Eigentlich hatte Mat nicht damit gerechnet, dass Luca Jurador nach nur einem Tag verlassen würde — die von einer Mauer umgebene Salzstadt war reich, und Luca hatte es gern, wenn ein paar Münzen in seine Tasche wanderten —, also war er nicht unbedingt enttäuscht, als ihm der Mann sagte, dass Valan Lucas Großer Wanderzirkus und Prächtige Zuschaustellung von Mysterien und Wundern mindestens noch zwei weitere Tage hier bleiben würde. Nicht unbedingt enttäuscht, aber er hatte gehofft, dass sein Glück andauern würde. Er war ein Ta'veren. Andererseits hatte ihm ta'veren zu sein niemals etwas anderes als Pech gebracht, soweit es ihn betraf.
»Die Schlange am Eingang ist bereits so lang wie gestern zur besten Zeit«, sagte Luca mit einer überheblichen Geste. Sie befanden sich in Lucas großem bunten Wohnwagen, früh an dem Morgen nach Rennas Tod, und der große Mann saß auf dem vergoldeten Stuhl an dem schmalen Tisch — einem richtigen Tisch mit darunter geschobenen Hockern für Besucher; die meisten anderen Wohnwagen begnügten sich mit an Seilen von der Decke hängenden Behelfstischen, und die Bewohner setzten sich zum Essen aufs Bett. Luca hatte noch keinen seiner grellen Mäntel angezogen, aber er machte das mit seinen Gesten wett. Latelle, seine Frau, kochte auf einem kleinen Ziegelofen mit eisernem Aufsatz, der in eine Ecke des fensterlosen Wagens eingebaut war, den Frühstückshaferbrei, und die Luft war erfüllt von scharfen Gewürzen. Die Frau mit dem kantigen Gesicht tat in alles so viele Gewürze rein, dass es nach Mats Geschmack so gut wie ungenießbar war, aber Luca schlang alles, was sie ihm vorsetzte, herunter, als wäre es ein Festmahl. Er musste eine Zunge aus Leder haben. »Ich rechne heute mit doppelt so vielen Besuchern, vielleicht sogar dreimal so viel, und für morgen gilt das Gleiche. Die Leute können bei einem Besuch gar nicht alles sehen, und hier können sie es sich leisten, zweimal zu kommen. Mundpropaganda, Cauthon. Mundpropaganda. Das bringt genauso viele wie Aludras Nachtblüten. Ich fühlte mich fast wie ein Ta'veren, so wie sich die Dinge entwickeln. Ein großes Publikum und die Aussicht auf noch mehr. Ein Schutzbrief von der Hochlady.« Luca verstummte abrupt, wirkte peinlich berührt, als wäre ihm gerade erst wieder eingefallen, dass Mats Name in dem Brief von jedem Schutz ausgeklammert wurde.
»Vermutlich würde es Euch gar nicht gefallen, ta'veren zu sein«, murmelte Mat, woraufhin Luca ihm einen seltsamen Blick zuwarf. Er schob einen Finger hinter das schwarze Seidentuch, das die Narbe der Henkersschlinge verbarg, und zog daran. Einen Augenblick lang hatte sich das Ding zu eng angefühlt. Er hatte eine Nacht mit düsteren Träumen über flussabwärts treibende Leichen hinter sich und war zu dem Rattern der Würfel in seinem Kopf erwacht, was immer ein schlechtes Zeichen war, und jetzt schienen sie härter als je zuvor über die Innenseite seines Schädels zu tanzen. »Ich kann Euch genauso viel bezahlen, wie Ihr mit jedem Auftritt zwischen hier und Lugard einnehmen würdet, ganz egal, wie viele Besucher kommen. Zusätzlich zu dem, was ich Euch dafür versprochen habe, wenn Ihr uns nach Lugard bringt.« Wenn der Zirkus nicht dauernd anhalten würde, könnten sie die Zeit, die es dauerte, um nach Lugard zu gelangen, um mindestens drei Viertel reduzieren. Sogar noch mehr, sollte er Luca davon überzeugen können, den ganzen Tag auf der Straße zu bleiben statt nur den halben, so wie sie es jetzt taten.
Luca schien die Idee zu gefallen, er nickte nachdenklich, aber dann schüttelte er den Kopf mit einem Bedauern, das offensichtlich gespielt war, und breitete die Hände aus. »Und wie würde das aussehen, ein Wanderzirkus, der niemals anhält, um eine Vorstellung zu geben ? Es würde verdächtig aussehen, das würde es. Ich habe den Freibrief, und die Hochlady wird zu meinen Gunsten sprechen, aber Ihr wollt bestimmt nicht, dass die Seanchaner auf uns aufmerksam werden. Nein, so ist das sicherer für uns.« Er dachte nicht an Mat Cauthons verdammte Sicherheit, er dachte daran, dass seine verdammten Vorstellungen ihm möglicherweise mehr einbrachten als das, was Mat ihm zahlte. Davon abgesehen war es ihm genauso wichtig wie Gold, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, so wie jedem Künstler. Ein paar Schausteller sprachen davon, was sie machen würden, wenn sie sich zur Ruhe setzten. Luca nicht. Er wollte weitermachen, bis er mitten in einer Vorstellung tot umfiel. Und er würde dafür sorgen, dass er dabei das größtmögliche Publikum hatte, wenn es so weit war.
»Es ist fertig, Valan«, sagte Latelle zärtlich, als sie den Topf mit einem Tuch, das ihre Hände schützte, vom Herd nahm und ihn auf dem Tisch auf einer dicken, gewebten Unterlage absetzte. Zwei Plätze waren bereits gedeckt, weiß glasierte Teller und Silberlöffel. Luca musste Silberlöffel haben, wenn sich alle anderen mit Zinn oder Messing oder sogar Horn oder Holz zufrieden gaben. Die weiße Schürze über dem sternübersäten blauen Kleid der Bärendompteurin mit dem harten Zug um ihren Mund und dem strengen Blick sah schon merkwürdig aus. Vermutlich wünschten sich ihre Bären, Bäume zum Hinaufklettern zu haben, wenn sie sie streng ansah. Seltsamerweise sprang sie förmlich, um für das Wohlergehen ihres Mannes zu sorgen.
»Wollt Ihr mit uns essen, Meister Cauthon?« In diesen Worten lag kein Willkommen, tatsächlich sogar das genaue Gegenteil, und sie machte keine Anstalten, zu dem Geschirrschrank zu gehen.
