10 Ein Dorf in Shiota

Der folgende Tag brachte eine Atempause, oder zumindest hatte es den Anschein. Tuon ritt in einem blauen Seidenreitgewand und mit dem breiten Ledergürtel an seiner Seite, als der Zirkus langsam nach Norden rollte, und zudem wackelte sie mit den Fingern, als Selucia versuchte, ihr Pferd zwischen sie zu drängen. Selucia hatte sich ihr eigenes Tier besorgt, einen stämmigen Wallach, der zwar nicht an Pips oder Akein herankam, aber den Schecken bei weitem übertraf. Die blauäugige Frau, die heute ein grünes Kopftuch unter der Kapuze trug, setzte sich an Tuons andere Seite, und ihr Gesicht hätte zu einer Aes Sedai gehören können, so wenig gab es preis. Mat konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Sollte sie doch mal zur Abwechslung ihre Frustration unterdrücken. Da die echten Aes Sedai keine Pferde hatten, mussten sie in ihrem Wagen bleiben; Metwyn war zu weit entfernt auf dem Kutschbock des purpurnen Wagens, um hören zu können, was er zu Tuon sagte; von dem nächtlichen Regen waren nur noch ein paar dünne Wolken übrig, und die Welt schien in Ordnung. Sogar die Würfel in seinem Kopf konnten daran nichts ändern. Nun, es gab ein paar schlechte Augenblicke, aber eben nur Augenblicke.

In aller Frühe flog ein Rabenschwarm vorbei, ein Dutzend oder mehr große schwarze Vögel. Sie flogen schnell, kamen nie von ihrem Kurs ab, aber er betrachtete sie trotzdem, bis sie zu kleinen Punkten schrumpften und verschwanden. Das reichte nicht aus, um den Tag zu verderben. Jedenfalls nicht ihm. Vielleicht für jemanden weiter oben im Norden.

»Seht Ihr ein Omen in ihnen, Spielzeug?«, fragte Tuon. Sie war im Sattel so anmutig wie in allem, was sie tat. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie jemals unbeholfen gesehen zu haben. »Die meisten Omen, die ich über Raben kenne, haben etwas damit zu tun, dass sie sich auf einem Dach niederlassen oder in der Morgen- oder Abenddämmerung krähen.«

»Sie können Spione des Dunklen Königs sein«, sagte er.

»Manchmal. Krähen auch. Und Ratten. Aber sie haben nicht angehalten, um uns zu betrachten, also müssen wir uns keine Sorgen machen.«

Sie fuhr mit einer grün behandschuhten Hand über den Kopf und seufzte. »Spielzeug, Spielzeug«, murmelte sie und setzte die Umhangkapuze wieder auf. »Wie viele Kindergeschichten glaubt Ihr eigentlich? Glaubt Ihr, dass, wenn Ihr bei Vollmond auf dem Hügel des Alten Hobs schlaft, die Schlangen Euch die wahren Antworten auf drei Fragen verraten, oder dass Füchse die Haut von Menschen stehlen und die Nahrhaftigkeit aus der Nahrung, sodass man verhungert, obwohl man isst?«

Ein Lächeln aufzusetzen kostete Mühe. »Ich glaube nicht, dass ich das schon einmal gehört habe.« Amüsiert zu klingen erforderte ebenfalls eine Anstrengung. Wie standen wohl die Chancen, dass sie Schlangen erwähnte, die wahre Antworten gaben, wie es die Aelfinn gewissermaßen taten, und dann im gleichen Atemzug noch Füchse, die Häute stahlen? Er war sich ziemlich sicher, dass die Eelfinn das taten und daraus Leder machten. Aber es war der Alte Hob, der ihn beinahe zusammenzucken ließ. Das eine war vermutlich bloß ta’veren, das an der Welt drehte. Sie wusste mit Sicherheit nichts über ihn und die Schlangen und die Füchse. Aber in Shandalle, dem Land, in dem Artur Falkenflügel geboren worden war, war der Alte Hob oder Caisen Hob ein anderer Name für den Dunklen König gewesen. Die Aelfinn und die Eelfinn verdienten sicherlich beide, mit dem Dunklen König in Verbindung gebracht zu werden, aber das war kaum etwas, über das er nachdenken wollte, wo er doch selbst eine Verbindung zu den verdammten Füchsen hatte. Und auch zu den Schlangen? Die Möglichkeit reichte aus, um ihm auf den Magen zu schlagen.

Aber es war trotzdem ein angenehmer Ritt, wurde doch der Tag wärmer, als die Sonne stieg. Auch wenn man ihn im Grunde nicht als warm bezeichnen konnte. Er jonglierte mit sechs bunten Holzkugeln, und Tuon lachte und klatschte in die Hände, wie es wohl auch angebracht war. Die Leistung hatte den Jongleur beeindruckt, dem er die Kugeln abgekauft hatte, und beim Reiten war es noch schwieriger. Er erzählte mehrere Witze, die sie zum Lachen brachte, und einen, der sie die Augen verdrehen und mit Selucia ein paar Fingerzeichen austauschen ließ. Vielleicht mochte sie ja keine Scherze über Gemeinschaftsraum-Mägde. Dabei war der Witz nicht im Mindesten unanständig gewesen. Er war kein Narr. Allerdings hätte er sich gewünscht, dass sie lachte. Sie hatte ein wunderbares Lachen, volltönend und warm und ungezwungen. Sie unterhielten sich über Pferde und stritten sich über Dressurmethoden bei widerspenstigen Tieren. Dieser hübsche Kopf enthielt ein paar seltsame Ideen, dass man ein störrisches Pferd beruhigen konnte, indem man es ins Ohr biss! Das klang eher so, als würde man Öl ins Feuer gießen. Und sie hatte noch nie davon gehört, dass man leise summte, um ein Pferd zu beruhigen, und sie wollte ohne eine Demonstration einfach nicht glauben, dass ihm sein Vater das beigebracht hatte.

»Nun, ich kann das wohl kaum ohne ein Pferd demonstrieren, das beruhigt werden muss, oder?«, sagte er. Sie verdrehte wieder die Augen. Selucia auch.

Aber es war keine hitzige Diskussion, es gab keine Wut, nur Leidenschaft. Tuon war so temperamentvoll, dass man sich fragte, wie so viel wohl in eine so kleine Frau hineinpasste.

Es war ihr Schweigen, das. manchmal für einen Dämpfer sorgte, noch mehr als die Schlangen und Füchse. Die waren weit weg, und es gab nichts, was man daran ändern konnte.

Aber Tuon war direkt neben ihm, und es gab viel zu regeln. Sie hatte sich mit keinem Wort zu dem Zwischenfall mit den drei Aes Sedai geäußert, oder über die drei Schwestern. Sie erwähnte nie sein Ter’angreal oder die Tatsache, dass das, was auch immer sie Teslyn oder Joline mit der Macht gegen ihn hatte weben lassen, versagt hatte. Der vergangene Abend hätte genauso gut ein Traum gewesen sein können.

