachen. Er kam zu dem Schluss, dass es besser war, es nicht zu wissen. Frauen genossen es einfach, einen Mann zu ärgern.

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