Mat entbot ihr eine Verbeugung, was ihre Miene noch mürrischer machte. Er war der Frau nie anders als ausgesprochen höflich begegnet, aber sie wollte ihn einfach nicht mögen. »Ich danke Euch für die freundliche Einladung, Frau Luca, aber danke, nein.« Sie grunzte. So viel zur Höflichkeit. Er setzte den Hut mit der kurzen Krempe auf und ging, und die Würfel klapperten fröhlich weiter.
Lucas großer Wagen, der rot und blau funkelte und mit goldenen Sternen und Kometen übersät war, ganz zu schweigen von den Mondphasen in Silber, stand so weit wie nur möglich von den stinkenden Tierkäfigen und den Pferdekoppeln entfernt. Er war umgeben von niedrigeren Wagen, kleinen Häusern auf Rädern, größtenteils fensterlos und in nur einer Farbe gestrichen ohne Lucas zusätzliche Verzierungen, sowie von Zelten in der Größe kleiner Häuser in Blau oder Grün oder Rot, manchmal auch gestreift. Die Sonne stand fast eine Handbreit über dem Horizont an einem Himmel, an dem kleine Wölkchen langsam dahintrieben; Kinder liefen herum und spielten, während die Artisten sich für die Vormittagsvorstellung bereitmachten, Männer und Frauen, die sich verrenkten und streckten, viele mit glitzerndem, buntem Flitter auf ihren Mänteln und Kleidern. Vier Verbiegungskünstler in hauchdünnen Hosen und Blusen, die durchscheinend genug waren, um nur wenig der Phantasie zu überlassen, ließen ihn zusammenzucken. Zwei lagerten neben ihrem roten Zelt auf einer Decke auf dem Boden — auf den Köpfen. Andere hatten sich so ineinander verknotet, dass zweifelhaft war, ob sie sich noch entwirren konnten. Ihr Rückgrat musste aus Sprungdraht sein! Petra, der Kraftmensch, stand mit nacktem Oberkörper neben dem grünen Wagen, den er sich mit seiner Frau teilte, und wärmte sich mit Gewichten auf; er stemmte mehr mit einer Hand, als Mat mit zweien stemmen konnte. Der Mann hatte Arme, die dicker als Mats Beine waren, und er schwitzte nicht mal. Clarines kleine Hunde standen in einer Reihe vor der Wagentreppe, wedelten mit dem Schwanz und warteten ungeduldig auf ihre Dompteurin. Im Gegensatz zu Latelles Bären machten die Hunde ihre Kunststücke vermutlich, um die pummelige Frau zum Lächeln zu bringen.
Mat war immer versucht, sich einfach nur irgendwo ruhig hinzusetzen, solange die Würfel in seinem Kopf klapperten, an einem Ort, an dem aller Voraussicht nichts passieren würde, wo er darauf warten konnte, dass die Würfel verstummten, und obwohl er gern den Akrobatinnen zugesehen hätte, von denen einige so luftig wie die Verbiegungskünstler gekleidet waren, machte er sich auf den Weg nach dem eine halbe Meile entfernt liegenden Jurador und musterte jeden auf der ungepflasterten Straße genau. Da war ein Kauf, den er abzuschließen hoffte.
Leute gesellten sich zu der langen Schlange, die hinter dem stabilen Seil wartete, das vor die hohe Zeltwand des Zirkus gespannt war; nur eine Hand voll der Frauenkleider und der kurzen Männermäntel trugen aufwändige Verzierungen. Ein paar Bauernkarren rumpelten auf ihren hohen Rädern hinter einem Pferd oder Ochsen her. In dem kleinen Wald aus Windmühlen, die auf den niedrigen Hügeln hinter der Stadt die Salzquellen leer pumpten, und um die langen Verdunstungspfannen herum bewegten sich kleine Gestalten. Eine Händlerkarawane aus Planwagen — zwanzig davon hinter Sechsergespannen — rollte bei seinem Näherkommen aus dem Stadttor, die Kauffrau saß in einen hellgrünen Umhang gehüllt auf dem ersten Wagen neben dem Kutscher. Am Himmel flog ein Krähenschwarm vorbei und ließ Mat schaudern, aber niemand verschwand vor seinen Augen, und soweit er erkennen konnte, warf jeder einen langen Schatten. Heute bevölkerten nicht die Schatten der Toten die Straße, aber er war davon überzeugt, dass er genau das am Vortag gesehen hatte.
Dass die Toten umherwandelten, konnte sicherlich nichts Gutes bedeuten. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte das etwas mit Tarmon Gai'don und Rand zu tun. Farben wirbelten durch seinen Kopf, und einen Augenblick lang konnte er vor seinem inneren Auge Rand und Min neben einem großen Bett stehen sehen; sie küssten sich. Er stolperte und wäre beinahe über die eigenen Füße gefallen. Sie waren nackt gewesen! Er würde daran denken müssen, nicht an Rand zu denken… Die Farben wirbelten umher und verdichteten sich kurz zu einem festen Bild, und er stolperte erneut. Es gab Dinge, die heimlich zu beobachten noch schlimmer waren als ein Kuss. Er würde seine Gedanken kontrollieren müssen. Beim Licht!
Die beiden Wächter, die sich an dem eisenbeschlagenen Tor auf ihre Hellebarden stützten, hartgesichtige Männer mit weißen Brustpanzern und konischen weißen Helmen mit Rosshaarbüschen, musterten ihn misstrauisch. Vermutlich hielten sie ihn für betrunken. Ein beruhigendes Nicken hatte nicht den geringsten Einfluss auf ihre Mienen. In diesem Moment hätte er wirklich einen ordentlichen Schluck gebrauchen können. Die Wächter machten allerdings keine Anstalten, ihn am Betreten der Stadt zu hindern, sondern sahen ihm nur nach. Betrunkene machten Ärger, vor allem ein Mann, der schon so früh am Tag betrunken war, aber ein Betrunkener in einem guten Mantel — zwar schlicht, aber von gutem Schnitt und aus teurer Seide —, ein Mann mit etwas Spitzenbesatz an den Ärmeln war eine ganze andere Sache.