Sie war wie ein General, der eine Schlacht plante, hatte Setalle gesagt. Egeanin zufolge von Kindheit an in der Kunst der Intrige und der Zwietracht geschult. Und das alles zielte genau auf ihn. Aber zu welchem Zweck? Sicherlich konnte es keine Form der seanchanischen Brautwerbung sein. Egeanin wusste nicht viel darüber, aber das konnte es sicherlich nicht sein. Er hatte Tuon nur ein paar Wochen gekannt und sie entführt, sie nannte ihn Spielzeug, hatte versucht, ihn zu kaufen, und nur ein eitler Narr konnte sich das so hindrehen, dass es hier um eine Frau ging, die sich verliebte. Womit alles offen blieb, von einem komplizierten Racheplan zu… das wusste das Licht allein. Sie hatte gedroht, ihn zu einem Pokalträger zu machen. Das bedeutete Da’covale, wie Egeanin gesagt hatte, obwohl sie die Vorstellung lächerlich gefunden hatte. Pokalträger wurden wegen ihrer Schönheit ausgesucht, und nach Egeanins Meinung kam er da nicht einmal annährend in die engere Wahl. Nun, er selbst fand das auch, um die Wahrheit zu sagen, nicht dass er das irgendjemandem gegenüber zugegeben hätte. Und so manche Frau hatte sein Gesicht bewundert. Wer konnte schon sagen, ob Tuon nicht die Hochzeitszeremonie vollendete, um ihn nur in Sicherheit zu wiegen, und ihn dann hinrichten ließ? Frauen waren niemals einfach, aber sie ließ den Rest wie Dilettanten aussehen.

Eine Weile lang sahen sie nicht viel anderes als Bauernhöfe, aber etwa zwei Stunden, nachdem die Sonne den Zenit überschritten hatte, kamen sie zu einem größeren Dorf. Aus der Ferne ertönte das Hallen eines Schmiedehammers auf dem Amboss. Die Gebäude, einige von ihnen zweistöckig, waren alle aus schwerem Holz und weißem Gips errichtet und wiesen spitze Strohdächer und hohe Schornsteine auf. Etwas daran kam Mat bekannt vor, aber er vermochte nicht zu sagen, was es war. In dem unberührten Wald ringsum war kein Bauernhof zu entdecken. Aber Dörfer waren immer mit Höfen verbunden, die sie ernährten und von denen sie wiederum lebten. Sie mussten sich alle ein Stück weiter die Straße entlang befinden, hinter den Bäumen.

Seltsamerweise ignorierten die Leute, die er sehen konnte, den näher kommenden Wanderzirkus. Ein Bursche in Hemdsärmeln, der direkt am Straßenrand stand, schaute von dem Beil auf, das er an einem mit einem Pedal betriebenen Schleifstein schärfte, dann beugte er sich wieder über seine Arbeit, als hätte er nichts gesehen. Eine Gruppe Kinder schoss um eine Ecke hervor und verschwand wieder um die nächste Ecke, ohne dem Zirkus auch nur mehr als einen Blick zu widmen. Sehr seltsam. Die meisten Dorfkinder würden stehen bleiben, um sich eine vorüberziehende Kaufmannskarawane anzusehen und über die fremden Orte zu spekulieren, an denen der Kaufmann gewesen war, und der Zirkus hatte viel mehr Wagen als jede Händlerkarawane. Aus dem Norden rollte ein Hausierer heran, dessen Wagen von sechs Pferden gezogen wurde und dessen hohe Wagenplane fast vollständig von Töpfen und Pfannen und Kesseln verdeckt wurde. Auch er hätte Interesse hervorrufen müssen. Selbst ein großes Dorf an einer vielbefahrenen Straße war für die Alltagsgegenstände, die Leute so brauchten, auf Hausierer angewiesen. Aber niemand streckte einen Arm aus oder rief, dass ein Hausierer gekommen war. Sie machten einfach mit ihren Beschäftigungen weiter.

Vielleicht dreihundert Schritte vor dem Dorf stand Luca auf seinem Kutschbock auf und schaute über das Wagendach nach hinten. »Wir halten dort«, brüllte er und zeigte auf eine große Wiese, auf der Wildblumen aus dem Frühlingsgras sprossen, das schon mindestens einen Fuß hoch wuchs. Er setzte sich wieder und folgte seiner eigenen Anweisung, und die anderen Wagen folgten ihm und ihre Räder gruben sich in den regennassen Boden.

Als Mat Pips auf die Wiese zulenkte, hörte er die Hufe der Hausiererpferde auf Kopfsteinpflaster klappern. Das Geräusch ließ ihn den Kopf hochreißen. Diese Straße war nicht mehr gepflastert seit… Er zog den Wallach wieder herum. Der Planwagen rollte über graue Pflastersteine, die sich nur durch das Dorf zogen. Der Hausierer selbst, ein fetter Bursche mit rundem Hut, spähte auf die Pflastersteine und schüttelte den Kopf, spähte auf das Dorf und schüttelte den Kopf. Hausierer hatten feste Routen. Er musste diesen Weg schon hundert Mal gefahren sein. Er musste ihn kennen. Er hielt das Gespann an und schlang die Zügel um den Bremshebel.

Mat legte beide Hände an den Mund. »Fahrt weiter, Mann!«, schrie er, so laut er konnte. »So schnell Ihr könnt! Weiterfahren!«

Der Hausierer sah in seine Richtung, dann sprang er für einen so schweren Mann recht flink auf. Mit so großartigen Gesten wie Luca fing er an zu deklamieren. Mat konnte seine Worte nicht verstehen, aber er wusste, was sie verkünden würden. Neuigkeiten aus aller Welt, die er unterwegs aufgeschnappt hatte, unterbrochen von Auflistungen seiner Waren und ihrer Überlegenheit. Im Dorf unterbrach keiner seine Tätigkeiten, um zuzuhören, sie hielten nicht einmal darin inne.

»Fahrt weiter!«, brüllte Mat. »Sie sind alle tot! Fahrt weiter!« Hinter ihm keuchte jemand auf, Tuon oder Selucia. Vielleicht auch beide.

Plötzlich kreischten die Pferde des Hausierers auf, warfen wild die Köpfe zurück. Sie schrien wie Tiere jenseits der Panik und hörten auch nicht auf.

Pips zuckte voller Angst zusammen, und Mat hatte alle Hände voll zu tun; der Wallach tänzelte im Kreis, wollte loslaufen, egal in welche Richtung, Hauptsache weg von hier. Jedes Pferd des Zirkus vernahm die Schreie und fing an, furchterfüllt zu wiehern. Die Löwen und Bären fingen an zu brüllen, und die Leoparden stimmten ein. Das wiederum ließ einige der Zirkuspferde ebenfalls schrill kreischen und sich in ihrem Gespann aufbäumen. Der Aufruhr peitschte sich selbst immer höher. Als Mat darum kämpfte, Pips unter Kontrolle zu bekommen, sah er, dass jeder, der Zügel hielt, sich nach allen Kräften bemühte, wild mit den Augen rollende Gespanne davon abzuhalten, einfach loszustürmen oder sich selbst zu verletzen. Auch Tuons Stute tanzte, genau wie Selucias Falbe. Einen Augenblick lang hatte er Angst um Tuon, aber sie schien mit Akein genauso gut zurechtzukommen wie bei ihrem Galopp in den Wald. Selbst Selucia schien sicher im Sattel zu sitzen und ihr Pferd zu beherrschen. Mat bekam mit, wie der Hausierer den Hut herunterriss und zum Wanderzirkus herübersah. Endlich brachte er Pips wieder unter Kontrolle. Der Wallach schnaufte schwer, als wäre er zu lange zu hart geritten worden, aber er versuchte nicht länger davonzustürmen.

Es war zu spät. Vermutlich war es das schon von Anfang an gewesen. Mit dem Hut in der Hand sprang der dicke Hausierer vom Kutschbock, um nachzusehen, was eigentlich mit seinen Pferden war. Bei der Landung stolperte er unbeholfen und schaute nach unten. Der Hut fiel ihm aus der Hand, landete auf der harten Straße. Das war der Augenblick, in dem er zu schreien anfing. Das Kopfsteinpflaster war weg, und er stand bis zu den Knöcheln in die Straße versunken, genau wie seine kreischenden Pferde. Bis zu den Knöcheln versunken und tiefer in den steinharten Lehm hineinsinkend, als wäre es ein Sumpf, genau wie sein Gespann und der Wagen. Und das Dorf mit seinen Häusern und Menschen sackte langsam in den Boden. Die Leute hielten nicht in ihren Beschäftigungen inne. Frauen gingen mit ihren Körben am Arm weiter, ein paar Männer trugen einen großen Baumstamm auf den Schultern, Kinder liefen umher, der Bursche am Schleifstein schärfte sein Beil, und sie alle befanden sich mittlerweile knietief im Boden.