Die Kopfsteinpflasterstraßen von Jurador waren selbst zu dieser Stunde lärmerfüllt. Straßenhändler trugen Bauchläden oder standen hinter Schubkarren und boten lautstark ihre Waren feil, die Ladenbesitzer hinter den schmalen Tischen vor ihren Geschäften priesen brüllend die Qualität ihres Angebots, und Küfer hämmerten Reifen auf die zum Salztransport bestimmten Fässer. Das Rattern der Webstühle der Teppichweber übertönte beinahe das Klirren der Schmiedehämmer, ganz zu schweigen die Musik der Flöten und Trommeln und Lauten, die aus den Schenken und Gasthäusern drang. Es war eine unübersichtliche Stadt, Geschäfte und Häuser und Schenken standen direkt neben Gasthäusern und Mietställen, und alle waren aus Stein erbaut und hatten rote Dachschindeln. Jurador war eine richtige Stadt. Und eine, die an Diebe gewöhnt war. Die meisten Fenster im Erdgeschoss waren mit stabilen Gittern versehen. Bei den Häusern der Reichen — zweifellos größtenteils Salzhändler — auch die Fenster der oberen Stockwerke. Die Musik der Schenken und Gasthäuser zog Mat an. Vermutlich würde es in den meisten von ihnen Würfelspiele geben. Er konnte beinahe fühlen, wie die Würfel über den Tisch tanzten. Es war lange her, dass er ein paar Würfel in der Hand geschüttelt hatte, statt sie in seinem Kopf zu hören, aber er war an diesem Morgen nicht zum Spielen hier.
Er hatte noch nicht gefrühstückt, also trat er auf eine alte Frau zu, deren Bauchladen von einem Riemen um ihren Hals gehalten wurde und die »Fleischpasteten, gemacht aus dem besten Rind in ganz Altara« rief. Er nahm sie beim Wort und gab ihr die verlangten Kupfermünzen. Auf keinem der Bauernhöfe in der Nähe von Jurador hatte er Rinder gesehen, nur Schafe und Ziegen, aber es war besser, sich nicht zu genau nach dem Inhalt der Fleischpasteten zu erkundigen, die man auf der Straße kaufte. In keiner Stadt. Vielleicht gab es ja Rinder auf den nahe gelegenen Höfen. Möglich war es. Auf jeden Fall schmeckte die Fleischpastete, und sie war erfreulicherweise sogar noch heiß, und er ging durch die bevölkerten Straßen, jonglierte mit der Pastete und wischte sich das Fett vom Kinn.
Er achtete darauf, mit niemanden in der Menge zusammenzustoßen. Altaraner waren allesamt ein empfindlicher Haufen. In dieser Stadt konnte man den Status einer Person exakt am Ausmaß der Stickereien auf Mantel, Kleid oder Umhang erkennen — lange bevor man nahe genug heran war, um Wolle von Seide unterscheiden zu können. Je mehr, desto höher. Die reicheren Frauen verhüllten die olivefarbenen Gesichter mit durchsichtigen Schleiern, die von verzierten, in die festen Zöpfe gesteckten Kämmen gehalten wurden, aber alle, ob Männer oder Frauen, ob Salzhändler oder Bänderverkäufer, trugen lange Gürtelmesser mit gekrümmter Klinge und tätschelten gelegentlich den Griff, als wären sie auf einen Kampf aus. Mat versuchte immer, einem Kampf aus dem Weg zu gehen, auch wenn ihn sein Glück meistens im Stich ließ, was das anging. Das war wohl das Los von Ta'veren. Die Würfel hatten noch nie einen Kampf angekündigt — Schlachten, ja, aber noch nie einen Straßenkampf-, trotzdem bewegte er sich sehr vorsichtig. Nicht, dass das helfen würde. Wenn die Würfel verstummten, dann verstummten sie, und das war es dann. Aber er sah keinen Grund, Risiken einzugehen. Er hasste es, Risiken einzugehen. Mit Ausnahme beim Glücksspiel natürlich, und das war für ihn nur selten ein Risiko.
Vor einem Laden, in dem die ausgestellten Schwerter und Dolche von einem massigen Burschen mit groben Knöcheln, einer Nase, die mehr als einmal gebrochen worden war, und einem dicken Knüppel neben dem unvermeidlichen Dolch bewacht wurden, entdeckte er ein Fass voller Wanderstäbe und Stöcke. Der Mann verkündete mit rauer Stimme, dass alle ausgestellten Klingen in Andor hergestellt worden waren, aber jeder, der seine Klingen nicht selbst schmiedete, behauptete, sie würden aus Andor oder irgendwo aus den Grenzländern kommen. Manchmal auch aus Tear. Tear stellte guten Stahl her.
Zu Mats Überraschung und Entzücken ragte ein schlanker Stab aus dem Faß. Anscheinend aus schwarzem Eibenholz war er beinahe einen Fuß länger als er. Er zog den Stab heraus und überprüfte die feine, leicht geäderte Maserung. Es handelte sich tatsächlich um schwarzes Ebenholz. Es war die geäderte Maserung, die daraus hergestellten Bogen solche Durchschlagskraft verlieh, beinahe doppelt so viel wie bei anderem Holz. Man konnte sich zwar nie sicher sein, bevor man das überflüssige Holz abschliff, aber der Stab sah perfekt aus. Wie beim Licht hatte schwarzes Ebenholz seinen Weg ins südliche Altara gefunden? Er war sich sicher, dass es nur in den Zwei Flüssen wuchs.
Als die Ladenbesitzerin, eine schlanke Frau, die unter dem Busen hellgefiederte Vögel aufgestickt trug, heraustrat und sofort die Vorzüge ihrer Klingen anpries, sagte er: »Was kostet dieser schwarze Stock, Frau?«
Sie blinzelte, überrascht, dass ein Mann in Seide und Spitze einen Wanderstab haben wollte — sie glaubte doch allen Ernstes, dass das verdammte Ding ein Wanderstab war! —, und nannte einen Preis, den er ohne zu feilschen bezahlte. Das ließ sie erneut blinzeln und die Stirn runzeln, so als hätte sie mehr verlangen sollen. Und er hätte mehr für das Grundmaterial eines Zwei-Flüsse-Bogens bezahlt. Mit auf die Schulter gelegtem Bogenstab ging er weiter, schlang den Rest der Fleischpastete herunter und wischte sich die Hand am Mantel ab. Aber er war genauso wenig für ein Frühstück oder einen Bogenstab gekommen wie zum Spielen. Es waren die Ställe, die ihn interessierten.