Tuon griff an der einen Seite nach Mats Mantel, Selucia an der anderen. Erst da wurde ihm bewusst, dass er Pips angetrieben hatte. Auf den Hausierer zu. Beim Licht!

»Was glaubt Ihr tun zu können?«, wollte Tuon wild wissen.

»Nichts«, erwiderte er. Sein Bogen war fertig, die Hornkerben angepasst, die Leinensehne geflochten und gewachst, aber er hatte noch nicht eine Pfeilspitze an den Eschenholzstab angelegt, und wegen des vielen Regens in der letzten Zeit war der Leim, der die Befiederung aus Gänsefedern hielt, noch immer klebrig. Das war alles, woran er jetzt denken konnte, an die Gnade eines Pfeils in das Herz des Hausierers, bevor er vom Boden verschluckt wurde. Würde der Mann sterben, oder wurde er dorthin befördert, wohin auch immer die toten Shiotaner gingen? Das war es, was ihn bei den Gebäuden stutzig gemacht hatte. So baute die Landbevölkerung in Shiota seit fast dreihundert Jahren.

Er konnte den Blick nicht losreißen. Der versinkende Hausierer schrie laut genug, um über das Kreischen seiner Pferde gehört werden zu können.

»Hilfe!«, schrie er und fuchtelte mit den Armen. Er schien Mat direkt anzusehen. »Helft mir!« Immer wieder.

Mat wartete darauf, dass er starb, er hoffte, dass er starb — sicherlich war das besser als das andere —, aber der Mann schrie weiter, während er bis zur Taille versank, dann bis zur Brust. Verzweifelt warf er den Kopf zurück wie ein Ertrinkender, schnappte ein letztes Mal nach Luft. Dann verschwand sein Kopf und nur die Arme blieben, die wild umherfuchtelten, bis auch sie verschwanden. Nur der auf der Straße liegende Hut verriet, dass da je ein Mann gewesen war.

Als die letzten Strohdächer und hohen Schornsteine verschwunden waren, stieß Mat die Luft aus. An der Stelle, an der sich das Dorf befunden hatte, war eine weitere Wiese mit Wildblumen, auf der rote und gelbe Schmetterlinge von Blüte zu Blüte flatterten. So friedlich. Er wünschte sich, er könnte glauben, dass der Hausierer tot war.

Abgesehen von den wenigen Wagen, die Luca auf die Wiese gefolgt waren, standen die anderen noch auf der Straße, und jeder war abgesprungen; Frauen trösteten weinende Kinder, Männer versuchten zitternde Pferde zu beruhigen, und jeder sprach furchtsam und vor allem laut, um sich über dem Lärm der Löwen, Bären und Leoparden verständlich machen zu können. Nun ja, jeder mit Ausnahme der drei Aes Sedai. Sie rauschten eilig die Straße entlang, Joline mit Blaeric und Fen im Schlepptau. Den Mienen der Aes Sedai wie auch der Behüter nach zu urteilen hätte man glauben können, dass im Erdboden versinkende Dörfer so gewöhnlich wie Hauskatzen waren. Die drei Frauen blieben neben dem breiten Hut des Hausierers stehen und starrten ihn an. Teslyn hob ihn auf und drehte ihn in den Händen um, dann ließ sie ihn fallen. Die Schwestern begaben sich auf die Wiese, wo das Dorf gestanden hatte, diskutierten, sahen sich dies und das an, als könnten sie etwas von den Wildblumen und dem Gras erfahren. Keine von ihnen hatte sich die Zeit genommen, einen Umhang umzuwerfen, aber dieses eine Mal konnte ihnen Mat das nicht zum Vorwurf machen. Möglicherweise benutzten sie die Macht, aber wenn dem so war, reichte die Menge nicht aus, um den Fuchskopf erkalten zu lassen. Er hätte es ihnen nicht vorgeworfen, wenn es denn so war. Nicht heute, nicht nach dem, was er hatte ansehen müssen.

Die Diskussionen fingen augenblicklich an. Niemand wollte das Stück Lehmstraße überqueren, das anscheinend gepflastert gewesen war. Jeder brüllte lauter als der andere, einschließlich der Pferdeknechte und Näherinnen, und sie alle sagten Luca, was zu tun war und zwar sofort. Einige wollten weit genug umkehren, um eine Landstraße zu finden und diese schmaleren Wege benutzen, um nach Lugard zu gelangen. Andere waren dafür, Lugard ganz zu vergessen und stattdessen auf diesen Landstraßen nach Illian zu fahren oder gar bis nach Ebou Dar zurückzukehren. Es gab immer noch Amadicia und Tarabon. Und Ghealdan, was das anging. Dort gab es viele Dörfer und Städte, und sie waren weit von diesem vom Schatten verfluchten Ort entfernt.

Mat saß auf Pips Sattel, spielte mit den Zügeln und hielt während des ganzen Herumgebrülls und Armwedeins den Mund. Der Wallach zitterte noch dann und wann, aber er versuchte nicht länger durchzugehen. Thom bahnte sich einen Weg durch die Menge und legte Pips die Hand auf den Hals. Juilin und Amathera kamen direkt hinter ihm, sie klammerte sich an den Diebefänger und musterte das Artistenvolk furchtsam, dann kamen auch Noal und Olver. Der Junge sah aus, als hätte er sich gern auf der Suche nach Trost an jemandem festgeklammert, egal wen, aber er war alt genug, dass er sich so etwas nicht anmerken lassen wollte, falls es tatsächlich so war. Auch Noal schien beunruhigt, er schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unhörbares. Er schaute immer wieder zu den Aes Sedai hinüber. Zweifellos würde er am Abend behaupten, etwas Ähnliches schon zuvor erlebt zu haben, nur in viel größerem Ausmaß.

»Ich glaube, wir sollten von jetzt an allein Weiterreisen«, sagte Thom leise. Juilin nickte grimmig.

»Wenn es notwendig wird«, erwiderte Mat. Kleine Gruppen würden jenen auffallen, die auf der Jagd nach Tuon waren, nach der entführten Erbin des seanchanischen Kaiserreichs, sonst hätte er den Zirkus schon vor langer Zeit verlassen. Ohne den Wanderzirkus als Deckung in Sicherheit zu gelangen würde viel gefährlicher sein, aber man konnte es schaffen. Aber er würde es nicht schaffen, die Meinung dieser Leute zu ändern. Ein Blick in jedes dieser verängstigten Gesichter verriet ihm, dass er dazu nicht genug Gold hatte. Vermutlich gab es dazu nicht genug Gold auf der ganzen Welt.

Luca hörte schweigend zu, in einen hellroten Umhang gehüllt, bis die Energie der meisten Artisten verbraucht war. Als ihr Geschrei abebbte, warf er den Umhang zurück und begab sich mitten unter sie. Jetzt gab es keine großen Gesten. Hier schlug er einem Mann auf die Schulter, dort sah er einer Frau ernst in die Augen. Die Landstraßen? Sie würden sich durch den Frühlingsregen in Schlamm verwandelt haben, mehr Bach als Straße sein. Es würde doppelt so lange dauern, Lugard auf diese Weise zu erreichen, dreimal so lang, vielleicht sogar länger. Mat blieb beinahe die Luft weg, als er Luca Schnelligkeit zu einem Argument machen hörte. Aber er hatte sich kaum warm geredet. Er sprach von der Mühe, stecken gebliebene Wagen flottzumachen, führte seinen Zuhörern plastisch vor Augen, wie sie sich anstrengen mussten, um den Gespannen durch Morast zu helfen, der beinahe bis zu den Radnaben reichte. Nicht einmal eine Landstraße würde so schlimm sein, aber er ließ es sie sehen. Oder zumindest ließ er es Mat sehen. Zwischen diesen abseits gelegenen Straßen würde es nur wenige Städte geben, die Dörfer größtenteils winzig. Wenige Orte, um auftreten zu können, und es würde schwer fallen, so viele Menschen mit Nahrung zu versorgen. Das sagte er, während er ein kleines Mädchen nicht älter als sechs Jahre traurig anlächelte, das aus dem Schutz der Röcke seiner Mutter zu ihm hochschaute, und man wusste einfach, wie er es sich hungrig und nach Essen bettelnd vorstellte. Mehr als nur eine Frau zog ihre Kinder enger an sich.