Mietställe boten immer ein paar Pferde zum Verkauf an, und wenn der Preis stimmte, verkauften sie für gewöhnlich auch welche, die eigentlich nicht zum Verkauf standen. Zumindest taten sie es, solange die Seanchaner sie sich nicht bereits geschnappt hatten. Glücklicherweise hatte es in Jurador bislang nur flüchtige Begegnungen mit den Seanchanern gegeben. Er wanderte von einem Stall zum nächsten und sah sich Braune und Rotschimmel an, Grauschimmel und Schecken, Falben, Rotfüchse, Rappen, Schimmel und Graue, alles nur Stuten oder Wallache. Ein Hengst kam nicht in Frage. Nicht jedes begutachtete Tier hatte einen schmalen Brustumfang oder lange Beinknochen, vor allem zu lange Hinterröhren, dennoch kam keines seinen Vorstellungen nahe. Bis er einen schmalen Stall betrat, der zwischen dem großen Gasthaus Die Zwölf Salzquellen und einem Teppichladen gequetscht stand.
Eigentlich hätte man denken sollen, dass die lauten Teppichwebstühle die Pferde unruhig machten, aber sie alle waren ruhig, anscheinend an den Lärm gewöhnt. Die Boxen erstreckten sich tiefer in den Häuserblock hinein, als er gedacht hätte, aber Laternen an den Pfosten sorgten auch ein Stück vom Eingangstor entfernt für ausreichend Licht. In der Luft schwebte der Staub von dem Heuboden; sie roch nach Heu und Hafer und Pferdemist, aber es war kein alter Mist. Männer mit Schaufeln misteten die Boxen aus. Der Besitzer hielt den Ort sauber. Das bedeutete, dass hier das Krankheitsrisiko geringer war. Einige Ställe hatte er nach dem ersten Atemzug sofort wieder verlassen.
Die schwarze-weiße Stute wurde vor ihrer Box von einem Seilhalfter gehalten, während ein Stallbursche frisches Stroh hineinwarf, und sie stand ruhig da, die Ohren aufmerksam nach vorn gelegt. Etwa fünfzehn Handspannen groß hatte sie einen ordentlichen Brustumfang, der Ausdauer versprach, und die Beine waren perfekt proportioniert, mit kurzen Hinter- und Vorderröhren und Fesselgelenken im richtigen Winkel. Ihre Schultern wiesen eine gute Krümmung auf, und ihre Kruppe lag auf einer Ebene mit ihrem Widerrist. Ihre Linien waren genauso gut wie die von Pips, vielleicht sogar noch besser. Mehr noch, sie gehörte zu einer Rasse, von der er zwar gehört, die er aber niemals geglaubt hatte zu Gesicht zu bekommen, eine Rasierklinge aus Arad Doman. Keine andere Rasse hatte diese auffallende Färbung. Auf dem Fell trafen schwarze Linien auf weiße, und zwar so exakt, als hätte man sie mit einer Rasierklinge geschnitten. Daher kam auch der Name. Ihre Anwesenheit hier war genauso unerklärlich wie das schwarze Ebenholz. Mat hatte immer nur gehört, dass kein Domani jemals eine Rasierklinge an einen Ausländer verkaufen würde. Er ließ den Blick an ihr vorbeischweifen, ohne ihn auf ihr verharren zu lassen, und musterte die anderen Pferde in ihren Boxen. Waren die Würfel in seinem Kopf langsamer geworden? Nein, das war nur seine Einbildung. Er war sich sicher, dass sie genauso laut klapperten wie in Lucas Wagen.
Ein drahtiger Mann mit einem grauen Haarkranz trat auf ihn zu und beugte den Kopf über die gefalteten Hände. »Toke Fearnim, mein Lord«, stellte er sich mit einem rauen Akzent vor und musterte den Bogenstab auf Mats Schulter misstrauisch. Männer in Seidenmänteln und mit goldenen Siegelringen trugen nur selten solche Dinge. »Wie kann ich Euch dienen? Möchte mein Lord ein Pferd mieten? Oder eins kaufen?« Die Schultern seiner Weste waren mit kleinen hellen Blumen bestickt, darunter trug er ein Hemd, das einstmals weiß gewesen war. Mat vermied es, auf die Blumen zu sehen. Der Kerl hatte eines dieser gekrümmten Messer am Gürtel und zwei lange weiße Narben auf dem ledrigen Gesicht. Alte Narben. Falls er in letzter Zeit in einen Kampf geraten war, hatte der ihn nirgendwo gezeichnet, wo man es sehen konnte.
»Kaufen, Meister Fearnim, falls Ihr etwas zu verkaufen habt. Falls ich etwas halbwegs Vernünftiges finden kann. Man wollte mir mehr lahme Abdeckerkandidaten anbieten, als mir lieb ist. Die sollten angeblich sechs Jahre alt sein und waren mindestens achtzehn.« Er hob den Bogenstab mit einem Grinsen ein Stück an. Sein Vater behauptete, dass ein Handel besser ablief, wenn man sein Gegenüber zum Grinsen brachte.
»Ich habe drei zum Verkauf, mein Lord, und keines davon ist reif für den Abdecker«, erwiderte der drahtige Mann mit einer weiteren Verbeugung und ohne auch nur den Anflug eines Grinsens. Fearnim streckte den Arm aus. »Eines ist gerade aus seiner Box. Fünf Jahre alt und großartiges Pferdefleisch, mein Lord. Und für zehn Kronen ein wahres Schnäppchen. Goldkronen«, fügte er nüchtern hinzu.
Mat blieb der Mund offen stehen. »Für einen Schwarzschecken'! Ich weiß, dass die Seanchaner die Preise in die Höhe getrieben haben, aber das ist lächerlich!«
»Oh, sie ist kein gewöhnlicher Schwarzschecken, mein Lord. Sie ist eine Rasierklinge. Adlige Domani reiten Rasierklingen.«
Blut und verdammte Asche! So viel zu dem Versuch, hier ein Schnäppchen zu machen. »Das sagt Ihr, das sagt Ihr«, murmelte Mat und senkte den Bogenstab auf den Steinboden, damit er sich darauf stützen konnte. Sein Bein machte ihm nur noch selten zu schaffen, es sei denn, er lief lange Strecken, aber das hatte er an diesem Morgen, und es tat weh. Nun, Schnäppchen oder nicht, er musste das Spiel spielen. Pferdehandel hatte seine Regeln. Brach man sie, und man bettelte förmlich darum, dass einem der Geldbeutel geleert wurde. »Ich habe noch nie von einem Pferd gehört, das man Rasierklinge nennt. Was habt Ihr sonst noch? Nur ein Wallach oder eine Stute.«
»Abgesehen von der Rasierklinge habe ich nur Wallache, mein Lord«, sagte Fearnim und betonte das Wort Rasierklinge leicht. Er wandte sich dem Stallinneren zu und rief: »Adela, bring mal den großen Braunen, der zum Verkauf steht.«
Ein schlankes, pickliges Mädchen in Hosen und einer einfachen dunklen Weste kam aus dem Hintergrund des Stalls geschossen, um zu gehorchen. Fearnim ließ Adela den Braunen und dann einen Grauschecken an Stricken in das gute Licht neben dem Tor führen. Mat musste es ihm zugestehen. Ihr Körperbau war nicht übel, aber der Braune war zu groß, fast mehr als siebzehn Handspannen, und der Grauschecke hatte die Ohren zurückgelegt und versuchte zweimal, Adelas Hand zu beißen. Aber sie kam gut mit den Tieren zurecht, wich den Schnappversuchen des übellaunigen Grauschecken aus. Die beiden abzulehnen wäre selbst dann einfach gewesen, wenn er sich nicht schon für die Rasierklinge entschieden hätte.
Ein schlanker, grau gestreifter Kater, der wie ein Miniaturberglöwe aussah, erschien und setzte sich zu Fearnims Füßen, um sich eine blutige Schramme an der Schulter zu lecken. »Die Ratten sind dieses Jahr schlimmer, als ich mich erinnern kann«, murmelte der Stallbesitzer und schaute stirnrunzelnd auf die Katze herunter. »Sie wehren sich auch mehr. Ich werde mir noch eine weitere Katze besorgen müssen, vielleicht auch zwei.« Er konzentrierte sich wieder auf das. Geschäft. »Möchte sich der Lord vielleicht doch meinen Schatz ansehen, da ihm die anderen nicht zusagen?«
»Vielleicht sollte ich mir den Schwarzschecken mal ansehen, Meister Fearnim«, sagte Mat zweifelnd. »Aber nicht für zehn Kronen.«
»In Gold«, sagte Fearnim. »Hurd, führ dem Lord mal die Rasierklinge vor.« Er betonte wieder die Rasse. Den Mann herunterzuhandeln würde schwierig werden. Es sei denn, ta'veren zu sein half ihm mal zur Abwechslung. Sein Glück half ihm nie bei so etwas einfachem wie Feilschen.
Hurd war der Bursche, der das Heu in der Box der Rasierklinge aufgefrischt hatte, ein gedrungener Mann mit noch etwa drei weißen Haaren auf dem Kopf und keinem einzigen Zahn mehr im Mund. Das wurde ersichtlich, wenn er grinste, was er tat, als er die Stute im Kreis führte. Offensichtlich mochte er das Tier, und das war auch richtig so.
Sie ging gut, aber Mat begutachtete sie trotzdem genau.
Ihre Zähne verrieten, dass Fearnim durchaus ehrlich gewesen war, was ihr Alter betraf — nur ein Narr log kräftig über das Alter eines Pferdes, es sei denn, der Käufer war selbst ein Narr, obwohl es überraschend war, wie viele Verkäufer glaubten, dass alle Käufer genau das waren —, und sie spitzte die Ohren, als er ihre Nase streichelte, während er ihre Augen untersuchte. Sie waren klar und sauber, ohne jeden Schleim. Er tastete die Beine ab, ohne eine heiße Stelle oder Schwellungen zu finden. Es gab auch sonst keinerlei Anzeichen für Verletzungen oder Bandwürmer an ihr. Er konnte seine Faust mühelos zwischen Brustkorb und ihren Ellbogen legen — sie würde einen langen Schritt haben —, und konnte kaum die flache Hand zwischen ihre letzte Rippe und den Hüftkamm bekommen. Sie würde robust sein, sich kaum eine Sehne zerren, wenn sie schnell lief.
»Wie ich sehe, kennt sich mein Lord mit Pferden aus.«
»Das tue ich, Meister Faernim. Und zehn Goldkronen sind zu viel, vor allem für einen Grauschecken. Manche sagen, sie brächten Unglück. Nicht, dass ich das glaube, oder ich würde überhaupt nichts bieten.«
»Unglück? Davon habe ich noch nie gehört, mein Lord. Was würdet Ihr bieten?«
»Ich könnte tairenische Vollblüter für zehn Goldkronen bekommen. Nicht die besten, das ist wahr, aber immerhin tairenische. Ich gebe Euch zehn Kronen. In Silber.«
Fearnim warf den Kopf in den Nacken, lachte grölend, und als er damit aufhörte, machten sie sich ans Feilschen. Am Ende gab Mat fünf Goldkronen und vier Goldmark und drei Silberkronen, die alle in Ebou Dar geprägt worden waren. In dem Kasten unter seinem Bett befanden sich Münzen aus vielen Ländern, aber bei fremden Münzen musste man meistens einen Bankier oder Geldwechsler finden, die sie dann wogen und ausrechneten, was sie vor Ort wert waren. Aber davon abgesehen, dass das mehr Aufmerksamkeit erregte, als ihm lieb war, hätte er nur noch mehr für das Tier gezahlt, möglicherweise sogar die vollen zehn Goldkronen. Die Waagen der Geldwechsler schienen immer auf diese Weise zu arbeiten.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Mann so weit heruntergehen würde, aber seinem Gesichtsausdruck und dem Grinsen nach zu urteilen, hatte er nie erwartet, so viel zu bekommen. Das war die beste Art, wie ein Pferdehandel enden sollte, dass beide Seiten dachten, sie hätten das bessere Geschäft gemacht. Alles in allem hatte der Tag sehr gut angefangen, verdammte Würfel oder nicht. Er hätte wissen müssen, dass es nicht so bleiben würde.