Was nun Amadicia und Tarabon, und ja, auch Ghealdan anging, dort würden sie gute Orte finden, um dort auftreten zu können. Valan Lucas Großer Wanderzirkus und Prächtige Zuschaustellung von Mysterien und Wundern würde diese Länder besuchen und riesige Mengen anziehen. Eines Tages. Aber um jetzt dorthin zu kommen, müssten sie zuerst nach Ebou Dar zurückkehren, auf demselben Weg, den sie in den letzten Wochen genommen hatten, vorbei an denselben Städten, wo es unwahrscheinlich war, dass die Leute Geld dafür ausgeben würden, sich etwas anzusehen, das sie erst vor kurzem gesehen hatten. Ein langer Weg, und jeden Tag würden die Geldbeutel von allen leerer und ihr Bauch hungriger. Oder sie konnten nach Lugard eilen.

An dieser Stelle trat neue Energie in seine Stimme. Er gestikulierte, aber nicht überschwänglich. Er ging noch immer zwischen ihnen umher, aber sein Schritt war lebhafter. Lugard war eine prächtige Stadt. Verglichen mit Lugard war Ebou Dar ein Dorf. Lugard war wahrhaft eine der großen Städte, so bevölkert, dass sie dort den ganzen Frühling bleiben konnten und stets neue Zuschauer haben würden. Mat war noch nie in Lugard gewesen, aber er hatte gehört, dass es eine halbe Ruine war, mit einem König, der es sich nicht leisten konnte, die Straßen sauber zu halten, aber Luca ließ es wie Caemlyn klingen. Bestimmt kannten einige der Leute die Stadt, aber sie hörten gebannt zu, als er Paläste beschrieb, die den Tarasin-Palast in Ebou Dar wie eine Hütte aussehen ließen, als er von in Seide gekleideten Adligen sprach, die scharenweise kommen würden, um ihre Auftritte zu sehen oder sie sogar für Privatvorstellungen mieten würden. Bestimmt würde König Roedran das wollen. War einer von ihnen jemals vor einem König aufgetreten? Sie würden es tun. Sie würden es tun. Von Lugard würde es nach Caemlyn weitergehen, eine Stadt, die Lugard wie die Imitation einer Stadt aussehen lassen würde. Caemlyn, eine der größten und reichsten Städte der Welt, wo sie den ganzen Sommer vor nicht enden wollenden Menschenmassen auftreten würden.

»Ich würde diese Städte gern sehen«, sagte Tuon und lenkte Akein näher an Pips. »Werdet Ihr sie mir zeigen, Spielzeug?« Selucia hielt den Falben an Tuons Hüfte. Die Frau sah durchaus beherrscht aus, aber zweifellos war sie von dem erschüttert, was sie gesehen hatte.

»Vielleicht Lugard. Dort kann ich eine Möglichkeit finden, Euch nach Ebou Dar zurückzuschicken.« Mit einem gut bewachten Kaufmannszug und so vielen verlässlichen Leibwächtern, wie er anheuern konnte. Vielleicht war Tuon ja so fähig und gefährlich, wie Egeanin gesagt hatte, aber zwei Frauen, die allein unterwegs waren, würden von zu vielen als leichte Opfer betrachtet werden, und nicht nur von Straßenräubern. »Vielleicht Caemlyn.« Er würde möglicherweise mehr Zeit dafür brauchen als von hier nach Lugard.

»Wir werden sehen, was wir sehen werden«, erwiderte Tuon rätselhaft, dann tauschte sie mit Selucia Fingerzeichen aus.

Hinter meinem Rück en über mich sprechen, aber direkt vor meiner Nase. Er hasste es, wenn sie das taten. »Luca ist so gut wie ein Gaukler, Thom, aber ich glaube nicht, dass er sie umstimmen wird.«

Thom schnaubte verächtlich und strich sich den langen weißen Schnurrbart. »Er ist nicht schlecht, das muss ich ihm lassen, aber er ist kein Gaukler. Aber ich würde sagen, er hat sie in der Tasche. Eine Wette, mein Junge? Sagen wir eine Goldkrone?«

Mat überraschte sich selbst, indem er lachte. Er war fest überzeugt gewesen, nicht wieder lachen zu können, bevor er das Bild des in die Straße versinkenden Hausierers aus dem Kopf bekam. Und die Pferde. Er konnte sie beinahe noch immer schreien hören, laut genug, dass sie fast die Würfel übertönten. »Du willst mit mir wetten? Also gut. Einverstanden.«

»Ich würde nicht mit dir würfeln«, sagte Thom trocken, »aber ich erkenne einen Mann, der eine Menge umstimmen kann, wenn ich ihn sehe. Ich habe das schon selbst gemacht.«

Luca kam mit Caemlyn zu einem Ende und sammelte sich mit einem Funken seiner üblichen Prahlerei. Der Mann stolzierte. »Und von dort«, verkündete er, »nach Tar Valon. Ich werde Schiffe mieten, die uns alle transportieren.« Mat konnte nicht glauben, was er da hörte. Luca würde Schiff e mieten ? Luca, der geizig genug war, um Mäuse für den Talg durch die Mühle zu drehen? »Es werden solche Menschenmengen nach Tar Valon kommen, dass wir den Rest unseres Lebens in der Pracht dieser riesigen Stadt verbringen könnten, wo von Ogier gebaute Läden wie Paläste erscheinen und die Paläste jenseits aller Beschreibungen sind. Herrscher, die Tar Valon zum ersten Mal sehen, schluchzen, dass ihre Städte Dörfer sind und ihre eigenen Paläste nicht mehr als Bauernhütten. Die Weiße Burg selbst erhebt sich in Tar Valon, vergesst das nicht, das höchste Gebäude der Welt. Die Amyrlin wird uns bitten, vor ihr aufzutreten. Wir haben drei Aes Sedai in Not Unterschlupf gewährt. Wer glaubt, dass sie etwas anderes tun werden, als zu unseren Gunsten mit der Amyrlin zu sprechen?«

Mat schaute über die Schulter und sah, dass die drei Schwestern nicht länger auf der Wiese herumwanderten, wo das Dorf gestanden hatte. Stattdessen standen sie Seite an Seite auf der Straße und beobachteten ihn, perfekte Abbilder der Aes Sedai-Gelassenheit. Nein, sie beobachteten gar nicht ihn. Sie musterten Tuon. Die drei hatten sich einverstanden erklärt, sie nicht mehr zu belästigen, und als Aes Sedai waren sie dadurch gebunden, aber wie weit galt das Wort einer Aes Sedai jemals? Sie fanden ständig Wege, um den Eid, der ihnen das Lügen verbot, zu umgehen. Also würde Tuon Caemlyn nicht zu sehen bekommen, und vermutlich auch nicht Lugard. Vermutlich würde es in beiden Städten Aes Sedai geben. Gäbe es etwas Einfacheres für Joline und die anderen, als diese Aes Sedai darüber zu informieren, dass Tuon eine seanchanische Hochlady war? Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Tuon auf dem Weg nach Tar Valon sein, bevor er blinzeln konnte. Natürlich als »Gast«, um dabei zu helfen, die Kämpfe zu beenden. Zweifellos würden viele behaupten, dass es für das Allgemeinwohl sein würde, dass er sie selbst hätte übergeben und ihnen sagen sollen, wer sie wirklich war, aber er hatte sein Wort gegeben. Er fing an zu überlegen, wie weit er sich an Lugard heranwagen konnte, bevor er für sie einen Rückweg nach Ebou Dar finden musste.

Luca hatte es schwer, Tar Valon noch großartiger als Caemlyn zu schildern, und falls sie jemals nach Tar Valon kommen sollten, könnte es einige enttäuschen, die Stadt mit seinen verrückten Beschreibungen zu vergleichen — die Weiße Burg tausend Schritte hoch? Von Ogiern gebaute Paläste von der Größe kleiner Berge? Er behauptete allen Ernstes, dass es in der Stadt ein Stedding der Ogier gab! —, aber schließlich bat er um Handzeichen, wer weiterfahren wollte. Jede Hand schoss in die Höhe, selbst die der Kinder, und eine Gegenprobe war überflüssig.

Mat zog einen Geldbeutel aus der Manteltasche und überreichte eine Ebou Dari-Krone. »Ich habe es noch nie mehr enossen zu verlieren, Thom.« Nun ja, er verlor nie gern, aber in diesem Augenblick war es besser, als zu gewinnen. Thom nahm sie mit einer Verbeugung entgegen. »Ich laube, die verwahre ich als Andenken«, sagte er und ließ die fette Goldmünze über den Fingerrücken tanzen. »Um mich daran zu erinnern, dass selbst der Mann mit dem größten Glück auf der Welt verlieren kann.«

Trotz aller emporgereckter Hände gab es ein gewisses Zögern, den Straßenabschnitt vor ihnen zu überqueren. Nachdem Luca seinen Wagen wieder auf die Straße gelenkt hatte, saß er da und starrte geradeaus, während Latelle seinen Arm so fest umklammert hielt, wie sich Amathera an Juilin festgeklammert hatte. Schließlich murmelte er etwas, das möglicherweise ein Fluch gewesen war, und trieb sein Gespann mit den Zügeln an. Als sie die fatale Stelle erreichten, galoppierten die Pferde, und Luca behielt das Tempo bei, bis sie weit hinter dem Teil mit den Pflastersteinen waren. Es war das Gleiche bei jedem anderen Wagen. Eine Pause, das Warten, bis der vorherige Wagen es geschafft hatte, dann knallende Zügel und ein harter Galopp. Mat holte selbst tief Luft, bevor er Pips antrieb. Im Schritttempo, nicht im Galopp, aber es fiel schwer, ihm nicht die Fersen in die Flanken zu rammen, vor allem, als er an dem Hut des Hausierers vorbeikam. Tuons dunkles Gesicht und Selucias blasses zeigten nicht mehr Gefühle als das einer Aes Sedai.

»Eines Tages werde ich Tar Valon sehen«, sagte Tuon ruhig auf halbem Weg. »Ich werde es vermutlich zu meiner Hauptstadt machen. Ich werde mir von Euch die Stadt zeigen lassen, Spielzeug. Ihr seid dort gewesen?«

Beim Licht! Sie war eine zähe kleine Frau. Wunderschön, aber eisenhart.

Nachdem Luca nach seinem Galopp wieder langsamer geworden war, legte er ein schnelles Schritttempo vor statt dem gewöhnlichen Trotten des Zirkus. Die Sonne sank tiefer, und sie passierten mehrere Wiesen am Straßenrand, die groß genug waren, um den Wagen Platz zu bieten, aber Luca trieb sie an, bis sich ihre Schatten ihnen weit voraus erstreckten und die Sonne eine dicke rote Kugel am Horizont war. Und selbst dann saß er da, hielt die Zügel fest und schaute auf eine grasige Fläche neben der Straße.

»Es ist nur ein Feld«, sagte er schließlich, viel zu laut, und lenkte sein Gespann darauf zu.

Mat begleitete Tuon und Selucia zu dem purpurnen Wagen, sobald die Pferde Metwyn übergeben worden waren, aber an diesem Abend gab es weder eine Mahlzeit noch eine Partie Steine.

»Das ist ein Abend für das Gebet«, sagte sie zu ihm, bevor sie mit ihrer Dienerin hineinging. »Wisst Ihr gar nichts, Spielzeug? Dass die Toten wandeln, ist ein Zeichen, dass Tarmon Gai'don nahe ist.« Das hielt er für keinen ihrer Aberglauben; schließlich hatte er etwas Ähnliches gedacht. Er hielt nicht viel vom Beten, und doch betete er gelegentlich. Manchmal konnte man nichts anderes tun.

Niemand wollte schlafen, also brannten die Lampen noch spät im ganzen Lager. Und niemand wollte allein sein. Mat aß allein in seinem Zelt, mit wenig Appetit und dem Klappern der Würfel lauter als je zuvor in seinem Kopf, aber kurz nachdem er fertig war, kam Thom zu einer Partie Steine, und kurz darauf Noal. Lopin und Nerim schauten alle paar Minuten vorbei, verbeugten sich und fragten, ob Mat und die anderen etwas wollten, aber nachdem sie Wein und Becher gebracht hatten — Lopin trug einen großen Tonkrug und brach das Wachssiegel; Nerim trug die Becher auf einem Holztablett —, befahl ihnen Mat, nach Harnan und den anderen Soldaten zu sehen.

»Ich bezweifle nicht, dass sie sich betrinken, was ich für eine gute Idee halte«, sagte er. »Das ist ein Befehl. Sagt ihnen, ich hätte befohlen, ihn zu teilen.«

Lopin verneigte sich ernst. »Ich habe dem Kolonnenführer gelegentlich geholfen, indem ich ein paar Dinge für ihn besorgt habe, mein Lord. Ich erwarte, dass er mit dem Branntwein großzügig sein wird. Komm mit, Nerim. Lord Mat will, dass wir uns betrinken, und du wirst dich mit mir betrinken, und wenn ich mich auf dich draufsetzen und dir den Branntwein in den Hals schütten muss.« Das schmale Gesicht des abstinösen Cairhieners wurde vor Missbilligung ganz spitz, aber er verbeugte sich und folgte dem Tairener geschwind nach draußen. Mat glaubte nicht, dass sich Lopin auf den Mann würde draufsetzen müssen, nicht an diesem Abend.

Juilin kam mit Amathera und Olver, also wurden auf dem Boden Spielbretter für Schlangen und Füchse ausgelegt zusätzlich zu der Partie Steine auf dem kleinen Tisch. Amathera erwies sich als brauchbare Steine-Spielerin, aber das war wenig überraschend, war sie doch einst eine Herrscherin gewesen, aber ihr Schmollmund wurde zusehends schmallippiger, als sie und Olver bei Schlangen und Füchsen verlor, dabei gab es bei diesem Spiel nie einen Gewinner. Andererseits vermutete Mat, dass sie keine gute Herrscherin gewesen war. Wer immer nicht spielte, saß auf der Pritsche. Mat sah von hier aus den Spielern zu, wenn er an der Reihe war, so wie Juilin, wenn Amathera spielte. Er ließ sie nur selten aus den Augen, außer er war an der Reihe. Noal erzählte unentwegt seine Geschichten — aber er spann sein Garn beim Spielen, und das Reden schien keinen Einfluss auf seine Fertigkeiten als Spieler zu haben —, während Thom dasaß und den Brief las, den Mat ihm vor scheinbar so langer Zeit gebracht hatte. Das Blatt wies tiefe Falten auf, weil Thom es in seiner Manteltasche trug, und es hatte viele Flecken vom häufigen Lesen. Er sagte, der Brief würde von einer Toten stammen.