Als er gegen Mittag wieder beim Zirkus ankam — er ritt die Rasierklinge ohne Sattel wegen seiner Schmerzen und den klappernden Würfeln in seinem Kopf —, war die Schlange viel länger als bei seinem Aufbruch; alle warteten darauf, unter dem großen blauen Banner durchgehen zu können, auf dem der Name des Zirkus in großen roten Buchstaben stand. Wenn die Leute ihre Münzen in den durchsichtigen Glaskrug warfen, der von einem stämmigen Pferdeknecht in einem groben Wollmantel gehalten wurde und von dort unter den wachsamen Blicken eines weiteren, noch stämmigeren Pferdeknechts in eine eisenbeschlagene Kiste geschüttet wurden, stellten sich noch mehr Zuschauer an, sodass die Schlange nie kleiner zu werden schien. Sie erstreckte sich bis zum Seilende und dann um die Ecke. Es war ein kleines Wunder, dass niemand drängelte. Es waren offensichtlich Bauern, die da in der Reihe standen, in einfache Wolle gekleidet und mit in ihren Handflächen eingegrabener Erde, auch wenn zumindest die Gesichter der Kinder und Bauersfrauen sauber geschrubbt waren. Luca bekam leider die erhoffte Menge. Unmöglich, ihn jetzt noch davon zu überzeugen, morgen aufzubrechen. Die Würfel besagten, dass etwas passieren würde, etwas Schicksalhaftes für den verfluchten Mat Cauthon, aber was? Es war schon vorgekommen, dass die Würfel aufgehört hatten und er nicht immer gewusst hatte, was eigentlich passiert war.
Innerhalb des Zirkus strömten die Leute vorbei und genossen die Darstellungen der Künstler, die beide Seiten der Hauptstraße säumten. Aludra überwachte die Lieferung von zwei Wagenladungen Fässern in verschiedener Größe. Anscheinend mehr als die Fässer. »Ich zeige euch, wo ihr die Wagen abstellen könnt«, sagte die schlanke Frau zu dem Kutscher des ersten Wagens, einem schlanken Mann mit hervorstehendem Kinn. Aludras taillenlange, mit Perlen geschmückte Zöpfe pendelten, als ihr Blick Mat einen Moment lang folgte, aber sie konzentrierte sich schnell wieder auf den Kutscher. »Die Pferde, die bringt ihr zu den Pferdeseilen, ja?«
Was hatte sie denn da in solcher Menge gekauft? Sicherlich etwas für ihre Feuerwerke. Jeden Abend kurz nach Einbruch der Dunkelheit, sodass es auch jeder sehen konnte, bevor er zu Bett ging, startete sie ihre Nachtblumen, zwei oder mehr für eine Stadt von der Größe Juradors oder falls mehrere Dörfer in enger Nachbarschaft zueinander standen. Er hatte sich Gedanken darüber gemacht, warum sie einen Glockengießer suchte, aber der einzige Grund, der anscheinend Sinn machte, machte tatsächlich nicht den geringsten Sinn, soweit es ihn betraf.
Er versteckte die Stute bei den Pferdeseilen. Nun, eigentlich war es unmöglich, eine Rasierklinge zu verstecken, aber ein Pferd fiel nun einmal weniger unter anderen Pferden auf, und der richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen. Den Bogenstab ließ er in dem Wagen, den er sich mit Egeanin und Domon teilte und die nicht da waren, dann begab er sich zu Tuons Wagen mit dem verblichenen purpurfarbenen Anstrich. Der stand nicht weit von Lucas Wagen entfernt, obwohl sich Mat wünschte, er wäre in der Nähe der Proviantwagen geblieben. Nur Luca und seine Frau wussten, dass Tuon eine Hochlady und keine Dienerin war, die Egeanins angeblichem Ehemann hatte verraten wollen, dass sie und Mat ein Liebespaar waren, aber viele der Artisten wunderten sich bereits darüber, warum Mat mehr Zeit mit Tuon als mit Egeanin verbrachte. Wunderten sich und missbilligten es. Es war größtenteils ein seltsam spröder Haufen, selbst die Verrenkungskünstler. Mit der Ehefrau eines grausamen Lords wegzulaufen war romantisch. Mit der Dienerin der Frau herumzumachen war abscheulich. Tuons Wagen diesen Stellplatz zu geben, der unter Leuten, die seit Jahren mit Luca zusammen und seine angesehensten Darsteller waren, sehr begehrt war, würde das Gerede nur noch weiter anfachen.
Da die Würfel in seinem Kopf dröhnten, zögerte Mat eigentlich, zu Tuon zu gehen. Sie waren zu oft in ihrer Gegenwart verstummt, und er kannte noch immer nicht den Grund dafür, nicht für ein einziges Mal. Jedenfalls nicht mit Sicherheit. Beim ersten Mal hatte es vielleicht daran gelegen, dass er sie kennen gelernt hatte. Bei dem Gedanken daran wollten sich seine Nackenhaare noch immer aufrichten. Doch bei Frauen ging man halt immer ein Risiko ein. Bei einer Frau wie Tuon zehn Risiken am Tag, und man kannte nie die Gefahren, bis es zu spät war. Manchmal fragte er sich, warum ihn sein Glück bei Frauen immer im Stich ließ. Frauen waren sicherlich genauso unberechenbar wie ein ehrliches Würfelspiel.
Vor dem Wagen stand keiner der Rotwaffen Wache — darüber waren sie mittlerweile hinaus —, also stieg er die kleine Treppe an der Hinterseite des Wagens hinauf und klopfte einmal, bevor er die Tür öffnete und eintrat. Schließlich bezahlte er die Miete für das Ding, und sie würden wohl kaum zu dieser Tageszeit unbekleidet in den Betten liegen.
Außerdem hatte die Tür einen Riegel, falls sie Leute draußen halten wollten.
Frau Anan war irgendwo anders beschäftigt, trotzdem war es eng im Wagen. Der schmale Tisch war an seinen Seilen von der Decke herabgelassen worden, nicht zueinander passende Teller mit Brot, Oliven und Käse standen dort zusammen mit einer von Lucas hohen silbernen Weinkannen, einem rot gestreiften Krug und mit Blumen bemalten Bechern.
Tuon saß auf dem einzigen Hocker des Wagens am anderen Tischende, dichte schwarze Locken, die einen Monat lang gewachsen waren, auf dem Kopf. Selucia saß auf dem einen Bett an ihrer Seite, und Noal und Olver auf dem anderen Bett, die Ellbogen auf den Tisch gestemmt. Heute trug Selucia ein dunkelblaues Ebou Dari-Kleid, das ihren beeindruckenden Busen so gut zur Geltung brachte, dazu gehörte ein geblümtes Tuch um den Kopf. Tuon trug ein rotes Kleid, das vollständig aus winzigen Falten zu bestehen schien. Beim Licht, er hatte ihr die Seide doch erst gestern gebracht! Wie hatte sie es nur geschafft, die Zirkusnäherin dazu zu bringen, das Kleid jetzt schon fertig zu haben? Er war sich ziemlich sicher, dass das für gewöhnlich länger als einen Tag dauerte. Vermutlich mit großzügigen Angeboten seines Goldes. Nun, wenn man einer Frau Seide kaufte, musste man damit rechnen, dass man auch für das Schneiderhandwerk bezahlte. Er hatte das Sprichwort als Junge gehört, als er niemals damit gerechnet hatte, sich Seide leisten zu können, aber es war die Wahrheit.
»… man sieht nur die Frauen außerhalb ihrer Dörfer«, sagte Noal gerade, aber der weißhaarige knorrige alte Mann unterbrach sich, als Mat den Wagen betrat und die Tür hinter sich zuzog. Der Spitzenbesatz an Noals Handgelenken hatte bessere Tage gesehen, genau wie der gut geschnittene Mantel aus feiner grauer Wolle, aber beides war sauber und ordentlich. Doch in Wahrheit sahen sie in Verbindung mit seinen krummen Fingern und dem zerschlagenen Gesicht seltsam aus. Die gehörten einem alternden Wirtshausschläger, der lange nach seinen besten Tagen weitergekämpft hatte. Olver, der den guten blauen Mantel trug, den Mat für ihn hatte schneidern lassen, grinste so breit wie ein Ogier. Beim Licht, er war ein guter Junge, aber mit diesen großen Ohren und dem breiten Mund würde er nie besonders anziehend sein. Seine Art mit Frauen umzugehen musste noch wesentlich verbessert werden, falls er da jemals Glück haben wollte. Mat hatte versucht, mehr Zeit mit Olver zu verbringen, ihm den Einfluss seiner »Onkel« Vanin und Harnan und den anderen Rotwaffen zu entziehen, und der Junge schien das zu genießen. Wenn auch nicht so sehr wie mit Tuon Schlangen und Füchse zu spielen und Selucias Busen anzustarren. Es war ja schön und gut, wenn die Burschen Olver beibrachten, wie man mit dem Bogen schoss und dem Schwert umging und dergleichen, aber falls Mat jemals herausfand, wer ihm beibrachte, lüstern zu grinsen…
»Manieren, Spielzeug«, sagte Tuon mit einem breiten Akzent wie Honig, der aus einer Speise rann. Harter Honig. Solange sie nicht mit ihm Steine spielte, war ihr Gesichtsausdruck in seiner Nähe für gewöhnlich streng genug für einen Richter, der ein Todesurteil verhängte, und ihr Ton passte dazu. »Ihr klopft, dann wartet Ihr auf die Erlaubnis zum Eintreten. Es sei denn, man ist Besitz oder Diener. Dann klopft man nicht. Außerdem habt Ihr Fett auf dem Mantel. Ich erwarte, dass Ihr Euch sauber haltet.«
Olvers Grinsen verblasste, als er hörte, wie Mat gerügt wurde. Noal fuhr sich mit den krummen Fingern durch das lange Haar und seufzte, dann fing er an, den grünen Teller vor ihm zu mustern, als hoffte er, einen Smaragd zwischen den Oliven zu finden.
Grimmiger Tonfall oder nicht, Mat genoss es, die dunkelhäutige kleine Frau zu betrachten, die seine Ehefrau sein sollte. Die zur Hälfte bereits seine Frau war. Beim Licht, sie musste bloß drei Sätze sagen, und die Sache war erledigt! Aber sie war wunderschön! Zuerst hatte er sie für ein Kind gehalten, aber das hatte nur an ihrer Größe gelegen, und ihr Gesicht war von einem durchsichtigen Schleier verhüllt gewesen. Ohne den Schleier war es offensichtlich, dass das herzförmige Gesicht zu einer Frau gehörte. Ihre großen Augen waren dunkle Teiche, in denen ein Mann sein Leben lang herumschwimmen konnte. Ihr seltenes Lächeln konnte geheimnisvoll oder schelmisch sein, und er genoss es. Es gefiel ihm, sie zum Lachen zu bringen. Zumindest wenn sie ihn nicht auslachte. Sicher, sie war etwas schlanker, als er bevorzugte, aber falls es ihm je gelingen sollte, einen Arm um sie zu legen, ohne dass Selucia in der Nähe war, glaubte er, dass sie sich genau richtig anfühlen würde. Und möglicherweise konnte er sie dazu bringen, ihm mit diesen vollen Lippen ein paar Küsse zu geben. Beim Licht, davon träumte er manchmal! Es störte ihn auch nicht, dass sie ihn zurechtwies, als wären sie bereits verheiratet. Nun gut, es störte ihn selten. Sollte er doch zu Asche verbrennen, wenn er je begriff, was an ein bisschen Fett so schlimm war. Lopin und Nerim, die beiden Diener, mit denen er geschlagen war, würden sich darum prügeln, wer den Mantel sauber machen durfte. Sie hatten so wenig zu tun, dass sie das wirklich tun würden, wenn er keinen für die Aufgabe bestimmte. Das sagte er ihr aber nicht. Frauen gefiel nichts mehr, als einen dazu zu bringen, sich zu verteidigen, und sobald man damit anfing, hatten sie gewonnen.
»Ich werde versuchen, mir das zu merken, mein Juwel«, sagte er mit seinem besten Lächeln, schob sich neben Selucia und legte den Hut neben sich. Die Decke zwischen ihnen schlug Falten, und obwohl sie ein Fuß Abstand trennte, hätte man denken können, dass er sich an ihren Schenkel gepresst hätte. Ihre Augen waren blau, aber der wütende Blick, den sie ihm zuwarf, war heiß genug, um ein Loch in seinen Mantel zu brennen. »Ich hoffe, in Olvers Becher ist mehr Wasser als Wein.«
»Es ist Ziegenmilch«, sagte der Junge indigniert. Nun ja, vielleicht war Olver auch noch etwas zu jung für ordentlich verdünnten Wein.
Tuon richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, aber sie war immer noch kleiner als Selucia, die schon eine kleine Frau war. »Wie habt Ihr mich genannt?«, fragte sie so scharf, wie ihr Akzent erlaubte.
»Mein Juwel. Ihr habt einen Kosenamen für mich, also dachte ich, ich finde einen für Euch, mein Juwel.« Selucia stand kurz davor, dass ihr die Augen aus dem Kopf quollen.