Es war eine Überraschung, als Domon und Egeanin eintraten. Sie waren Mat seit seinem Auszug aus dem grünen Wagen nicht gerade aus dem Weg gegangen, aber sie hatten sich auch keine Mühe gegeben, ihm zu begegnen. Wie alle anderen auch trugen sie bessere Kleidung als zu Anfang ihrer Verkleidungen. Egeanins Reitrock und der Mantel mit dem hohen Kragen, beides aus blauer Wolle und am Saum und den Ärmeln mit einem Gelb bestickt, das fast schon Gold war, hatten fast schon etwas von einer Uniform an sich, während Domon in einem gut geschnittenen braunen Mantel und direkt unterhalb der Knie in die umgeschlagenen Stiefelschäfte gestopften Pluderhosen jeden Zoll wie ein erfolgreicher, wenn auch nicht unbedingt wohlhabender illianischer Kaufmann aussah.

In dem Moment, in dem Egeanin eintrat, krümmte sich Amathera, die gerade mit Olver auf der Bodenplane saß, augenblicklich auf den Knien zu einer Kugel zusammen. Juilin seufzte und stand von dem Hocker auf der Mat gegenüberliegenden Tischseite auf, aber Egeanin erreichte die Frau zuerst.

»Dazu besteht keine Notwendigkeit, weder für mich noch für andere«, sagte sie, bückte sich, nahm Amathera bei den Schultern und zog sie auf die Füße. Amathera erhob sich nur zögernd und hielt den Blick zu Boden gerichtet, bis Egeanin ihr die Hand unter das Kinn legte und ihren Kopf sanft nach oben drückte. »Ihr seht mir in die Augen. Ihr seht allen in die Augen.« Die Tarabonerin befeuchtete nervös die Lippen, aber sie blickte Egeanin direkt ins Gesicht, als die Hand von ihrem Kinn entfernt wurde. Doch ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Das ist eine Veränderung«, sagte Juilin misstrauisch. Und mit einer Spur Verärgerung. Er stand so steif da wie eine dunkle Holzstatue. Er verabscheute alle Seanchaner für das, was sie Amathera angetan hatten. »Ihr habt mich einen Dieb genannt, weil ich sie befreit habe.« Darin war mehr als nur eine Spur Ärger. Er hasste Diebe. Und Schmuggler wie Domon.

»Alle Dinge verändern sich im Laufe der Zeit«, sagte Domon jovial und lächelte, um weitere erhitzte Worte abzuwehren. »Nun, Ihr seht wie ein ehrlicher Mann aus, Meister Diebefänger. Bevor Leilwin eingewilligt hat, meine Frau zu werden, hat sie mir das Versprechen abgerungen, mit dem Schmuggeln aufzuhören. Glück stich mich, wer hat je von einer Frau gehört, die sich weigert, einen Mann zu heiraten, es sei denn, er würde ein lukratives Handwerk aufgeben?« Er lachte, als wäre das der beste Witz der Welt.

Egeanin schlug ihm hart genug mit der Faust in die Rippen, um sein Lachen in ein Grunzen zu verwandeln. Dank seiner Heirat mussten seine Rippen ein einziger blauer Fleck sein. »Ich erwarte, dass du dein Versprechen hältst, Bayle. Ich ändere mich, und du musst das auch tun.« Nach einem schnellen Blick auf Amathera — vielleicht um sich zu vergewissern, dass sie noch immer gehorchte; Egeanin legte viel Wert darauf, dass andere das taten, was sie ihnen befahl — hielt sie Juilin die Hand hin. »Ich ändere mich, Meister Sandar. Wollt Ihr das auch tun?«

Juilin zögerte, dann nahm er ihre Hand. »Ich werde es versuchen.« Er klang nicht gerade überzeugt.

»Ein ehrlicher Versuch, um mehr bitte ich nicht.« Sie blickte sich stirnrunzelnd in dem Zelt um, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich habe Orlopdecks gesehen, die nicht so bevölkert waren. Wir haben einen anständigen Wein in unserem Wagen, Meister Sandar. Wollt Ihr und Eure Dame Euch auf einen Becher oder zwei zu uns gesellen?«

Wieder zögerte Juilin. »Er hat das Spiel fast gewonnen«, sagte er schließlich. »Sinnlos, es herauszuzögern.« Er stülpte sich den konischen roten Hut auf den Kopf, richtete unnötigerweise seinen dunklen, weit geschnittenen tairenischen Mantel und bot Amathera den Arm. Sie ergriff ihn fest, und obwohl ihr Blick noch immer auf Egeanins Gesicht gerichtet war, zitterte sie sichtlich. »Ich nehme an, dass Olver hier bleiben und sein Spiel zu Ende spielen will, aber meine Dame und ich werden gern mit Euch und Eurem Gemahl Wein trinken, Frau Schiffslos.« In seinem Blick lag der Hauch einer Herausforderung. Für ihn war es klar, dass Egeanin mehr tun musste, um zu beweisen, dass sie Amathera nicht länger als gestohlenen Besitz betrachtete.

Egeanin nickte, als würde sie das genau verstehen. »Das Licht leuchte auf Euch diese Nacht, und für alle Tage und Nächte, die uns noch bleiben«, sagte sie zu den anderen als eine Art Abschiedsgruß. Wie aufmunternd von ihr.

Die vier waren gerade gegangen, da krachte ein Donnerschlag am Himmel. Er wiederholte sich, und Regen prasselte auf das Zeltdach und wurde schnell zu einem Wolkenbruch, der auf die grün gestreifte Zeltplane trommelte. Wenn Juilin und die anderen nicht gerannt waren, würden sie ihren Wein durchnässt trinken.

Noal nahm den Platz gegenüber von Olver ein und führte Amatheras Spiel fort, warf die Würfel für die Schlangen und Füchse. Die schwarzen Scheiben, die jetzt für ihn und Olver standen, befanden sich nun am Rand des mit einem Netz bemalten Tuchs, aber es war offensichtlich, dass sie es nicht schaffen würden. Zumindest für jeden außer Olver. Er stöhnte laut, als eine helle Scheibe auf eine Schlangenlinie kam, seinen Spielstein berührte, und er stöhnte erneut, als eine mit einem Dreieck markierte Scheibe Noals berührte.

Noal machte da mit der Geschichte weiter, wo er bei Egeanins und Domons Eintreten aufgehört hatte, einer angeblichen Reise auf einem Schiff des Meervolks. »Die Frauen der Atha'an Miere sind die anmutigsten auf der ganzen Welt«, sagte er und schob die schwarzen Scheiben zurück in den Kreis in der Spielfeldmitte, »noch mehr als die Domani, und du weißt, das will schon etwas heißen. Und wenn sie außer Sicht vom Land sind, dann…« Er unterbrach sich abrupt und räusperte sich, betrachtete Olver, der die Schlangen und Füchse an den Ecken der Spielfläche aufstapelte.

»Was machen sie dann?«, fragte Olver.

»Nun…« Noal rieb sich mit einem krummen Finger die Nase. »Nun, sie klettern so flink in der Takelage herum, dass man glauben könnte, sie hätten Hände, wo ihre Füße sein sollten. Das tun sie.« Olver staunte, und Noal stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus.

Mat fing an, die schwarzen und weißen Steine von dem Spielbrett auf dem Tisch zu entfernen und verstaute sie in zwei Holzkästchen. Die Würfel in seinem Kopf klapperten laut herum und übertönten selbst den Donner draußen.

»Noch eine Partie, Thom?«

Der weißhaarige Mann sah von seinem Brief auf. »Ich glaube nicht, Mat. Meine Gedanken stecken heute in einem Labyrinth.«

»Wenn dich die Frage nicht stört, Thom, warum liest du den Brief auf diese Weise? Ich meine, manchmal sieht dein Gesicht aus, als wolltest du herausfinden, was er bedeutet.« Olver jubelte bei einem guten Wurf auf.

»Das liegt daran, dass ich das tue. In gewisser Weise. Hier.«

Er streckte den Brief aus, aber Mat schüttelte den Kopf.

»Das geht mich nichts an, Thom. Es ist dein Brief, und ich bin nicht gut bei Rätselspielen.«

»Oh, aber es geht dich sehr wohl etwas an. Moiraine schrieb ihn kurz bevor… Nun, sie hat ihn geschrieben.«

Mat starrte ihn lange an, bevor er das zerknitterte Blatt nahm, und als sein Blick auf die verschmierte Tinte fiel, blinzelte er. Kleine präzise Schrift bedeckte das Blatt, aber es begann mit »Mein lieber Thom«. Wer hätte je gedacht, dass ausgerechnet Moiraine von allen Leuten den alten Thom Merrilin so ansprechen würde? »Thom, das ist persönlich. Ich glaube nicht, dass ich…«

»Lies ihn«, unterbrach Thom ihn. »Du wirst schon sehen.«

Mat holte tief Luft. Ein Brief von einer toten Aes Sedai, der ein Rätsel war und ihn betraf? Plötzlich wollte er alles andere, als diesen Brief zu lesen. Aber er fing trotzdem an. Es reichte fast, dass ihm die Haare zu Berge standen.

Mein lieber Thom , es gibt viele Worte, die ich dir gern schreiben würde, Worte aus meinem Herzen, aber ich habe das hier vor mir herg eschoben, weil ich wusste, dass ich es tun muss, und jetzt bleibt nur noch wenig Zeit. Es gibt viele Dinge, die ich dir nicht sagen kann, ohne Unheil zu verursachen, aber ich werde dir sagen, was ich kann. Höre sorg fältig auf das, was ich dir sagen werde. In Kürze werde ich zu den Docks hinuntergehen, und dort werde ich Lanfear konfront ieren.

Wie kann ich das wissen? Dieses Geheimnis gehört anderen. Es muss reichen, dass ich es weiß, nimm dieses Vorherwissen als Beweis für den Rest dessen, was ich dir mitteile.

Wenn du diesen Brief bekommst, wird man dir sagen, dass ich tot bin. Alle werden das glauben. Ich bin nicht tot, und es kann sein, dass ich die mir vorher best im mt en fahre leben werde. Es kann auch sein, dass du und Mat Cauthon und noch jemand, ein Mann, den ich nicht kenne, versuchen werdet , mi ch zu retten. Es versuchen werdet, sage ich, denn es kann sein , dass du es nicht machen wirst oder kannst, oder we i l Mat sich weigern wird. Er teilt nicht die Zuneigung, die du zu hegen scheinst, under hat seine Gründe, die er zweifellos für gut hält. Wenn du es versuchst, müssen es nur du, Mat und der andere sein. Mehr werden für alle den Tod bedeuten. Weniger werden für alle den Tod bedeuten. Selbst wenn du nur mit Mat und einem anderen kommst, kann der Tod kommen. Ich habe gesehen, wie du es versuchst und stirbst, einer, zwei oder alle drei. Ich habe mich selbst bei dem Versuch sterben sehen. Ich habe uns alle überleben und als Gefangene sterben sehen.

Solltest du dich dennoch entscheiden, den Versuch zu wagen, der junge Mat weiß, wie er mich finden kann, aber du darfst ihm den Brief nicht zeigen, bevor er danach fragt .

Das ist von entscheidender Bedeutung. Er darf nicht wissen, was in diesem Brief steht, bevor er danach fragt. Die Geschehnisse müssen auf bestim mte We ise ihren Verlauf neh me n , ega l , was es auch kostet .

Solltest du Lan wiedersehen, richte ihm aus, dass es besser so ist. Sein Schicksal folgt einem ande re n Weg als das meine. Ich wünsche ihm alles Gl ück mit Nynaeve.

Noch etwas. Erinnere dich daran, was du über das Spiel Schlangen und Füchse weißt. Erinnere dich und hör darauf.

Es ist Zeit, und ich muss tun, was getan werden muss .

Möge dich das Licht erleuchten und dir Freude schenken , mein liebster Thom , ob wir uns nun wiedersehen oder nicht.

Moiraine

Es donnerte, als er zum Ende kam. Das passte. Kopfschüttelnd gab er den Brief zurück. »Thom«, sagte er leise. »Lans Bund mit ihr wurde gebrochen. Das kann nur durch den Tod passieren. Er hat gesagt , dass sie tot ist.«

»Und in ihrem Brief steht, dass jeder das glauben würde.

Sie hat es gewusst, Mat. Sie hat alles vorher gewusst.«

»Das mag schon sein, aber Moiraine und Lanfear betraten dieses Türrahmen-Ter'angrea/, und es ist geschmolzen. Das Ding war aus Rotstein, oder schien zumindest aus Stein zu sein, Thom, und doch ist es wie Wachs geschmolzen. Ich habe es gesehen . Sie ist dort, wo immer die Eelfinn sind, und selbst wenn sie noch am Leben ist, gibt es für uns keinen Weg mehr, dorthin zu gelangen.«

»Der Turm von Ghenjei«, sagte Olver, und die drei Erwachsenen wandten die Köpfe und starrten ihn an. »Birgitte hat es mir erzählt«, wehrte er ab. »Der Turm von Ghenjei ist der Weg zu den Ländern der Aelfinn und den Eelfinn.« Er machte das Zeichen, mit dem eine Partie Schlangen und Füchse begann, ein in die Luft gezeichnetes Dreieck, durch das man eine Wellenlinie zog. »Sie kennt sogar noch mehr Geschichten als du, Meister Charin.«

»Das ist doch nicht etwa Birgitte Silberbogen, oder?«, sagte Noal trocken.

Der Junge sah ihn geradeheraus an. »Ich bin kein Kleinkind, Meister Charin. Aber sie ist sehr gut mit dem Bogen, also ist sie es vielleicht. Die wiedergeborene Birgitte, meine ich.«

»Ich glaube nicht, dass das möglich ist«, sagte Mat. »Ich habe auch mit ihr gesprochen, weißt du, und das Letzte, was sie will, ist irgendeine Art von Heldin zu sein.« Er hielt seine Versprechen, und Birgittes Geheimnisse waren bei ihm sicher. »Aber wie dem auch sei, das Wissen über diesen Turm hilft nicht viel, es sei denn, sie hat dir erzählt, wo er steht.« Olver schüttelte traurig den Kopf, und Mat beugte sich herab, um ihm das Haar zu zerzausen. »Nicht deine Schuld, Junge. Ohne dich wüssten wir nicht einmal, dass er existiert.« Das schien nicht viel zu helfen. Olver starrte das rote Tuch mit dem Spielfeld niedergeschlagen an.

»Der Turm von Ghenjei«, sagte Noal, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen hin und zog den Mantel zurecht.

»Diese Geschichte kennen heute nicht mehr viele. Jain hat immer gesagt, dass er eines Tages danach suchen würde. Irgendwo an der Schattenküste, sagte er.«

»Das ist immer noch ein großes Gebiet.« Mat schob den Deckel auf eines der Kästchen. »Es zu durchsuchen könnte Jahre dauern.« Jahre, die sie nicht hatten, wenn Tuon Recht behielt, und er war davon überzeugt, dass es so war.

Thom schüttelte den Kopf. »Sie sagt, du weißt es, Mat.