»Ich verstehe«, murmelte Tuon und schürzte nachdenklich die Lippen. Die Finger ihrer rechten Hand bewegten sich wie unbewusst, und Selucia rutschte sofort vom Bett und ging zu einer der Kommoden. Sie nahm sich allerdings die Zeit, ihm über Tuons Kopf hinweg einen bösen Blick zuzuwerfen. »Sehr gut«, sagte Tuon nach einem Moment.
»Es wird interessant sein zu sehen, wer dieses Spiel gewinnt, Spielzeug.«
Mats Lächeln gefror. Spiel? Er versuchte doch bloß, das Gleichgewicht wieder etwas zu richten. Aber sie sah darin ein Spiel, und das bedeutete, er konnte verlieren. Würde vermutlich verlieren, da er keine Ahnung hatte, um was für ein Spiel es hier ging. Warum machten Frauen die Dinge immer nur so… kompliziert?
Selucia nahm wieder ihren Platz ein und stellte einen angestoßenen Becher vor ihn sowie einen blau glasierten Teller mit einem halben Laib knusprigem Brot, sechs verschiedenen Arten Oliven und drei Sorten Käse. Das munterte ihn wieder auf. Er hatte darauf gehofft, wenn auch nicht damit gerechnet. Hatte man eine Frau dazu gebracht, dass sie einem zu Essen gab, fiel es ihr schwer, einen davon abzuhalten, wieder die Füße unter ihren Tisch zu stellen.
»Das Interessante daran ist«, sagte Noal und fuhr mit seiner Geschichte fort, »in diesen Ayyad-Dörfern kann man Frauen jeden Alters sehen, aber keine Männer, die weit über zwanzig sind. Nicht einen.« Olvers Augen wurden noch größer. Der Junge sog Noals Geschichten regelrecht auf, über die Länder, die er gesehen hatte, sogar die Länder jenseits der Aiel-Wüste, schluckte sie ganz ohne Butter.
»Seid Ihr mit Jain Charin verwandt, Noal?« Mat kaute eine Olive und spuckte den Kern diskret in die Hand. Das Ding schmeckte, als stünde es kurz vor dem Verderben. Genau wie die nächste. Aber er war hungrig, also stopfte er sie in sich hinein und ließ den krümeligen weißen Ziegenkäse folgen, während er Tuons Stirnrunzeln ignorierte.
Das Gesicht des alten Mannes wurde so starr wie ein Stein, und Mat hatte ein Stück Brot abgerissen und auch das gegessen, bevor Noal antwortete. »Ein Cousin«, sagte er schließlich widerstrebend. »Er war mein Cousin.«
»Ihr seid verwandt mit Jain Fernstreicher?«, sagte Olver aufgeregt. Die Reisen vo n Jain Fernstreicher war das Lieblingsbuch seines Vaters gewesen, das er weit über seine Schlafenszeit hinaus im Lampenschein gelesen hätte, hätten Juilin und Thera es erlaubt. Wenn er groß war, wollte er alles sehen, was Fernstreicher gesehen hatte, all das und noch mehr.
»Wer ist dieser Mann mit den zwei Namen?«, fragte Tuon. »Nur von großen Männern spricht man so, und Ihr sprecht, als sollte ihn jeder kennen.«
»Er war ein Narr«, sagte Noal grimmig, bevor Mat den Mund aufmachen konnte, obwohl Olver das schaffte und ihn aufstehen ließ, während der alte Mann fortfuhr. »Er reiste in der Welt herum und ließ eine gute und liebende Frau zurück, die am Fieber starb, ohne dass er ihr dabei die Hand hielt. Er ließ sich zum Werkzeug machen von…« Noals Gesicht wurde abrupt ausdruckslos. Er starrte durch Mat hindurch und rieb sich die Stirn, als wollte er sich an etwas erinnern.
»Jain Fernstreicher war ein großer Mann«, sagte Olver wild. Seine Hände waren zu kleinen Fäusten geballt, als wäre er bereit, für seinen Helden zu kämpfen. »Er hat gegen Trollocs und Myrddraal gekämpft, und er hat mehr Abenteuer erlebt als sonst jemand auf der ganzen weiten Welt! Selbst als Mat! Er hat Cowin Gemallan gefangen, nachdem Gemallan Malkier an den Schatten verraten hat!«
Noal kam mit einem Ruck wieder zu sich und klopfte Olver auf die Schulter. »Das hat er, Junge. Das muss man ihm anrechnen. Aber welches Abenteuer ist es wert, dass man seine Frau allein sterben lässt?« Er klang traurig genug, um selbst auf der Stelle zu sterben.
Darauf wusste Olver keine Antwort, sein Gesicht nahm einen enttäuschten Ausdruck an. Wenn Noal dem Jungen sein Lieblingsbuch mies gemacht hatte, würde Mat mit dem alten Mann ein ernstes Wort sprechen. Lesen war wichtig — er las selbst, jedenfalls manchmal —, und er sorgte dafür, dass Olver Bücher hatte, die ihm gefielen.
Tuon beugte sich über den Tisch, um Noal eine Hand auf den Arm zu legen. Der strenge Ausdruck war aus ihrem Gesicht verschwunden und durch Sanftheit ersetzt worden. Ein breiter Gürtel aus dunkelgelbem Leder schnürte ihre Taille ein und betonte ihre schlanken Kurven. Noch mehr von seinem Geld. Nun, er hatte nie damit Probleme gehabt, an Geld zu kommen, und wenn sie es nicht ausgab, würde er es vermutlich für eine andere Frau verschwenden. »Ihr habt ein gutes Herz, Meister Charin.« Sie sprach jeden mit seinem verdammten Namen an — jeden bis auf Mat Cauthon.
»Habe ich das, meine Lady?«, sagte Noal und klang, als wollte er wirklich eine Antwort hören. »Manchmal glaube ich…« Was auch immer er manchmal glaubte, sie sollten es nicht erfahren.
Die Tür schwang auf, und Juilin steckte den Kopf in den Wagen. Die konische rote Mütze des tairenischen Diebefängers saß wie immer keck auf seinem Kopf, aber sein dunkles Gesicht war beunruhigt. »Auf der anderen Straßenseite nehmen seanchanische Soldaten Aufstellung. Ich gehe zu Thera. Sie wird Angst bekommen, wenn sie es von jemand anderem hört.« Und er verschwand so schnell, wie er gekommen war, und ließ die Tür offen.