›Mat weiß, wie er mich finden kann.‹ Ich bezweifle doch sehr, dass sie es einfach so geschrieben hätte.«

»Nun, ich kann nichts daran ändern, was sie schreibt, oder? Ich habe bis heute Abend noch nie etwas von einem Turm von Ghenjei gehört.«

»Schade.« Noal seufzte. »Ich hätte ihn gern gesehen, etwas, das der verfluchte Jain Fernstreicher nie geschafft hat. Ihr könnt genauso gut aufgeben«, fügte er hinzu, als Thom den Mund öffnete. »Er hätte ihn nicht vergessen, wenn er ihn gesehen hätte, und selbst wenn er den Namen nie gehört hat, hätte er daran denken müssen, als er von einem seltsamen Turm hörte, der Menschen in andere Länder lässt. Das Ding funkelt wie polierter Stahl, wie man mir erzählt hat, ist zweihundert Fuß hoch und vierzig dick, und es gibt keinen Eingang. Wer könnte vergessen, so etwas gesehen zu haben?«

Mat wurde ganz still. Sein schwarzes Tuch schien auf die Strangnarbe zu drücken, und die Narbe selbst fühlte sich plötzlich heiß und frisch an. Das Atmen fiel ihm schwer.

»Wenn es keine Öffnung gibt, wie kommen wir dann rein?«, wollte Thom wissen.

Noal zuckte mit den Schultern, aber Olver meldete sich wieder zu Wort. »Birgitte sagt, man macht irgendwo an der Seite mit einem Bronzemesser das Zeichen.« Er vollführte das Zeichen, mit dem das Spiel begann, in der Luft. »Sie sagt, es muss ein Bronzemesser sein. Macht das Zeichen, und eine Tür öffnet sich.«

»Was hat sie dir sonst noch erzählt…«, begann Thom, unterbrach sich aber dann stirnrunzelnd. »Mat, was ist mit dir? Du siehst aus, als würde dir etwas im Hals stecken.«

Es war sein Erinnerungsvermögen, das ihm zu schaffen machte, und dieses eine Mal waren es nicht die Erinnerungen eines anderen Mannes. Die hatte man in ihn hineingestopft, um die Löcher in seiner eigenen Erinnerung zu füllen, was sie taten und sogar mehr; zumindest hatte es den Anschein. Er erinnerte sich deutlich an mehr Tage, als er gelebt hatte. Aber ganze Phasen seines Lebens waren ihm verloren gegangen, und andere waren wie mottenzerfressene Decken oder schattenhaft und dunkel. Er hatte nur ungenaue Erinnerungen an die Flucht aus Shadar Logoth, genau wie an die Fahrt auf Domons Flussschiff, aber eine Sache, die er auf dieser Reise gesehen hatte, stach hervor. Ein Turm, der wie polierter Stahl schimmerte? Etwas im Hals stecken? Sein ganzer Magen wollte sich entleeren.

»Ich glaube, ich weiß, wo dieser Turm ist, Thom. Das heißt, Domon weiß es. Aber ich kann dich nicht begleiten. Die Eelfinn werden wissen, dass ich komme, vielleicht auch die Aelfinn. Soll man mich doch zu Asche verbrennen, möglicherweise wissen sie schon über diesen Brief Bescheid, weil ich ihn gelesen habe. Sie könnten jedes Wort wissen, das wir gesagt haben. Man kann ihnen nicht vertrauen. Sie werden jeden Vorteil nutzen, wenn sie können, und wenn sie wissen, dass du kommst, werden sie sich vorbereiten. Sie werden dir die Haut abziehen und daraus einen Gurt machen.« Die Erinnerungen an sie waren seine eigenen, aber sie reichten mehr als genug aus, um diese Einschätzung zu unterstützen.

Sie starrten ihn an, als hätte er den Verstand verloren, selbst Olver. Er musste ihnen von seinen Begegnungen mit den Aelfinn und den Eelfinn erzählen. Zumindest so viel wie nötig. Nichts über die Antworten, die er von den Eelfinn erhalten hatte, das bestimmt nicht, oder etwas über die beiden Geschenke der Aelfinn. Aber er musste über die Erinnerungen der anderen Männer sprechen, um erklären zu können, wieso er zu dem Schluss gekommen war, dass Aelfinn und Eelfinn jetzt mit ihm in Verbindung standen. Und die hellen Ledergurte, die die Eelfinn trugen; sie erschienen wichtig. Und wie sie versucht hatten, ihn zu töten. Das war sehr wichtig. Er hatte ihnen gesagt, er wolle gehen, hatte aber vergessen zu erwähnen, dass er lebend gehen wollte, also brachten sie ihn hinaus und hängten ihn auf. Er nahm sogar das Halstuch ab, um ihnen die Narbe zu zeigen, und die ließ er nur selten jemanden sehen. Die drei hörten schweigend zu, Thom und Noal konzentriert, während Olver vor Staunen den Mund nicht mehr zubekam. Abgesehen von seiner Stimme war nur das Prasseln des Regens auf dem Zeltdach zu hören.

»Das alles darf dieses Zelt nicht verlassen«, sagte er abschließend. »Aes Sedai haben bereits genug Gründe, um mich in die Finger zu kriegen. Wenn sie das mit den Erinnerungen herausfinden, werde ich sie nie loswerden.« Würde er jemals völlig von ihnen frei sein? Er fing an zu glauben, dass das nie geschehen würde, aber es gab keinen Grund, ihnen einen neuen Anlass zu geben, sich in sein Leben einzumischen.

»Steht Ihr mit Jain in irgendeiner Verbindung?« Noal hob beschwichtigend die Hände. »Frieden. Ich glaube Euch. Es ist nur, das schlägt alles, was ich je getan habe. Oder was Jain je getan hat. Hättet Ihr etwas dagegen, wenn ich der dritte Mann wäre? Ihr wisst, dass ich sehr nützlich sein kann, wenn es mal eng wird.«

»Soll man mich doch zu Asche verbrennen, ist alles, was ich gesagt habe, in das eine Ohr rein und aus dem anderen wieder raus? Sie werden wissen, dass ich komme. Vielleicht wissen sie ja schon alles!«

»Und das spielt keine Rolle«, warf Thom ein, »jedenfalls für mich nicht. Falls nötig, gehe ich auch allein. Aber wenn ich das hier richtig lese« — er entfaltete den Brief beinahe zärtlich — »besteht nur Aussicht auf Erfolg, wenn du einer der drei Männer bist.« Er setzte sich schweigend auf die Pritsche und blickte Mat in die Augen.

Mat wollte wegsehen und konnte es nicht. Verdammte Aes Sedai! Die Frau war mit ziemlicher Sicherheit tot, trotzdem versuchte sie noch immer, ihn dazu zu verlocken, ein Held zu werden. Nun, Helden tätschelte man den Kopf und stieß sie dann beiseite, bis das nächste Mal ein Held gebraucht wurde, immer vorausgesetzt, sie überlebten ihre Heldentat. Sehr oft taten Helden das nicht. Er hatte Moiraine nie richtig vertraut, sie nicht einmal besonders gemocht. Nur Narren vertrauten Aes Sedai. Andererseits, ohne sie würde er noch immer in den Zwei Flüssen leben, den Stall ausmisten und die Kühe seines Vaters hüten. Oder er würde tot sein. Und da saß der alte Thom, sagte nichts, starrte ihn bloß an. Das war das Problem. Er mochte Thom. Oh , B lu t und ver da mmt e As ch e !

»Soll man mich doch als Narr verbrennen«, murmelte er.

»Ich gehe mit.«

Ein Donnerschlag krachte ohrenbetäubend im Einklang mit einem Blitz, der so grell war, dass er durch die Zeltplane schien. Als das Grollen verklang, herrschte in Mats Kopf Totenstille. Der letzte Satz Würfel war verstummt. Er hätte weinen können.

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